A Cats' Fishing Ground von Darklover ================================================================================ Kapitel 25: 25.Kapitel ---------------------- „Vielen Dank nochmal. Es hat sehr gut getan, sich ein bisschen auszuruhen.“ Oka hielt Viola die Hand hin, entschied sich dann aber letztendlich doch anders und zog sie kurz und herzlich an sich heran, um sie zum Abschied zu umarmen. Sal ging ähnlich vor, auch wenn er Viola, die er immerhin noch nicht besonders lange kannte, nicht so überfiel. Er lächelte sie an, bedankte sich ebenfalls und drückte sie kurz, bevor er seinem jüngeren Bruder zum Strand hinunter folgte. Auch Ban kam auf Viola zu, musterte sie und streckte ihr schließlich die Hand hin. Zin glaubte die Spannung zwischen den beiden zu spüren, für die er allein seinen Bruder verantwortlich machte. Und die sich, dank dessen charmanter Art wohl nie wieder ganz verflüchtigen würde. Ban ... war einfach so. Er konnte schon mit Meermenschen nicht sonderlich gut umgehen. Von Wildkatzenwandlerinnen einmal vollkommen abgesehen. Da stand er offensichtlich auf vollkommen verlorenem Posten. Und doch war ihm Zin irgendwie dankbar dafür, dass sein großer Bruder sich benahm, nichts weiter dazu sagte, sondern sich ebenfalls in Richtung Wasser aufmachte und Zin und Viola alleine ließ. Die Dankbarkeit hielt so lange, bis Zin sich gezwungen fühlte, Viola anzusehen. Der Ausdruck in ihren Augen brachte ihn fast um und auch das Gefühl, als sich seine Finger mit ihren verschlangen, spannte etwas in ihm bis zum Zerreißen. Er sagte nichts. Stattdessen schlang er seine Arme um Viola, hob sie hoch und küsste sie so innig, dass die Welt um ihn in kleine Scherben zersprang. Die bunten Bruchstück wirbelten um ihn herum, fügten sich zu Wogen von Gefühlen zusammen und veranstalteten ein Feuerwerk, bis Zin sich schließlich von Violas Lippen lösen musste. Es wurde Zeit. Das wussten sie beide. Zin hoffte so sehr, dass sie in seinen Augen lesen konnte. Dass sie verstehen würde, was er ihr sagen wollte, als er über ihre Wange streichelte. Er würde wiederkommen. „Versprochen ...“ Zin wagte nicht, ihr noch einen Kuss zu geben. Es war schwer genug, ihre Finger loszulassen, sich aus Violas Gegenwart zu reißen und sich umzudrehen. Über seine Schulter sah er noch einmal zurück und lächelte. Erst dann ging er zum Strand hinunter, folgte Ban ohne Zögern ins Wasser und tauchte unter. Das Wasser legte sich wie eine tröstende Decke um seinen Körper; hüllte ihn ein, wie Watte die das hämmernde Gefühl in seiner Brust mit ihrer Weichheit minderte. Er würde zurückkommen. Davon ... konnte ihn nur der Tod abhalten. Oka überraschte sie zwar mit seiner Umarmung, aber da Viola ein einziges Gefühlschaos war, machte es ihr nichts aus. Ganz im Gegenteil, sie erwiderte diese herzliche Geste auch vollkommen. Sal bekam ebenfalls etwas von ihr ab und selbst Ban, der sich nur dazu zwingen konnte, ihr die Hand zu geben, drückte sie einmal warm die Finger, wünschte ihm eine gute und sichere Reise, ehe sie ihn ziehen ließ. Mit Zins Brüder hatte sie kein Problem gehabt, ja nach der kurzen Zeit mochte sie diese sogar und es tat ihr auf alle Fälle leid, dass sie die Jungs nicht mehr sehen würde. Doch Zin selbst war es, der ihr den schwersten Brocken aufbürdete. Vollkommen unfähig sich zu rühren oder zu sprechen, ließ sie ihn gewähren. Ihm fiel dabei sicherlich nicht einmal auf, dass sie den Kuss nicht erwidern konnte. Dass ihre Arme keine Kraft mehr hatten, um ihn wirklich an sich zu ziehen. Was vielleicht ganz gut so war, sonst hätte sie ihn nie gehen lassen können. Sie lächelte gezwungen und schweigend, als der Körperkontakt schließlich abbrach. Was auch immer er ihr in jenem Moment versprach, sie glaubte nicht daran, das er es halten würde. Das war ein Abschied, und zwar einer, der wirklich richtig wehtat. Steif stand sie da, als er sich noch einmal nach ihr umdrehte. Schwach hob sie die Hand. Als er sich dieses Mal umdrehte, ging auch sie zurück zum Haus. Steif waren ihre Schritte und taub fühlten sich dabei ihre Glieder an. In ihrem Kopf herrschte absolute Leere, als sie die Terrassentür hinter sich zuschob und sich schließlich nach einem langen reglosen Moment in der Küche umsah. Schließlich gab sie sich einen Ruck und begann, das Geschirr wegzuräumen. Die restlichen Pfannkuchen warf sie in den Bio-Müll, danach trocknete sie alles ab und polierte sogar noch die Arbeitsflächen gründlich. Das hatte sie noch nie getan, seit sie hier war. Irgendwann, als es nichts mehr in der Küche zu putzen gab und selbst auf den Hängeschränken kein Staubfusel mehr zu finden war, wandelte sie die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hoch, verkroch sich in ihrem Bett unter die Decke und zog sie fest über ihren Kopf, bis sie kaum noch Luft bekam. Einmal, zweimal, dreimal atmete sie schwer ein, ehe alles aus ihr herausbrach. Viola begann, am ganzen Leib zu zittern. Ihr Herz tat so verdammt weh, dass es ein Wunder war, wie es noch weiter schlagen konnte und ihre Kehle und Augen brannten. Sie schluchzte trocken, aber weder konnte sie weinen, noch sonst irgendwie für Erleichterung sorgen. Stattdessen krampfte sie sich noch mehr zusammen und versuchte die Bruchstücke ihres Selbst so gut wie möglich zusammenzuhalten. