Fragmente von Schreiberliene (Wind und Stille) ================================================================================ Kapitel 3: Regen, der die Welt in Schwermut ertrinken lässt ----------------------------------------------------------- Es ist, als lägen tausend Augen auf ihrer Haut, als würden die Blicke sich durch jeden Schutz bohren, unerbittlich. Es ist, als schweige die ganze Schule, während sie hindurchgeht, als hielten alle inne, für einen Moment. Es ist, als ginge ein Geruch ihr voraus, ein Gemisch aus Traurigkeit und Tränen. Natürlich wissen sie es alle. Natürlich. Doch sie wünscht sich, dass sie es vergessen, dass nicht jeder Blick, nicht jedes Schweigen, nicht jedes Weichen sie an die Leere erinnert, die noch immer wie eine dunkle Wolke über ihr liegt. Das Wetter hilft ihr auch nicht, die Tage sind grau und verhangen, die Nacht bringt nur Regen, Regen, der die Welt in Schwermut ertrinken lässt und sie Abend für Abend nach draußen treibt. Licht sieht sie selten und das scheint es ihr auch unmöglich zu machen, Licht in dem trüben Denken zu finden. Daheim schweigen alle, schweigen still, denn weinen kann außer Yasu keiner mehr. Es hilft ja doch nichts, der Schmerz bleibt und der Verlust auch. Und während die Eltern und Yasu nur eine Tochter, einer Schwester verloren haben, weiß Kuraiko im Körper ihres toten Zwillings nicht einmal, ob sie selbst lebt und wenn, ob sie leben sollte. Die Gedanken finden keine Ruhe; immerzu drehen sie sich im Kreis und machen jedes Vorwärtskommen unmöglich. Aber sie muss weitergehen; sie muss vergessen. Sie weiß das und kann doch nichts tun – das ist ihr Dilemma. Es klingelt und sie öffnet die Tür zum Chemiesaal. Wenigstens hier kann sie die Blicke und das Flüstern, das hinter ihrem Rücken anzuheben pflegt, verdrängen. Große, kalte Pfützen aus der Nacht begleiten sie auf ihrem Heimweg, kalt und leblos, genau so, wie sie sich fühlt, immer noch, andauernd. Der schwere Ranzen auf ihrem Rücken schlägt mit jedem Schritt gegen ihre Wirbel, die Geschäfte sind unwirklich hell im endlosen Grau, das ihre Welt gefangen hält, die hohen Häuser scheinen wie Mauern, die sie klein machen und am Boden halten, während die Wagen immer schneller durch die Kälte rasen. Man hat es eilig. Auch dort, wo es für sie noch immer nach verbranntem Gummi und verkohlter Haut riecht, fließt der Verkehr, als wäre nichts geschehen und so ist es für die anderen Menschen auch. Nichts ist passiert, nur ein Mensch unter sechs Milliarden ist gestorben. Und doch ist alles anders... Plötzlich sieht Amaya sie. Wie so oft steht sie da, groß, schlank, ruhig, einen undefinierbaren Blick in den dunklen Augen. Hastig geht das Mädchen weiter, stolpert fast über die Füße, die es nicht mehr spürt, und hofft, den Augen ausweichen zu können. Sie weiß nicht warum, doch sie kann die Frau, die Tag für Tag an derselben Straße steht, die Tag für Tag so unbeschreiblich traurig schaut, nicht ertragen. Sie kann sie nicht leiden und versteht nicht, warum, haben sie doch noch kein einziges Wort gewechselt. Es ist eine tiefsitzende Antipathie, die sie sich nicht erklären kann. Als sie mit Schrecken feststellt, dass die Fremde auf sie zu kommt, beschleunigt sie ihre Schritte. Sie flieht und das weiß sie, doch es ist ihr egal. Es ist eine merkwürdige Gefahr, die von der Gestalt ausgeht und sie macht ihr Angst. Ohne sich umzusehen läuft Amaya über die Straße, hastet über die Wege, rennt fast, bis sie das erlösende Geräusch des Schlüssels in der Tür hört. Der Tee dampft und dampft und dampft und scheint einfach nicht damit aufhören zu wollen. Fasziniert starrt Amaya auf die Tasse, die ihr um so vieles interessanter erscheint als die nutzlosen Matheaufgaben vor ihr auf dem Schreibtisch. Sie könnte sie lösen, gewiss; doch es gibt wichtigeres. Zum Beispiel ihren Tee. Er verströmt einen leichten Apfelduft, der zusammen mit dem Dampf in die warme Zimmerluft steigt und das Mädchen langsam einhüllt. Die Uhr tickt laut an der weißen Wand, während die Zeiger sich immer weiter der sechs nähern, die Bücher in den Regalen rascheln leise und die Wände des Hauses knarren