Unleashed von Crimson_Butterfly (Das Bekannte Unbekannte) ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Kostja sah ein, dass er Emily nicht finden konnte. Darum begab er sich zu den Umkleideräumen im ersten Stock und traf dort wieder auf Jason, der vom Oberarzt bereits seinen heutigen Schichtplan bekommen hatte. Als er seinen Spind öffnete, betraten zwei Männer das Zimmer, leise in eine Unterhaltung vertieft. Erschöpfung spiegelte sich in ihren Gesichtern. Sie hatten wohl die Nachtschicht. Es war schier unmöglich, im Krankenhaus einzuschlafen, weil die diensthabenden Ärzte ständig aus dem Bett geklingelt wurden. Kostja kannte ein paar Schwestern und Pfleger, darunter auch Ärzte, die wegen familiärer Umstände nur nachts arbeiten konnten. Wenn er an diesen Tagen am Ende seiner Schicht nach Hause ging und an den Fingern abzählte, wie viele Stunden Schlaf blieben, bis ihm der Wecker wieder Nägel in den Schädel rammte, traten sie gut gelaunt ihren Dienst an. Jason boxte ihm gegen die Schulter, wedelte mit dem Schichtplan und verschwand im Gewusel auf den Fluren. Seufzend schloss Kostja die Tür seines Spinds. Auch er musste sich endlich an die Arbeit begeben. Während er sich auf den Weg machte, zupfte er an den Falten seiner Kleidung. Heute war wieder einer dieser Tage, die er lieber zuhause verbracht hätte. Wenn er schon am frühen Morgen von seinem Onkel zurechtgewiesen wurde, war das immer ein schlechtes Omen. Natürlich hatte Doktor Gerassimow vollkommen Recht. Kostja atmete tief durch. Es brachte ihm nichts, wenn er den Tag verfluchte, bevor er überhaupt begonnen hatte. Er musste seine gute Laune unter allen Umständen behalten. Immerhin wartete ein voller Krankenhausflügel auf ihn. Das würde ein langer, sehr langer Tag werden. Kostja verließ den Umkleideraum, schritt den Flur entlang und blieb vor den Fahrstühlen stehen, die ihre Türen vor seiner Nase schlossen. Tief seufzend suchte er seine innere Mitte. Sein Lächeln verblasste auch dann nicht, als einer der beiden Fahrstühle die höchst magenkranke Mrs. Aber das Sushi war doch noch gut zu ihm brachte. Er grüßte sie freundlich, bevor er die Treppe benutzte. Selbst als sich ein älterer Herr beim Nähen einer Verletzung auf seine Schuhe erbrach, behielt Kostja seine scheinbar positive Einstellung bei. Die Akte eines Patienten ging verloren. Die Operation eines Jungen missglückte. Er musste trauernden Eltern eine Hiobsbotschaft überbringen. Kostja lächelte weiter. Nichts davon durchbrach seine aufgezwungene Maske. Um die Mittagszeit herum fokussierte er sich verbissen auf sein Mantra. Er musste Abstand gewinnen, ruhig bleiben, seine Geduld nicht verlieren. Was immer in diesem Krankenhaus geschah - es nahm keinen Einfluss auf sein Leben. Davon wollte er sich nur zu gern überzeugen. Doch, als er in den Toilettenräumen verschwand, um sich heftig zitternd zu übergeben, wurde einmal mehr die Grenze deutlich, bis zu der er sich selbst belügen konnte. Leichenblass lehnte sich Kostja gegen die Toilettentür, atmete stockend und hob den Kopf in den Nacken. Sein Magen schmerzte. Dieses gottverdammte Krankenhaus. Der Stress. Die anhaltenden Sorgen. Die Erschöpfung. Wie lange konnte er noch so weitermachen? Beruhig‘ dich, Kostja, sagte er sich selbst. Beruhig‘ dich. Es geht dir gut. Er atmete tief durch, brachte seine Erscheinung in Ordnung und lieferte sich ein Wett starren mit seinem Spiegelbild. Dann begab er sich in der Pause in die Kantine. Kostja schritt an den Reihen der Tische entlang, der Geräuschpegel lag weit über dem Erträglichen. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, der am Fenster stand. Jason setzte sich seinem erschöpften Freund gegenüber, vor ihm ein Teller mit in Soße ertränkten Spagetti, auf denen sich ein Berg Fleischklößchen häufte. Nachdenklich kauend betrachtete er Kostja das ein oder andere Mal. „Warum bist du heute so niedergeschlagen?“, erkundigte sich Jason mit einer Gabel Nudeln im Mund. „Ich meine ... Wir reden doch sonst auch über alles. Was ist passiert?“ Kostja hob den Kopf. Der Salzstreuer, den er zwischen seinen Händen auf der Tischplatte hin und her geschoben hatte, blieb auf halbem Weg stehen. „Sag‘ mir jetzt bitte nicht, du machst dir Sorgen um mich“, gab er zurück, hob eine Augenbraue und grinste. „Ich bin einfach nur erledigt. Die letzten Tage hätte man gut auf ein paar Wochen aufteilen können.“ „Als wenn ich mir Sorgen um dich mache ... so weit kommt’s noch“, erwiderte Jason, der sich weitere Nudeln in den Mund schaufelte. „Ich sollte es vielleicht nicht ansprechen, aber ich habe schon seit längerem das Gefühl, das dich etwas bedrückt. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich höre zu.“ Kostja zuckte die Schultern. „Alles in Ordnung. Ich brauche einfach Urlaub.“ Jason lächelte breit, in seinen Augen blitzte der Schalk. „Gib‘ doch einfach zu, dass du neidisch bist, weil du die Knarre von dieser Security-Frau nicht gesehen hast“, stellte er amüsiert fest, wobei er die Zinken der Gabel fast drohend auf seinen Jugendfreund richtete. Laut aufstöhnend vergrub Kostja das Gesicht in den Händen. Warum hatte er nicht damit gerechnet? Jason lachte herzhaft, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnte. Er versuchte, der Zeitung zu entkommen, die auf ihn zuhielt und die ihm die Blödheit mit Klatsch, Tratsch und ausreichend Schwung austreiben sollte. Er kapitulierte mit erhobenen Händen. „Idiot“, tadelte Kostja im Scherz. „Vergiss nicht, dass du mich auf den Schießstand mitnehmen wolltest.“ Jason gluckste. „Hab‘ ich nicht vergessen.“ Während er weiter aß, sah Kostja aus dem Fenster. Seine Augen streiften dabei eine Schar von Menschen, die mit Pappbechern neben einer Baumreihe standen. In ihrer Mitte hielt sich ein junges Mädchen auf, das sich alle Mühe gab unter der Krempe ihres Sommerhutes zu verschwinden. Rote, lange Haare, die sich in glänzenden Wellen über einen pinken Rucksack ergossen. Ein weißes Spitzenkleid und eine blickdichte Strumpfhose. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Überrascht schoss Kostja hoch, die Stuhlbeine rutschten dabei quietschend über den Boden. Da hatte sich dieses kleine Biest verkrochen. Kein Wunder, dass er sie nicht gefunden hatte. Jason folgte mit den Augen denen seines Freundes. „Ist das nicht diese Kleine von heute Morgen?“, fragte er. „Kennst du sie etwa?“ Kostja sank auf den Stuhl zurück. „Willst du dir die Knarre immer noch ansehen?“, wollte er wissen, Emily fest im Blick. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das Teil auch heute bei sich hat.“ „Die Frau vom Sicherheitsdienst ist hier?“ Jason sah sich in der Kantine um. „Wo? Ich sehe sie nicht.“ „Weißes Kleid, neben dem Baum.“ Jason verlor zunächst kein Wort, stattdessen nahm er das rothaarige Mädchen genauer unter die Lupe. „Soll das ein Witz sein? Das ist doch niemals die gleiche Person.“ „Kleider machen Leute.