Unleashed von Crimson_Butterfly (Das Bekannte Unbekannte) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Budapest, Ungarn 12. April 2012   Kostja hatte die Nachtschicht erst hinter sich gebracht, als er in Erwartung einer heißen Dusche den Wohnkomplex betrat. Sein schäbiges Apartment lag unter dem Dach und der Fahrstuhl war seit Monaten außer Betrieb. Kaum hatte er den Fuß ins Treppenhaus gesetzt, griff er in seine Jackentasche, holte sein Smartphone hervor und während er weitere Stufen des alten Plattenbaus nach oben schlurfte, tippte er mit dem Daumen auf den Button des Touchdisplays. Die Musik, die er stets auf dem Heimweg hörte, verstummte. Müde nahm er die Kopfhörer ab. Er sehnte sich nach einer Dusche und einem Bett - aber vor allem wollte er endlich seine Ruhe haben. Keine Patienten, die sich durch die grell erleuchteten Flure des Krankenhauses quetschten. Keine Akten, die durchgesehen und geprüft werden mussten. Keine Unterschriften. Keine Tests. Nur friedvolle Stille. Gähnend kramte Kostja den Hausschlüssel aus seinem Rucksack. Dabei bemerkte er die Anwesenheit eines Mädchens, das auf den obersten Stufen der Treppe saß. Als er sich an der Fremden vorbeischlängeln wollte, wandte sie ihm das Gesicht zu. Um ihre Lippen lag ein freundliches Lächeln. Entgegen dem Wunsch, sich in die Stille seiner Wohnung zurückzuziehen, blieb er neben ihr stehen. Ihre Kleidung war durchnässt - es regnete bereits seit Stunden - die feuerroten Haare klebten ihr am Kopf und den Schultern. Ihre Augen, die sie auf ihn gerichtet hatte, leuchteten in einem satten Grünton. Das Mädchen stand auf und ließ ein Smartphone in die Tasche ihres Mantels gleiten. Auch wenn Kostja bisher nicht das notwendige Interesse aufgebracht hatte, um sich über seine in Isolation lebenden Nachbarn zu informieren, wusste er mit Sicherheit, dass sie hier nicht wohnte. Er hatte sie schon so lange nicht mehr gesehen, dass die Details ihrer letzten Begegnung in seiner Erinnerung verblassten. „Das ist schon eine Ewigkeit her“, sagte er mit einem Schmunzeln. „Wie geht es dir?“ „Das müssen jetzt zehn Jahre sein“, antwortete sie ihm gut gelaunt. „Mir geht‘s gut und dir? Ich habe gehört, du arbeitest jetzt im Krankenhaus deines Onkels.“ Er zuckte die Schultern. „Ich wollte mir eigentlich im städtischen Krankenhaus eine Anstellung suchen“, gab Kostja resigniert zu. „Das wollte mein Onkel nicht. Unsere Familie besteht aus Ärzten, die alle im gleichen Gebäude arbeiten.“ Stirnrunzelnd betrachtete er ihre schlammverdreckten Stiefel. Aus dem Stoff ihres Trenchcoats tropfte eine zähflüssige Masse träge zu Boden. Kostja trat auf der Treppe ein paar Stufen nach unten und atmete durch den Mund. Was auch immer das war, es roch nicht angenehm. Seine Reaktion schien sie zu erheitern. „Es tut mir wirklich leid.“ Sie fasste zu beiden Seiten des Mantels und schüttelte den Stoff aus, als könnte sie damit den Geruch vertreiben. „Das sind Andenken an die Abwasserkanäle.