Trakt 304 - Trakt der Hoffnungslosigkeit von Syvelle (Ein junges Mädchen erzählt vom Geschehnis ihres Lebens...) ================================================================================ Kapitel 3: Warum tust du das für uns? ------------------------------------- Kennt ihr das, wenn ihr Menschen kennenlernt, für die ihr eigentlich nur Mitleid empfindet? Ihr wollt sie knuddeln, in den Arm nehmen, streicheln und trösten? Aber dann stellt sich heraus, dass sie gerade dies nicht wollen? Das ist manchmal fast verletzend, nicht wahr? Ich weiß das, ich mache dies gerade selbst durch. Es ist schon ein Monat vergangen, seit ich im Haus der Kirschblüten angekommen bin. Das Haus der Kirschblüten ist im Prinzip nichts als ein Irrenhaus, mit einem Trakt, der sich mit hoffnungslosen Fällen beschäftigt. Im ganzen Trakt leben nur fünf Menschen, mit mir zusammen sechs. Fünf junge Männer, die Ticks haben, von denen irgendwelche Ärzte der Meinung waren, sie seien gefährlich für die Gesellschaft. Die Wahrheit? Eigentlich waren sie ungefährlich. Gut, bis auf Kyo vielleicht. Sie alle klammern sich nur an Dinge, die ihnen etwas bedeuten, haben sich ihre eigene Welt geschaffen und leben darin. Die Ärzte nennen das eine unheilbare Krankheit. Dabei waren es nur Ticks, wie ich es nannte. Und, bis auf Kyo vielleicht, waren sie ungefährlich. Ich lebte immerhin mit ihnen! Und ich wettete, dass auch Kyo ungefährlich war, wenn sich ein Mensch mit ihm beschäftigte und sich um ihn kümmerte. Er hasste Unordnung, sah überall Kakerlaken und roch Angst wie ein Raubtier. Und Angst von anderen machte ihn aggressiv. Er hasste es, dass andere Angst vor ihm hatten. Verständlich, nicht wahr? Eigentlich war er ein guter Mensch. Er kümmerte sich fast rührend um Kaoru, den Ältesten unter ihnen. Kaoru musste ständig schreiben. Er schrieb zusammenhangslose Schriftzeichen oder er verkrampfte seine Hand so sehr, dass nur zitternde Linien entstanden. Er konnte seine Zettel und seinen Stift nicht aus der Hand legen, wenn er nicht wach war, wie Kyo es nannte. Und Kaoru war selten wach. Ich hatte es oft erlebt, dass fremde Pfleger Kaoru sein Schreibzeug weggenommen hatten. Es hatte ihn verwirrt. Hatte ihm Angst gemacht. Er war unter sein Bett gekrochen und hatte seinen Kopf gegen das Lattenrost geschlagen, das in seinem Fall nur noch aus fest zusammengeflochtenen Bändern bestand, damit er sich nicht verletzte. Kyo liebte Kaoru und genau deswegen hatte Kyo auch mal einen Pfleger angegriffen. Und deswegen galt Kyo als aggressiv, angriffslustig und gefährlich. Sie kannten ihn eben nicht. Der dritte im Bunde war ein bildschöner, junger Mann mit einem Lachen bei dem die Sonne aufging. Was an ihm gefährlich war wusste ich nicht. Außer vielleicht, dass er Kindern das Dreirad stehlen würde. Er liebte Spielzeuge, insbesondere Schach. Er hatte viele Schachsets mit verschiedenen Figuren, die klassischen oder auch ganz ausgefallene. Seine Spiele waren sein Stolz. Ich musste oft mit ihm spielen. Aber ich ließ ihn immer gewinnen. Einmal hatte er verloren und er brach in Tränen aus, begann, seine Schaumstoffmatratze zu zerstören. Deswegen ließ ich ihn immer gewinnen. Mit Die zusammen beschützten sie Shinya. Shinya war der Jüngste und er war hübscher als so manches Mädchen. Die nannte ihn einfach ‚meine Kirschblüte’. Er