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie selbst das nicht mehr konnte. Nach einer ganzen Weile war der Sauerstoff aufgebraucht und sie musste zumindest die Nasenspitze herausstrecken, um wieder Luft zu bekommen. Prompt leckte ihr eine raue Zunge darüber und ein leises Miauen drang durch die Decke hindurch. Langsam, als wöge der Stoff Tonnen, zog Viola die Decke weiter von ihrem Kopf, um Flocke ansehen zu können. Fast schien es, als würde ihre Süße sie aufmunternd anlächeln, während sie lautstark zu schnurren begann, doch genau das war am Ende zu viel. Viola drückte ihr Gesicht in Flockes weiches Fell und begann hemmungslos zu weinen. Jede andere Katze hätte bei diesem feuchtlauten Ansturm die Flucht ergriffen, aber nicht ihre süße Kleine. Nicht Flocke. Sie hielt tapfer durch. *** Etwas berührte sein Bein. Das hätte Zin nicht unbedingt beunruhigen müssen, hätte sich die Berührung nicht wiederholt und sich absolut nicht wie ein Seetangblatt angefühlt, das ihn in diesem Wald die ganze Nacht über immer wieder gestreift hatte. Also öffnete er die Augen. Mehrere breite Seetangblätter waren um seinen Körper geschlungen. Sie hielten ihn trotz der Strömung an Ort und Stelle und hatten dafür gesorgt, dass er nachts nicht abgetrieben wurde. Außerdem waren hier im Dickicht nicht so viele Haie oder andere nachtaktive Jäger unterwegs, die für schlechte Träume hätten sorgen können. Die hatte Zin auch ohne diese Bedrohung zur Genüge gehabt. Mit einem Blick an sich hinab stellte er fest, dass die sich wiederholende Berührung an seinem Bein einer Unterwassernacktschnecke zu verdanken war, die wohl gerade herausgefunden hatte, dass über seine Haut hinweg der kürzeste Weg zum nächsten Seetangblatt führte. Na gut. Indem er sich ein paar Mal um die eigene Achse drehte, machte Zin sich von den Pflanzen frei, steckte seinen Kopf zwischen den breiten Blättern hindurch und sah nach dem Rest der kleinen Truppe. Sie waren wie in Kokons gehüllt. Wie in grüne Verbände gewickelt, die Köpfe auf die Brust gesunken, hingen Sal und Oka in gleicher Höhe unter der Wasseroberfläche. Fast fünf Meter. Zin fuhr sich mit der flachen Hand über die stoppelig kurzen Haare auf seinem Kopf und spülte seine Kiemen mit einem ordentlichen Schluck sauerstoffreichem Wasser, bevor er sich langsam zwischen dem Blattwerk hindurchbewegte. Ban musste hier irgendwo sein und Wache halten. Zin fand ihn am Rande des Tangwaldes, neben einem hochgewachsenen Stein, an dem sich ein paar kleinere Fische zu schaffen machten. Morgen. Ban sah ihn tatsächlich an. Zin wollte schon erschrocken zurückweichen, aber das wäre wohl nicht die passende Reaktion auf die Aufmerksamkeit seines Bruders gewesen. Wie geht’s deinem Rücken? Aber wenn diese Klick- und Pfeiflaute kein Erstaunen hervorrufen sollten, dann wusste Zin auch nicht, was es könnte. Wie es ... seinem Rücken ging? Es geht. Die Antwort war leise. Sein verdammter Rücken war bestimmt nicht das Problem. Ein Aal hätte daran nagen können und es wäre Zin angenehm vorgekommen, im Vergleich zu der Fessel, die sein Herz zusammendrückte. Er wollte nicht hier sein. Morgen Abend sind wir zu Hause. Ich würde dir gern sofort die Stelle zeigen, an der sie jetzt bohren. Du musst dir ein Bild davon machen. Dann können wir mit den Anderen entscheiden, wie wir rauf gehen. Bläschen lösten sich von Zins Unterlippe, als er den Mund öffnete. Natürlich sinnlos, wenn er sich unter Wasser befand. Aber ... das konnte doch auch nicht wirklich sein Ernst sein?! Sie wollten ... rauf gehen? *** Es musste mitten in der Nacht sein, als die ersten Krämpfe sich langsam mit dem Feingefühl einer Horde Elefanten anschlichen. Erst verstand Viola gar nicht, was los war, als es ihr den Unterleib zusammenzog und sogar schlimmer wehtat, als ihr Herz und ihre brennenden Augen zusammen. Doch als ein weiterer Krampf ihr den Atem nahm und sie die Zähne fest aufeinander beißen musste, um keinen Schrei loszulassen, war alles klar. Vor allem war sie aber hellwach und aus ihrem kleinen Delirium herausgerissen worden. „Scheiße ...“, fluchte sie gepresst, als ihre Hand auf den Nachttisch schlug und nach den Tabletten suchte, die für gewöhnlich dort lagerten. Nur waren sie nicht mehr dort. Sie waren in Zins Zimmer. Aber so spät wollte sie ihn doch nicht weck– Er war nicht da. Sie konnte ihn gar nicht wecken, und selbst wenn er da gewesen wäre, hätte er bei ihr geschlafen. Die Erkenntnis traf sie mit der Wucht eines Hammerschlages. Sofort trieb ihr der Verlust neue Tränen in die Augen. Vielleicht waren es aber auch die Schmerzen, als sie sich aufzurichten versuchte. Flocke beäugte sie besorgt von der anderen Seite des Kopfkissens aus und machte einen fragenden Eindruck. Quälend langsam und in gebeugter Haltung kam Viola auf die Beine, kickte nach mehreren Schritten einen Wäschehaufen zur Seite und wäre fast über einen anderen gefallen, den sie nicht rechtzeitig gesehen hatte. Oh Gott. Sie würde es nie bis ins Gästezimmer schaffen. Schon als sie endlich die Tür erreichte, standen Schweißperlen auf ihrer Stirn und am Ansatz der Treppe lief es ihr bereits in Bächen zwischen den Brüsten hindurch. Mit den Schmerzen kam immer die Hitze oder alles schien sich mit Frost zu überziehen. Keins von beidem war angenehm, allerdings war Viola im Augenblick fast froh, dass sie aus allen Poren schwitzte, anstatt mit den Zähnen zu klappern. Denn das hätte ihr den Weg nach unten noch mehr erschwert, obwohl ihr Wohlgefühl dadurch endgültig flöten ging. Alles fühlte sich eklig an und der Geschmack, den sie im Mund hatte, war noch schlimmer. Fluchend, schimpfend und wimmernd kam sie irgendwie die Treppe hinunter, hielt sich am Absatz am Geländer fest, während ihr nun wirklich Schmerzenstränen über die Wangen liefen und sie sich erneut krümmte. Sie hasste es. Sie hasste es zu dieser Zeit wirklich wie die Pest, eine Frau zu sein und so schlimm der Gedanke auch war, Viola war froh, dass Zin sie so nicht sehen konnte. Sie beide hatten echt ein beschissen gutes Timing. Und es war wirklich perfekt, dass sie wegen ihm ohnehin schon litt, was machten da die paar Schmerzen zusätzlich noch aus? „Ah ...