Black Rain von chronographics ================================================================================ Kapitel 7: Interlude Kyo (I) ---------------------------- Es klingelte. Kyo erhob sich aus der kauernden Position in der er letzten paar Stunden verbracht hatte. Ein Blick durch den Türspion sagte ihm, dass dort eine der Personen stand, die zu sehen er am Allerwenigsten das Bedürfnis hegte - seine Mutter. Aber was blieb ihm anderes übrig, als zu öffnen. "Hallo Tooru -chan. Darf ich reinkommen?" flüsterte sie heiser. Kyo schwieg und trat einen Schritt zur Seite. "Ich hab dir auch was mitgebracht." Sie zog das Tuch von einem Korb der neben einigen Äpfeln einige Flaschen und Einmachgläser enthielt. "Das kannst du doch sicher gebrauchen, oder?" unsicher lächelte sie ihren Sohn an, der sie bis jetzt schweigend gemustert hatte. "Stell das Zeug einfach dahin." er deutete auf die Anrichte in der Küche. Er wusste, dass sie wieder unter starken Antidepressiva stehen musste. Die fahrigen, unsicheren Bewegungen und die geweiteten Pupillen verrieten sie. "Was willst du?" Kyo machte sich nicht die Mühe, die Abscheu, die er empfand, zu verbergen. "Tooru - chan, deinem Vater geht es nicht gut, sie haben ihn vorgestern Morgen in die Klinik gebracht. Verdacht auf Leberkrebs." "Wundert dich das? Mich nicht. Es war sowieso nur noch eine Frage der Zeit, bis der Alte endlich mal die Quittung für sein Leben bekommt." "Aber Tooru! Er ist doch dein Vater..." Kyos Mutter blickte ihn entsetzt an und ihre Stimme zitterte. "Vater... Pah! Erzeuger, das trifft es wohl eher, meinst du nicht auch?" Seine Stimme war eiskalt und verbarg den Schmerz, der jetzt in seinem Inneren brannte. "Willst du ihn nicht wenigstens einmal besuchen? Er braucht dich..." die Stimme seiner Mutter klang flehend. "Was der braucht ist nur seine Schnapsflasche und sonst nichts, das weißt du ganz genau." «Geh endlich. Hau ab und lass mich allein. Hör auf, alles wieder auszugraben, was ich gerade erst verdrängt habe. Hau endlich ab!» "Aber..." "Ich werde ihn nicht besuchen. Du weißt ganz genau warum!" unterbrach Kyo frostig einen erneuten Versuch seiner Mutter. Diese erhob sich jetzt schweigend von dem Küchenstuhl, auf dem sie bis jetzt zusammengekauert gesessen hatte. In ihren Augen konnte er gerade noch die Wut sehen, die wohl die dämpfende Wirkung der Medikamente überwunden hatte, und dann spürte er einen festen Schlag in seinem Gesicht. Die Tür fiel krachend ins Schloss und es herrschte Stille. «Scheiße» Blut rann aus seiner Nase und tropfte auf die Tischplatte vor ihm. Er wusste, dass der Schlag seiner Mutter einen blauen Fleck in seiner blassen Haut hinterlassen würde. Er wischte das Blut mit dem Ärmel weg. Ausgerechnet heute musste seine Mutter hier auftauchen, wo er doch mit Ayumi verabredet war. Ayumi war seine Freundin geworden, nachdem er mit Mineko Schluss gemacht hatte. Aber auch bei ihr war es wie bei ihren Vorgängerinnen. Er war zwar mit ihr zusammen, konnte für eine kurze Zeitspanne Spass mit ihr haben - aber Liebe war es nicht. Er hatte keine Frau in seinem Leben jemals geliebt, sie waren für ihn nur Mittel zum Zweck gewesen, nämlich um zu vergessen. Die Realität um nur einen kurzen Augenblick zur Seite schieben zu können. ++++++++++ "Du gehst?" Ayumi richtete sich auf und schlang die dünne Bettdecke um ihren nackten Körper. Kyo suchte seine Kleider zusammen, die um das Bett herum verstreut lagen und begann sich anzuziehen. Er rieb mit einem einer Ecke der Bettdecke über seine nackte Brust um die Spuren von ihrem blassrosa Lippenstift von