Black Rain von chronographics ================================================================================ Kapitel 15: Interlude: Kyo-ni ----------------------------- Nervös trommelte Kyo mit dem Stift auf den Block, den er vor sich liegen hatte. Die Vorlesung zog ungehört an ihm vorbei. Was sollte er nur mit Die machen? Das der Rotschopf magersüchtig war, war ihm in den letzten Tagen mehr als klar geworden. Immerhin hatte er in der Nervenheilanstalt, in der seine Mutter behandelt worden war, genügend Frauen mit der Krankheit gesehen um zu wissen, was das hieß. Und er verstand auch genug von Psychologie um zu wissen, wie es in Die aussah. Es deutete alles darauf hin. Die Fragen vor Wochen in der Mensa, die Stimmungsschwankungen, der Streit mit Toshiya, die plötzlichen Aussetzer, der Kreislaufkollaps... Nur was sollte er tun? Wieder mit Die reden? Wieder eine Abfuhr kassieren und einen erneuten Streit heraufbeschwören? Musste er seinen Freund erst in eine Klinik schleifen, damit dieser zur Vernunft kam? Er hielt es nicht mehr aus. Er musste hier raus. Mit einem Ruck raffte er die Sachen, die er vor sich liegen hatte zusammen, quetschte sich rücksichtslos an denen, die noch im Saal standen oder auf dem Boden saßen vorbei und verließ fluchtartig den Hörsaal. Draußen angekommen zündete er sich eine Zigarette an, zog an ihr und warf sie dann in einem Anfall von Verzweiflung auf den Boden und stampfte darauf herum. «Ruhig Kyo, es nützt nichts, wenn du jetzt selbst noch durchdrehst... aber was jetzt?» Er lief über den Campus, bis er an den Baum kam, unter dem er Die vor einigen Wochen angetroffen hatte. Ein guter Platz um in Ruhe über alles nachzudenken. Er warf seine Tasche auf den Boden und setzte sich darauf. Obwohl es bereits Winter war, war es doch wieder recht warm. Sollte er das Versprechen, das Die ihm aufgezwängt hatte brechen und mit den anderen darüber reden? Oder würde das alles nur noch schlimmer machen? Was hatten die Ärzte in der Klinik wohl mit den magersüchtigen Frauen gemacht? Er fühlte sich hilflos. Wie immer. Und der Schmerz, mit dem er selbst zu kämpfen hatte, stieg wieder in ihm hoch. Aber er hatte nichts, womit er sich selbst verletzen konnte. Er schlang die Arme um seinen Körper und presste sie so fest an sich, bis es schmerzte. Langsam ließ der Druck in seinem Inneren nach. Eine gute Stunde war vergangen, als ein Schatten über ihn fiel. "Kyo, was machst du denn hier? Hast du Die gesehen?" Kaorus lächelndes Gesicht schob sich in sein Blickfeld. "Nö, keine Ahnung. Ich hab ihn heute noch nicht gesehen." "Und was ist mit dir? Siehst ziemlich fertig aus." "Zuwenig Schlaf." "Verstehe." "Sag mal Kao..." Kyos Gedanken rasten. Wie sollte er Kaoru um Hilfe bitten, ohne dass dieser mitbekam, um wen es eigentlich ging? "Ja, was?" "Ähm ein Mädchen, das ich kenne... ähm, sie ist... naja... sie macht eine Diät nach der anderen... und also, ich befürchte, dass sie magersüchtig werden könnte... und hast du ne Idee, wie ich sie davon abbringen könnte?" Jetzt war es heraus. Nicht ganz die Wahrheit, aber besser als nichts. Kaoru blickte Kyo erstaunt an. Seit wann machte sich der Jüngere Sorgen um Mädchen? "Ist was?" Kyo funkelte ihn ärgerlich an. "Nein, nein, nichts." wehrte Kaoru ab "Naja, wie könntest du ihr helfen... ich habe zwar auch keine Ahnung, aber du könntest ihr vielleicht ein Bild unter die Nase halten, auf dem eine Person mit extremer Magersucht drauf ist. Und sie mal fragen, ob sie das wirklich noch schön findet. Aber ansonsten... nö, keine Ahnung." Ja, das war eine Idee... Aber ob das bei Die wirken würde? Schließlich war er nicht mehr auf dem besten Weg in die Magersucht, sondern er steckte bereits ziemlich tief darin. Und würde er es nicht als Ablehnung auffassen, wenn man ihm sagte, dass das, was er tat, "nicht mehr schön" war? "Also ich muss dann mal weiter. Halt die Ohren steif!" Kaoru grinste Kyo noch ein weiteres Mal an, bevor er sich wieder in Richtung Hörsaal davon machte. Kyo zog sich eine neue Kippe aus der Schachtel und steckte sie an. «Ein Bild von einer Magersüchtigen... oder besser