Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 4: Sotchoku – Offenheit ------------------------------- Aoi: „Es tut mir leid. Du musst denken, dass ich dich aushorchen will, aber dem ist wirklich nicht so.“ „Keine Sorge, das ist auch nicht so bei mir angekommen.“ Uruhas Stimme ist in den letzten Minuten noch sanfter geworden – eine Tonlage, der ich Stunden lauschen könnte, ohne, dass es mir langweilig werden würde. „So schön.“ „Bitte was?“ Oh Gott, habe ich das gerade laut gesagt? Ich spüre, wie Hitze in meine Wangen steigt, und senke blitzschnell den Kopf. „Ehm, nichts, ich dachte, mir wäre etwas heruntergefallen“, lüge ich und bücke mich, um einige Male über den Boden zu streichen und so zu tun, als würde ich etwas suchen. Natürlich werde ich nicht fündig und stelle mich unverrichteter Dinge wieder gerade hin, immer in der Hoffnung, Uruha führt meine geröteten Wangen auf meine vorgebeugte Haltung zurück. „Mh, doch nicht.“ Gerade so schaffe ich es, meinen Worten kein ertapptes Auflachen hinterherzuschicken. „Soll ich nachsehen?“ „Nein, nein“, beeile ich mich, sein höfliches Angebot auszuschlagen, und versuche, ihn mit einem herzlichen Lächeln von meiner Idiotie abzulenken. „Alles gut, ich hab mich geirrt.“ „Sicher? Ich könnte wirklich …“ „Ganz sicher. Aber sag mal, Uruha …“ „Ja?“ „Vielleicht kannst du mir in Sachen Lektüre doch helfen. Vermutlich hört sich das für dich eigenartig an, aber … ich wollte mir heute den neusten Band der Dogma-Reihe besorgen. Habt ihr den schon reinbekommen?“ Ich bilde mir ein, spüren zu können, wie Uruha nach den richtigen Worten sucht und sie doch nicht findet. Sein fragender Blick brennt förmlich auf meiner Haut und ich muss mir ein genervtes Seufzen verkneifen. Nein, ich bin nicht seinetwegen genervt, vielmehr meinetwegen. Hätte ich nicht einfach sagen können, nach welchem Buch ich suche, ohne das ganze Drumherum? Warum will ich, dass er nachfragt, was ich mit eigenartig meine? Warum ist es mir wichtig, dass er Interesse an mir zeigt und deutlich macht, dass ich nicht nur ein Kunde bin, den er lieber früher als später an Ruki oder Kai abtreten möchte? Es ist dumm von mir, mir selbst diese Fragen zu stellen, wenn ich die Antwort bereits kenne. „Oh, ich liebe die Dogma-Reihe. Die Bücher sind die Besten, die ich seit Langem gelesen habe. Ich bin schon so auf den Showdown gespannt“, schneiden seine Worte zielsicher in meine Gedanken und bringen mich für eine Sekunde aus dem Konzept. Wie bitte? Er mag die Bücher auch? „Schon oder?“, platze ich heraus, bevor ich noch weiter darüber nachdenken kann. „Der Schreibstil ist unglaublich mitreißend, von der Handlung gar nicht zu sprechen. Den letzten Teil konnte ich praktisch nicht aus der Hand legen.“ „Du kannst also noch lesen?“ Für einen Augenblick herrscht Stille zwischen uns und nur Uruhas erschrocken klingendes Einatmen unterbricht diese. „Bitte entschuldige. Das war unhöflich von mir. Das geht mich absolut nichts an. Ich …“ „Nein, alles gut, ich bin froh, dass du fragst. Ich erkläre meine Sehbehinderung, Blindheit, wie auch immer du sie nennen willst, lieber, als dass sie wie ein Phantom zwischen uns schwebt.“ „Ein Phantom?“ „Ja“, ich lache kurz auf, „das ist sie doch.“ „Schon irgendwie. Nimmst du mir meine Neugierde auch wirklich nicht übel?“ „Wirklich nicht“, versichere ich ihm und hätte zu gern meine Hand auf die seine gelegt, wenn ich nur sehen könnte, wo sie sich befindet. „Es ist noch nicht lange her, dass ich Bücher nicht mehr lesen kann. Ein Jahr vielleicht? Mittlerweile ist es zu anstrengend geworden, also bin ich auf Hörbücher umgestiegen. Zum größten Teil sind die auch ein prima Ersatz, aber gerade wenn es um Belletristik geht oder eben wie jetzt darum, eine Buchreihe weiter zu verfolgen, bei der ich die ersten Bände noch selbst lesen konnte, fällt es mir schwer, den gedruckten Roman nicht auch haben zu wollen. Allein der Geruch des Papiers und das Gefühl der Seiten unter meinen Fingerspitzen geben mir so viel mehr, als die Geschichte nur vorgelesen zu bekommen.“ Unwillkürlich entkommt mir ein wehmütiges Seufzen. „Das klingt lächerlich, nicht wahr?