“ Viel. Mächtig viel! Viola ging fast in die Knie, als ihr etwas Gewaltiges den Leib zusammenzuquetschen begann. Die Tabletten ... Sie brauchte unbedingt diese verfickten Tabletten! Zentimeter für Zentimeter schob sie einen Fuß nach dem anderen über die Dielen in ihrem Flur, und obwohl das Ziel so weit weg zu sein schien, wie der Gipfel des Mount Everest, gab sie doch nicht auf. Was hätte es denn gebracht? Gar nichts. Es würde nur schlimmer werden. Es dauerte ungefähr eine gefühlte Ewigkeit, bis sie Zins Zimmer erreichte. Noch mal so lange, bis sie es über sich gebracht hatte, den Blick vom Bett loszureißen und von den Erinnerungen an vergangener Nacht, ehe sie nach den Schmerztabletten suchen konnte. Ein weiteres Leben schien zu vergehen, als sie diese endlich fand und gleich zwei ganze davon trocken hinunterwürgte. Danach rutschte sie auf den Boden neben dem Bett und wartete nur ab, bis sich ihr Körper zumindest wieder so weit entspannte, dass sie einmal tief durchatmen konnte. Währenddessen marterte Zins Geruch sie fast bis zum Wahnsinn. Gerade weil sie sich daran festklammern konnte und es doch so hoffnungslos war. Er war gegangen. Er war weg. Sie konnte ihn nicht mehr festhalten. Ihn nicht mehr anschreien, beschimpfen und sich trotzdem um ihn kümmern. Er war einfach ... nicht mehr da. Der Schmerz in ihrem Leib wurde zuerst dumpf, ehe er so weit abflaute, dass sie fast erleichtert geseufzt hätte, wäre da nicht immer noch der Schmerz in ihrer Brust. Witzigerweise war das gerade die Art von nichtkörperlichem Schmerz, den man nicht einmal mit starken Schmerztabletten vertreiben konnte. Wie dumm ... Viola begann schon wieder zu heulen, obwohl sie das selber nur noch wütender machte. Sie hatte noch nie wegen eines Kerls geheult und jetzt konnte sie gar nicht mehr damit aufhören. Gott, sie war so blöd! Und sie sollte sich waschen gehen ... Ja. Das wäre eine gute Idee. Frisches klares Wasser. Vielleicht würde das auch ein paar ihrer Erinnerungen fortspülen, so sehr sie dieses Element auch hasste. *** Sie folgten einer kleinen Delfinschule. Etwa vierzig der Tiere waren in heller Aufregung unterwegs. Zumindest schienen die Sprünge und Spiele, die sie während ihrer doch sehr schnellen Reise vollführten, das irgendwie nahezulegen. Normalerweise fand Zin es faszinierend, wie diese Meeressäuger miteinander umgingen. Er beobachtete sie gern, war jedes Mal begeistert, wenn er sich an sie hängen und sich ein Stück mitziehen lassen durfte. Aber heute ... sah er nur die dunklen, stromlinienförmigen Schatten an sich vorbei schießen. Er hörte, wie die stabilen Körper die Wasseroberfläche durchbrachen, bloß um dann platschend wieder ins Meer zu fallen und neu Schwung zu holen. Es kam ihm so vor, als würden diese spielenden, gut gelaunten Delfine ihm alle die Zunge dabei herausstrecken. Als würde man ihm durch dieses fröhliche Durcheinander nur noch klarer machen, wie beschissen er sich fühlte. Wie sehr es ihn in die entgegengesetzte Richtung zog. Und dabei hatte er allen Grund, schneller zu schwimmen. Ban hatte ihn am Morgen in die Pläne eingeweiht. Darin, dass der Schwarm beschlossen hatte, sich intensiver gegen den Angriff der Menschen zu wehren. Die Nerven lagen blank, nachdem so viele gestorben waren. Nachdem man sie in die Luft gesprengt und das halbe Riff zerstört hatte. Sie wollten sich an den Menschen rächen. Und zwar nicht nur, indem sie die Bohrungen erschwerten und langwierig darauf hin arbeiteten, dass die Menschen sich zurückzogen. Dafür ... war zu viel passiert. Es sollte gehandelt werden. Und zwar trotz des Risikos, das dahinter steckte. Zin kollidierte mit einem gedrungenen Delfin. Beide sahen sich für eine Sekunde auf ausdruckslosen, aber doch irritierten Weise an, bevor das Tier sich zurückzog, den offensichtlich etwas dummen Meermann ignorierte und sich dem Spiel zweier seiner Artgenossen anschloss, die sich gerade mit 'Fang den Seetang' vergnügten. Er hätte kotzen können. Da wollte er nichts anderes, als kurz zu Hause nach dem Rechten sehen. Sich auch selbst sehen lassen. Ein paar Sachen klären, seine Familie sehen. Und dann ... wollte er zurück. Dass es so einfach nicht werden konnte, hatte Zin schon vor der Abreise gewusst. Schon als seine Brüder aufgetaucht waren, hatten die Probleme große Schatten vorausgeworfen. Aber dass sie jetzt ’hinauf' wollten – das war der absolute Selbstmord! Die Menschen würden sie abschlachten wie bloße Fische! Egal, ob sie kräftig waren. Egal, ob sie sich leise anschleichen konnten! Oben auf der Bohrplattform, das war ... nicht der Bereich für Meermenschen. Sie wussten doch nicht einmal, wie es dort aussah. Wie sollte es etwas bringen, hinaufzuklettern und aufs Geratewohl zu versuchen, so viel Zerstörung anzurichten, dass die Menschen den Schwanz einzogen? Der Delfin von vorhin schwamm dicht an Zin vorbei und streifte den Meermann mit einem Blick. Ja, total durchgeknallt, der schlecht gelaunte Kerl. *** Ein Hämmern drang leise zu ihr durch, zerstörte die wirren Träume, die sie gefangen hielten, und klammerte sich aufdringlich an ihr langsam erwachendes Bewusstsein. Viola verzog nur das Gesicht und versuchte weiter zu schlafen. Sie hatte keinen Bock sich der Realität zu stellen, war es auch noch so ungemütlich, da wo ihr Körper lag. Bestimmt würde ihr jeder Knochen im Leib wehtun, wenn sie sich rührte. Nein, da war es besser, tatenlos herumzuliegen. Sehr viel besser sogar. Das Hämmern wurde lauter. „Vy? Ich weiß, dass du da bist. Dein Motorrad steht in der Garage und ich hab schon bei jedem Typen angerufen, den ich irgendwie ausfindig machen konnte. Bei keinem von denen liegst du im Bett, also mach, verdammt noch mal, die Tür auf!“ Tess ... Viola legte den Arm über ihren Kopf und versuchte weiter zu schlafen. Wieder polterte es gegen ihre Eingangstür. „Verdammt, Viola! Komm endlich in die Gänge und schwing deinen Arsch hier her, oder schalt wenigstens mal wieder dein Handy ein. Ich mach mir schon die ganze Zeit Sorgen um dich, weil durch das Unwetter deine Straße blockiert wurde und keiner zu dir durchkam.“ Einen Moment herrschte Stille. Dann ein wütendes Schnauben. Das Klackern von Absätzen über Holzbohlen war zu hören und bewegte sich dann fast lautlos um das Haus herum. Die Terrassentür wurde aufgeschoben. „Vy? Wo bist ... Hi, Flocke. Siehst gut genährt aus, also kann ich annehmen, dass dein Frauchen noch hier irgendwo ist?