“ Als hätte sie der Unterhaltung gelauscht, wandte sich ihnen Emily zu. Ihre grünen Augen lagen auf Kostja. Sie hob die Hand und ließ sie wieder sinken. Irgendwas hatte wohl ihre Aufmerksamkeit erregt, denn noch bevor er ausatmen konnte, verschwand sie in einem anderen Teil des Hofes. Er stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte. Mit den Fetzen in seinem Kopf wusste er nichts anzufangen. Die Bruchstücke, die er für Erinnerungen hielt, gaben ihm mehr Rätsel auf, als sie lösten. Was sagten ihm die Verhaltensweisen, die er ihr gegenüber am gestrigen Morgen an den Tag gelegt hatte? Er musste - er wollte eine Antwort darauf finden. Kostja lehnte sich zurück, sein Blick lag auf Jason, der sich wieder dem Mittagessen zugewandt hatte. Emily hatte behauptet, ein Vampir zu sein. Er hatte nie an derartige Horrorgestalten geglaubt. Warum machte er es jetzt? Was war mit ihm los? Wieso vertraute er ihr? Sie benahm sich ein bisschen exzentrisch, zugegeben. Aber das war kein Beweis. Zumindest nicht für einen logisch denkenden Menschen. Der Wecker an seinem Smartphone meldete sich schrill zu Wort und Kostja stand auf. Er bat Jason um Entschuldigung, wirbelte auf dem Absatz herum und schritt grübelnd durch die Kantine. Die Angelegenheit mit Emily zog in seinem Verstand immer größer werdende Kreise. Wie sollte er sich auf die Arbeit konzentrieren, wenn sie ihm unaufhörlich durch den Kopf spukte? Sein Schichtplan schickte ihn nach der Mittagspause ins Erdgeschoss zur Ambulanz. Tief durchatmend massierte er sich den Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. Er hasste die Ambulanz. Kostja machte einen Schlenker an der Anmeldung vorbei, warf einen Blick ins Wartezimmer und schnitt eine Grimasse. Patienten saßen teilweise auf dem Boden, weil es keine freien Stühle mehr gab. Einer seiner älteren Kollegen ging an ihm vorbei, ein Lächeln auf den Lippen. „Die Zeit vergeht schneller, als du glaubst“, wollte er den Assistenzarzt aufbauen, der mit dem Gedanken spielte, einfach zu verschwinden. Ein fast verzweifeltes Grinsen zuckte um Kostjas Lippen. Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch die Haare, trat sich innerlich selbst in den Hintern und öffnete die Tür zur Ambulanz. Im Raum stand eine Krankenschwester, die ihm beim Eintreten die Akte seines ersten Patienten gab. Kurz sah er sich die niedergeschriebenen Daten durch, dann wandte er sich der älteren Dame auf der Liege zu. Er musste jede Überlegung, die sich um Emily drehte, auf später verschieben. Kostja brauchte seine ganze Konzentration. Wieso fiel ihm das nur so schwer? Die Angelegenheit mit der arrangierten Hochzeit beschäftigte ihn ebenso, aber das konnte er während der Arbeit ausblenden. Warum wollte ihm das bei Emily nicht gelingen? Seine erste Patientin hatte einen Ausschlag am Knöchel, dessen Ursache er nicht eindeutig klären konnte, darum schickte er die Frau weiter. Der Nächste litt an Übelkeit, Erbrechen und Fieber. Kostja machte ein paar Tests, verschrieb Medikamente und bat freundlich um einen neuerlichen Besuch, wenn die Symptome nicht abheilten. Auf diese Weise zogen die nächsten Stunden an ihm vorbei. Immer wenn sich das Wartezimmer halbwegs leerte, genehmigte er sich schnell einen Kaffee. Dann ging es schon weiter. Eine Stunde vor Feierabend, als Kostja eine Stammpatientin nach Hause schickte, sah er Adrienn, die in Begleitung eines jungen Mädchens auf das Wartezimmer zusteuerte. Im Arm hielt seine Verlobte einen schwer aussehenden Aktenordner. Hatte sie einen neuen Fall? Adrienn blieb stehen, sprach mit einer Krankenschwester und setzte sich wieder in Bewegung. Das Mädchen verbarg sich hinter ihrem Rücken. „Doktor Gorodezki!