Ohne Schlips und Tadel von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Happy Birthday to me? -------------------------------- Mit einem gewaltigen Scheppern ging eine Lawine zu Boden. Und dann noch eine. Und noch eine! Tausende und abertausende runde Metallstücke ergossen sich auf den Boden vor dem Rathaus. Thilo sah es und stöhnte. „Ist nicht euer Ernst.“   Tabea, die zusammen mit Liv einen der drei Säcke ausgeschüttet hatte, grinste frech.   „Und ob das unser Ernst ist, Bruderherz. Also los, dann mal ran an die Bouletten. Wir wollen was sehen.“ Thilo stöhnte erneut. Und stöhnte nochmal, als er auf das Instrument in seiner Hand hinabblickte. Es war, passend zum Rest seines Outfits, eine Klobürste. Ein absolut ungeeignetes Utensil für die Aufgabe, die ihm gestellt worden war. Und doch musste er wohl.   „Na los, nun zier dich nicht so.“   Thilo schoss einen weiteren giftigen Blick ab. Dieses Mal traf er damit seinen besten Freund, der, ganz unschuldig, ebenfalls mit einem leeren Sack in der Hand dastand. Wenn Thilo hätte raten müssen, war mit Sicherheit er es gewesen, der die ganzen Kronkorken besorgt hatte. Tom kannte immer jemanden, der jemanden kannte, und somit mit Sicherheit auch den einen oder anderen Barbesitzer. Dass er sich jetzt so über Thilos Leid beömmelte, passte jedenfalls ins Bild. Als wenn 30 werden nicht schon bescheuert genug wäre.   „Nu sabbel nicht, mach endlich“   Liv, die ihre Kamera gezückt hatte, wedelte ungeduldig mit der Hand. Thilo grummelte. „Müsste euch das hier nicht eigentlich gegen den Strich gehen? Ich meine, ich bin ne Putzfrau. Feminismus wo?“ Seine Schwester und ihre Freundin grinsten jedoch nur, während Tom sich immer noch einen ablachte. Von denen war also offenbar keine Hilfe zu erwarten.   Thilo zog die Nase kraus. Über ihm wölkte der trübe Hamburger Märzhimmel vor sich hin. Wind zauste seine Haare – nun ja, nicht seine, sondern die der grauen Lockenperücke, die zu tragen man ihn gezwungen hatte – und ein paar Tauben eilten flügelschlagend vorbei. Wer leider nicht vorbeieilte, waren die Besucher des Hamburger Rathausplatzes, die offenbar wissen wollten, was hier vor sich ging. Als wenn er der Erste gewesen wäre, der sich im absolut lächerlichen Fummel hier abmühen musste. Thilo bezweifelte allerdings, dass irgendjemand dabei eine so armselige Figur gemacht hatte wie er. Immerhin trug er eine Kittelschürze. In rosa!   „Fegen! Fegen! Fegen!“   Tabea hatte angefangen, auf und ab zu hüpfen. Liv, an deren Arm sich ihre schlimmere Hälfte gehängt hatte, hüpfte notgedrungen ein bisschen mit. Tom, wie immer tadellos in Schale, sah ihn auffordernd an und auch die sich versammelnde Menge wartete offenbar nur darauf, dass Thilo endlich loslegte. Ihm schien wirklich nichts anderes übrig zu bleiben.   „Na schön, na schön, ich mach ja.“   Je eher er anfing, desto schneller würde er wieder reingehen können. Es war wirklich lausig kalt.   „Loooos! Fegen!“, jubelte Tabby. Sie und die anderen hatten leicht reden. Immerhin waren sie in wunderbar warme Wintermäntel gehüllt, wohingegen Thilo … Egal. Augen zu und durch.   „Okay, okay. Ihr habt es nicht anders gewollt.“   Thilo warf die künstlichen Locken zurück, zückte die Klobürste und begann, dem Altmetall zu Leibe zu rücken. Hinter ihm skandierten seine Schwester und ihre Freundin immer noch und die ersten Besucher, begannen im Takt mitzuklatschen. Thilo beschloss, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und wippte mit dem Hintern dazu. Pfiffe wurden laut, noch mehr Klatschen und irgendwer schrie sogar: „Ausziehen! Ausziehen!“ Thilo bedachte die Menge mit einem schrägen Blick, bevor er seine Kittelschürze ein Stück lüftete und so tat, als wolle er auch noch sein Hosenbein hochziehen. Wieder erntete er Pfiffe und Gelächter. „Mami, was macht der Mann da?“ „Na, das siehst du doch. Er macht sauber.“   Die Kleine, die gefragt hatte, beobachtete ihn mit kritisch gerunzelter Stirn. Offenbar leuchtete ihr nicht so recht ein, warum der alberne Mann dazu nicht was Sinnvolleres nahm wie einen Laubbläser oder einen Staubsauger. Thilo hätte das auch gerne gewusst.   „Jahaaa“, rief Tabby jedoch von hinten und zog damit die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Und das macht er solange, bis eine Jungfrau kommt und ihn mit einem Kuss befreit. Also los! Freiwillige vor!“   Verstohlen sah Thilo sich um. Nicht, dass er sich ausmalte, wirklich jetzt schon von seiner Bürde erlöst zu werden, aber gucken konnte man ja mal. Leider bestand mehr als die Hälfte der Zuschauer aus älteren Damen mit den dazugehörigen Herren oder aber aus jungen Müttern mit Kinderwagen. Wer halt so an einem Mittwochmittag Zeit hatte, um spazieren zu gehen. Dazwischen gab es noch ein paar Shopper, Schüler, Studenten. Okay, von den letzteren war sicherlich keiner mehr Jungfrau, aber mit etwas Glück … „Hey, du da! Ja du. Komm doch mal rüber.“   Thilo, dem es mittlerweile fast gelungen war, die Kronkorken zu einigermaßen ordentlichen Haufen zusammenzubürsten, horchte auf. Hatte Tabby etwa wen gefunden? Hoffnungsvoll linste er in ihre Richtung.   Neben seiner Schwester stand ein Junge oder vielmehr ein junger Mann. Er musste etwa Anfang 20 sein. Sein dunkles Haar lag in wirren Locken um seinen Kopf, während der Rest von ihm fast vollständig in einem karamellfarbenen Dufflecoat verschwand. Ein wollweißer Schal um seinen Hals betonte seinen leicht gebräunten Teint. Er sah aus wie eine Erscheinung. Eine absolut göttliche Erscheinung. „Wow.“   Thilo war sich sicher, dass er gerade unheimlich dämlich aussah. Immerhin starrte er einen Typen an, während ihm der Sabber förmlich aus dem Mund lief und er eine Klobürste in Händen hielt. Vom Rest des Outfits mal ganz zu schweigen. Schnell griff er zu und riss sich die Perücke vom Kopf. Darunter war er vermutlich völlig zerzaust, aber wenigstens … „Sag mal, du bist doch bestimmt ein Netter, oder?“   Der Fremde wusste offenbar nicht so recht, wie er diese Anmache finden sollte, aber Tabby quasselte einfach weiter.   „Denn weißt du, mein Bruder wird heute 30 und weil er noch nicht verheiratet ist, muss er hier so lang vor dem Rathaus die Stufen fegen, bis eine holde Jungfrau kommt und ihn mit einem Kuss befreit.“ Die fein geschwungenen Augenbrauen des Fremden wanderten in die Höhe.   „Oh“, machte er und schien immer noch nicht zu wissen, worauf Tabea hinauswollte. „Und wie kann ich dabei helfen?“   Tabby grinste bis über beide Ohren. „Na, ich hab mir gedacht, ich frag mal, ob du das mit dem Kuss übernehmen möchtest. Du wärst nämlich voll sein Typ, musst du wissen.