“ Kostja hielt sich die Hand vor die Nase. Er konnte sich nur schwer vorstellen, was sie dazu getrieben haben sollte, der Kanalisation einen Besuch abzustatten. Und jetzt stand sie vor ihm, ohne Vorwarnung, mit dem Aroma einer Kläranlage und einem schiefen Grinsen im Gesicht. Das Mädchen wiederzusehen war seltsam. Er hatte vergessen, dass eine Person wie sie, einmal in seinem Leben existiert hatte. „Komm rein“, lächelte er kopfschüttelnd. Das Mädchen starrte ihn an, ihre ohnehin schon großen Augen wurden noch größer. Kein Wort durchbrach die Stille. Hatte sie ihn nicht verstanden? Dann zuckte sie die Schultern, nahm ihm den Hausschlüssel ab und ging zielstrebig zu der einzigen Tür in diesem Stockwerk, die ein Namensschild besaß. Kostja verdrehte amüsiert die Augen, dann folgte er dem Mädchen. Sie brauchte wohl keine Erklärung oder Erlaubnis. Als er die Haustür ins Schloss schob, verschwand sie im Bad. Über seine Lippen perlte ein Gähnen, seine Augenlider schienen Tonnen zu wiegen. Er war so müde, dass er im Stehen einzuschlafen drohte. Mit den Händen in den Hosentaschen lehnte er sich gegen die Wand. Es gab nichts auf der Welt, das ihn auf ein Wiedersehen mit ihr vorbereitet hätte - einem Mädchen, von dem er seit zehn Jahren weder etwas gehört noch gesehen hatte. Was war vor zehn Jahren eigentlich gewesen? Kostja wurde aus seiner Versunkenheit gerissen, als sie ihm durch einen Spalt ihre Stiefel entgegenhielt. Mit spitzen Fingern fasste er nach einer sauberen Stelle am Saum und brachte sie auf den winzigen Balkon, der zu seiner Wohnung gehörte. Im Anschluss verfrachtete er ihre Kleidung, die sie ihm vor die Tür geworfen hatte in die Waschküche im Keller. Aus seinem Kleiderschrank suchte er ein Oberteil. Kostja öffnete die Tür zum Badezimmer. „Ich lege dir ein Handtuch und ein T-Shirt aufs Waschbecken, in Ordnung?“, fragte er und wartete keine Antwort ab. „Sollte etwas sein: Ich bin im Wohnzimmer.“ Sekunden später sank er leise seufzend auf die frei im Raum stehende Couch nieder. Seine Mundwinkel zuckten. Wie hatte dieses eigenartige Mädchen aus seinen Gedanken verschwinden können? Sie gehörte nicht unbedingt zu den Menschen, für die er kein Interesse aufbrachte. Glaubte er jedenfalls. Aber woher kannte er sie? Aus der Schule? Von einem Teilzeitjob? Oder war sie ein Patient im Krankenhaus seines Onkels gewesen? Zehn Jahre, die er sie nicht gesehen hatte und er wusste nicht, wo er sie einordnen sollte. Eine Zeitspanne, in der ihm bestimmt das eine oder andere Gesicht entfallen war. Doch ihres kam ihm auf Anhieb bekannt vor, kaum dass er sie auf den Stufen entdeckt hatte, und er wusste sofort, dass ihn etwas Wichtiges mit ihr verband. Etwas Wichtiges, dessen er sich trotz allen Grübelns nicht entsinnen konnte. Kostja sah auf, nachdem sein unerwarteter Besucher das Badezimmer verlassen hatte, bekleidet mit dem T-Shirt, das er ihr rausgelegt hatte und Schonern an ihren Handgelenken. Der Stoff hing wie ein übergroßes Kleid an ihrer schmalen Gestalt. Sie steuerte zielstrebig das Sideboard hinter dem Sofa an, auf dem die Bilder einer jungen Frau standen. Dabei verteilte sich der Geruch seines Shampoos ungehindert in der Wohnung. Pfefferminz und Zedernholz. Kostja lehnte sich auf dem Sofa zurück. Sie fasste nach einem der Bilderrahmen. „Hübsch“, hörte er das Mädchen sagen und er wandte sich ihr zu. „Deine Freundin?“ Kostja fühlte sich hin- und hergerissen. Sie war ihm vertraut und gleichzeitig fremd. „Nein, wir sind verlobt“, korrigierte er seinen Besuch, stand auf und pflückte ihr das Foto aus den Fingern. „Ihr Name ist Adrienn. Sie arbeitet als Anwältin im Krankenhaus.“ Das Mädchen drehte sich um, den Kopf zur Seite geneigt. Sie lächelte erneut, doch diesmal wirkte es einseitig und leer. „Herzlichen Glückwunsch“, gab sie zurück. „Adrienn wird bestimmt eine gute Ehefrau sein.“ Sie spielte ihm etwas vor, das war offensichtlich. Nur warum? „Eine gute Ehefrau?