seiner Haut zu entfernen. «Wie Male in auf meine Haut gepresst... wie ein Stigma» Als er angezogen war drehte er sich ihr um. "Ayumi, sei mir nicht böse, aber es ist aus zwischen uns beiden!" Er sah, wie sich ihre Augen weiteten und mit Tränen zu füllen begannen. "Aber, warum, was... was habe ich denn falsch gemacht?" quetschte sie hervor. "Nichts, aber ich liebe eine Andere." «Eine eiskalte Lüge... aber wie soll ich jemandem klar machen, der mich liebt, dass ich mich selbst nicht dazu in der Lage sehe?» Er drehte sich um, schloss die Tür hinter sich und ging. Er wollte ihre weitere Reaktion lieber nicht abwarten, er wusste ja, dass sie so reagieren würde, wie alle anderen vor ihr. Entweder mit weiteren Weinattacken oder mit wüsten Beschimpfungen. «Wohl er mit Geheule... sie ist nicht der Typ, der jemandem Schimpfwörter an den Kopf haut» Ein falsches Grinsen huschte über sein Gesicht. Er stieg in die U-Bahn, die ihn zurück zu seiner Wohnung bringen würde, ließ sich auf einen Platz in dem leeren Wagen fallen und zündete sich eine Zigarette an. Er lehnte den Kopf an die Scheibe und sah hinaus, wie die grauen Betonwände, an manchen Stellen wagemutig mit Grafitti beschmiert, an ihm vorbeizogen. Er ließ den Abend Revue passieren. Sie waren in einer kleinen Karaokebar gewesen, in die ihn Ayumi gezerrt hatte. Sie hatte ihn nicht überreden können, mit ihr zu singen. Also hatte sie sich alleine hinter das Mikro gestellt und ein Lied zum Besten gegeben. Ausgerechnet von Britney Spears, die für Kyo nur ein Beispiel von absoluter Anti - Musik war. Nachdem Kyo keine Lust mehr hatte, sich weiteres Gejaule in dieser Richtung anzuhören, waren sie zu Ayumi nach Hause gefahren. Sie waren schließlich in ihrem Bett gelandet. Er hätte an diesem Abend nicht wirklich Sex haben müssen, aber Ayumi hatte beschlossen, ihn für den Karaokebar - Besuch zu entschädigen. Er war vor seiner Haustür angekommen und suchte nach dem Schlüssel. Er war froh, dass er endlich wieder in seinen eigenen vier Wänden war. Seine Haut fühlte sich an, als würde sie immer noch mit Lippenstift befleckt sein. Er riss die Klamotten, die nach einer Mischung aus kaltem Rauch, Bar und ihrem Parfüm rochen, von seinem Körper und stellte sich unter die Dusche. Sie hatte ihm das zerrissene Hemd ausgezogen und seinen Oberkörper mit Küssen bedacht. Hatte sich und ihn schließlich ganz entkleidet... Kyo schüttelte sich bei diesem Gedanken. Er ekelte sich regelrecht davor. Das war eines von den Dingen, die er am meisten hasste. Er hasste es, sich einem anderen Menschen körperlich so auszuliefern. Solange er die Führung übernehmen konnte, war es okay. Aber anders herum... Er drehte das Wasser ab und schlang sich ein Handtuch um die Hüften. Ein Blick in den Spiegel an der Wand zeigte ihm, dass die Stelle, an der seine Mutter ihn getroffen hatte, blau geworden war. Jetzt, da er sich die Schminke abgewaschen hatte, war es deutlich zu erkennen. Im blassen Licht, dass von der Straße in sein Zimmer fiel, konnte er deutlich die Umrisse seines Körpers im großen Spiegel seines Schrankes erkennen. Da war dieses kleine blonde etwas, das er selbst war und starrte ihm entgegen. Musterte ihn überall. Ließ den Blick über seine schmalen Hüften gleiten. Den Oberkörper entlang bis hinauf ins Gesicht und sah ihm in die Augen. Verzog hasserfüllt das Gesicht, holte aus und schlug zu. Mitten in sein eigenes Abbild. Scherben fielen klirrend auf den Boden. Dort, an der Stelle, an der die Haut das Herz bedeckte klaffte ein schwarzes Loch, von Rissen im Spiegel umgeben. «Wie passend... mitten ins