“, rief ihm seine Verlobte entgegen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Dabei fiel ihr Anhängsel zurück. „Ich muss Sie sprechen.“ Adrienn benutzte seinen Vornamen im Krankenhaus nicht. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Wenn sich Patienten in der Nähe aufhielten, sprachen sich selbst die engsten Freunde mit dem Nachnamen und ihren Titeln an. Zumindest hier. Sie blieb neben Kostja stehen, scheuchte ihn ins Untersuchungszimmer zurück und schloss die Tür hinter sich, was ihn verwirrte. Das Mädchen, das seiner Verlobten zuvor am Rockzipfel hing, wartete draußen. „Doktor Gerassimow schickt mich zu Ihnen“, erklärte sie und gab ihm eine Akte. „Ich bringe Ihnen eine Patientin. Sie sollen einige Tests durchführen.“ Kostja runzelte die Stirn. „Und warum müssen Sie einen Patienten zu mir bringen?“ Adrienn zuckte die schmalen Schultern. „Weil das eine persönliche Anordnung von Doktor Gerassimow ist.“ „Und seit wann gibt es Patienten, die bevorzugt behandelt werden?“, wollte er wissen und ging zur Tür, um sie einen Spalt zu öffnen. Das Mädchen sah ihn lächelnd an. Adrienn bat sie herein und rückte einen Stuhl zurecht. „Das ist Miss Emily Elizabeth Lyall“, sagte seine Verlobte höflich. „Miss Lyall, wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen Doktor Kostja Gorodezki vorstellen. Er ist einer unserer vielversprechendsten jungen Ärzte auf dem Gebiet der Neurochirurgie.“ Eine seiner Augenbrauen schnellte in die Höhe. Warum war Emily hier? Sollte er sie wirklich untersuchen? Konnten Vampire überhaupt krank werden? Grübelnd betrachtete er das Mädchen, das sich im Untersuchungszimmer umsah. Dabei verrenkte sie sich fast den Hals. Aus einer Ahnung heraus schickte Kostja die Schwester raus, die ihm bisher assistiert hatte. „Sind Sie das erste Mal in einem Krankenhaus?“ „Ja“, gab Emily fröhlich zurück. „Ich muss einräumen, dass ich Krankenhäuser interessant finde … also jetzt ... In der Medizin hat sich so viel getan.“ Sie ging zu einem Schrank und Kostja schloss die aufgezogene Schublade, bevor sie nach einem der Gegenstände fassen konnte. Der Assistenzarzt sah zu seiner Verlobten. „Was ist vorgesehen?“ „Die üblichen Standarduntersuchungen“, erwiderte Adrienn und sah zu dem Mädchen, das die Türen eines Glasschrankes öffnen wollte. „Miss Lyall, das ist ein Krankenhaus und keine Ausstellung.“ Kostja durchquerte den Raum, ergriff Emily beim Ellenbogen und dirigierte sie zur Untersuchungsliege. Schnaufend ließ sie sich darauf nieder. Wenn sie gestern auf ihn wie eine Erwachsene gewirkt hatte, vermittelte sie ihm heute den gegenteiligen Eindruck. Er hatte das Gefühl, einem ungehorsamen Kind nachzulaufen. Möglicherweise lag das auch nur daran, dass sich Emily nach eigener Aussage zum ersten Mal in einem Krankenhaus aufhielt. Wie war das möglich? Er rollte auf einem Hocker an sie heran. „Würden Sie bitte den Mund öffnen und die Zunge rausstrecken“, bat er und leuchtete ihr in den Hals. „Wenn Sie noch nie in einem Krankenhaus waren, gab es bisher keine ernsthaften Beschwerden?“ Kostja steckte die Diagnostikleuchte in seinen Overall zurück, fasste nach ihrem Hals und tastete die Lymphknoten ab. „Schuss- und Stichverletzungen“, erwiderte Emily fidel. „Aber ich musste bisher nie in ein Krankenhaus. Mein Hausarzt hat mich zusammengeflickt.