“, wiederholte er belustigt. „Wer sagt denn so was heute noch?“ Sie grinste schelmisch, obwohl sie bis zu den Ohren feuerrot anlief. „Na ich“, gab sie ihm zu bedenken. Er stellte das Foto zurück, betrachtete für einen Moment das Gesicht seiner zukünftigen Frau und legte das Bild mit der Vorderseite auf das Sideboard. „Unsere Verlobung wurde arrangiert und hat nichts romantisches“, erklärte er versunken. „Das muss ein paar Monate nach deinem plötzlichen Verschwinden gewesen sein.“ Warum erzählte er ihr das? Kostja stutzte. Wie kam er darauf und wie hieß sie eigentlich? Er erinnerte sich beim besten Willen nicht daran, ihren Namen jemals erfahren zu haben. Lächelnd sank sie auf die Couch, die Beine übereinandergeschlagen. Eine Überlegung schoss ihm durch den Kopf. Wenn Adrienn unangekündigt bei ihm vorbeischaute, würde sie ihm glauben, dass zwischen ihm und diesem namenlosen Mädchen nichts lief? Kostja trat hinter das Sofa. Seine rasenden Gedanken stoppten, als ihm sein unerwarteter Besucher einen Blick zuwarf. Ihre Augen leuchteten wie grünes Feuer. „Wir hatten uns versprochen, dass wir für immer Freunde bleiben“, meinte sie, die Finger im Stoff der Couch verkrampft. Ihre Schultern schienen ein Gewicht zu stemmen, das sie unmöglich tragen konnte. Seine Stirn legte sich in Falten. „Ich ...“, begann er, unsicher was er dazu sagen sollte. Das Mädchen sank gegen die Rückenlehne der Couch und tippte erneut auf das Display ihres Smartphones. Dabei strahlte sie wie ein kleines Kind, dem er eine kostbare Süßigkeit geschenkt hatte. „Kann ich deine Nummer haben?“, fragte sie euphorisch. Ihre Launen waren wie Quecksilber und genauso undurchschaubar. Was sollte er darauf antworten? In seinem Schädel hämmerte der Gedanke, dass er rein gar nichts über dieses Mädchen wusste. Woran er sich erinnerte, war nicht viel. Nichts das ihn beruhigte und ihm die Sicherheit gab, dass sie nicht völlig irre oder gefährlich war. Wenn er das in Erwägung zog, wieso hatte er sie dann in seine Wohnung gelassen? Noch nie zuvor hatte sich Kostja innerlich so zerrissen gefühlt. „Warum tauchst du ausgerechnet jetzt wieder auf?“, fragte er, drehte sich um und lehnte sich mit der Hüfte gegen die Rückenlehne der Couch. „Wo warst du?“ „Du bist verunsichert. Das kann ich verstehen. Obwohl du mich in deine Wohnung lässt und mich wie einen Freund behandelst, weißt du nicht warum. Du kannst dich nicht mehr an mich erinnern. Zehn Jahre waren einfach zu lange.“ „Was meinst du damit?“ „Mein Name ist Emily Elizabeth Lyall. Ich kenne dich schon sehr lange. Ich habe dich damals von Japan nach Ungarn zu Familie Gorodezki gebracht. Keine Sorge, ich bin kein Serienkiller.“ Kostja schmunzelte. „So viel zum Thema, meine Mutter hätte mich beim Bettenmachen gefunden“, scherzte er und betrachtete ihr apartes Gesicht. „Sie hat mir erzählt, dass ich aus einem japanischen Waisenhaus komme und auch, dass mich ein junges Mädchen zu ihr nach Budapest gebracht hat.“ Sie schien den Witz nicht zu verstehen. Ihre Stirn legte sich in Falten. „Und was bedeutet beim Bettenmachen gefunden?“, erkundigte sie sich interessiert und Kostja sah sie an, als hätte sie ihm eine Handtasche voller Backsteine um die Ohren gehauen. „Tut mir leid, ich bin noch nicht in dieser Zeit angekommen.