Herz... da ist doch sowieso nichts mehr vorhanden... oder würde ein Mensch der so etwas besitzt SO mit denen, die mich lieben umgehen? ... herzlos... es passt.» Blut rann seine Hand hinunter. Er bückte sich, nahm eine Scherbe und zerquetschte sie in einem Schwall warmen roten Blutes. Er ließ sie wieder fallen und Blickte erneut sein Spiegelbild an. Er hob die Hand und begann sich selbst nachzuzeichnen. Rote Streifen zogen sich über den gesprungenen Spiegel. Er hasste sich. Seinen Körper. Seine Vergangenheit. Seine Mutter. Und Ayumi. Aber am meisten sich selbst. Kyo torkelte rückwärts, stolperte über eine Falte seines Bettvorlegers und fiel der Länge nach auf den Rücken. Es tat weh, denn sein Schmerzempfinden kehrte langsam zurück. Aber er hatte keine Kraft mehr, wieder aufzustehen. Da war sie wieder... die grausame Erinnerung an seine verkorkste Kindheit. Sie überfiel ihn jedes Mal, wenn er sowieso schon am Boden zerstört war. Er schlug sich die Hände vors Gesicht. Wie ein Film zog Erinnerung für Erinnerung an ihm vorbei. Er konnte es nicht abstellen... Die Erinnerung, die am weitesten in seine Kindheit zurückreichte war das Bild einer zerknüllten Zigarettenschachtel und der Geruch von Alkohol. Sein Vater trank, solange er zurückdenken konnte. Wenn er abends von der Arbeit kam, war oftmals bereits betrunken. Oder er kam mitten in der Nacht nach Hause zurück und riss ihn durch sein wütendes Gebrüll wieder aus dem Schlaf. Wie oft hatte er ihn geschlagen, wenn er sich nicht rechtzeitig versteckt hatte? Er wusste es nicht. Die blauen Flecken waren verblasst, aber die Narben an seiner Seele waren geblieben. Seine Mutter hatte sich nicht gewehrt. Stattdessen war sie depressiv geworden. Ihren Kummer betäubte sie mit Schmerz- und Schlaftabletten. Schließlich war sie ausgezogen. Aber von ihrem Mann hatte sie sich nie ganz lösen können. Immer wieder ging sie zu ihm, blieb einige Tage dort und kehrte eingeschüchtert und mit Striemen am Hals wieder zurück. Eines Tages war sie auf offener Straße schreiend zusammengebrochen. Man hatte sie in eine geschlossene Anstalt eingeliefert. Das war als Kyo gerade zehn Jahre geworden war. Kyo, damals noch zu klein um alleine in der Wohnung bleiben zu können, wurde von einer Freundin seiner Mutter aufgenommen. Er hatte sie nicht gemocht. Jetzt hasste er sie. Tante Teiko hatte er sie nennen müssen. Teiko... geschrieben mit den Kanji für rechtschaffen und Kind. Der Name - eine einzige Lüge. Kyo begann bei dem Gedanken an sie zu zittern. Er schlang sich die Arme um seinen Bauch, als wolle er seine Gedanken davon abhalten, über ihn herzufallen. Herzufallen so wie sie es getan hatte. Als er zu ihr kam, hatte sie ihn mit einem Lächeln empfangen. Es sollte wohl freundlich aussehen, aber Kyo hatte mit dem sicheren Instinkt eines Kindes gespürt, dass sich etwas anderes hinter dieser Fassade verbergen musste. Die ersten Wochen war alles gut gegangen. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Ärzte ihm die Besuche bei seiner Mutter untersagt hatten, weil sie fürchteten, dass sie ihrem Sohn etwas antun könnte. An diesem Abend hatte Teiko darauf bestanden, dass er mit ihr badete. Sie hatte ihn überall berührt und ihm feuchte Küsse auf die Haut gedrückt. Er hatte geweint und sie angefleht, dass damit aufhören soll. Aber sie hatte sich nicht darum gekümmert. Immer wieder und wieder hatte sie seinen kleinen Körper missbraucht. Irgendwann hatte er nicht mehr geweint, sich nicht mehr gewehrt. Er hatte es einfach über sich ergehen lassen und seine Gefühle verschlossen bis er nichts mehr fühlte, außer