“ Ein Maunzen antwortete ihr. Tess ging durch die Küche, direkt durch den Flur und stampfte lautstark die Treppe nach oben, da sie Viola bestimmt im Bett vermutete. Falsch getippt. Das gekachelte Muster auf ihrer Wange würde es beweisen. Das Gemurmel, das darauf folgte, konnte Viola nicht ganz verstehen. Aber es hatte irgendetwas mit dem 'Schweinestall' zu tun, in dem sie offenbar hier 'lebte'. Als das Klackern dieses Mal die Treppen herunter kam, konnte man fast schon hören, wie besorgt die Schritte waren, die nun systematisch durch jeden Raum gingen. Lange brauchte Tess nicht, bis sie Viola neben der Kloschüssel am Boden fand, mit nicht sehr viel mehr bekleidet, als einem T-Shirt und einer Shorts. Beides hatte Zin zuvor noch getragen. Nur kurz zwar, aber sein Duft hing noch an den Sachen. „Vy?“ Tess' Stimme klang nun eindeutig besorgt und überhaupt nicht mehr wütend, so wie sie es vorhin noch getan hatte. Sofort war ihre Freundin bei ihr und berührte ihre Wange. Die Seite, auf der sich nicht das Muster der Badezimmerfliesen eingeprägt hatte. Als Viola unter der Berührung zusammenzuckte und sich dann langsam aufzuraffen begann, wurde sie von großen hellblauen Augen gemustert. „Alles ... in Ordnung bei dir?“, fragte Tess vorsichtig. Einen Moment gab sich Viola, ehe sie laut seufzte, sich übers Gesicht rieb und sich ganz aufsetzte. Dann stellte sie sich dem Blick ihrer besten Freundin. „Ja.“ Eine blonde Augenbraue wurde skeptisch in die Höhe gezogen. „Nein. Nein, du hast recht. Gar nichts ist in Ordnung.“ Und da brach der Damm von Neuem. Schockiert über die offene Zurschaustellung von Tränen in Violas Gesicht konnte Tess nichts anderes tun, als ihre Freundin in den Arm zu nehmen und sich darüber wundern, wer oder was das nur geschafft hatte. Viola weinte nicht. Das tat sie nie. Aber es gab offenbar immer ein erstes Mal. *** Es war grau. Grau und schroff. Hart und scharfkantig. Wohin man blickte ... nur Splitter, Trümmer und ... grau. Wo sich vor wenigen Wochen noch das Leben getummelt hatte, wo es vor schillernden Farben, mannigfaltigen Lebewesen, Pflanzen und bunten Mustern nur so gewimmelt hatte ... war jetzt alles tot. Zin ließ sich auf den Boden sinken. Seine nackten Füße berührten den Kamm des toten Riffs, lösten ein paar abgebrochene Teile, die sich wie Porzellanscherben übereinander schoben und schließlich bis ganz auf den Grund polterten. Dem schenkte Zin keine Beachtung. Mit gesenktem Kopf ignorierte er das Ziehen in seiner Schwimmblase, die Scherben, die ihm die Fußsohlen zerschnitten und die Schemen seiner Begleiter, die in meterweitem Abstand über die Reste ihrer Heimat hinweg schwammen. Außer den Meermenschen war niemand mehr hier. Zins Finger hoben ein Korallenskelett auf, drehten es im funkelnd blauen Wasser und bewunderten die filigranen Ärmchen, in denen die Polypen jede Nacht emsig weiter am Riff gebaut hatten. Hunderte Jahre hatte es gedauert, dieses Paradies zu erschaffen. In wenigen Minuten war es vollkommen zerstört worden. Nichts war übrig, kein Tier lebte mehr hier ... und es zerriss Zin fast in ebenso scharfe Scherben, das hier zu sehen. Sein Blick schweifte über die Landschaft, die inzwischen in Farbe und Eindruck der des Mondes glich. Leer und trostlos. Seine Sohlen schmerzten, als er sich aufrichtete, sich abstieß und auf eine kleine Gruppe zuschwamm. Eine Meerfrau drehte sich zu ihm herum. Ihre hellen Haare mit der einen, schwarzen Strähne rahmten ihr schmales, feines Gesicht ein, wie ein glitzernder Schleier. Ihre leicht schräg gestellten, mandelförmigen Augen sahen Zin traurig und ernst an. Aya kam Zin entgegen, streichelte seinen Arm und legte ihre Hand auf seine Wange. Gut, dass du hier bist. *** „Aber er hat dich doch gefragt, ob er wiederkommen darf!“ Tess stellte mit Nachdruck ihre Kaffeetasse auf den Tisch. „Für mich klingt das eindeutig so, als wollte er wieder kommen. Warum also das ganze Drama? Er wird doch wieder kommen.“ Viola schnaubte. „Ja, vermutlich nächstes Jahr, wenn er mit seinem Schwarm zum Pol schwimmt“, murmelte sie so leise, dass Tess es nicht verstehen konnte, ehe sie selbst einen Schluck von dem starken Gebräu hinunter würgte. Ihr schien immer noch der Geschmack abhandengekommen zu sein, seit sie ihrer besten Freundin alles von Zin erzählt hatte. Zumindest die stark zensierte Version davon. Dass er in Wahrheit bei ihr gestrandet, und eigentlich gar kein Mensch war, hatte sie ausgelassen. Ebenso wie die anderen nichtmenschlichen Details. Dafür hatte sie nach mehreren Anläufen über das geredet, worüber sie so frisch danach noch gar nicht reden wollte. Nämlich über ihr Verhältnis zu Zin. Dass sie ihn zwar erst so kurz kannte, seine Abwesenheit aber schon jetzt wahnsinnig wehtat. Dass sie ihn permanent hätte küssen können. Dass jeder Atemzug ohne seinen Duft dabei zu inhalieren, nun quälend war und das sie absolut keine Ahnung hatte, was zum Teufel eigentlich mit ihr los war. Auch was den Sex anging, hatte sie nichts ausgelassen. Hatte beschämt zugegeben, dass sie Zin einen gewaltigen Knutschfleck verpasst hatte, damit es auch ja alle Welt sehen konnte. „Wieso bist du dir da nur so sicher? Ich meine, ich hab doch schon wieder den klassischen Fehler gemacht und Sex mit ihm gehabt, bevor sonst irgendwas da war. Ich bin 'ne verdammte Schlampe!“ Am liebsten hätte sie ihren Kaffeebecher gegen die Wand gepfeffert, doch Viola verschlang die Wärme der Tasse förmlich, da sie gerade erbärmlich fror. „Nein, bist du nicht“, widersprach Tess, ganz die beste Freundin, die sie war. „Hast du denn das Gefühl, dass es ein Fehler war?“ Das beantwortete nicht Violas Frage, trotzdem schüttelte sie den Kopf. „Nein. Ich ... bereue gar nichts davon.