“ Kostja hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Sollte ihn das erstaunen, nach allem, was sie ihm gestern gesagt hatte? Adrienn lag gewiss die ein oder andere Bemerkung auf der Zunge, hüllte sich jedoch in ein bedeutsames Schweigen. „Was ist mit üblichen Kinderkrankheiten? Haben Sie noch Ihre Mandeln? „Die wurden mir aus ästetischen Gründen entfernt. Doktor Grey meinte, die sind nicht hübsch.“ Stirnrunzelnd sah er dem Mädchen ins Gesicht. Warum sagte sie das so fröhlich? Wenn keine Notwendigkeit dazu bestand, sollte ein gesundes Organ nicht entfernt werden. Vor allem nicht aus kosmetischen Gründen. Er sollte sich mit diesem Doktor Grey unterhalten. Ganz in ruhe und gesittet. „Machen Sie bitte Ihren Oberkörper frei.“ Emily hob abwehrend die Hände. „Nicht nötig“, entschied sie, ihre Augen streiften Adrienn. „Es geht mir gut.“ Kostja folgte ihrem Blick. „Machen Sie sich keine Gedanken. Miss Becskei wird Ihnen Ihre Privatsphäre gönnen, während ich Sie wie angeordnet untersuche“, schmunzelte er und deutete auf einen Raumteiler, hinter den Adrienn trat. Emily drehte sich zögernd um, hob die Fülle ihrer Haare und bat ihn, den Verschluss zu öffnen. Kostja gehorchte. „Ich werde Ihren Blutdruck messen, höre mir Ihre Lungen an und dann zeigen Sie mir Ihre ...“ Es war unmöglich, den Satz zu beenden. Als der Stoff fiel, blieben ihm die Worte im Hals stecken. Ihr Rücken war mit Narben gespickt. Vom Nacken bis zum Steißbein. Er konnte gar nicht bestimmen, welche wozu gehörte. Kostja räusperte sich und zwang sich, den Blick abzuwenden. „Drehen Sie sich bitte um“, bat er leise. Seitlich am Bauch machte er eine weitere Narbe aus, die vom Beckenknochen abwärts verlief. Emily ignorierte sein Starren und er war froh, dass sie nichts dazu sagte. Stattdessen betrachtete sie die schwarze Manschette, die er um ihren Oberarm legte. Der Assistenzarzt betätigte das daran befindliche Gerät und die im Stoff eingearbeiteten Luftpolster begannen sich zu füllen.  Zwischenzeitlich ging er zu seinem Schreibtisch, um sich Notizen zu machen. Die Narben auf ihrem Rücken wollte sich Kostja zu einem späteren Zeitpunkt genauer ansehen. Das Gerät piepste und er warf einen Blick auf das Display. Ihr Puls war für einen Menschen zu langsam. Interessant. Aber weil er das in Adrienns Gegenwart nicht ansprechen konnte, notierte er falsche Zahlen in der Akte. Warum machte er das? „Hundertzwanzig zu achtzig. Das ist gut“, meinte er, fasste nach seinem Stethoskop und hörte ihre Lungen ab. „Ich möchte noch ein paar Tests in Bezug auf Ihre körperliche Fitness machen, wenn das für Sie in Ordnung ist.“ „Bist du jetzt fertig?“, fragte Emily resigniert und wippte mit den Beinen. „Ich muss meine Meinung revidieren. Krankenhäuser sind nicht interessant.“ „Nein, sie sind stinklangweilig“, stimmte er amüsiert zu. „Ich brauche noch eine Blutprobe.“ Das Mädchen sprang von der Untersuchungsliege. „Nein!“, rief sie, in den Tiefen ihrer Augen glomm erneut dieses Feuer. Emily richtete ihre Kleidung, das Gesicht von ihm abgewandt. Kostja seufzte. Adrienn, die hinter dem Raumteiler hervorkam, zuckte überfordert mit den Schultern. Sie verstand nicht, warum das Mädchen auf eine Blutuntersuchung so heftig reagierte. Der Assistenzarzt hingegen hatte einen Verdacht. Wenn er die Existenz von Vampiren als Hypothese akzeptierte, dann war es nur plausibel, dass ihr Blutbild Merkmale aufwies, die sich von dem eines normalen Menschen unterschieden. Besaß sie eine Blutgruppe, die sich in das übliche Schema eingliederte? Sein Interesse war geweckt. „Gut“, gab er nach, half Emily erneut mit dem Verschluss und sah zu Adrienn. „Lassen wir das fürs Erste.