“   Thilo starb. Er starb wirklich ganz furchtbar und das nicht zum ersten Mal aufgrund seiner wirklich, wirklich grässlichen kleinen Schwester. Nicht nur, dass sie einem vollkommen Fremden ungefragt seine sexuelle Orientierung um die Ohren schlug, nein, sie musste ihn ja auch noch fragen, ob er Thilo küssen wollte. Und jetzt drehte sich diese Erscheinung von einem Mann auch noch zu ihm um. Thilo starb noch einmal.   Braune Augen taxierten ihn. Thilo war sich bewusst, wie lächerlich er aussehen musste. Auch ohne die Perücke waren da immer noch die ganzen anderen Sachen. Und der Lippenstift! Den hatte er vollkommen vergessen. Am liebsten wäre Thilo stehenden Fußes im Boden versunken. Er musste …   „Nein, tut mir leid. Ich glaube, ich erfülle die Bedingungen nicht.“ Während der Fremde das sagte, sah er Thilo die ganze Zeit an. Was mit Sicherheit hieß, dass er nicht generell abgeneigt war, sondern nur … jetzt gerade? Oh Himmel, das durfte doch nicht wahr sein. Thilo musste aus diesem Outfit raus. Ganz dringend. Sofort.   „Aber ich wünsche noch viel Glück bei der Suche. Und außerdem: Happy Birthday.“   Thilo konnte nur nicken. Der Rest seiner Gehirnzellen versackte nämlich gerade in den Vorstellungen, was er mit diesem Bild von einem Mann anzustellen gedachte. Auf dem Bett, neben dem Bett, unter dem Bett. Seinetwegen sogar auf dem Klohäuschen da drüben neben dem Kiosk, auch wenn er sich sicher war, dass in den Taschen seiner Kittelschürze keine 50-Cent-Münze zu finden war. Aber die würde er schon irgendwo auftreiben. Er musste! „Ja. Danke“, sagte er jedoch stattdessen.   Der Fremde im Dufflecoat nickte Thilo noch einmal zu, bedachte die Truppe hinter ihm mit einem letzten amüsierten Blick und drehte sich dann um, um langsam über den Platz davonzugehen. Thilo sah ihm nach und konnte es nicht glauben. Warum nur musste das ausgerechnet ihm passieren? Warum?! „Uuuuund wir haben eine … Gewinnerin!“ Wie betäubt drehte Thilo sich um. Da stand Liv mit einer Mutter, die eine verschmierte Dreijährige auf dem Arm hatte. Alle drei grinsten Thilo meterbreit an. Offenbar war das die versprochene Jungfrau, die ihn aus seiner Not retten würde. Als wenn ihn das jetzt noch interessiert hätte. „Geht auch ein Luftkuss?“, fragte er hoffnungsvoll, auch wenn ihm klar war, dass Tabby das nicht durchgehen lassen würde. Dazu quälte ihn seine Schwester viel zu gern. Schicksalsergeben schloss Thilo die Augen. Er würde diesen gut aussehenden Fremden wohl nie wiedersehen.   Kapitel 2: Männer, die auf Dildos starren ----------------------------------------- Entschlossen kippte sich Thilo den Shot hinter die Binde und knallte das Glas anschließend auf den Tresen. „Hexe!“, zischte er, nur um dem Barmann im gleichen Augenblick zu winken, um sich noch einen 'Orgasmus' zu bestellen. Tom, der neben ihm saß, lupfte eine Augenbraue.   „Wer?“, fragte er, als wenn er die Antwort nicht schon längst kennen würde. Thilo knurrte ungehalten. „Na meine Schwester“, meckerte er und griff nach dem Glas, das auf wunderbare Weise vor ihm erschienen war. Cremiger Sahnelikör und klarer Anisschnaps rangen darin um die Oberhand. Thilo machte kurzen Prozess mit beidem und schlang den Drink förmlich hinunter. Als er jedoch noch einen ordern wollte, legte Tom die Hand über die Öffnung des Shotglases. „Ganz ruhig, Brauner. Wir haben heute noch was vor, schon vergessen?“   Thilo schnaubte abfällig, zog seine Hand aber gehorsam wieder zurück. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre seine Mission heute Abend gewesen, sich abzuschießen und das gründlich. Aber sein Freund hatte darauf bestanden, dass sie heute „feiern“ mussten. Als wenn es da was zu feiern gegeben hätte. Schließlich war heute der Weltuntergang eingeläutet worden.   „Ich will aber nicht feiern. Ich will mich betrinken“, jammerte er dem entsprechend auch, was ihm einen pflichteifrigen Blick von dem Typen hinter der Bar bescherte. Der, wenn Thilo ihn sich so genauer ansah, auch nicht von schlechten Eltern war. Allerdings hetero. Wusste und respektierte hier jeder. Was nicht hieß, dass er nicht ab und an ne Nummer zugesteckt bekam. Versuchen konnte man es ja mal.   „Zisch … ooohhhh“, machte Tom neben ihm und tat dabei so, als würde er eine Getränkedose öffnen. „Wie schade. Mitleid ist alle.“   Thilo schoss einen weiteren bösen Blick auf ihn ab. Allein dass er hier auf diesem unbequemen Barhocker herumsaß, statt sich zu Hause zu verkriechen, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte, war schon ein echtes Zugeständnis. Wenn Tom jetzt auch noch anfing, sich über ihn lustig zu machen …   „Hey ihr Zwei. Wollt ihr euch nicht zu uns setzen?“   Thilo sah auf. Der Frager war jung, maximal Mitte 20. Sein kanariengelbes T-Shirt schien von innen heraus zu leuchten und die kleine Kette um seinen Hals zeigte zwei ineinander verschlungene Männlichkeitssymbole. Die hätte es für Thilo allerdings gar nicht gebraucht. Die Art und Weise, wie der Kerl ihm in den Schritt starrte, war mehr als eindeutig.   Um nicht unhöflich zu sein, warf Thilo einen Blick auf den zweiten im Bunde, der nicht nur um einiges älter, sondern mit seinem grauen Hemd auch unauffälliger gekleidet war. Lediglich seine an den richtigen Stellen zerrissene Jeans zeigte ein bisschen Haut. Er saß an einem der Tische, der um diese Uhrzeit nicht unbedingt vollbesetzten Bar. Aus den Boxen dröhnte bunter Europop.   'We like to party.'   Thilo seufzte. „Tut mir leid, kein Interesse“, sagte er und hätte dem Vögelchen am liebsten den Kopf gestreichelt. Der schien es jedoch nicht krumm zu nehmen. „Okay“, meinte er und lächelte Thilo noch einmal an. „Aber wenn ihr es euch anders überlegt, wir sind da drüben.“   Thilo nickte. „Klar Mann. Und viel Spaß euch noch.“ „Gleichfalls.“   Das Vögelchen schob wieder ab und schwenkte dabei nicht unbedingt unauffällig seine winzige Kiste. Thilo war sich sicher, dass er einen Jockstrap trug. Maximal. Für alles andere wäre in seiner knallengen Hose nämlich kein Platz gewesen. Da zeichnete sich ja wirklich alles ab.   Als er sich wieder umdrehte, grinste Tom ihn an. „Was?“, raunzte Thilo und bereute es, sich nicht wenigstens ein Bier bestellt zu haben. Oder einen Cocktail. Die Bar hier mochte nicht alle auf der Karte haben, aber die, die sie hatten, waren verdammt gut.   „Nichts“, gab Tom mit nur schlecht verhaltenem Lachen zurück. „Ich frag mich nur, warum du ihn weggeschickt hast. Du hast es doch sichtbar nötig.“   Thilo grollte und nahm sich kurzerhand die Cocktailkarte vor, um Tom nicht länger ins Gesicht sehen zu müssen. Der war heute unerträglich.   „Was mich wieder zu meinem ursprünglichen Plan bringt“, referierte sein Freund jedoch ungerührt weiter. „Ich will mit dir nachher noch ins 'I.C.U.'. Die haben heute Waschtag.“ Thilo verdrehte innerlich die Augen. Waschtag bedeutete, dass jeder, der mehr als drei Streifen Zahnseide am Leib trug, nicht reinkam. Angeblich hatten sie an der Tür schon Leute abgewiesen, die zu viele Piercings hatten. Er persönlich hielt das nur für ein Gerücht. Änderte jedoch nichts daran, dass Tom offenbar wirklich vorhatten, ihn da hinzuschleppen. Thilo gab ein genervtes Stöhnen von sich. „Ich will mich aber nicht ausziehen“, nörgelte er und überlegte, ob er sich einen []'Sex on the Beach' bestellen sollte. Der war immerhin auch ohne Kondome vollkommen safe.   „Dann behalt halt deine Hose an. Wenn du dem Türsteher einen Schein zusteckst, lässt er dich auch so rein.“ Thilo grunzte. War ja klar, dass Tom so was wieder wusste. Wahrscheinlich gab es in Hamburg kein einziges Etablissement, in das er noch nicht seinen Schwanz reingehangen hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes.   „Ist das dann nicht gegen das Motto?“ „Klar. Aber ich gehe auch nicht davon aus, dass du deine Vorsätze durchhalten wirst. Wenn dir irgendeine spermageile Schlampe an die Hose geht, bist du doch der Erste, der sich textilfrei macht.“ Thilo grunzte erneut und beschloss, dass es ein Long Island Ice Tea sein musste. Irgendwas darunter würde es mit Sicherheit nicht schaffen, Toms Gesabbel erträglich zu machen. Allein die Vorstellung … Thilo merkte, wie er langsam spitz wurde. „Ich will aber nicht“, beschwerte er sich trotzdem. „Ist schließlich mein Geburtstag. Und den will ich feiern dürfen, wie ich will.“   „Indem du dich volllaufen lässt?“ „Ja, bitte!“   'I’m a Scatman!'   Die Tür der Bar öffnete sich und eine bunte Clique schneite herein. Es war nicht unbedingt ersichtlich, wer da mit wem – und bei einigen auch nicht, was sie überhaupt darstellen wollten – aber es war ganz eindeutig, dass sie alle Spaß hatten. Ganz im Gegensatz zu ihm. Und Tom, der jetzt, da sein Freund sich nicht mehr hinter bedrucktem Papier verkroch, säuerlich dreinschaute.   „Und dann? Willst du dich mit Eiscreme auf dem Sofa verkriechen und zum 38. Mal 'Queer as folk' durchsuchten? Dein Ernst?“   Thilo schob die Unterlippe vor.   „Und wenn?“   Es war ja schließlich nicht so, dass er das ständig machte. Außerdem hatte er gar kein Eis da. Die letzte Packung hatte er gestern aufgefuttert, während er 'Ein Mann namens Otto' geschaut hatte. Das war traurig gewesen, da hatte er seelischen Beistand gebraucht. Und Eis. Viel zu viel Eis.   Ich muss echt mal wieder ins Fitnessstudio.   Nicht umsonst schenkte ihm Tom jedes Jahr wieder eine Mitgliedschaft in diesem exklusiven Club. zum Geburtstag. Und jedes Jahr wieder nahm Thilo sich aufs Neue vor, es dieses Mal ganz bestimmt durchzuhalten. Waschbrettbauch, Bizeps, Trizeps und natürlich ein knackiger Hintern standen, wie jedes Jahr, auch dieses Mal wieder ganz oben auf seiner Wunschliste. Wenn er nur nicht so unterirdisch faul gewesen wäre. Und so beschäftigt. Und Sport so anstrengend! Dann hätte Thilo bestimmt …   Wie aus dem Nichts heraus legte sich plötzlich ein warmer Arm um ihn. Die lästige Gliedmaße zog ihn näher heran und Tom flüsterte ihm ins Ohr. „Und wenn wir dir einen netten Bären suchen, von dem du dich mal so richtig nach Strich und Faden verwöhnen lassen kannst? Vielleicht ist es ja so langsam an der Zeit, dass du dich wieder mal an diese Seite der Nahrungskette heranwagst. Schaden würde es nicht.“ Thilo versteifte sich. Die Worte machten etwas mit ihm. Definitiv. „Oder glaubst du, ich hab deine Sammlung im Schlafzimmer nicht längst entdeckt?“, säuselte Tom weiter. „Du hast da wirklich ein paar ziemliche Biester dabei. Möchtest du so was nicht mal wieder in echt erleben?“   Thilo presste die Kiefer aufeinander. Ihm war klar, warum Tom das sagte, aber er hätte nicht falscher liegen können. Nein, ganz bestimmt nicht.   Mit einem grimmigen Lächeln, das mehr einem Zähnefletschen ähnelte, zupfte Thilo Toms Arm von seiner Schulter und drehte sich zu seinem Freund herum. Er ging ganz nahe und zischte: „Also erstens mal verbitte ich mir, dass du in meinen Schubladen herumschnüffelst. Was ich da drin habe, geht nur mich was an. Klar soweit?“   Tom grinste, aber Thilo ließ sich nicht beirren. „Zweitens weißt du sehr genau, dass ich nicht auf Bären stehe. Wenn du mir nen hübschen Otter präsentierst, meinetwegen. Aber ich möchte im Bett nicht das Gefühl haben, gleich plattgewalzt zu werden oder Erste Hilfe leisten zu müssen. Und drittens …“ Thilo machte eine Pause, damit das Gesagte auch wirklich ankam. „Drittens habe ich keinerlei Interesse daran, mich heute von jemandem beglücken zu lassen. Oder ihn zu beglücken. Ich will einfach nur ganz stinknormal hier sitzen und mit dir was trinken. Ist das jetzt angekommen?“ Toms Lächeln verschwand. Er sah Thilo ein paar Augenblicke lang in die Augen, dann seufzte er. „Okay, ist angekommen. Aber ich sage dir, du verpasst was. Gegen einen echten Schwanz ist selbst ein 'Bad Dragon' ein Scheißdreck.“   Thilo schnaufte. Und schnaufte noch einmal, weil er wusste, dass Tom recht hatte. Das gab ihm aber noch lange nicht das Recht, Thilo zu Dingen zu überreden, auf die er keine Lust hatte. Auch wenn er später vielleicht darauf Lust bekommen würde. Mit ner Hand am Schwanz ließ sich eben schlecht denken. Besonders, wenn es nicht die eigene war. „Ich hab gar keinen 'Bad Dragon'“, nuschelte er allerdings nur halb so kampesflustig, wie er es hätte sein sollen. „Oder meinst du vielleicht, ich steck mir irgendwelche Tentakel rein, wo keine hingehören?“ Tom senkte den Kopf, spitzte die Lippen und sah ihn von unten herauf an. „Weiß nicht. Tust du?“ Thilo verdrehte – dieses Mal wirklich – die Augen. „Nein, verdammt. Wenn ich mir schon was hernehme, dann soll es wenigstens echt aussehen.“ „So wie der lila Doppeldildo?“   Thilo fuhr auf. „Man, ich war jung, als ich das Ding gekauft habe. Ich wollte es nur mal ausprobieren!“ Toms Mundwinkel zuckten.   „Ja aber, das hättest du mir doch sagen können. Du weißt, ich helfe dir immer gerne.“ Thilo merkte, wie ihm warm wurde. Das war etwas, über das er nun heute wirklich nicht sprechen würde. Schließlich war das mit ihnen schon seit Urzeiten vorbei und seitdem waren er und Tom nur noch Freunde. Mit gelegentlichen Ausnahmen dann und wann. „Ich brauch deine Hilfe nicht“, ätzte er deswegen und winkte nun endgültig den Kellner heran, um sich noch einen Drink zu bestellen. Immerhin hatte Tom ihn eingeladen, da konnte er es auch krachen lassen.   „Einen Bellini, bitte.“   Tom hob die Hand.   „Mach uns zwei, ja? Mir ist heute auch nach Pfirsich.“   Der Kellner grinste, nickte und machte sich daran, das Bestellte zusammenzumixen. Thilo warf seinem Freund einen schrägen Blick zu.   „Wenn du noch loswillst, kann ich auch heimgehen. Ich will dich ja nicht zu deinem Glück zwingen.“ Toms Lächeln, das daraufhin auf seinem Gesicht erschien, war offen und ehrlich. „Du weißt, dass ich dich immer einer Horde nackter, schwitzender, es wie die Tiere treibender Fremder vorziehen würde, oder?“ Jetzt zuckten auch Thilos Mundwinkel. „Na, da bin ich aber froh.“ „Ich auch.“   Die Cocktails kamen und Thilo war mehr als dankbar, sich endlich wieder hinter einem Schirmchen verstecken zu können. Nicht, dass sie das Thema nicht ausführlich besprochen hatten. Es war alles geklärt. Er wollte nur nicht, dass heute eine dieser Ausnahmen wurde. So etwas war für größere Notfälle reserviert. Tod eines Familienangehörigen zum Beispiel. Oder eine Jahrhundertflut. Mindestens. „Und?“, fragte er deswegen, um das Gespräch mal in eine ganz andere Richtung zu bringen. „Läuft bei dir?“   Tom, der gerade noch einen pinkfarbenen Strohhalm zwischen den Lippen gehabt hatte, ließ diesen los und nickte beiläufig. „Klar. Der Deal mit Crimson Pharmaceuticals ist nahezu durch. Wenn die letzten Unterschriften geleistet sind, läuft die Sache und ich krieg endlich meine Provision.“ Er grinste und nahm noch einen Schluck von seinem Bellini. „Hab schon gedacht, ich müsste dem gegnerischen Anwalt den Schwanz lutschen, damit er endlich aus seiner Ecke kommt, aber dann waren die Zahlen wohl doch überzeugend genug und mein Arsch ist immer noch Jungfrau.“   Immer noch Jungfrau.   Die Worte hallten in Thilos Kopf wider und brachten, wie sollte es anders sein, die Erinnerung an ein Paar strahlende, haselnussbraune Augen zurück. Ohne es zu merken, seufzte er und nahm einen großen Schluck Pfirchsich-Leckerei. Tom sah es und schob die Augenbrauen nach oben. „Was denn? Immer noch Liebeskummer wegen deines Froschprinzen?“   Natürlich hatte Tom sofort gecheckt, dass nach der Aktion auf dem Rathausplatz irgendwas faul war im Staate Thilo Marquardt. Daher hatte er auch nicht lockergelassen, bis er Thilo die ganze dreckige Wahrheit aus der Nase gezogen hatte. Dass ihm dieses Bürschchen nicht aus dem Kopf ging und ihn somit vergiftet hatte für den Rest des Abends. Vielleicht sogar für den Rest des Monats. Nicht, dass der noch sehr lang gewesen wäre. „Der war eben süß“, verteidigte sich Thilo und begann, die Kohlensäure aus seinem Drink zu rühren. „Aber eben auch verdammt jung“, warf Tom ohne Gnade ein.   „Hast du gesagt“, schob er hinterher, als Thilo ihn böse anfunkelte. „Nicht, dass ich das generell für ein Problem halten würde, aber 'Der steht doch nie im Leben auf so alte Knacker wie mich' war deine Wortwahl, nicht meine.“ Thilo seufzte noch einmal. „Eben“, meinte er und rührte weiter in seinem Glas herum. „Und selbst wenn er nicht unglaublich viel zu jung wäre und ich nicht so unglaublich out-of-shape, wäre er eben immer noch unglaublich verschwunden. Was mich wieder zu meiner teuflischen Schwester bringt. Sie kann mir doch nicht so einen Leckerbissen vor die Nase halten und ihn dann einfach ziehen lassen. Ohne nach seiner Nummer zu fragen!“ Die Gruppe in der Ecke lachte in diesem Moment und Thilo kam es vor, als würden sie sich über ihn lustig machen. Was ihn kaum gewundert hätte. Immerhin war er alt. Und betrunken. Und fett! Ein bisschen wenigstens. Um den Bauch herum. „Dann musst du ihn eben suchen.“   Thilo blinzelte und hoffte, dass Tom das nicht gerade wirklich vorgeschlagen hatte. Doch sein Freund grinste ihn bereits wieder abenteuerlustig an. „Ich meine, was hast du schon zu verlieren? Entweder du findest ihn oder ein anderes leckeres Sahneschnittchen, das du vernaschen kannst.“ Sein Grinsen wurde diabolisch, als er hinzufügte: „Wir könnten ja auch ins 'Kuschelkasten' gehen. Ich könnte mir vorstellen, dass so Küken wie er da rumhängen.“   Thilo überlegte. Einen ganz kleinen Augenblick zu lange überlegte er, dann schüttelte er den Kopf. „Nee, lass mal. Die halten uns doch für Kinderschänder, wenn wir da auftauchen. Oder für Sugardaddys.“ Was, im Grunde genommen, nicht ganz falsch gewesen wäre. Schließlich waren er und Tom finanziell nicht gerade schlecht aufgestellt. Keine oberen Zehntausend, aber eben auch nicht arm. Kaum Privatleben zu haben musste ja wenigstens für irgendwas gut sein. „Und wenn es so wäre?“, fragte Tom deswegen jetzt auch zurück. Er nuckelte anzüglich an seinem Strohhalm. „Wer weiß, vielleicht sucht dein Lockenköpfchen ja genau so was. Jemand der nett zu ihm ist, ihm schöne Geschenke macht, ihm sagt, wie gut er aussieht, und ihm obendrein noch jeden Abend das Hirn rausvögelt. Also wenn mir das damals jemand angeboten hätte, ich wär dabei gewesen.“   Thilo prustete in sein Glas.   „Du? Du hättest jeden, der das versucht hätte, an den Eiern gepackt und am nächsten Fahnenmast aufgehängt. Als wenn du dich je hättest toppen lassen.“   Ein amüsierter Zug kräuselte Toms Lippen. „Siehst du und das unterscheidet uns beide eben. Ich weiß ganz genau, was ich will.“ Thilo seufzte. Und seufzte noch einmal, bevor er einen großen Schluck von seinem Cocktail nahm. Denn eigentlich wusste er ja auch, was er wollte. Er wusste nur nicht, woher er es nehmen sollte.   Kapitel 3: Restalkohol ---------------------- Thilo stöhnte. Es war das gequälte und abgrundtief leidende Stöhnen eines Mannes, der am Abend und in der Nacht davor zu viel Alkohol konsumiert und – wenn man den Zustand seines Halsinneren in die Rechnung miteinbezog – auch geraucht hatte. Normalerweise hielt Thilo sich von den stinkenden Glimmstängeln fern, aber wenn er betrunken genug, die Stimmung entsprechend und eine Schachtel Kippen in der Nähe war, konnte er manchmal nicht widerstehen. Und mit Tom konnte man sich sicher sein, dass der welche dabei hatte. Stressraucher, wie er gerne betonte. Und Stress hatte Tom immer, deswegen die Zigaretten. Und Thilos Brummschädel.   Scheiße.   Wahrscheinlichwäre es besser gewesen, gestern gar nicht erst auf Toms Nachricht zu reagieren. Nur war Thilo nach der restlichen Woche tatsächlich nach ein bisschen Spaß gewesen. Spaß hatte zu mehr Spaß geführt, der zu Alkohol, der zu noch mehr Spaß und irgendwann hatte er sich von Tom halt doch in den Club schleppen lassen. Jetzt hatte er einen fetten Kater und zwar keinen von der miauenden Sorte. Und er musste pinkeln.   Autsch.   