“ Nicht mal den Knutschfleck. „Dann glaube ich auch nicht, dass du ihn in die gleiche Kategorie werfen solltest, wie die anderen Typen bisher. Wenn er auch nur annähernd so für dich empfindet, wie du für ihn – und das glaube ich mit ziemlicher Sicherheit – dann wird er zu dir zurückkommen. Wirst schon sehen.“ Tess schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Viola glaubte trotzdem, dass sich ihre Freundin in diesem Punkt irrte, auch wenn sie recht hatte, was die Männerkategorie betraf. Zin gehörte in keine Schublade. Er war ... etwas Besonderes. *** „Wer ist dafür?“ Zins Stimme klang dumpf und leer. Er fühlte sich ähnlich, wie der Anblick des Riffs, das er in Gedanken immer noch seine Heimat nannte. Zerstört und elend. Grau. „Nicht einmal die meisten.“ Ayas Haar schwamm wie ein Fächer auf der unruhigen Wasseroberfläche. Es kräuselte sich und sah trotzdem so aus, als wäre es der weichste Seidenstoff, der in einer lauen Frühlingsbrise flatterte. Zin sah daran vorbei. Er starrte schon in die tiefe Düsternis unter den Felsen, seit sie sich an die Außenseite des Vulkankegels gesetzt hatten. Nur mit Mühe brachte Aya ein paar Worte aus ihm heraus und selbst dann waren es reine Fakten, die nichts mit ... ihm selbst zu tun hatten. Aya machte sich Sorgen. Zin hätte es in ihrem Gesicht lesen können, wenn er sie nur einmal richtig angesehen hätte. Aber er schien vollkommen entrückt, an einem anderen Ort und doch so nah bei allem, was ihn umgab, dass Aya ihn einfach nicht erreichen konnte. Es war ... so schwierig. Sie legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel, strich darüber, um ihn im Hier und Jetzt zu behalten. Ihn nicht untergehen zu lassen, in diesem Strudel aus – Für eine Sekunde weiteten sich ihre tiefgrün glitzernden Augen, als Zin ihre Hand nahm und sie sanft, aber bestimmt von seinem Bein zog. Ayas Herz fing an, hart in ihrer Brust zu schlagen. „Zin?“ Es ging ihm schlecht. Das konnte ein Blinder sehen. Aber lag das nur an dem, was sie alle niederdrückte? In Ayas Kopf warnte sie eine Stimme. Irgendetwas war anders. Etwas ... stimmte nicht mehr mit dem überein, was sie gewohnt war. Bloß was? „Zin ...“ „Es ist Schwachsinn, auf die Bohrplattform zu klettern.“ Er unterbrach sie kühl und für Ayas Geschmack schon fast ein bisschen zu schroff. Oder lag es daran, dass sie Enttäuschung in ihren Adern spürte, die sie die letzten Monate vor Zins Verschwinden so gut hatte zur Seite schieben und weg interpretieren können? Sie zog sich neben ihn auf den Felsen, setzte sich auf den kleinen Vorsprung und ließ auch die Beine bis zu den Knien im Wasser baumeln. Als Aya ihren Kopf auf seine Schulter legte, zuckte er nicht zurück. War ... doch alles gut? *** „Weißt du, was ich glaube?“ Tess beugte sich von ihrer Ecke der Couch weiter zu der von Viola hinüber. „Nein“, war die inzwischen monotone Antwort. Sie hatte einfach keine Kraft mehr, um das Thema noch länger breit zu walzen, sich noch mehr selbst zu foltern und langsam kamen auch die ... anderen Schmerzen zurück. Eigentlich wollte sie einfach nur noch schlafen. Ja, es wäre gut, sich einfach im Bett zu verkriechen und dort zu bleiben. Für ein paar Wochen oder so. Jemand boxte ihr unsanft gegen die Schulter. „Hm?“ „Du hörst mir überhaupt nicht zu, was?“ Verwirrt sah Viola den blond gelockten Engel an, obwohl der gerade eher wie ein kleiner Teufel aussah. „Wieso?“ „Ich hab dir gerade lang und breit erklärt, dass du offenbar hoffnungslos in Zin verknallt bist und alles, was ich von dir bekomme, ist nachdenkliches Schweigen. Ich glaube nicht, dass das eine passende Reaktion von dir ist.“ In Zin verknallt ... Viola musste erst einmal den Inhalt dieses Satzes entschlüsseln, dann fuhr sie jedoch hoch. „Quatsch!“ Tess grinste. „Schon besser. Und trotzdem habe ich recht. Wegen Sex alleine würdest du hier nicht so herumheulen. Selbst der Typ kann nicht so gut sein.“ Wenn du wüsstest ... „Ich bin trotzdem nicht in ihn verknallt. Ich meine ... nein. Glaube ich nicht. Ich vermiss ihn bloß, okay? Das ist alles.“ „Aha.“ Tess sah Viola an, als hätte sie es mit einem besonders begriffsstutzigen Kind zu tun, dem man alles langsam vorsagen musste. Aber trotzdem wechselte sie einfach das Thema. „Wenn wir schon bei Männern sind. Da gibt es diesen einen Typen, den solltest du unbedingt anrufen, weil er dich sonst womöglich einen Kopf kürzer macht, nachdem du dich immer noch nicht bei ihm gemeldet hast. Wie wäre es, wenn du dir jetzt das Telefon greifst und das nachholst? Ich als deine beste Freundin, kann dir das nur nahelegen.“ „Den Teufel werd ich tun. Glaubst du echt, mich interessiert Cid noch?!“ Viola sprang regelrecht von der Couch auf und pfefferte ihren leeren Kaffeebecher auf den kleinen Tisch, um zu einer entrüsteten Rede anzusetzen, doch Tess kam ihr zuvor. „Kleines, ich rede nicht von Cid, sondern von Dan. Deinem Boss. Klingelt da was bei dir?“ Oh ja, das tat es. Für einen Moment war Viola total geschockt, weil sie tatsächlich ihre Arbeit vergessen hatte. Sie war zwar sonst auch nicht der zuverlässigste Mitarbeiter, aber sowas war ihr noch nie passiert. Hastig sah sie sich nach ihrem Handy um, es war jedoch Tess, die ihr schließlich ihr eigenes in die Hand drückte, weil ihres vermutlich unter irgendeinem Wäscheberg lag und nach Energie lechzte. *** Den Strom konnte er nicht unter Wasser sabotieren. Das wäre nicht nur gefährlich, sondern ausgesprochen dumm. Zin hatte ein einziges Mal gesehen, was Strom in Verbindung mit Wasser anrichten konnte. Da brauchte er keine zweite Lektion, die auch noch seinen eigenen Körper mit ins Spiel brachte. Andererseits gab es keine wirklichen Alternativen. Es wäre schon möglich gewesen, sich an den Verankerungen der Plattform nach oben zu hangeln. Unter vielen unmöglichen Umständen hätten sogar wenige Meermenschen an Bord gehen können, ohne entdeckt zu werden. Aber dann war es auch schon vorbei mit den Pluspunkten für diesen Plan. Woher sollten sie denn wissen, wo sich