“ Er wusste nicht warum, aber ihr Name hatte etwas in ihm ausgelöst. Zu schwach, um danach zu greifen, doch real genug, damit er ihr vertraute. „Schon in Ordnung. Vergiss‘ es“, erwiderte Kostja mit einem Lächeln. „Aber du solltest dir jetzt etwas anziehen. Wenn dich jemand sieht, könnte er die falschen Schlüsse ziehen.“ „Oho. Und was für Schlüsse wären das?“ Emily erhob sich auf die Füße und folgte ihm zu einem Kleiderschrank neben der Badezimmertür. Kostja bückte sich und wühlte in den unteren Schubladen. „Du weißt schon ... Mein Mietvertrag sagt, hier sind keine entlaufenden Oberschülerinnen erlaubt ...“ Sie lächelte. „Das nehme ich als Kompliment“, erwiderte sie gut gelaunt, fasste nach seiner Schulter und zeigte ihm ihren Chatverlauf. „Mach‘ dir keine Umstände. Mein großer Bruder kommt mich abholen.“ Er drehte sich erstaunt zu ihr um. „Du hast einen Bruder?“ „Mehr oder weniger“, erklärte sie ihm, wobei sie mit den Spitzen ihrer Haare spielte. Sie wickelte sich die Strähnen um den Zeigefinger. „Er ist ein Drache. Also eine andere Spezies. Er ist eben kein Vampir.“ Eine seiner Augenbrauen schnellte in die Höhe. Kein Wort durchbrach die eingesetzte Stille. Ein Drache? Was sollte das wieder bedeuten? Zeigte sich jetzt der versteckte Wahnsinn, den er zuvor zwar in Erwägung aber nicht ernsthaft in Betracht gezogen hatte? Oder sollte das eine ihm unbekannte Metapher sein? Brach gleich der aufbrausende Bruder durch die Eingangstür? Aber was meinte sie dann mit Vampir? Er war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Kostja griff nach einer Jogginghose, die ihm zu klein geworden war und reichte ihr das Kleidungsstück, bevor er in Richtung des Badezimmers deutete. Das Mädchen ignorierte ihn. Den Stoff zog sie sich an Ort und Stelle über die Hüften. Ob sie schon immer so gewesen war? Ihr Verhalten war verwirrend, ihren Sätzen fehlte der Übergang und sie schien an einer leichten Form von Realitätsverlust zu leiden. Glaubte er jedenfalls. Warum hatte er dann den Eindruck, dass es völlig normal war, wenn sie von Wesen sprach, die es nur in Märchen gab - als wenn sie das musste. Er stutzte. Warum musste? Nachdem sich Emily angezogen hatte, trat Kostja auf das Mädchen zu, schob ihre langen Haare zur Seite und betrachtete ihren schlanken Hals. Nahe der Hauptschlagader zeigte sich ihm eine halbmondförmige Narbe, die Zahnabdrücken ähnelte. Es war nur eine - ja, was genau? Auch wenn die Wunde schon längst verheilt war, schien es kein Tier gewesen zu sein, das sie gebissen hatte. Das stammte von einem Menschen. „Hm. Du bist also tatsächlich ein Vampir“, traf er eine Feststellung, ließ sie los und das Mädchen schenkte ihm ein breites Lächeln. Er musste langsam, aber sicher damit anfangen, an seinem Verstand zu zweifeln. Emily dagegen wollte ihn für seine Worte loben, das las er an ihrem Gesichtsausdruck ab. Deswegen stellte sich ihm die berechtigte Frage, wer von ihnen den größeren Schaden hatte.  Kostja konnte das Lachen kaum unterdrücken. Kein Wunder, dass sie sich angefreundet hatten. „Stimmt“, gab sie ihm begeistert Recht, klatschte in die Hände und sah ihm ins Gesicht. „Ich bin ein Vampir. Mein Bruder ist ein Drache. Erinnerst du dich wieder?