Nein, die Senkrechte war heute nicht Thilos Freund, so viel stand fest. Mit der Hand am dröhnenden Schädel befreite er sich aus dem raschelnden Satin und stellte die nackten Füße auf den Boden. Die waren immerhin noch zu zweit, was wohl hieß, dass er sich nichts hatte amputieren oder tätowieren lassen. Nicht, dass das nicht auch schon vorgekommen wäre. Thilo dachte mit Schaudern an die Behandlung zurück, die er hatte durchstehen müssen, bis das blöde Ding wieder weg gewesen war. Jetzt sah man nur noch bei günstigem Lichteinfall einen leichten Schatten auf seiner Schulter. Noch so eine Erinnerung an eine Zeit, in der er jung und unbeschwert gewesen war.   Klo.   Der Gedanke war inzwischen drängend genug, dass Thilo es schaffte, sich tatsächlich zu erheben. Nur mit Boxershorts bekleidet tappte er zur Tür, über den Flur und ins Bad, wo er sich endlich erleichtern konnte. Auf dem Boden vor der Dusche ein Bündel nach Rauch und anderen Dingen stinkende Klamotten. Offenbar hatte er es zwar noch geschafft, sich auszuziehen, zum Duschen war es dann aber anscheinend nicht mehr gekommen. War ihm jetzt aber auch egal. Er brauchte erst mal ne Aspirin.   Begleitet vom Rauschen der Spülung machte Thilo sich auf dem Weg in die Küche. An der Wand, direkt gegenüber des Tresens, der Wohnzimmer und Kochnische voneinander trennte, prangte unübersehbar der weiße Kasten mit dem großen, roten Kreuz. Wenn es nach Thilo gegangen wäre, hätte es zwar auch eine Packung Schmerzmittel irgendwo in einer Küchenschublade getan, aber der Vorbesitzer der Wohnung war wohl der Meinung gewesen, dass Medikamente und Pflaster ordnungsgemäß aufbewahrt gehörten. Als Ergebnis stieß sich Thilo bei jedem zweiten Gang in die Küche fast den Kopf, aber wenigstens hatte er dann ja gleich alles Nötige parat.   Es knisterte, als er die rettende Tablette aus dem Blister drückte in ein Glas Wasser fallen ließ. Sprudelnd setzte sie dort ihren Wirkstoff frei, den Thilo im nächsten Moment in einem Zug hinunterschüttete. Danach wollte er sich geradewegs wieder in Richtung Schlafzimmer begeben, doch das Telefon hatte andere Pläne.   „Ring!“   Thilo knurrte unwirsch. Wer rief denn um diese Zeit an? Noch dazu an einem Sonntag?   „Ring!“ Er stellte das Glas ab. Es würde Wasserflecken auf dem Holz hinterlassen.   „Ring!“   „Jaja, ich komm ja schon. Alter Mann ist schließlich kein D-Zug.“   Mit immer noch pochendem Schädel und brennenden Augen tappte er ins Wohnzimmer zurück und schnappte sich den Hörer. Erst danach fiel ihm ein, dass er ja auch den Anrufbeantworter hätte rangehen lassen können, aber jetzt war es zu spät. Er hatte schon abgehoben. „Ja?“ Freundlich war definitiv anders, aber er war auch nicht in der Stimmung zu telefonieren. „Oh, da ist aber jemand wieder mal gut drauf. Einen wunderschönen guten Morgen, Bruderherz.“   Thilo schloss die Augen und ließ sich auf das graue Sofa sinken. „Morgen“, murmelte er und versuchte, die durch die hohen Fensterfronten hereinscheinende Sonne mit dem Arm abzuschirmen. Draußen war sicherlich wundervolles Wetter. Die Leute gingen spazieren, weiße Boote schipperten über die Alster, die nur einen Steinwurf entfernt lag, und im nahen Park walzten Familien die Frühblüher mit ihren Picknickdecken platt. Es war also ein perfekter Sonntagmorgen. Außer für Thilo. Der hatte Kopfschmerzen. „Was willst du?“, brummte er und versuchte, mit dem Fuß die Fernbedienung zu angeln. Vielleicht würden die Nachrichten das Gespräch mit seiner Schwester erträglicher machen. Ein Erdbeben oder ein Börsencrash würden ihn mit Sicherheit aufheitern.   „Dich daran erinnern, dass du Liv und mich versetzt hast.“   Thilo runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern. Ach ja, da war irgendwas gewesen. Er konnte sich nur nicht …   „Brunch im Rosarium? Nachfeiern deines Geburtstags?“, tönte es vorwurfsvoll aus dem Hörer. Thilo verzog das Gesicht.   „Hab ich vergessen“, murmelte er und gähnte. In seinem Schritt juckte es und er kratzte sich beiläufig. Er musste wirklich dringend duschen.   „Nicht ganz unabsichtlich, nehme ich an.“   Tabea klang angesäuert. Vielleicht hätte er sich doch eine Erinnerung machen sollen. Andererseits hätte die in seinem Zustand heute Morgen auch nichts genützt. Er hätte sie schlicht überhört. „Tut mir leid, okay?“   In seinem Kopf begann so langsam die Tablette zu wirken. Sie klärte den trüben Schleier und ließ ihn ein wenig klarer in die Welt blicken. Was er sah, gefiel ihm nicht wirklich.   „Ich hab’s einfach vergessen.“ Das machte es jetzt nicht unbedingt besser, war aber wenigstens ehrlich. Vielleicht das Ehrlichste, was er gerade in seinem Leben zu bieten hatte. Um ihn herum das Boho-Wohnzimmer mit dem perfekt unperfekten Look, der „Gemütlichkeit“ und „hier hat es jemand verstanden“ schrie, nur dass Thilo nicht ein Stück der Wohnungseinrichtung ausgesucht hatte. Er hatte einfach keine Zeit gehabt, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, also hatte er genommen, was gut aussah und einigermaßen erschwinglich war. Die möblierte Altbauwohnung mit den geschliffenen Holzfußböden, dem leicht antiken Bad und dem winzigen Schlafzimmer, in das gerade so ein Schrank und ein Doppelbett hineingepasst hatten. Dafür konnte man im Wohnzimmer Walzer tanzen. Wiener Walzer wohlgemerkt und nicht dieses lahme Rumgestehe im Dreivierteltakt. Nicht, dass Thilo dazu Lust gehabt hätte, aber …   Er hörte Tabea am anderen Ende schnaufen.   „Es hätte dir vermutlich sowieso nicht gefallen. Hier war heute ne Hochzeit. So mit Braut und Bräutigam und weißem Kleid und allem. Auf der Insel im See. Die hatten da alles dekoriert und es gab eine Sängerin und …“   Tabea brach ab und räusperte sich. „Na zumindest war es voll kitschig und hier tausend Leute unterwegs, da hättest du sowieso nur die ganze Zeit rumgeschmollt. War also besser, dass du nicht gekommen bist.“ Thilo schloss die Augen. Er hatte genau gehört, wie begeistert Tabea von dem ganzen „Kitsch“ gewesen war. Und er wusste auch, dass sie und Liv wohl schon mal übers Heiraten gesprochen hatten. So ganz unverbindlich natürlich, nur um abzuklären, ob es denn für sie beide eine Option war. Thilo wusste nicht, was bei dem Gespräch herausgekommen war, aber er war sich ziemlich sicher, dass Tabea bei der ganzen Sache eher auf der Pro-Seite stand. Thilo seufzte. „Ja, das hätte ich wirklich ganz schrecklich gefunden“, meinte er versöhnlich. „Deswegen war ich mit Tom auch lieber in einem dunklen Raum voller stinkender, betrunkener, notgeiler Männer, die alle nichts Besseres zu tun hatten, als sich die Klamotten vom Leib zu reißen und es zu treiben wie die Tiere. Testosteron bis über beide Ohren. Du weißt schon.