die Stromversorgung befand? Eine Karte der Bohrinsel hatten sie nicht. Und wo sie eine finden konnten, wenn es eine gab, wusste ebenfalls niemand. Auf bloßes Glück danach zu suchen – nach Karte oder Generator – war absolut schwachsinnig. Da konnten sie gleich einen der Menschen nach dem Weg ... fragen ... Zins Augenbrauen zogen sich zusammen und seine Stirn kräuselte sich. Der Gedanke drehte sich ein paar Mal in seinem Kopf. Nein ... Das war doch der blanke Wahnsinn ... Oder? Als Zin sich nach vorn lehnen wollte, rutschte Aya Kopf an seiner Schulter ab. Er sah sie an, als würde er gerade erst bemerken, dass sie neben ihm saß. Was – ehrlich gesagt – auch der Fall war. Jetzt allerdings rückte er ein paar Zentimeter von ihr ab, schenkte ihr ein winziges Lächeln und stemmte dann die Hände auf den kühlen Fels, um sich abzudrücken und ins Wasser zu gleiten. Ayas Nähe wurde ihm unangenehm, als sie sich zu ihm hinüberlehnte und ihn mit ihren schlanken Fingern auf seinem Handrücken von seinem Vorhaben abhielten. Kühl und glatt, wie seine Eigenen. Durchscheinende Schwimmhäute zwischen den Knöcheln. Er starrte diese kleine Hand an und entzog sich ihr nach nur ein paar Sekunden. Und das, obwohl er ganz fest mit Konsequenzen rechnete. Es war seine eigene Schuld und damit würde er umgehen müssen. Viel zu lange hatte er sich ohnehin damit getröstet, dass der Tag wohl nicht allzu bald kommen würde. Jetzt war der Tag an ihm vorbei gerannt, hatte ihn von hinten umgeworfen und saß nun auf Zins Brust; machte es ihm schwer, zu atmen. War er so feige, sich einfach aus der Affäre zu ziehen und darauf zu hoffen, dass sich Aya in diesen Tagen, die er weg gewesen war, auch verändert hatte? Dass sie nicht mehr hoffte, wo eigentlich noch nie Hoffnung gewesen war? Zin wusste die Antwort. Und doch fiel es ihm unendlich schwer, seine Hand wegzuziehen, sie stattdessen an Ayas Schulter zu legen und sie auf Abstand zu halten. Aya ... seine beste Freundin. Sie kannten sich schon, seit die Meerfrau geboren worden war. Als Kinder hatten sie zusammengespielt, als Teenager hatten sie sich offiziell ignoriert und gezankt, bloß um sich am gleichen Tag, Stunden später gegenseitig ihr Leid über das Übel und die Ungerechtigkeit der Welt zu klagen. Aya hatte Zins erste Freundin abgrundtief gehasst. Eigentlich hatte sie an keiner seiner Beziehungen ein gutes Haar gelassen. Und Zin war erst Jahre später darauf gekommen, woran es lag. Warum Aya so reagierte. Und zu Zins eigener Schande musste er gestehen, dass er diese Sache nie klargestellt hatte. Gerade jetzt war ihm so klar wie nie zuvor, dass es Zeit wurde, das zu ändern. „Aya, ich –“ Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals und ihr Körper bebte, während sie zitternd Luft holte. „Ich hatte solche Angst um dich, Zin.“ Scheiße. *** „Ist es heute so voll, oder bin ich einfach nicht mehr daran gewöhnt?“, fragte Viola niemand Bestimmten, als sie ihr Tablett auf der Theke abstellte und einen Moment durchatmete. Schweiß stand ihr in feinen Perlen auf der Stirn, saß ihr im Nacken, zwischen den Brüsten und lief auch langsam aber sicher in kleinen Rinnsalen jedes Tal ihres Körpers hinab. Sie fühlte sich zittrig, verklebt und einfach nur noch unwohl, während noch sechs weitere Horrorstunden vor ihr standen und sie keine Ahnung hatte, wie sie diese überleben sollte. „Vielleicht beides. Aber mach dir nichts draus.“ Es war Dans ruhige Stimme, die sie aufsehen und leicht lächeln ließ, obwohl ihr wirklich nicht mehr nach Lächeln zumute war. Doch er war ihr Boss und sie hatte ihn noch nicht einmal anbetteln müssen, dass er sie wegen ihrer Nachlässigkeit doch bitte nicht feuern möge. Er hatte nur erleichtert reagiert, als sie anrief und auch jetzt lag kein Tadel in seinem Blick, während er ein kühles Budweiser nach dem anderen zapfte. „Ich versuch's.“ Das tat sie wirklich. Aber es war verdammt schwer, mit ihren zittrigen Händen, den Hitzewallungen und ihrem verkrampften Körper ihren Job nach Gutdünken zu erledigen. Eigentlich hätte sie ihm gerne gesagt, dass sie sich lieber hinlegen und sich in ihrem Bett winden wollte, anstatt weiter zu machen. Doch Dan hatte ihr gegenüber schon so viel Nachsicht gezeigt, sie konnte ihn jetzt nicht einfach im Stich lassen. Also warf sie sich verstohlen noch eine Schmerztablette ein und spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter, das ihr sofort noch mehr Perlen auf die Stirn zu treiben schien, nun, da ihr Körper noch mehr Flüssigkeit zum Verdunsten zur Verfügung hatte. Danach nahm sie ihr Tablett mit den Bestellungen wieder auf, um weiter ihrer Arbeit nachzugehen. Jeder Schritt durch das dichte Gewühl der Leiber war die reinste Qual und es wunderte sie, dass keiner ihr Unwohlsein zu bemerken schien. Einerseits gut, andererseits hätte das vielleicht bedeutet, dass man sie weniger strapazierte und dafür mehr Trinkgeld gab. Aber das war natürlich reines Wunschdenken. Zwei Stunden später war sie kurz davor, jemanden das Tablett ins Gesicht zu knallen, obwohl ihr Lächeln etwas ganz anderes zu sagen schien. Sie bekam es gar nicht mehr aus dem Gesicht. Es wirkte dabei noch nicht einmal gezwungen, obwohl es dort wie festgetackert hing und gar nicht mehr weggehen wollte. Aber besser sich zu Tode lächeln, als sich vor Schmerzen zu krümmen. Scheiße ... Diese verfluchten Tabletten halfen nicht mehr wirklich etwas, und wenn sie sich noch mehr von den Dingern reinpfiff, dann könne sie sich gleich auf einen der Tische legen und ins Koma fallen. Dabei spielte ihr Körper ohnehin schon total verrückt. Viola schwitzte nun tatsächlich aus allen Poren und was viele eigentlich abschrecken sollte, bewirkte bei ihr genau das Gegenteil. Denn wenn sie schwitzte, dann sah sie danach aus, als hätte sie sich ausgiebig im Bett vergnügt und das ließ inzwischen schon so manche Blicke nach ihr umdrehen. Vor allem von den Typen, die inzwischen schon einiges an Alkohol intus hatten. Um diese Uhrzeit wirklich kein Wunder. Als dann zum dritten Mal jemand am Saum ihrer engen Shorts zupfte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, reichte es ihr endgültig. Viola nahm das leere Tablett in die linke und schnappte sich mit der rechten die Hand des Kerls, der ihr schon seit einer Weile unangenehm aufgefallen war. Mit einem einzigen Ruck riss sie dessen Handgelenk in einem unnatürlichen Winkel herum und was eigentlich nur eine abschreckende Geste hätte werden sollen, wurde durch ihren Missmut zu Körperverletzung. Der schmierige Kerl mit dem Doppelkinn und dem schütteren Haar jaulte auf, entzog sich ihrer Hand und sah sie in seinem Rausch fassungslos an, ehe er laut zu schreien begann. „Du hast mir die Hand gebrochen!