hatte Angst vor Engeln. Oder eher davor, dass er sie töten könnte. Er war der Meinung, der Teufel säße in ihm und er würde jeden Engel töten und essen. Aber seit ich ihm eine Engelssperre in die Tür gemacht hatte, fühlte er sich wohler. Die war da schon komischer. Zu ihm habe ich bis heute nicht wirklich eine Beziehung aufgebaut, wie zu den anderen. Er grenzte sich selbst sehr aus, aber es machte ihn auch nicht unglücklich. Sein ‚Tick’ waren Sanduhren. Hunderte Sanduhren standen in seinem Zimmer, alle Farben, Formen und Größen. Er liebte die Zeit und er war der Meinung, dass jede Sanduhr einen Abschnitt seiner Lebenszeit darstellte. Das hieß, wenn eine kaputtging, hatte er weniger zu leben und wenn er eine geschenkt bekam, dann hatte er länger zu leben. Keiner wollte ihm den Glauben nehmen, auch ich nicht. Aber man durfte sein Zimmer nicht betreten, es sei denn, er hatte einen an der Hand und konnte ihn führen. Jedenfalls waren sie wesendlich ruhiger geworden und durften tagsüber für eine Stunde in den hauseigenen Garten. Der war zwar groß, aber trostlos. Die meisten Bäume waren abgestorben und in den vorderen Bereich, wo die schönen Kischbäume standen, durften sie nicht. Außerdem umgab ein riesiger Zaun den Bereich, in dem sich die fünf aufhalten durften. Eigentlich war es wirklich so, dass sie eingesperrt waren wie Tiere. Ich konnte mir das nicht mit ansehen. So griff ich mir nach zwei weiteren Wochen Kathy, die das Haus ja leitete. „Kathy? Kann ich dich kurz sprechen?“ „Natürlich, was gibt es?“ Okay. Ich musste jetzt Luft holen. Bei Kathy zogen nur Argumente. Gute Argumente. „Es geht im unsere fünf.“, fing ich an. „Oh nein, Kiku. Nicht schon wieder.“ „Nein, diesmal geht es um etwas anderes. Ich möchte mit ihnen ins Dorf gehen.“ Kathys Blick sagte mir alles. „Bist du des Wahnsinns? Sieh sie dir an!“ Sie deutete nach draußen und ich folgte ihrem Blick, sah meine Schützlinge, ganz in weiß in ‚ihrem’ Garten wie eine Entenfamilie im Kreis laufen, wobei sie ein wirres Lied sangen, das Kaoru geschrieben hatte. Es ergab keinen Sinn, aber es war ihr Lied, sie sangen es immer in ihrem Garten. „Ich bitte dich, sie sind so lieb! Und wenn ich bei Kyo bin, dann ist er total normal! Und die anderen sind nicht gefährlich, das weißt du.“ Ich sah Kathy in die Augen. Sie haderte, ich merkte es. Ich hatte Salz in eine Wunde gestreut. „Ich weiß, dass du nichts dafür kannst, wie sie leben müssen. Aber ich weiß genau, dass ihnen Freigang zusteht, wenn ein Pfleger dabei ist.“, argumentierte ich weiter. „Du bist aber keine Pflegerin, Kiku.“ Gott, wie sachlich das klang. Das konnte ich auch. „Aber ich bin die einzige, der die fünf vertrauen.“ Das saß. „Gut, du darfst gehen.“ Damit wandte sie sich ab und ging. Nun war sie beleidigt. Aber das war mir egal. Ich lief nach draußen und wartete, bis sie ihr Lied gesungen hatten. „Hey ihr Süßen!“, rief ich dann. Fünf Köpfe wurden angehoben, fünf dunkle Augenpaare starrten mich an und ein Mund mit einem kindlichen Lachen setzte dazu an, fröhlich meinen Namen zu schreien. Dies unterband ich, indem sich sagte, was ich zu sagen hatte. „Wollt ihr mit mir ins Dorf gehen? Ihr habt doch noch Geld. Dann könnt ihr euch auch mal etwas kaufen.