“   Er machte ein paar Grunzlaute und hörte seine Schwester am anderen Ende lachen. „Ieh, wie eklig“, rief sie und fügte in ernsterem Tonfall hinzu. „Ich hoffe doch, du warst safe unterwegs.“   Thilo brummte unwirsch. Wer von ihnen war denn eigentlich der Spießer? „Natürlich. Und bevor du fragst, nein, ich weiß nicht wie er heißt, ich habe nicht seine Nummer und er ist auch nicht zum Frühstück geblieben.“   Eigentlich war er nicht mal mit zu ihm nach Hause gekommen. Thilo erinnerte sich nur noch an ein paar hübsche, blaue Augen und kurzgeschorene Haare, die sich weich unter seinen Fingern angefühlt hatten, als der Typ ihm auf Knien seine Zungenfertigkeit bewiesen hatte. Als Thilo kurz vor dem Abspritzen gewesen war, hatte er aufgehört, war hochgekommen und hatte Thilo ins Ohr geraunt, ob er ihn richtig ficken wollte. Thilo hatte ihn angesehen. „Bist du denn vorbereitet?“, hatte er wissen wollen und der Typ hatte gegrinst.   „Klar“, hatte er gemeint und ein kleines Fläschchen irgendwo hergezaubert. Was auf dem Etikett gestanden hatte, hatte Thilo nicht erkennen können, aber das war auch nicht notwendig gewesen. Er hatte auch so gewusst, worum es sich handelte. „Hier? Oder wollen wir woanders hingehen?“   Daraufhin hatte der Typ sich nur umgedreht und Thilo seinen nackten Backen entgegengestreckt. Dass er nur Chaps trug, hatte sich dabei als praktisch erwiesen. „Mach’s mir, Daddy“, hatte er verlangt und Thilo hatte geschluckt und dann hatte er getan, was getan werden musste. Er hatte sich ein Kondom übergestreift und es dem Kerl so richtig besorgt. Dafür dass der Spaß hatte, hatten die Drogen gesorgt und seine Hand an eigenen Schwanz. Er war gekommen und kurz darauf hatte auch Thilo das kleine Latexsäckchen mit Sperma gefüllt. Als es vorbei war, hatte er das Ding einfach abgezogen und in eine Ecke geworfen, wo sich schon ein ganzer Haufen von gebrauchten Präsern, leeren Poppers-Fläschen, Glasscherben und einer linken Socke gesammelt hatten. Ein CSI-Squad hätte sicherlich die reinste Freude daran gehabt. Anschließend war er zur Bar zurückgekehrt und hatte sich die Kante gegeben. Danach Filmriss. Er wusste nicht mehr, wie er nach Haus gekommen war, aber er nahm an, das Tom ihm ein Taxi besorgt hatte. Tom passte immer auf ihn auf. Eigentlich von Anfang an schon, spätestens aber seit dieser einen, schlimmen Nacht, in der Thilo nicht gewusst hatte, wen er anrufen sollte. Irgendwann hatte er Toms Nummer gewählt. Da war das Ganze mit ihnen schon mehr als ein halbes Jahr vorbei gewesen. Tom war trotzdem gekommen. Und er war geblieben.   Tabea machte ein merkwürdiges Geräusch. „Na, das klingt ja, als hättest du Spaß gehabt.“   Thilo zeigte sich selbst die Zähne „Spaß ist mein zweiter Vorname.“ „In welchem Leben?“   Thilo lachte pflichtschuldig und wurde dann wieder ernst. „Du, Tabby, ich muss Schluss machen. Ich stinke wie ein Iltis, außerdem hab ich nachher noch was vor.“ „Ach ja? Was denn?“   Thilo kräuselte die Lippen. Eigentlich wusste er das selbst nicht so genau. „Ich muss arbeiten.“ Jetzt war es an seiner Schwester zu seufzen. Er konnte sich vorstellen, wie sie dabei die Augen verdrehte. „Du hast aber schon mitgekriegt, dass Sonntag ist, oder?“ „Das ist keine Entschuldigung.“ Seine Schwester lachte noch einmal, dann seufzte sie wieder. „Na gut, meinetwegen. Dann entlasse ich dich mal in dein furchtbar spannendes Leben voller Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit. Aber die Verabredung heute holen wir nach, hörst du? Und dieses Mal lädst du mich ein.“   Thilo lag auf der Zunge zu sagen, dass es schließlich sein Geburtstagsessen hätte sein sollen und er noch gar kein Geschenk bekommen hatte, aber er hielt sich gerade noch zurück. Am Ende verlängerte sich das Gespräch noch um ne halbe Stunde. Aber wo er gerade so darüber nachdachte, fiel ihm doch glatt etwas ein. „Sag mal, hattest du nicht gesagt, dass du mir die Fotos schicken wolltest? Du weißt schon. Die vom Rathaus.“   Nicht, dass Thilo scharf gewesen wäre auf Bilder von sich im pinken Fummel, aber vielleicht …   „Ach ja, wart mal. Hier.“   Es dauerte keine zwei Sekunden, dann vibrierte Thilos Handy, das auf dem holzfarbenen Couchtisch lag. Thilo fischte es von der Platte und entsperrte den Bildschirm. Acht WhatsApp-Nachrichten. Wollte die ihn verarschen? „Ich meinte alle Bilder, du Doofi.“   Ärgerlich wischte Thilo über die Aufnahmen. Die meisten zeigten nur ihn, wie er sich zum Affen machte. Noch dazu mit Perücke. Er stockte, als er zur letzten Aufnahme kam. Bingo.   „Selber Doofi“, tönte es empört aus dem Hörer. „Das hier sind schon die besten. Kann ja keiner was dafür, dass du aussiehst wie ein Rhinozeros im Kleid und auf fast allen Bildern nur dein Hintern zu sehen ist.“ Thilo war versucht, ihr die Zunge rauszustrecken. „Einige Männer finden meinen Hintern sehr attraktiv.“ „Die sind bestimmt blind.“   Während Tabea sich über ihren eigenen Witz kaputtlachte, hing Thilos Blick immer noch an dem letzten Foto. Darauf viel grauer Hamburger Märzhimmel, ein gutes Stück von Thilos pinker Kittelschürze und Ansätze eines fremden Gesichts. Viel erkennen konnte man nicht. Nur ein bisschen braune Haut, ein paar windzerzauste Locken, ein klein wenig des spitzbübischen Lächelns und ein rechtes Auge. Thilo konnte sich noch erinnern, wie es ihn angesehen hatte. Zusammen mit dem zweiten natürlich, aber da war etwas in diesem Blick gewesen, dass Thilo zurückhaben wollte. Die Frage war nur, wie. Ob der schöne Fremde wohl öfter am Rathaus vorbeikam? Dann könnte Thilo ihm in der Mittagspause auflauern. Er könnte ihn ansprechen und dann vielleicht …   „Also schön, wenn du willst, schick ich dir die restlichen Pics noch, wenn wir den Rechner anhaben. Liv hat die alle auf ihrer Festplatte.“   Thilo wurde aus seinen Gedanken gerissen. Telefonierte er etwa immer noch mit Tabea?   „Äh, ja, das wäre lieb.“   Schweigen am anderen Ende. Schweigen, das sich verdächtig nach hochgezogenen Augenbrauen anhörte. Und schon kam die verbale Klatsche dazu. „Sag mal, hast du noch Restalkohol? 'Li~ieb'? Ich dachte, das Wort gibt es in deinem Wortschatz gar nicht.“   Thilo zog die Nase kraus. „Doch, aber es ist für andere Personen reserviert als nervige, kleine Schwestern.“ „Du mich auch mal, großer Bruder.“ „Hab dich lieb!“ „Arsch!“ Damit legte Tabby auf und Thilo war sich nicht ganz sicher, ob sie jetzt echt sauer war oder nur so tat, damit er nicht merkte, dass sie ihn eben doch liebhatte. Er sie ja auch, irgendwie. Nur halt nicht andauernd. Am meisten eigentlich dann, wenn sie schlief.   