“ „Aber ... Doktor Gorodezki ...“ Er lächelte beschwichtigend. „Wir können uns ihr Blut nicht mit Gewalt holen, Miss Becskei. Kommen Sie bitte in drei Tagen noch einmal ins Krankenhaus, Miss Lyall.“ Emily sah ihm verwirrt ins Gesicht. „Soll das vielleicht ein Witz sein?“, fragte sie. „Ich wollte mich noch entschuldigen. Wegen heute Morgen, ich ...“ Kostja legte die Hand auf ihre Schulter. „Vergiss es einfach“, bat er freundlich. Der Anwältin blieb der Mund offenstehen. „Ihr Beiden kennt euch?“, wollte sie wissen und das Mädchen nickte. „Warum habt ihr denn nichts gesagt? Dann hätten wir uns diesen ganzen Vorstellungsquatsch sparen können.“ Emily lachte. „Das war witzig“, gab sie zu, deutete erst auf sich und dann auf Kostja, der sich in sein Klemmbrett vertieft hatte. „Wir haben uns in Japan kennengelernt. Da war er noch ein Kind.“ „Sie kennen Kostja, seit er ein Kind war?“, fragte Adrienn und Emily nickte arglos, die Augen größer als sonst. „Miss Lyall, Doktor Gorodezki wird in diesem Jahr 27 … geht es Ihnen auch wirklich gut? Möchten Sie ein Glas Wasser?“ Kostja wurde hellhörig, seine Augen glitten zu dem Geburtsdatum auf der Krankenakte. Laut den Dokumenten war Emily erst vor ein paar Monaten 16 geworden. Sie lief bis über beide Ohren feuerrot an. Offensichtlich war ihr das peinlich. Aber warum hatte sie das gesagt? Natürlich glaubte ihr das niemand. Er stand auf. „Ich habe etwas durcheinandergebracht“, rechtfertigte sich Emily rasch und sah zu dem Assistenzarzt. „Ich sollte jetzt gehen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Miss Becskei. Auf Wiedersehen, Doktor Gorodezki.“ Das Mädchen lächelte, wirbelte auf dem Absatz herum und rannte wie ein Wirbelwind aus dem Raum. Kostja trat seufzend zu seinem Schreibtisch, in der Hand einen Kugelschreiber. Emily war ihm ein einziges Rätsel. Wie alt war sie tatsächlich? Log sie ihn an oder sagte sie ihm die Wahrheit? „Merkwürdiges Mädchen“, bemerkte Adrienn mit verschränkten Armen. Der Assistenzarzt lächelte verhalten. „Stimmt.“ „Kostja“, erklang die Stimme der Anwältin fast drohend. „Du schuldest mir eine Erklärung.“ Er wandte sich seiner Verlobten zu, die mit dem Aktenordner spielte. „Frag‘ mich jetzt bitte nicht, was das war“, antwortete er mit einem Anflug von Hilflosigkeit in der Stimme. Kostja setzte sich, sprang wieder auf und tigerte durch den Raum. „Es stimmt, dass wir uns kennen, aber ich habe sie erst gestern wiedergesehen.“ Adrienn nickte. „Verstehe“, meinte sie und lehnte sich gegen die Kante des Schreibtisches. Ihre Lippen zuckten. „Wie lange kennt ihr euch schon und woher?“ „Das klingt völlig verrückt, aber das weiß ich nicht“, gab er zurück und musste dabei unwillkürlich an sein gestriges Gespräch mit Emily denken. Warum hatte er nicht weiter darauf reagiert, als sie meinte, sie hätte ihn vor zwölf Jahren zu Familie Gorodezki gebracht? „Verrückt?“ „Ich scheine sie schon eine Ewigkeit zu kennen, mein Gefühl sagt mir, dass wir eine Menge durchgemacht haben, aber das ist völlig unmöglich.“ Während Adrienn seinen Worten lauschte, bohrten sich ihm ihre lauernden Blicke in den Nacken. „Klingt wirklich spannend“, gestand sie mit ehrlicher Neugier in der Stimme. Wie ein Kind, das den Weihnachtsmann enttarnen wollte. „Und weiter?