vorsichtig. Es ist ein beschaulicher Augenblick, einer, den man photographieren und für immer aufbewahren will, für die kalten, kargen Zeiten. Solche Momente sind rar gesät und doch kann Amaya oder Kuraiko, egal, wer sie nun ist, ihn nicht lange genießen. Schnell muss sie daran denken, dass es solche Stunden mit ihrer Schwester fast nie gegeben hat, dafür war die andere viel zu unruhig, zu lebendig, viel zu aufgedreht. Wie oft hat die echte Amaya sich nicht halten können, besinnliche Tage durch ihre Heiterkeit in etwas anderes verwandelt... Wäre Amaya noch hier, könnte sie die Zeit viel besser nutzen, viel intensiver leben, da ist sich Kuraikos Geist sicher, doch Amaya ist ja nicht da; allein ihr Körper ist geblieben, ihre Seele ist fort. Der Tee dampft und dampft und dampft, scheint sich von den Gesetzen der Physik, die ihm sagen, dass er abkühlen muss, nicht beeindrucken zu lassen. Der latente Apfelduft wird dringlicher und hat das Mädchen schon ganz umschlossen. Die Uhr tickt laut an der weißen Wand, während die Zeiger sich langsam wieder von der sechs entfernen, die Bücher in den Regalen rascheln leise und die Wände knarzen vorsichtig. Auf dem Klavier steht Amayas Photo, ihr Photo und plötzlich überkommt Kuraiko, die gefangen ist, eine unbeschreibliche Wut. Es brennt in ihrem Bauch, kriecht ihre Adern und Nerven hoch, setzt sich in jede Pore, steigt hinein ins Hirn und vernebelt alles; es ergreift sie voll und ganz. Ihre Muskeln zittern und mit einem Mal schreit sie auf, greift sich den Tee, der dampft und dampft und dampft und einfach nicht damit aufhören will, schleudert die Tasse, den ganzen beschaulichen Augenblick, auf das Bild, das klirrend zu Boden fällt und in einer dampfenden Apfelteepfütze liegt, selber dampft und dampft und dampft, nicht aufhören will. Das Mädchen greift das warme Bild, zerreißt es einmal, zweimal, dreimal, viermal, zerreißt es, bis es nicht mehr zerrissen werden kann, wirft die feuchten Fetzen in die Luft, schreit noch einmal und will Amaya einfach wehtun. Es ist ungerecht, warum ist sie noch hier, warum ist ihre Schwester gegangen, warum kann sie nichts gegen die Tränen der Wut machen, weshalb hat Amaya sie alleine gelassen, alleine in dieser Welt, alleine mit den Eltern, die nicht weinen, nur schweigen, alleine mit Yuso, der nicht schweigt, nur weint, alleine mit sich selbst, die sie nicht zu Ruhe kommt, nur fühlt? Sie weiß es; sie hat es die ganze Zeit gewusst – Amaya musste sich wieder einmal in den Vordergrund spielen, dass, was sie in all den Jahren nicht geschafft hat, nämlich Kuraiko in allem zu übertrumpfen, ist ihr nun gelungen, denn während sie einfach gegangen ist, hat sie ihre Schwester alleine, ohne Identität zurückgelassen, in einer Rolle, die sie nicht spielen kann, aber spielen muss, in einem Leben, das trist und traurig ist, während alle sie bemitleiden und gleichzeitig irgendwie froh sind, dass sie gestorben ist. Und plötzlich, sie weiß nicht wie, hasst sie Amaya, hasst den Körper, in dem sie nun steckt, hasst sich selbst, aber vor allem ihre Schwester, ihre schöne, egoistische Schwester. Und, bei Gott, es fühlt sich gut und richtig an. Die Mutter macht sich Sorgen, große Sorgen. Das weiß Kuraiko, denn sie hat gesehen, wie sie die klebrigen Fetzen vom Boden genommen hat, hat den traurigen Blick gesehen. Doch es rührt sie nicht, nichts rührt sie mehr; der Zorn lässt keinen Platz mehr in ihr. Sie ist aus Amayas Zimmer ausgezogen, denn sie hält es nicht aus; es ist nicht ihr Zimmer. Sie weiß nun, wer sie ist: Kuraiko in dem Körper ihrer toten Schwester. Sie weiß nicht warum, sie weiß nicht, wie, doch das ist ihr gleich. Ihr ist bewusst, warum ihre Eltern sie so anschauen – sie sehen Amaya, die ihre eigenen Bilder zerreißt, in das Zimmer ihrer toten Schwester zieht, keinen Sport mehr treibt, ruhig liest oder Nachts nach draußen geht – so, wie Kuraiko es gemacht hätte. Sie wissen nicht, dass Kuraiko noch lebt und sie werden es auch nie herausfinden. Nie. Still zerreißt sie das letzte Bild ihres neuen Selbst, das ihre Mutter noch nicht fortgeschlossen hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)