“ Vier Stimmen erhoben sich und begannen zu diskutieren. Nur eine blieb still, Kaoru stand da und malte krampfhaft Schriftzeichen auf ein Blatt Papier. Ich ließ sie diskutieren. „Aber nur wenn ich meine Lieblingsuhr mitnehmen darf!“ „ich will mit dem Dreirad fahren!“ „Und wenn Engel kommen?“ „Muss schreiben…“ „Kakerlaken werden mich anfallen!“, schoß es mir nach 10 Minuten entgegen. Ich ging auf die fünf zu und forderte sie auf, sich in eine Runde zu setzen, setzte mich dann auch zu ihnen. „Also, nacheinander.“ Ich nahm meine Kette ab und gab sie Shinya. Wir machten das oft, wir setzten uns zusammen und jeder durfte sich äußern. Derjenige, der gerade die Kette in der Hand hatte, durfte sprechen, die anderen hatten zu schweigen. Sie akzeptierten das. Shinya guckte auf die silberne Kette in seiner Hand und nickte. „Möchtest du mitkommen, Shinya?“, fragte ich sanft. „Ja. Aber ich habe Angst, dass Engel kommen.“ Er senkte traurig seinen Kopf. Also nutzte ich wieder die alte Taktik, ich erfand irgendwas, das Engel abwehrte. „Dann verzaubern wir deine Kleidung.“, erklärte ich. Shinya war verwirrt. „Was?“ „Wir zaubern, dass kein Engel in deine Nähe kommt, ja?“ Shinya begann zu strahlen. „Ja!“ „Also möchtest du mitkommen?“ „Ja!“ Ich lächelte. „Also gut. Wer ist der nächste?“ Kyo hob seine Hand und Shinya reichte die Kette an ihn weiter. „Möchtest du mitkommen, Kyo?“ Sofort schüttelte er wild den Kopf. „Und warum nicht?“ Kyo sah mich panisch an. „Riesige, drei Meter große Kakerlaken werden mich anfallen und auffressen!“, kreischte er erregt. Ich lächelte sanft. „Kyo, soll ich dir mal erzählen, was passiert ist, als ihr da unten gelebt habt?“ Nun hieß es improvisieren. Im Geschichten erfinden war ich gut. Kyo nickte gespannt. „Weißt du, die riesigen Kakerlaken haben sich vermehrt wie Kaninchen. Es waren auf einmal ganz viele!“ Kyos Augen wurden groß. Und vor allem ängstlich. „Und was habt ihr gemacht?“ Ich lächelte. „Wir haben riesige Marder ausgesetzt. Und die haben die Kakerlaken alle ratzeputz aufgefressen!“ Kyo blinzelte. „Aber was habt ihr mit den Mardern gemacht?“ „Die haben wir eingefangen und weggesperrt. Toll, oder?“ Er nickte. „Also, möchtest du mitkommen?“ Kyo nickte wieder. „Schön! Schon zwei!“, freute ich mich. Shinya umarmte Kyo stürmisch und die beide knuddelten einander. „Wer nun?“, fragte ich in die Runde. Toshiya meldete sich und riss Kyo die Kette förmlich aus der Hand. Ich rügte Toshiya erst, doch dann durfte er sagen, was er sagen wollte. „Ich möchte das Dreirad mitnehmen!“ Das war ja klar. Sein geliebtes Dreirad. Ich hasste das Ding. „Toshiya, das geht nicht.“ „Wieso nicht??“ „Weil ich dich kenne, du fährst fünf Minuten und dann hast du keine Lust mehr und entweder darf Shinya es schieben oder es fliegt in die Ecke.“ Toshiya zog einen Schmollmund. „Das stimmt nicht!“, protestierte er. Er war eben wie ein Kind. „Doch, das stimmt.“, meinte ich ruhig. Toshiya zeterte und heulte. „Du darfst dein Fahrrad mitnehmen.“ „Das will ich nicht.“ „Das, oder gar nichts.“ „Dann gar nichts.“ Ich seufzte. „Überleg es dir noch mal, Toshiya. Das ist dein einziger Freigang. Danach kommt keine Chance mehr.“ Er schmollte und warf Kaoru die Kette an den Kopf. Der ließ sich beim schreiben aber nicht irritieren. Ich stand auf und legte ihm die Kette über einen Finger. „Kaoru, Du hast die Kette. Möchtest du mit in die Stadt?“ „Ja.“, kam es nur knapp. Hach, ich liebte Kaoru. So unkompliziert. „Schön. Gibst du die kette Die?