“ „Überhaupt nicht“, entgegnet Uruha auf energische Art, als müsste er mich vor meinen selbstironischen Gedanken beschützen. „Ich kann das sehr gut nachvollziehen, nicht umsonst umgebe ich mich tagtäglich mit Büchern.“ „Du hast recht, wenn das jemand verstehen kann, dann der Besitzer eines Buchladens.“ Lächelnd fahre ich mir durch die mittlerweile wieder trockenen Haare. Hoffentlich sehe ich nicht aus, wie ein explodierter Handfeger, aber die Strähnen zwischen meinen Fingern fühlen sich einigermaßen glatt an. „Ich habe mir heute Morgen also das Hörbuch heruntergeladen und jetzt fehlt nur noch das dazu passende Hardcover zu meinem absoluten Glück.“ „Oh wow, gleich absolutes Glück? Da muss ich natürlich sofort nachsehen, ob ich dazu beitragen kann.“ Ich höre das Lächeln aus Uruhas Stimme und spüre, wie meine Augenwinkel verräterisch zu brennen beginnen. Nein, Aoi, du wirst jetzt keinen emotionalen Zusammenbruch erleiden, nur weil dein heimlicher Schwarm allem Anschein nach immer die genau richtigen Worte findet. „Ist deine Sehbehinderung eigentlich das Resultat eines Unfalls oder einer Krankheit? Und sag mir bitte, wenn ich zu neugierig bin und die Klappe halten soll, ja?“ „Mache ich.“ Ich gluckse kurz, den Anflug von Sentimentalität weit von mir schiebend. „Ich leide unter einem angeborenen Gendefekt, eine seltene Netzhauterkrankung, die die Sinneszellen im Auge absterben lässt. Eigentlich sehe ich schon seit frühster Kindheit schlecht, aber wirklich festgestellt hat man das alles relativ spät. Ich hatte bislang Glück, dass ich einen langsamen Verlauf hatte, aber im letzten Jahr ging dann alles rasend schnell.“ „Ich stelle es mir sehr anstrengend vor, das eigene Leben und den Alltag immer wieder auf neue Umstände ausrichten zu müssen.“ „Es ist ätzend, um es mal höflich auszudrücken, aber hey, wenigstens lebe ich in einer Zeit mit Hörbüchern und netten Buchhändlern, die meine literarischen Wünsche erfüllen wollen.“ Ich klimpere übertrieben mit den Wimpern und grinse, alles, um mir nicht anmerken zu lassen, wie gerührt ich von seinem Verständnis bin. Meist schlägt mir übertriebenes Mitleid oder übergriffige Neugierde entgegen, manchmal auch Bevormundung, aber nicht bei ihm. „Das nenne ich einen Zaunpfahl“, stellt Uruha amüsiert fest und für den Bruchteil einer Sekunde fühlt es sich an, als würden kühle Finger flüchtig über meinen Handrücken streicheln. „Ich beeile mich.“ Hat er mich berührt oder war das nur Einbildung? Falls es lediglich Letzteres war, will ich es gar nicht wissen. Mein Magen kribbelt schon wieder, während ich den rhythmischen Anschlägen auf der Tastatur lausche. Uruha geht wohl gerade die Inventarliste des Buchladens durch. „Oje“, murmelt er und räuspert sich unbehaglich. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich.“ „Schieß los.“ „Das Buch müsste heute geliefert worden sein.“ „Aber?“ „Es versteckt sich irgendwo in den Kisten, die du als Sprungschanze verwenden wolltest.“ „Sprungschanze?“ Prustend schüttle ich den Kopf. Ich mag den neckenden Unterton in seiner Stimme, wenn er drauflos redet, ohne sich zurückzuhalten. Himmel, an diese Offenheit zwischen uns könnte ich mich gewöhnen und das, wo ich eben erst beginne, ihn kennenzulernen. „Wenn du möchtest, könntest du in unserer Leseecke warten, während ich suche? Ich könnte dir auch noch einen frisch gebrühten Cappuccino als Entschädigung für die Wartezeit anbieten. Wie hört sich das für dich an?“ „Was ist das bitte für eine Frage?“, entgegne ich lachend. „Ich kann mehr Zeit an meinem Lieblingsort verbringen und bekomme noch einen gratis Kaffee dazu? Da wäre ich ja schön blöd, dieses Angebot nicht anzunehmen.“ Uruha räuspert sich, allerdings kann ich nicht herausfinden, ob es ihm nur im Hals kratzt oder ob ich etwas Falsches gesagt habe. Zeit, um meine Worte Revue passieren zu lassen, bleibt mir allerdings nicht, denn genau in diesem Moment beginnt mein Handy, zu vibrieren. „Entschuldige bitte, da muss ich rangehen“, murmle ich, nachdem ich das Telefon aus der Innentasche meiner Jacke gezogen habe und mir eine leise, elektronische Stimme verkündet, dass Reita mich zu erreichen versucht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)