Thilo schloss die Augen. Schlafen hörte sich immer noch verdammt gut an. Er könnte duschen. Zähne putzen und sich dann noch ne Runde hinhauen. Oder er konnte gleich nochmal im Schlafzimmer verschwinden. Die Vorstellung, wie es dort roch, weil er vergessen hatte, das Fenster zu öffnen, ließ ihn allerdings von diesem Plan Abstand nehmen. Also doch erstmal Dusche und dann sehen, was der Sonntag noch so für ihn bereithielt. Vielleicht ja sogar noch eine schöne Überraschung.   Kapitel 4: April, April! ------------------------ Frisch geduscht und mit einem Kaffee, der stark genug war, um mehrere tote Tanten wieder aufzuwecken, nahm Thilo am Schreibtisch Platz. Der befand sich in einer Nische des Wohnzimmers und bot durch ein großes Sprossenfenster Aussicht auf einen Gartenstreifen nebst malerischem Baum. Noch waren die Äste zwar kahl, aber Thilo war sich sicher, dass schon bald die ersten grünen Spitzen aus den spitzen Knospen brechen zu sehen. Dann würde es hier drinnen wieder etwas dunkler werden und die Sonne nicht mehr so in seine Augen scheinen. Genau die richtige Atmosphäre, um zu arbeiten. Mit einem Knopfdruck erweckte er seinen Laptop zum Leben.   Zuerst rief er ein paar Emails ab. Das meiste davon hätte noch bis Montag Zeit gehabt, aber er beschloss, eine der Anfragen lieber gleich zu beantworten. Die kurze Recherche, die das Internet ausspuckte, klang nach einem vielversprechenden Geschäft. Sein synchronisierter Terminkalender zeigte ihm einen freien Timeslot für eine Erstberatung Anfang übernächster Woche an. Perfekt. Schnell schrieb er eine entsprechende Antwort und lehnte sich dann zurück, um einen Schluck Kaffee zu nehmen. Neben der Tastatur lag sein Handy. Darauf das immer noch so überhaupt nicht zufriedenstellende Foto des schönen Unbekannten. Ob man den auch googeln konnte?   Vermutlich nicht, dachte Thilo, öffnete aber trotzdem die Webseite. Die erste Suche ergab fünf Treffer für die Zeitschrift „Klönschnack“, zwei weitere vom Hamburger Abendblatt, ein Foto von Rock Hudson und eine Rezension für einen schnulzigen Frauenroman. Frustriert löschte Thilo die Eingabe und probierte es erneut. Dieses Mal bekam er einen persönlichen Fitnesstrainer vorgeschlagen. Und eine Dating App. Thilos Kopf näherte sich der Tischplatte.   Das Internet hasst mich.   Ein Blick zwischen den verschränkten Fingern hindurch verriet ihm, dass die Anzeige immer noch da war. Und sie blinkte verlockend.   Ich kann mir das ja mal ansehen.   Normalerweise war er kein Freund davon, Bekanntschaften im Internet zu schließen. Klar, ausprobiert hatte er das schon. Mit einer App, die die Umgebung nach möglichen Matches scannte, hatte er sogar schon mal ein, zwei Dates abgemacht. Na schön, eher vier oder fünf. Aber das waren immer reine Sexdates gewesen. Wenn man damit durch die Gegend lief, war das ein bisschen wie Pokemon Go! spielen. Sobald es piepte oder vibrierte, hatte man einen neuen „Catch of the day“ in der Nähe. Dann musste man nur noch abmachen, wann und wo, und ab ging die Post. Nur, wenn er das wollte, konnte er auch weiter mit Tom ausgehen. Da sah er wenigstens gleich, was er geboten bekam, ohne sich erst noch stundenlang durch Profile zu klicken und dann am Ende festzustellen, dass die angeblichen 30 cm, doch eher nur ne halbe Handbreit waren. Von merkwürdigen Vorlieben mal ganz abgesehen. Aber vielleicht sollte er dieser Seite hier mal ne Chance geben. Da konnte man angeblich auch einfach nur Leute kennenlernen. Es gab ne Community. Gruppen, denen man beitraten konnte und in denen es nicht nur um das eine ging. Und es gab gerade eine Werbeaktion. Der erste Monat war kostenlos. Thilo atmete noch einmal tief durch, dann klickte er auf den großen, roten Button auf dem „Loslegen“ stand.   Na mal sehen. Profil erstellen. Was wollen die denn wissen?   Erst mal natürlich das Übliche. Größe und Gewicht. Thilo zögerte. Unter 1,80 m ging wahrscheinlich gar nicht. Und viel fehlte ihm ja nicht. Ein lächerlicher Zentimeter. Den konnte man schon dazu schummeln. Und damit es nicht komisch wirkte, lieber gleich zwei. Also 1,81 m. Nach kurzem Überlegen änderte er auf 1,82 m. Es würde schon keiner nachmessen. Dann das Gewicht. Die 85 war nicht mehr in allzu weiter Ferne, aber eigentlich hatte er ja vor, daran was zu ändern. Und Muskeln brachten schließlich auch Gewicht auf die Waage. Also 79 kg. Weiter im Text.   Haarfarbe braun, Augenfarbe auch. Bart … mhm. Drei-Tage-Bart mit der Tendenz zur Fünf-Tage-Länge am Kinn. Dafür an den Seiten rasiert. Aber das konnte man ja nicht hinschreiben. Also vielleicht … „ja, aber kurz“? Das passte bestimmt.   Ich setz ja noch ein Foto rein, da sieht man das ja.   Na schön, dann weiter. Keine Piercings, keine Tattoos – jetzt nicht mehr – Sprachkenntnisse. Englisch und Deutsch konnte er wohl angeben. Beziehung?   Keine, sonst wäre ich ja nicht hier.   Alter. Thilo nahm die Hände von der Tastatur und überlegte. Sollte er da jetzt auch die Wahrheit ein bisschen zurechtbiegen, oder sollte er die Tatsachen auf den Tisch packen? Immerhin würde spätestens bei einem Blick in seinen Ausweis herauskommen, dass er gelogen hatte. Das war zwar auch bei seiner Größe der Fall, aber der konnte man wenigstens mit dem richtigen Schuhwerk nachhelfen. Ein Mittel, um die Zeit zurückzudrehen, hatte aber leider noch niemand erfunden. Er war alt und daran ließ sich nicht rütteln. Thilo schnaufte und tippte dann zuerst eine 3 und dann eine 0 ein. Anschließend betätigte er die Entertaste. Es passierte … nichts. Nicht, dass Thilo wirklich erwartet hatte, dass der Bildschirm plötzlich in Flammen aufging und eine unangenehme Stimme aus der Hölle ihm hohnlachend verkündete, dass er sich die Anmeldung hier mal schön in die Haare schmieren konnte, aber dass der Cursor einfach im nächsten Eingabefeld landete, war nun doch etwas unspektakulär. Immerhin hatte Thilo gerade das Gefühl, sich regelrecht geoutet zu haben. Da wäre ein „Wir bieten Ihnen aufgrund Ihrer Eingabe den vergünstigten Senioren-Tarif an“ doch irgendwie das Mindeste gewesen. Aber nein, stattdessen sollte er seine Position beim Sex eingeben. Noch so etwas, wo Thilo zögerte. „Nur aktiv“ tippte er schließlich und sprang dann einfach zum nächsten Punkt. „Oh man, echt jetzt?“   Thilo nahm einen Schluck von seinem Kaffee und ging die Liste durch. Nein, kein bareback, kein Natursekt oder anderer Ekelkram, kein Fisting, kein SM. Leder beim anderen war okay und vielleicht würde er auch beim Augenverbinden und ab und an mal ein paar Fesselspielchen nicht nein sagen, aber er hatte weder vor, sich zu einem wehrlosen Paket verschnüren zu lassen, noch mit Gasmaske und Hundeohren unterwegs zu sein. Andersrum dito. Zum Schluss noch die Angabe, dass er nicht beschnitten war. Fertig.   