“ Nein, nicht gebrochen, aber schön verstaucht. „Und du meine Intimsphäre!“, fauchte sie so finster zurück, dass sogar die zwei Kumpels des Grabschers vor ihrem Blick zurückwichen. Danach knallte sie ihnen das Tablett auf den Tisch. „Ich hab die Schnauze voll von euch versoffenen Pennern!“ Mit einem Ruck drehte sie sich herum, bahnte sich einen Weg durch die glotzende Menge und verschwand mit wütenden Schritten im Bereich für Angestellte. Oh Gott. Sie musste tatsächlich kotzen. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert. Nicht einmal nach einer total abgefüllten Nacht hatte sie sich am nächsten Morgen oder noch währenddessen übergeben müssen, was dank ihres Metabolismus wohl auch nicht möglich war, aber jetzt hing sie über der Kloschüssel der Damentoilette und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Erst da, erst jetzt in diesem Augenblick, begann sie langsam zu begreifen, dass das alles hier nicht mehr normal war. Dass diese Krämpfe sich trotz der starken Schmerzmittel außerhalb der Norm befanden. Dass sie zudem unnatürlich starke Blutungen hatte, wie es eigentlich bei gewöhnlichen 'Zwischenblutungen' nicht sein sollte und dass ihr ganzer Körper verrückt spielte. Von Monat zu Monat mehr. „Viola?“ Jemand klopfte an die Tür, riss sie damit kurz aus ihren Überlegungen. Sie antwortete, in dem sie sich erneut über die Schüssel hängte und würgte. Sie sollte zu einem Arzt gehen. Ein weiteres Würgen. Als könnte sie so einfach zu einem Arzt gehen! Auch wenn sich die menschliche Anatomie nicht von ihrer menschlichen Seite unterschied, galt das Gleiche jedoch nicht für ihre Gene, ihren Zellaufbau, ja noch nicht mal für ihren beschissenen Stoffwechsel, der derzeit dafür sorgte, dass sie die Schmerztabletten wie Kohlen in einem Hochofen verbrannte. Dan steckte den Kopf zur Tür herein und kam sofort mit äußerst besorgter Miene zu ihr, als er sie auf dem Boden vorfand. „Mein Gott, Viola, was ist los?“ Am liebsten hätte sie ihn einfach weggeschubst. Sie konnte ihn im Augenblick nicht ertragen. Eigentlich konnte sie gerade überhaupt niemanden ertragen. Sie wollte allein sein. Allein mit ihrer Schwäche. Allein mit ihren Sorgen und auch allein mit ihren Ängsten. Denn das war sie schon, solange sie denken konnte, und das würde auch immer so sein. Nur dass es da eben doch Menschen oder Personen in ihrem Leben gab, die ihr das nicht durchgehen ließen. Dan war einer davon. „Schlechter Magen“, bekam sie schließlich krächzend hervor, während ihr Hals brannte. Sie würde ihm jetzt sicherlich nicht die blutigen Einzelheiten ihrer Pein erzählen. Männer verstanden sowas ohnehin nicht in im vollen Ausmaße, warum es also überhaupt versuchen? Auf dem Weg zu ihr nahm er ein paar Papierhandtücher mit, ehe er sich neben sie in die enge Kabine quetschte. „Hast du was Falsches gegessen? Soll ich dich vielleicht zum Arzt bringen?“ Viola zwang sich dazu, ihn nicht abzuwehren, genauso wie seinen Vorschlag, sondern nahm stattdessen die Papierhandtücher und wischte sich damit den Mund ab. „Nein, schon in Ordnung. Hab heute noch nicht mal was gegessen. Vielleicht ... keine Ahnung. Egal. Krieg ich jetzt eigentlich Ärger?“ Verständnislos sah er sie mit seinen haselnussbraunen Augen an. „Wegen was?“ „Der besoffene Penner? Die verstauchte Hand? Du erinnerst dich?“ „Ach der.“ Dan winkte ab und half ihr stattdessen auf die zittrigen Beine zu kommen, nachdem er sichergegangen war, dass sie sich nicht noch einmal übergeben musste. „Wenn du nicht so schnell reagiert hättest, hätte ich es getan. Ich hab ihm Hausverbot erteilt und sollte er noch einmal meine Mitarbeiterinnen belästigen, wird ein verstauchtes Handgelenk seine geringste Sorge sein. Das verspreche ich dir.“ Viola lächelte schwach. Ja, das war ihr Boss. „Willst du nicht lieber nach Hause gehen?“, fragte er schließlich wieder in seinem väterlich besorgten Tonfall. „Ich fahre dich auch. Ist sowieso nicht mehr allzu viel los in der Bar. Den Rest schaffen auch die anderen.“ „Nein.“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Danke, Dan. Ich ... komm schon klar. Aber du hast recht. Ich glaube nicht, dass ich dir heute noch großartig eine Hilfe sein kann.“ Betroffen senkte sie den Blick und wusch sich stattdessen die Hände. „Es tut mir leid, dass ich dich in letzter Zeit so in Stich lasse. Es ist nur ...“ Ihre Hände hielten inne. Zitterten unter dem kühlen Wasserstrahl und zugleich musste sie an andere Hände denken. Lange schlanke Finger, die mit weichen, nachgiebigen Schwimmhäuten unzertrennlich verbunden waren. „... es läuft gerade nicht alles so rund, wie es sollte. Das ist alles.“ Viola spürte eine große, warme Hand auf ihrer Schulter, die sie beinahe niedergedrückt hätte. Nicht wegen des Gewichts, sondern wegen der Geste an sich. Gerade jetzt, wo sie sich so mies fühlte, hungerte sie nach Zuneigung. Aber obwohl Dan ihr bisweilen wie ein Vater war, blieb er am Ende doch ihr Boss. Sie nahm, was er ihr bereitwillig gab, aber sie würde nichts verlangen. „Mach dir nichts draus“, riet er ihr erneut an diesem Tag. „Ich weiß doch, dass ich mich auf dich verlassen kann, wenn ich dich brauche und du kannst den Job so lange haben, wie du ihn haben willst. Das wird sich nie ändern. Also mach dir keine Gedanken deswegen. Ich will einfach nur, dass du besser auf dich selbst aufpasst. Ginge das?