einem dumpfen Schmerz. Er fühlte sich nur noch schmutzig. Nach über 3 Jahren wurde seine Mutter schließlich entlassen. Zugepumpt mit Psychopharmaka. Kyo war froh, endlich wieder zu seiner Mutter zurückzukommen. Doch gleichzeitig begann er sie dafür zu hassen, dass sie zuließ, was Teiko mit ihm machte. Als er es ihr erzählt hatte, hatte sie nur mit den Schultern gezuckt und weiter vor sich hingedämmert. Und ihn jedes Mal, wenn sie für einige Tage zurück in die Klinik musste, zu Teiko geschickt. Eines Tages fand Kyo seine Mutter weinend im Wohnzimmer auf. Teiko war tot. Sie hatte sich das Leben genommen mit einer Überdosis Schlaftabletten. Die Urne, die in die Erde hinab gelassen wurde, war das letzte, was Kyo von ihr sah. Seine Mutter und er waren die einzigen, die der Zeremonie beiwohnten. Trotzdem hinterließ Teiko immer noch ihre Spuren in Kyos Leben. Sie hatte ihm ihr Vermögen vermacht. Blutgeld - wie als Bezahlung dafür, was sie ihm angetan hatte. Seine Mutter hatte ihn in einem klaren Moment dazu gedrängt, das Erbe anzunehmen. So war zumindest seine finanzielle Zukunft gesichert, bis er studiert hatte, und eigenes Geld verdienen konnte. Seinen Vater hatte Kyo kaum noch gesehen, seit er mit seiner Mutter ausgezogen war. Mit dem Geld, das Teiko ihm hinterlassen hatte, war er mit fünfzehn zu Hause ausgezogen. Er lachte nicht mehr und die Schule war ihm egal. Seine Seele war kaputt, in tausend Fetzen zerrissen worden. Als er Kaoru und Die kennen gelernt hatte, und feststellte, dass es doch noch Menschen gab, die ihn nicht betrogen oder misshandelten, und die selbst noch Ziele hatten, erkannte Kyo, dass er doch noch so viel Kraft in sich hatte, um weiter zu kämpfen. Er musste die Schule fertig machen, koste es was es wolle, damit er mit ihnen zusammen auf die Uni gehen konnte. Alles, was von seiner Vergangenheit übrig geblieben war, war die Erinnerung, die ihn immer wieder überfiel. Phasen, in denen er sich selbst verletzte, damit er sich selbst wieder spürte. Teikos Geld, das ihm ein relativ unabhängiges Leben ermöglichte. Und die Angst, von anderen beherrscht zu werden. Kyo richtete sich langsam auf. Sein Körper schmerzte und die Wunde in seiner Hand blutete noch immer. Er setzte sich aufs Bett und stützte den Kopf in die unverletzte Hand. Wie hatte Kaoru ihn neulich genannt? Notgeiler Weiberheld... Ein falsches Lachen zog sich über sein Gesicht. «Kaoru... wenn du wüsstest... aber woher denn auch... ich kann mit niemandem darüber sprechen... warum und wieso... selbst du, der irgendwie immer mitbekommt wenn es irgendwo brennt... selbst du siehst nicht, dass das für mich kein Spass ist... dass ich mir von den Frauen etwas erhoffe, was ich selbst nicht kann... und wenn ich sie dann soweit gebracht habe, quält mich mein Gewissen, und die ganze Scheiße holt mich wieder ein...die ganzen Frauen... sie sind doch nur da, weil ich nicht alleine sein will...» Kyo ließ sich nach hinten fallen. «Aber es hat keinen Zweck... es ist alles so absurd... ich kann tun, was ich will... alles was ich machen kann, ist Texte schreiben und sie vor mir selbst hinausschreien... und dann verhallen sie ungehört in einem leeren Raum... ich kann andere mit meinem dummen Gerede zu Lachen bringen... auch wenn mir innerlich das Wasser bis zum Hals steht...» Zitternd schlief Kyo irgendwann ein, immer noch nur mit dem dünnen Handtuch bedeckt. Das Blut aus seiner Hand versickerte geräuschlos in seiner Bettdecke, bis auch diese Wunde irgendwann von einer dunklen roten Kruste bedeckt war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)