“ Nein, das tat er nicht. Kostja verstand nicht einmal, warum er an ihrem Hals nach Bissspuren gesucht und diese mit einem Vampir in Verbindung gebracht hatte. Zumindest beruhigte ihn der Gedanke, dass er Antworten von ihr bekam und dass sie kein Problem damit hatte, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit? Er hatte doch gerade noch an ihrem und seinem Verstand gezweifelt. Vielleicht sollte er in der Psychiatrie anrufen und nachfragen, ob sie eine Patientin vermissten. Oder zwei? Träumte er diesen Wahnsinn? „Ich habe dich angesprochen ... ich habe das Gefühl, dich seit einer sehr langen Zeit nicht gesehen zu haben ... wie kann das sein? Ich erinnere mich an nichts.“ Emily neigte den Kopf zur Seite, in den Tiefen ihrer Augen glomm abermals dieses Feuer auf. „Hm. Ich glaube, dass nicht alle deine Erinnerungen verschwunden sind. Bruchstücke sind noch vorhanden und als du mich gesehen hast, sind sie an die Oberfläche gestoßen. Du hast seit zehn Jahren nichts von mir gehört, trotzdem hast du mich auf Anhieb erkannt. Das ist bestimmt kein Zufall.“ „Klingt nach Verschwörung ...“ Er wurde von einem schrillen Klingeln unterbrochen, dann wurde an die Haustür geklopft. Kostja warf Emily einen Blick zu. Sie stand im Wohnzimmer, die Arme hinter dem Rücken, auf den Lippen ein spitzbübisches Lächeln. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel und in der Hoffnung, dass es sich nicht um Adrienn handelte, öffnete er die Haustür einen Spalt. Er hätte nicht verwirrter sein können. Im Hausflur stand Jurij Virtanen, ein Student, den Kostja noch von seinem Abschlussjahr an der medizinischen Fakultät kannte. Seine Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Du ...“, brach es aus Jurij heraus. Kostja öffnete die Tür ganz. „Ja, ich“, erwiderte er einsilbig. „Ich wohne hier.“ Emily kam näher und steckte ihren Kopf in den Hausflur. „Oh, Hallo, Jurij“, begrüßte sie ihn fröhlich und fasste nach einer Plastiktüte, die er sich unter den Arm geklemmt hatte. „Danke, dass du mir saubere Kleidung bringst.“ Jurij hob eine Braue. „Das hast du doch gewusst.“ Sie grinste. „Möglich.“ „Augenblick“, hielt Kostja das Mädchen auf, bevor sie im Badezimmer verschwand. „Sag‘ mir nicht, der da ist dein Bruder.“ Sie lachte amüsiert. „Nein, Nein. Jurij ist nicht mein Bruder. Er ist mein Liebhaber.“ Kostja verengte die Augen, sein ungläubiger Blick glitt zu Jurij, dem alles Leben aus dem Körper wich. „Ihr habt Sex?“, fragte er nach, nur um sicherzugehen. Jurij wurde blass. „Äh ...“ Hektisch fuchtelte der Student mit den Händen durch die Luft, während er sich selbst um Kopf und Kragen redete. Rot bis über beide Ohren, fiel es Jurij offenbar schwer, die Situation zu erklären. Unter dem ganzen Gestammel konnte Kostja den Satz Sie ist nicht so jung, wie sie aussieht, herausfiltern. Richtig. Emily hatte sich rein vom Äußerlichen nicht verändert. Ihr Gesicht und ihre Statur hatten sich Kostja wie eine Fotographie ins Gedächtnis gebrannt. Warum? Dieses Gefühl von Vertrautheit begann ihn zunehmend zu beunruhigen. Die Tür zum Badezimmer quietschte. Beide Männer wandten sich dem Mädchen gleichzeitig zu und Kostja traute seinen Augen nicht. In diesem schwarzen Kostüm, den Schuhen mit Pfennigabsätzen und den zusammengebundenen Haaren, wirkte sie auf ihn so erwachsen. Es war ein Bild, das nicht so recht passen wollte. Die bunten Farben und die Spitze, die sie am Morgen getragen hatte, standen ihr bei weitem besser. Sie ging zu Jurij. „Würdest du mir die Krawatte binden?“, fragte sie ihn und schlug den Hemdkragen nach oben. „Ich muss jetzt arbeiten. Ich werde meine Kleidung ein anderes Mal holen. Pass‘ bitte so lange für mich darauf auf.