“ Kaoru unterbrach kurz und hielt Die die Hand hin, die den Schreiber umklammerte. Am Zeigefinger der Hand hing meine Kette. Die löste Kaorus Finger und nahm die Kette. Sofort schrieb der Älteste weiter. „Darf ich meine Uhren mitnehmen?“, fragte Die. „Deine Lieblingsuhr.“ Er nickte zufrieden und ich nahm meine Kette zurück. Bis auf Toshiya hatte ich alle überzeugt. „Übermorgen geht’s los. Und Toshiya, überleg es dir nochmal.“ Ich stand auf und ließ die Bande allein, damit sie sich aufgeregt unterhalten konnten, ohne dass wer störte. Am nächsten Tag wurde mir schon nach den ersten 5 Minuten klar, dass dies der stressigste Tag meines Lebens werden würde. Die fünf waren teilweise noch schlimmer als eine riesige Horde an Kindergartenkindern, oder vergleichsweise ein paar Säcke Flöhe. „Shinya möchte sein Kleid anziehen.“, hörte ich es hinter mir, während ich grad an Toshiyas Haaren herumzupfte. „Kaoru!“, stieß ich erfreut aus. Was für ein Glück, dass er gerade heute wach war. Ich ließ von Toshiyas Haaren ab und drehte mich schnell um, sah in Kaorus braune Augen, die mich nur ruhig ansahen. „Ich pass auf die Horde auf, geh du unsere persönlichen Sachen holen.“, wies er mich an. Ja ja.. wenn er wach war, war ER der Anführer. Aber er würde mir so etwas von der Last der Verantwortung abnehmen. So nickte ich und verließ den Raum. Ich holte mir den Schlüssel von Kathy und betrat kurz darauf das große Zimmer, wo in Stationen unterteilt die persönlichen Besitztümer der Patienten gut verschlossen lagen. Das Regal der Station 304 war ganz hinten. Als würde man sagen, die Sachen würde man dort nie mehr rausholen. Aber es stimmt ja. Man hatte die Hoffnung bei diesen fünf verloren, hatte sie für unheilbar krank erklärt, und ihnen ein tristloses Leben in kahlen Wänden beschert. Da konnte auch keiner gesund werden. Als ich das Regal mit den 5 Kisten meiner ‚Schützlinge’ erreichte, nahm ich eine hinunter und wischte den Staub vom Deckel. Es war Shinyas. Ich öffnete sie und sah hinein. Was ich fand waren die Besitztümer eines ganz normalen Jungen, der sich gerne hübsch gekleidet hatte. Ein Kleid mit schwarz-pinkem Flaum. Eine hübsche, silberne Armbanduhr, die inzwischen stehen geblieben war, ein Portemonnaie, Schmuck und auch ein veraltetes Handy, dessen Akku entweder völlig entleert war, oder die Karte war abgelaufen, oder das teil war vollends kaputt. Ich seufzte, verschloss die Kiste und stellte sie auf den mitgebrachten Wagen, genau wie die vier anderen. Seufzend sah ich auf die vier Namensschilder. Erst jetzt wurde mir bewusst, was dieser Ausflug für die fünf bedeuten würde. Ein Stück Freiheit. Ein Stückchen ‚Normalsein’. Ich wusste, dass sie ein wenig Geld in ihren Kisten hatten, aber ich hatte mir etwas von der Heimleitung überweisen lassen, dass ich ihnen später aushändigen würde. Ich hatte gesagt, es sei zur Verpflegung der Jungs. War es auch, aber nur teilweise. Den größten teil würde ich ihnen in die Hand drücken, damit sie sich etwas kaufen konnten. Ich stellte mir jetzt schon vor, wie Shinya strahlend in ein Geschäft gehen, sich etwas aussuchen und das dann stolz bezahlen würde, wie ein Kind, das zum ersten Mal für Mama und Papa Brötchen holen ging. Ein Lächeln zauberte sich auf meine Lippen. Die Vorstellung war aber auch zu süß. Aber ich war mir sicher, dass es ihnen gut tun würde, wenn sie selbst entscheiden konnten, wofür sie ihr Geld ausgeben wollten. Lächelnd nahm ich meinen Wagen und kehrte summend zu den Fünfen zurück. „Da bin ich wieder!