“ Kostja lachte freudlos. „Ich finde das eher bedenklich. Man sollte doch meinen, dass ich jemanden, der mir einmal sehr nahestand, nicht einfach vergessen kann. Obwohl ... so kann ich das auch wieder nicht sagen. Ich habe mehr den Eindruck, als müsste ich Emily kennen. In etwa wie einen alten Schulfreund, den du nach einigen Jahren zufällig auf der Straße triffst und mit dem du dich sofort genauso gut verstehst wie früher, aber den du einfach nicht zuordnen kannst und du willst auch nicht fragen.“ Er warf ihr einen Blick zu. Geduldig lächelnd wohnte sie seinen verworrenen Erklärungen bei. In ihren braunen Augen lag etwas, dass er weder benennen noch verstehen konnte. Als Kostja erneut durch den Kopf ging, was er gesagt hatte, drehte sich ihm der Magen um. Es musste für Adrienn beunruhigend sein, wenn er gedankenverloren über Emily sprach. Doch bevor er verlegen werden oder sich rechtfertigen konnte, erreichte ihn eine andere Reaktion. „Also ... ich finde das süß“, durchbrach sie die eingetretene Stille. Ihr breites Lächeln versteckte sie hinter dem mitgenommenen Aktenordner. „Das ist Roman-Stoff vom Allerfeinsten. Ein Junge und ein Mädchen, die schon als Kinder Freunde waren und gemeinsam aufgewachsen sind, aber sich irgendwann aus den Augen verlieren und sich dann Jahre später wiederfinden und nur lückenhafte Erinnerungen aneinander haben.“ Kostja runzelte die Stirn. „So süß ist das nicht.“ Adrienn rutschte lächelnd vom Schreibtisch und ging zur Tür. „Dieses Mädchen scheint dich ganz schön zu beschäftigen. Sie ist wie eine Naturgewalt. Unter anderen Umständen ... und wenn sie tatsächlich dein Alter hätte ... wer weiß.“ Mit dieser rätselhaften Aussage und einem Zwinkern wollte sie den Raum verlassen, doch in Kostja kämpfte eine Frage um Beachtung. „Was schleppst du da eigentlich mit dir rum?“ Adrienn lachte auf. „Das hier?“, hakte sie nach, den Ordner dabei demonstrativ erhoben. Kostja nickte und mit einem Klicken offenbarte sich ihm der ominöse Inhalt. Leere Blätter. Adrienn konnte sich angesichts seines verdatterten Blickes nicht mehr beherrschen und brach in schallendes Gelächter aus. „Entschuldige, ich wollte dich nicht aufziehen. Ich weiß, dass du einen schweren Tag hattest“, gab sie kichernd zu und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Ich habe nur einfach keine Lust den Eindruck zu erwecken, ich hätte zu wenig zu tun. Das bringt die Leute nur auf dumme Ideen. Jetzt muss ich aber wirklich los ...“ Sie ließ den Satz in der Luft hängen, öffnete die Tür und tauchte mit wehenden Röcken im Gewusel des Gebäudes unter. Kostja hingegen brauchte einen Moment. Er mochte Adrienn. Sehr sogar. Nur leider nicht genug. Zwischen ihnen war eine tiefe Freundschaft erblüht, die auf gegenseitigem Respekt beruhte. Aber für ihre Verlobung, die Ehe, gab es keinen Boden. Nicht, dass es seine oder ihre Entscheidung gewesen wäre. Gelegentlich teilten sie das Bett miteinander, das konnte er nicht bestreiten. Aber zu mehr kam es zwischen ihnen nicht. Jeder führte sein eigenes Leben, als würde es die arrangierte Hochzeit, die ihn immer weiter auffraß, nicht geben. Kostja musste sich mit dem Gefühl auseinandersetzen, dass ihm sein Leben nicht gehörte. Er war nur der stumme Zuschauer eines Theaterstücks. Sein Onkel hatte alle Entscheidungen für ihn getroffen. Der Assistenzarzt klammerte sich fast verzweifelt an die Illusion, dass Doktor Gerassimow nur das Beste für ihn wollte. Dabei war dieses Alphatier von einem Familienoberhaupt chronisch blind für die Folgen seiner übertriebenen Fürsorge. Niemand außer Kostja besaß unter den Angestellten ein eigenes Büro. Es gab welche, doch die standen allen zur Verfügung. Der Assistenzarzt presste Daumen