“ Sie hob den Blick und lächelte schwach. „Ich werd’s versuchen.“ *** Wie nur? ... Wie? Die Frage stellte sich Zin, seit er Ayas Schultern genommen und sie ein Stück von sich geschoben hatte. Bestimmt nicht grob oder abweisend, aber doch so bestimmt, dass sie ihn einerseits überrascht und andererseits fast schon argwöhnisch ansah. Wie sollte er es ihr sagen? Er hatte so viele Jahre Zeit gehabt, es sich zu überlegen. Wäre er früher mit der Sprache herausgerückt ... Aber das war er nicht. Und Aya hatte zwar viele erste aber doch nie den entscheidenden Schritt getan. Wenn man es genau betrachtete, musste Zin sich wie ein Arschloch vorkommen. Er hatte Aya bloß nicht gesagt, dass aus ihnen nie etwas werden würde, weil er sie als Freundin nicht verlieren wollte. Er hatte Angst gehabt. Schlicht und ergreifend. Und auch jetzt hatte er Angst. Davor, dass sich Aya vollkommen von ihm abwenden würde. Dass ihre Freundschaft die Wahrheit nicht überstand. Nicht einmal nach Jahrzehnten. Wie konnte er ihnen beiden nur so wenig zutrauen? Und noch dazu ... gleichzeitig Aya unterstellen, dass sie verliebt in ihn war? Genau. Das war das eigentliche Problem, oder nicht? Der Grund, warum er nie etwas gesagt hatte. Sie konnte auch nur anhänglich sein. Wie eine Schwester. Ja, bestimmt war das auch – Zin schüttelte kurz über sich selbst den Kopf. Von wegen Schwester. Seine kleine Schwester ging nicht so mit ihm um, wie Aya es tat. Ila hätte ihn vermutlich eher in den Hintern getreten, als sich an ihn zu kuscheln. Zumindest, wenn die coolen Jungs oder jemand anderes Wichtiges es sehen könnte. Wellen schlugen leise gegen die Seite des Vulkankegels und Ayas grüne Augen funkelten wie Seetang, als Zin sie so an den Schultern hielt und in ihr Gesicht blickte. Ihre Lippen öffneten sich leicht, bevor sie sie wieder schloss und für einen Moment so fest aufeinander presste, dass sämtliches Blut aus ihnen wich. „Wir sollten zu den Anderen schwimmen. Die Diskussion ist in vollem Gange, seit ihr zurück seid.“ Aya sah zur Seite. Aufs Meer hinaus. „Es ist gut, dass du wieder hier bist. Du hast dem Schwarm gefehlt.“ Dass die Diskussion in vollem Gange war, hielt Zin für eine absolute Untertreibung. Normalerweise war es in der 'Halle', einem großen Raum im Kegel mit kuppelartiger Decke, sehr still. Hier traf sich der Schwarm, um wichtige Entscheidungen zusammenzutreffen, sich die Routen für die großen Wanderungen zu überlegen oder eine Vereinigung vor allen bekannt zu geben. Das ging immer sehr gesittet vonstatten. Einer hatte das Wort, die anderen hörten zu. Wenn jemand etwas zu sagen hatte, dann tat er es ruhig. Wie in einem normalen Gespräch auch. Nur dass eben mehr Leute anwesend waren. Aber heute ... Zin klingelten die Ohren von dem ganzen Durcheinander an Klick-, Pfeif- und Sprechlauten. Er konnte sich kaum auf die Meermenschen konzentrieren, denen er wirklich zuhören wollte. Das ganze Gewimmel an Sprache wurde von den Wänden zurückgeworfen, verstärkt und verursachte bestimmt nicht nur ihm langsam aber sicher Kopfschmerzen. Außerdem brachte diese 'Unterredung' hier gerade absolut überhaupt nichts. Es war geradezu traurig, wie sich die Mitglieder des Schwarms in Rage redeten, ihre persönlichen Verluste gegen die Verluste der Menschen aufrechneten. Zin sah, wie sich einige schon jetzt vorstellten, Rache zu nehmen. Das war ... alles andere als gut. Das konnte nicht gut ausgehen. Eigentlich ... sollte diese Reaktion auf das Unrecht, das man ihnen angetan hatte, allen Anwesenden echte Furcht einflößen. Ein paar schien es tatsächlich in diese Richtung zu ziehen. So sah zum Beispiel Sal immer wieder mit einer Grimasse zu Zin hinüber und schüttelte vehement den Kopf über so manche Satzfetzen, die sich ihren Weg über die Köpfe der Anwesenden hinweg bahnten. Es ging um die Idee, die Plattform einzunehmen. Die Menschen in die Flucht zu schlagen. Aber niemand schien so richtig an die Folgen zu denken. Oder kam dieser Gedanke bloß nicht dazu, sich unter den Angriffsplänen durchzusetzen? Kam denn keiner darauf, dass sich nicht alles von selbst regeln würde, wenn diese Menschen sich wirklich vertreiben ließen? Es würden mehr kommen. Viel mehr. Und wenn sich auch nur einer der Meermenschen sehen ließ, hatten sie mehr Probleme, als diese Bohrplattform. Dann würden Forscher kommen. Kamerateams, Biologen und wer weiß was noch alles. Zin wurde bei dem Gedanken ganz flau im Magen. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was im Riff los sein würde, wenn bekannt wurde, dass es Arielle wirklich gab. Wenn auch in sehr viel weniger kindlicher, aber dafür erschreckend realer Form. Für eine Weile schaltete Zin ab, warf einen verstohlenen Blick zu dem Platz hinüber, an dem Aya normalerweise bei diesen Treffen saß. Die Stelle war leer. Mit einem Seufzen versuchte sich Zin wieder auf das zu konzentrieren, was diskutiert wurde. Pläne und Ideen, Ideen und Pläne. Ihm drehte sich der Kopf davon, bis er aufstand. „Ich habe mir etwas überlegt.“ Viele Augenpaare legten sich auf ihn, sahen ihn forschend und prüfend an. Zin konnte die Blicke auf seiner Haut spüren, auf den Narben an seinem Rücken. Er mochte es nicht, vor allen zu sprechen. Eigentlich wäre ihm alles Andere sehr viel lieber gewesen. Aber er konnte nicht einfach nur weiterhin zuhören. Nicht, wenn er etwas Konstruktives beitragen konnte. Oder zumindest glaubte, sie vorwärts zu bringen. „Es geht um die Plattform. Darum, wie sie gebaut ist. Mir ist etwas eingefallen ... das uns helfen könnte, sie außer Gefecht zu setzen.“ Stille breitete sich in der Höhle aus. Wartend und umfassend. Sie ... hörten ihm zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)