“, posaunte ich durch den Raum, um auf mich aufmerksam zu machen. Kyo, Kaoru und Shinya nahmen sich sofort ihre Kisten, öffneten und durchwühlten sie, um zu sehen, was sie schönes darin finden würde. Die und Toshiya fand ich in einer ecke des Raumes – streitend. Worum sie stritten, das begriff ich nicht, aber ich legte beiden meine Arme um ihre Schultern. „was habt ihr?“, fragte ich sanft. „Die hat gesagt, dass du nicht mit uns in die Stadt gehen darfst!“, platzte Toshiya hervor. Die schürzte seine Lippen. Es freute mich, dass Toshiya mir vertraute und mir glaubte. Dass dies bei Die nicht der fall war, machte mich auch nicht traurig. Nicht jeder vertraute so schnell wie Toshiya. „Hör mal, Die. Ich hab das alles in der Leitung angemeldet. Wenn ich es euch verspreche, dann halte ich das auch. Ich hab dir sogar deine Kiste mitgebracht.“ Er schien mir immer noch nicht so recht zu glauben, aber die Tatsache, dass er seine Kiste hatte, schien ihn sanfter zu stimmen. Seine schlanken, grazilen Finger schlangen sich sofort um die Kiste, rissen sie an sich, als hätte ihr Besitzer Angst, man könne sie ihm wieder fortnehmen, ohne, dass er einen Blick hineinwerfen konnte. Ich fragte mich ernsthaft, wie lange die 5 hier schon waren. Kyo durchwühlte seine Kiste wie eine Schatzkiste, gespannt, was er finden würde. Ob sie alle schon vergessen hatten, was sich in ihnen befand? Hatten sie ihr früheres leben schon vergessen? Ein lautes Aufkreischen, das so nur aus Shinyas Kehle stammen konnte, riss mich aus meinen Gedanken. Die schöne Uhr flog fast direkt in meine Hände. „Sie kommen! Sie kommen! Sie kommen! Ich muss sie töten! Ich muss einfach!!!“, schrie Shinyas helle Stimme. Ich fragte mich, was ihn so irritierte. Was hatte er denn nun? Ein Blick auf Shinyas hübsche Armbanduhr zeigte mir, was den Armen so aufregte. Ein schöner, goldener Engel zierte das Ziffernblatt. Oh nein… wieso hatte ich das vorher nicht gesehen? Das war derartig dumm! Fein gemacht, Kikuno! Noch während ich mich innerlich selbst schimpfte, versteckte ich die Uhr rasch in meiner Hosentasche. „Kyo, hilf mir!!“, rief ich dem Zwerg zu. Kyo sprang auf und lief zu Shinya, umarmte in fest aber sanft und begann, beruhigend auf Shinya einzureden. Kyo hatte ein einmaliges Talent und konnte sehr einfühlsam sein. Besonders mit Shinya, der ja bekanntlich für Kyo eine Art kleiner Bruder darstellte. Kyo gab sich alle Mühe, Shinya davon zu überzeugen, dass die Engel nicht kommen würden. Ich seufzte leise auf. Ich konnte nichts tun. Ich konnte Shinya zwar einreden, dass ich die Engel von ihm fernhalten konnte, doch sobald er einen Engel sah, war es für mich unmöglich, ihn zu beruhigen. Dafür vertraute er mir zuwenig. Ich setzte mich zu Kaoru, welcher gerade mit spitzen Fingern den Inhalt seiner Kiste durchwühlte. „Kaorus-san?“, fragte ich höflich. Kaoru hatte mich in seiner Trance zwar gebeten, ihn nur Kaoru zu nennen, doch war er, wenn er wach war, ein erwachsener Mann, dem ich nicht unhöflich gegenübertreten wollte. „Das mit Shinya hast du nicht gut gemacht.