“ Kostja nickte nur, unfähig ein Wort zu sagen. Seine Augen wanderten zu ihrem Oberschenkel. Durch den hoch geschnittenen Schlitz in ihrem Rock konnte er ein Holster sehen, in dem eine großkalibrige Waffe steckte. Emily schenkte ihm ein flüchtiges Nicken, drehte sich auf dem Absatz um und stieg mit Jurij über die Treppen nach unten. Das Mädchen bewegte sich jetzt auch ganz anders. Ihre Schritte waren sicher, ihre Haltung kerzengerade. Was mochte das für eine Arbeit sein, der sie nachging? Sie trug eine Pistole bei sich, also hoffte er, dass es sich dabei um Personenschutz handelte. Kostja schüttelte seine Überlegungen ab, kehrte in seine Wohnung zurück und setzte sich auf die Couch. Mittlerweile war er zu übermüdet, um auch nur ein Auge zuzubekommen. Darum beschäftigte er sich mit Lesen - zumindest bis es am frühen Nachmittag ein weiteres Mal bei ihm klingelte. War sie schon zurück? Gähnend erhob er sich auf die Füße, schlurfte in den Hausflur und lehnte sich gegen die Wand. Den Hörer der Gegensprechanlage klemmte er zwischen Kopf und Schulter ein, während er die Seite in seinem Buch umblätterte. Im Grunde war er zu erschöpft, um die Worte zu vergegenwärtigen. Kostja wusste, er konnte nicht schlafen. Obwohl er sich mit dem trockenen Text über Fortschritte in der Neurochirurgie abzulenken versuchte, spukte Emily in seinem Kopf herum. „Wer ist da?“ „Hier ist Jason“, rief die vor der Haustür stehende Person mit beschwingter Stimme. „Ich habe ein Sixpack Bier. Lass uns ein bisschen abhängen.“ Betretenes Schweigen folgte, bis sich Kostja zu einer Antwort durchrang. „Moment.“ Er hob den Arm, um auf den Summer zu drücken. Die Tür im Hausflur öffnete sich mit einem Klacken, Schritte bestätigten, dass Jason, sein bester Freund seit Kindertagen, das Hochhaus betreten hatte. Kostja begab sich unterdessen wieder ins Wohnzimmer. Langsam aber schleichend kehrte die Müdigkeit zu ihm zurück. Er war sich nicht sicher, wie lange er sich noch wachhalten konnte. Der zweite, unangemeldete Besucher an diesem Tag stürmte in die Wohnung. Jason wirkte gehetzt, als hätte er sich auf den Treppen unnötig beeilt. Er strich sich das wirre, blonde Haar aus der schweißnassen Stirn. „Was ist denn los?“, wollte Kostja überrascht wissen und sah seinem Freund ins Gesicht. „Bist du endlich zum Stich gekommen?“ Jason schüttelte den Kopf, seine braunen Augen leuchteten voller Euphorie. „Nein!“, rief er begeistert. „Du wirst nie erraten, was mir heute passiert ist.“ „Und was soll das gewesen sein?“ „Eine Frau!“ „Eine Frau“, wiederholte Kostja skeptisch, unsicher, ob er nicht eingeschlafen war und sich diesen Unsinn nur erträumte. „Dir ist bewusst, dass es davon Millionen auf der Erde gibt?“ Jason nickte. „Aber es war nicht irgendeine!“, rief er begeistert. Er konnte sich wohl nur schwer zusammenreißen, um Kostja diese scheinbar wertvolle Neuigkeit nicht einfach ins Gesicht zu werfen. „Und was war an ihr so besonders?“ „Sie muss von einer Security Agentur gewesen sein. Sie trug ein enges Kostüm, eine Sonnenbrille und ... ist ja auch egal. Auf jeden Fall hatte sie eine Waffe bei sich. Das war eine Desert Eagle ... eine Desert Eagle! Shit. Stell‘ dir das nur mal vor. Das ist der absolute Wahnsinn.“ Kostja grinste schief. Sein bester Freund war von Waffen fasziniert. „Warum hast du nicht gefragt, ob sie dir das Ding zeigt?“ Auf einmal wirkte Jason fast beleidigt. „Die hätte mir ihre Waffe durch die Fresse gezogen, bevor ich auch nur den Mund aufmachen kann.