und Zeigefinger gegen seinen Nasenrücken. Gefälligkeiten wie einen eigenen Arbeitsbereich, maßgeschneiderte Kleidung oder dass er das Erbe von Doktor Gerassimow antreten sollte, liefen unweigerlich darauf hinaus, dass ihn seine Kollegen bis aufs Blut hassten. Was noch eine Stufe schlimmer wurde, wenn er sich vor Augen führte, dass das Krankenhaus ein Familienbetrieb war. Der Magen drehte sich ihm um, sobald er an seine Cousins dachte. Im Gegensatz zu der offenen Feindseligkeit, die ihn bei jeder Familienfeier erwartete, pflegten diese Unruhestifter im beruflichen Bereich eine etwas subtilere Methode der Kriegsführung. Kostja würgte seine Überlegungen ab und betrachtete das Display seines Smartphones. „Endlich Feierabend“, murmelte er gähnend. Er schnappte sich seinen inzwischen kalten Kaffee, verließ das Untersuchungszimmer und begab sich zu den Umkleideräumen im ersten Stock. Kostja ging rasch duschen, zog sich um und machte sich auf den Heimweg. Er wollte so schnell wie möglich weg von hier. Während er müde durch die Flure des Gebäudes schlurfte, warf er einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne stand schon schräg am Horizont, bereit, ihren Platz mit dem Mond zu tauschen. „Kostja!“ Er erstarrte in seinen Bewegungen, warf einen Blick über die Schulter und glaubte oder hoffte, dass er sich die Stimme nur eingebildet hatte. Im zweiten Moment wurde er eines Besseren belehrt. Jason sprang ihm förmlich auf den Rücken und das Gewicht riss ihn fast von den Füßen. Das breite Lächeln seines Freundes reichte von einem Ohr zum anderen. „Alter, du lässt mich jetzt schon allein?“ Kostja begrüßte seinen Jugendfreund mit einem etwas übertriebenen Handschlag. Es hielten sich keine Patienten in ihrer Nähe auf. „Du musst also noch arbeiten“, stellte er fest. „Ich dachte, du hast auch Feierabend?“ „Nö“, erwiderte Jason mundfaul. „Hab‘ noch zu tun. Ich wollte schon vor ‘ner Stunde bei dir in der Ambulanz vorbeischauen, aber dann war ich beschäftigt.“ Er kramte in seiner Tasche. „Hier, hab‘ dir was mitgebracht.“ Kostja betrachtete das zerdrückte Sandwich, das ihm entgegengehalten wurde. „Ernsthaft?“, fragte er, zwischen seinen Augenbrauen entstand eine steile Falte. „Pah.“ Jason schob das Sandwich wieder in seine Tasche, legte dem gepiesackten Erben des Krankenhauses den Arm um die Schultern und ging mit ihm den Flur entlang. „Wenn du dich hinsetzt, um endlich mal etwas zu essen, fällt Dick und Doof wahrscheinlich gerade dann etwas ein und du darfst dich wieder zum Dienst melden.“ Nur einen Lidschlag später, begann Jason über die Söhne des Krankenhausdirektors zu schimpfen wie ein Rohrspatz. Dabei nahm er kein Blatt vor den Mund. „Du musst dich endlich durchsetzen“, bat Jason zum gefühlten tausendsten Mal. Kostja hatte diese Worte schon so oft gehört, dass es ihm zu den Ohren rauskam und doch gab er seinem Freund gedanklich jedes Mal Recht. Er sollte sich wehren. Er musste für sich einstehen, aber er wusste auch, wie die Geschichte endete. Bei der Vorstellung wurde ihm flau im Magen. Gedankenverloren schritt er durch die Türen, die in den Hof führten. Dort stand er plötzlich einem vertrauten Gesicht gegenüberstand. Sogleich fand Jason Millionen Gründen, warum er ins Krankenhaus zurückkehren musste. „So ein Sack“, murmelte Kostja verdrießlich, seine Augen bohrten sich in den Rücken von Jason, der hinter den Glastüren verschwand. Dann sah er zu dem vor ihm stehenden Mädchen. „Hey.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)