einem Kerl... wo krieg ich so was nur her? Na klar, in der Bibliothek haben die sicher was darüber...» Mit diesen Gedanken erhob er sich ebenfalls und ging in Richtung Bibliothek. "Also über Annorexia Nervosa? Ja, da müssten wir etwas da haben. Einen Moment, ich schaue nach." Kyo verdrehte die Augen. Irgendwie kam er sich komisch vor. Und nicht nur das. Er fühlte sich absolut unwohl in seiner Haut. Würden ihn die ganzen Bilder nicht wieder daran erinnern, was er gesehen hatte, damals in der Psychiatrie? Das was er immer versuchte zu verdrängen, weil er es nicht verarbeiten konnte? Was, wenn er sich nicht mehr unter Kontrolle haben würde, wenn er heute Abend wieder alleine war? "Im zweiten Stock, Abteilung Psychologie 3. Regal. Sparte E." "Danke." «Oh mein Gott, wie kann man sich so etwas nur antun?» mit fassungslosem Blick blätterte Kyo das Buch durch in dem Bilder von allen möglichen Auswirkungen der Magersucht abgebildet waren. «Wie kann man nur so etwas mit seinem Körper anstellen...» gedankenverloren rieb er sich über die Kratzer an seinem Unterarm, die angefangen hatten zu heilen und deshalb juckten. Eine davon riss auf und er verrieb das Blut, ohne es zu bemerken, auf seinem Arm. Ja, da war ein geeignetes Bild. Das würde er kopieren und es Die unter die Nase halten. ++++++++++++++++++++++++++++++ Der Anrufbeantworter blinkte. Immer wieder blinkte das rote Licht auf. Bedrohlich in dieser dunklen Wohnung. Ihn fröstelte. Zögernd drückte Kyo auf die Taste für "Abspielen". Kyo schüttelte angewidert den Kopf. Was kümmerte ihn sein Vater? Was war er froh, nichts mehr mit diesem Säufer zu tun zu haben. Das wusste seine Mutter doch nur allzu gut. Was nervte sie ihn denn jetzt immer noch mit ihm? Hatte er sein Leben nicht genügend kaputt gemacht? Konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Ein bitteres Lachen hallte durch die Stille. Was wollte sie denn noch alles? Er wollte nichts als seine Ruhe. Fassungslos starrte Kyo in die Dunkelheit. Das Blinken des Anrufbeantworters hatte aufgehört. Jetzt hatte er doch, was er wollte, oder nicht? Sein Vater würde ihn für immer in Ruhe lassen. Und auch seine Mutter hatte nun keinen Grund mehr, ihn damit zu belästigen. Sie könnten ihn doch ab jetzt alle mit der Vergangenheit zufrieden lassen. Aber warum tat es so weh? Er hatte seinen Vater doch immer so gehasst. Der Schmerz schnürte ihm fast die kehle ab. Verzweifelt rang er nach Luft. Ein Keuchen kam aus seiner Kehle, und die Tränen, die ihm die Luft abgeschnürt hatten, brachen hervor. Alles, was er die Jahre zuvor unterdrückt hatte, kam auf einen Schlag hervor. Warum hatte sein Vater das getan? Was hatte er ihm getan? War er so ein schlechter Mensch, dass er geschlagen werden musste? Nicht liebenswert. Musste man ihn schlagen? Immer mehr Erinnerungen überfluteten ihn. Aber er wollte es nicht. Wollte sich nicht wieder an alles erinnern müssen. Er sprang auf und rannte ins Schlafzimmer. Riss sich seinen Pulli vom Leib, griff sich eine Scherbe und begann zu ritzen. Heftiger und immer tiefer, bis das Blut in Strömen seinen Oberkörper hinab floss. Er konnte nicht mehr, wollte nichts mehr fühlen. Der Schmerz in seinem Inneren sollte endlich aufhören. Mit letzter Kraft schlug er erneut in de Spiegel. Dieses Mal zersplitterte er vollständig. Mit einem lauten Klirren fielen die Scherben wie ein Wasserfall auf den Boden. Er hatte es geschafft... der körperliche Schmerz überlagerte den auf seiner Seele. Er lies sich auf die Knie fallen. Die Scherben spürte er nicht mehr. Konnte es nicht mehr. Er musste durchhalten. Irgendwann würde es besser werden. Er würde es schaffen durchzuhalten Es konnte ihm ja nicht nur schlecht gehen. Durchhalten... für sich und für Die. Der durfte nicht daran kaputt gehen, dass Kyo der Einzige war, der ES wusste, und unfähig war, seinen eigenen Schmerz auszuhalten. Nicht mehr lange und er würde sicher das Ende des Tunnels erreicht haben... Mit diesen Gedanken wurde er ohnmächtig. Anmerkungen Kurotani: aus den Kanji kuro (= schwarz) und tani (= Tal) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)