“ Im Schneidersitz sank er laut schnaufend auf den Boden nieder. Und nachdem das Thema mit der Securityfrau und der Waffe wohl abgehakt war, ließ sich Kostja überreden, von seiner Nachtschicht zu erzählen. Seine Gedanken kreisten dabei weiter unaufhörlich um Emily. Er konnte sich einfach nicht an die Dinge erinnern, die wichtig sein mussten oder sollten. Sie stand seinen Fragen zwar offen gegenüber, aber ihre Antworten waren verwirrend und beruhigend. Im Grunde ergaben sie keinen Sinn. Bei der Frau, von der Jason erzählt hatte, handelte es sich mit ziemlicher Sicherheit um Emily. Das Mädchen hatte ebenfalls eine großkalibrige Waffe bei sich getragen. Kostja stand auf, streckte seine steifen Muskeln und begab sich in die Küche. Dabei entdeckte er ein Post-it, das auf dem Türstock klebte. Die Nachricht konnte er nicht entziffern. Wollte sie ihn ärgern? Grinsend betrachtete er das darauf befindliche Gekritzel. Wenn er sich nicht irrte, handelte es sich um japanische Schriftzeichen, die sich mit englischen Sätzen und Ungarisch zu einem wirren Kauderwelsch mischten. Was wollte sie ihm damit sagen? Er zupfte die Notiz vom Türstock, drehte den Zettel um und las sich die Sätze auf der Rückseite durch. Sie bedankte sich für seine Gastfreundschaft. Zudem bat sie ihn darum, ihre Stiefel nicht in der Sonne stehenzulassen. Kostja verstand ihre seltsame Bitte nicht, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie ihre Gründe hatte. Also holte er die Schuhe vom Balkon, stellte sie ins Vorzimmer und begab sich kurz darauf in den Keller. Unschlüssig, ob er für ihre Kleidung den Trockner benutzen konnte, griff er auf die Wäscheleine zurück. Er stockte, als er plötzlich ihre Unterwäsche in den Händen hielt. Unwillkürlich dachte er an Jurij. Kostja schnaufte. Warum war es ihm unangenehm, dass Emily Sex hatte? Äußerlich hatte sie sich zwar nicht verändert, aber sie musste erwachsen sein. Vielleicht Ende 20 oder schon Mitte 30. Es gab Menschen, die selbst mit 40 noch, wie Teenager wirkten. Kostja ließ die Schultern hängen. Kleine, zierliche Dinge weckten wohl einfach seinen Beschützerinstinkt. Seufzend beendete er seine Arbeit und ging in seine Wohnung zurück. Jason leerte sein drittes Bier, kurz darauf schlief er auf der Couch ein, ein Biologiebuch in der Hand. Für Kostja das Zeichen, den angebrochenen Alkohol im Spülbecken zu entsorgen. Er weckte seinen besten Freund auf, funktionierte die Couch um und legte sich schlafen. Doch durch das pausenlose Schnarchen bekam er kein Auge zu. Mit dem Kopfkissen auf den Ohren wälzte er sich den größten Teil der Nacht von einer Seite zur anderen. Dass er sich am nächsten Morgen wie erschlagen fühlte, war nicht verblüffend. Die Tragegurte des Rucksacks in den Händen schleppte er sich in die U-Bahn, den Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt. Kostja wollte die Augen schließen, als ihm Jason auf die Schulter schlug. Sein Freund deutete auf ein Mädchen, das sich am anderen Ende des Abteils befand und in einem Buch las. Unter gesenkten Augenlidern sah er zu Jason. „Erinnere mich daran, dass ich dich umbringen werde“, murmelte er. Nach weiteren sechs Stationen, die Kostja verschlief, boxte ihm eine Faust in die Rippen. Unerwartet in die Wirklichkeit zurückgerissen, fuhr er zu Jason herum. Sein bester Freund sah ihn an, bevor er abwehrend die Hände hob. „Das war ich nicht“, beteuerte er atemlos. „Da ist ein Mädchen mit einem Sonnenhut und einem langen Kleid an uns vorbeigelaufen. Sie hatte einen pinken Rucksack bei sich.