“, warf er mir sogleich sachlich entdecken. Danke, Kaoru, das wusste ich auch ohne dich. Eich seufzte tief. „Glaubst du, ich durchwühle eure Sachen, bevor ich sie euch gebe? Ein bisschen Privatsphäre gönne ich euch auch noch.“, gab ich beleidigt zurück. „Das ist gut gemeint, aber manchmal eben nicht das Richtige.“ „Hä?“ Ich schaute verwirrt auf. „Naja. Es ist nun mal so, dass weder Kyo, Toshiya, Shinya, Die noch ich normal sind. Von daher ist es fast deine Pflicht, uns unsere Privatsphäre zu nehmen, um uns zu schützen.“ „Hm..“ Wahre Worte von einem intelligenten Mann. „Aber Kaoru-san..“, warf ich ein, „Ihr seid in meinen Augen keine armen Irren. Ihr seid ganz normal, nur eben mit.. wie soll ich sagen.. komischen Angewohnheiten? Ich möchte euch behandeln wie Menschen und nicht wie Tiere, denn wie solche werdet ihr hier gefangen gehalten. Wer kann denn so auch normal bleiben? Ich bin der Meinung, dass sich eure Zustände hier unten nur verschlimmern, wenn man euch hier hält wie in einem Streichelzoo. Der Ausflug, und dass ich nicht in eure Kisten sah ist für mich einfach eine Möglichkeit, euch etwas von dem zurückzugeben, was sie euch weggenommen haben, bevor sie euch einsperrten.“ Ich sah direkt in Kaorus Augen. Er war doch sehr anziehend, wenn er grad mal nicht irre in die Gegend schaute und Blätter bekritzelte. „Das mit den Kakerlaken stimmt nicht.“, stellte Kaoru fest. Ich schüttelte den Kopf. „Und das mit der Engelsabwehr auch nicht.“ Erneut ein Kopfschütteln meinerseits. „Warum lügst du uns an?“ Überrascht sah ich auf. „das ist etwas, das ich als Notwendigkeit ansehe, so wie du es offenbar als Notwendigkeit ansiehst, dass ich euch bevormunde und euch kein Stück Freiheit lasse. Ich möchte einen schönen Ausflug mit euch haben, doch wie ist das Möglich, wenn Shinya sich dauernd hektisch umsieht und Kyo bei jedem Rascheln im Unterholz vor Angst vor drei Meter großen Kakerlaken zusammenzuckt?“ „Du tust es also aus einem egoistischen Grund? Um dich selbst zu entlasten?“ Ich lächelte und strich ihm durchs Haar. „Nein Kaoru-san. Um euch einen schönen, angstfreien Ausflug zu ermöglichen. Ich möchte euch die Angst vor der euch inzwischen fremden Welt da draußen nehmen. Es gibt so vieles zu entdecken und es wäre schade, wenn ihr Angst vor jedem Zirpen hättet, nicht wahr?“ Das schien er einzusehen und er nickte leicht. Er holte etwas aus seiner Kiste und betrachtete es lange. Es war offenbar ein Bild. „was hast du denn da?“, fragte ich neugierig. Kaoru sah auf und hielt mir das Bild hin. Fünf Jugendliche, lachend, gekleidet in ihren Schuluniformen. Ich brauchte nicht lange, um zu überlegen, wer das war. Es waren meine 5 Sorgenkinder. „Ihr kennt euch schon so lange?“, fragte ich ihn neugierig. Er nickte leicht verträumt. „Kaoru-san. Darf ich es behalten?“ „Warum?“ „Weil es schön ist, euch zu fünft lachen zu sehen, ohne Zwänge, ohne Gitter und ohne Krankenhausgeruch.“ Kaoru lächelte und nickte dann. Ich lächelte ebenfalls und steckte das hübsche Bild in meine Tasche zu Shinyas Uhr. Dann erhob ich mich und klatschte in die Hände. „Jungs, es ist Essenszeit. Und dann wird es bald auch wieder spät. Geht früh schlafen, damit wir morgen zeitig losgehen können, ja?“ Ich lächelte in die Runde und verließ den Raum dann. Ich wusste, dass auch ich eine menge Schlaf brauchen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)