“ „Irgendeine Fremde soll mich geschlagen haben?“, fragte Kostja und presste die Hand auf seine Rippen. „Und warum genau sollte sie das machen?“ Jason schnitt eine Grimasse. „Weiß ich doch nicht.“ Eine Geschichte, die Kostja nicht glaubte. Sein müder Körper, der protestierend nach einem Bett verlangte, trieb ihn dennoch aus dem Zug. Der Tag hatte noch nicht begonnen und er dachte bereits daran, wieder umzukehren und nach Hause zu fahren. Wenn er einmal fehlte, brachte ihn sein Onkel nicht gleich um. Als er stehen blieb, um seinen Entschluss umzusetzen, rempelte ihn jemand von hinten an, sodass er nach vorne stolperte. Kaum hatte er sein Gleichgewicht zurückerlangt, drehte er sich um. Aber da war nur ein Mädchen in einem weißen Kleid mit langen Ärmeln, das am Straßenrand stand. Merkwürdig. Die brütende Hitze machte ihm zu schaffen. Ihre Haut dagegen lag versteckt unter Unmengen von Stoff, selbst ihre Finger. Die blickdichte Strumpfhose endete in geschlossenen Schuhen und auf dem Kopf trug sie einen Sonnenhut, der ihr über die Ohren rutschte. Sie bedeckte damit ihr Gesicht, als sie an Kostja vorbeilief und ihm dabei den pinkfarbenen Rucksack auf ihren Schultern zeigte. Dieses halbe Kind sollte ihm in die Rippen geschlagen haben? Der Gedanke erschien zu absurd. Stopp. Bevor er noch einmal darüber nachdenken konnte, setzte er sich in Bewegung. Kostja rutschte auf den Sohlen seiner Schuhe um die Ecke, stieß sich in der Kurve am Pfosten des Eingangstores ab und rannte über den Hof des Krankenhauses. „Emily!“, brüllte er verärgert. Das Mädchen ignorierte ihn mit Absicht. Obgleich sie bei der Lautstärke seiner Stimme sichtlich zusammenzuckte, rannte sie weiter, bog um eine Ecke und tauchte im Schatten des Nebengebäudes unter. Kostja blieb stehen, seine Augen flogen über die Gesichter der an ihm vorbeigehenden Menschen hinweg. Wo hatte sich dieses kleine Biest versteckt? Er wollte seinen Weg gerade fortsetzen, als er unerwartet am Arm festgehalten wurde. Eine Kraft, mit der er nicht gerechnet hatte, riss ihn zurück. „Guten Morgen ...“, grüßte ihn sein Onkel, mit diesem drohenden Unterton in der Stimme. „Wenn du erlaubst, möchte ich dich daran erinnern: Dass hier ist ein Krankenhaus!“ Kostja schlug das Herz bis zum Hals. Er wollte etwas erwidern, doch die Worte blieben ihm auf Brusthöhe stecken. Sein Onkel war der Leiter des Krankenhauses - ein sanftmütiger Mensch, der jedem Bereich seines Lebens die gleiche Hingabe schenkte. „Hast du ein Mädchen in einem weißen Kleid gesehen? Sie trägt einen Sonnenhut und hat einen pinken Rucksack. Ich muss ...“ „Kostja.“ Auch wenn es sich nur um seinen Namen handelte, wich er automatisch einen Schritt zurück. Doktor Gerassimow nickte, drehte sich um und begab sich ins Innere des Krankenhauses, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Kostja seufzte leise. Er hätte nicht von Emily anfangen dürfen und er sollte nicht vergessen, wo er sich befand. Murrend trottete er ins Krankenhaus, wobei er weiterhin Ausschau nach dem Mädchen hielt, das ihn schon am frühen Morgen in Schwierigkeiten gebracht hatte. Normalerweise schaffte er das ganz gut selbst. Kostja fuhr mit dem Aufzug in den ersten Stock, ging einen langen Flur entlang und begab sich direkt zu den Umkleideräumen. Dort traf er wieder auf Jason. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)