Das war’s jetzt? Mehr wollen die nicht wissen?   Thilo scrollte ein bisschen und sah, dass er optional noch seine Interessen angeben konnte. Es war aber kein Muss. Trotzdem überlegte er.   Lieblingsessen? Italienisch. Pizza ging schließlich immer. Ausgehen? Ja bitte. Musikgeschmack. Thilo wackelte mit der Nase und griff wieder zur Tasse. Eigentlich hörte er ja nicht viel Musik. Halt das, was so im Radio kam. Solange es kein Death Metal war, hatte er eigentlich keine Vorlieben. Mit entsprechendem Pegel ging er auch zu Schlagern ab oder gab sich mal ein klassisches Konzert oder ein Musical. Im Grunde war er da ziemlich offen. „Querbeet“, lautete schließlich seine Angabe. Als Beruf „selbstständig“, Religionszugehörigkeit keine, obwohl er irgendwann mal getauft und konfirmiert worden war, weil man das halt so machte. Außerdem trug er beim Sport „Fitness“ ein. Immerhin hatte er ja vor, demnächst wirklich mal ins Studio zu gehen, und die Absicht zählte doch bestimmt auch. So, fertig. Blieb nur noch das Problem mit dem Bild. Thilo griff nach seinem Handy und scrollte. Nein, nein, nein. Okay, das waren dann die drei Bilder, die er von sich besaß. Wer machte auch Fotos von sich selbst mit dem eigenen Handy? Er hätte natürlich Tabby nochmal anmorsen können, aber wenn sie irgendwie Wind davon bekam, wofür er das Bild brauchte, würde er keine ruhige Minute mehr haben. Also doch ein Selfie? Thilo sah an sich herab.   Nach der Dusche hatte er sich für Jogginghosen und ein ausgeleiertes Shirt mit leicht angestoßenem Kragen entschieden. Auch wenn er sonst im Anzug unterwegs war, mochte er es doch eigentlich lieber bequem. Nicht, dass er so an die Tür oder gar davor gegangen wäre, aber wenn ihn keiner sah …   Vielleicht sollte ich mir was anderes anziehen.   Ein Hemd war wohl das Mindeste. Der Rest musste ja nicht mit aufs Foto. Und stylen würde er sich auch müssen. Der letzte Friseurbesuch war schon etwas her und die Haare fielen ihm, wenn er nichts dagegen tat, schon recht deutlich in die Stirn. Aber ein bisschen Wachs würde das mit Sicherheit richten. Nicht zu streng, aber so ein bisschen Partyfrisur. Er wollte ja cool rüberkommen. Lässig aber auch weltgewandt. Boyfriend material, vielleicht sogar mehr. Der Gedanke ließ Thilo aufspringen. Er musste das hinkriegen. Unbedingt. Jetzt gleich.   Eine halbe Stunde später wischte er fluchend ein Bild nach dem anderen zur Seite. Er sah auf allen blöd aus, hatte Augenringe, Falten, käsige Haut und war ungefähr so attraktiv wie ein Sack Mehl. Mit Würmern.   „Scheiße.“   Mit einem Fluchen ging er sich nochmal ein anderes Hemd holen. Ein dunkles dieses Mal. Damit wurde seine Haut zwar nicht gebräunter, wirkte aber weniger ungesund. Dazu die Haare nochmal durchgesträhnt, den Kopf leicht zur Seite, und Klick.   Dieses Mal gefiel Thilo das Bild. Zwar lächelte er nicht, aber er hatte ja auch nicht vor, sich vollkommen zu verstellen. Tabea behauptete ja schließlich ständig, dass er zum Lachen in den Keller ging. Also passte das wohl.   „Und senden.“   Thilo klickte auf den Abschicken- Knopf am Ende der Eingabeliste. Es dauerte einige Sekunden, dann erschien eine Fehlermeldung. „Du musst noch einen Usernamen angeben.“   Oh Scheiße. Einen Namen? Öhm. Wie sollte er sich nennen? Ganz sicher würde er nicht seinen richtigen Namen verwenden. Was, wenn ihn jemand mit seiner Firma in Verbindung brachte? Es sollte aber auch nicht zu abgedroschen klingen oder aus tausend Nummern oder Zahlen bestehen, die sich kein Schwein merken konnte. Und so was wie „Sugardaddy4U“ oder „JustFunXXL“ fielen definitiv auch aus. Ein bisschen was mit ihm zu tun haben, sollte es ja schon. Er gab einen kleinen frustrierten Laut von sich, bevor er tippte. „Tassilo.“   So hatte Tabby ihn früher immer genannt. „Die Schöne und das Biest“ war ihr absoluter Lieblingsfilm gewesen und irgendwie hatte sie beschlossen, dass der kleine Tassenjunge zu ihm passte. Später hatte sie behauptet, das läge an dem Sprung, den er in der Schüssel hätte, aber Thilo war sich sicher, dass das ursprünglich nicht Teil des Plans gewesen war. „Dieser Name ist bereits vergeben.“   Ach ja prima. War ja klar.   „Möchtest du stattdessen 'Tassilo179' verwenden?“   Thilo schnaufte und schnaufte noch einmal und klickte auf „Annehmen“. Was Besseres würde ihm eh nicht einfallen und so hatte er seine richtige Größe wenigstens noch irgendwo untergebracht. „Herzlichen Glückwunsch, dein Profil wurde erstellt.“   Thilo wollte sich gerade entspannt zurücklehnen und die Früchte seiner Arbeit genießen, als es am Bildschirmrand zu blinken begann.   „Du hast eine neue Nachricht.“   Neugierig klickte Thilo auf das entsprechende Icon. Im nächsten Moment prangte ein Schwanz auf seinem Bildschirm. Riesig, geädert und laut Bildunterschrift bereit, von ihm gelutscht zu werden. Schnell schloss Thilo die Nachricht und hatte bereits zwei weitere im Posteingang. Wie ihm die Vorschau verriet, alle mit Bildanhang. Frustriert klappte Thilo den Laptop zu.       „Ich bin 29, sportlich, Single, ausdauernd im Bett, devot, liebe Tiere und Pflanzen …“   Thilo schloss das Profil und auch gleich noch die ganze App. Nach seinen ersten Erfahrungen gestern, hatte er beschlossen, sich einfach selbst auf die Suche zu machen, statt sich nur mit Dickpics bombardieren zu lassen. Nicht, dass die weniger geworden wären – sein aktueller Zählerstand belief sich auf 28 – aber er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es da draußen vielleicht doch noch ein paar normale Leute gab. Also nicht so normal, wie „Rudolph457“, dessen Profil Thilo schon beim Durchlesen zum Gähnen gebracht hatte. Es hatte ihn damit schmerzlich an sein eigenes erinnert, weswegen er und Rudi sich vielleicht sogar prima verstanden hätten. Allerdings stand der auf Füße und auch wenn Thilo nichts gegen Kinks hatte, erregte ihn die Aussicht, dass jemand genüsslich an seinen Zehen lutschte oder von ihm verlangte, dass er seine Socken zwei Tage lang anzog, um genüsslich daran zu riechen oder sich darauf einen runterzuholen, so gar nicht. Also weg mit Rudi und her mit den Fotos, die Tabby ihm geschickt hatte. Thilo konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft er diesen einen schrägen Schnappschuss mit dem allenfalls Viertelprofil wohl schon aufgerufen hatte, um sich minutenlang darin zu vertiefen, nur um ihn dann frustriert wieder zu schließen. Es brachte ja doch nichts. Der schöne Unbekannte war weg und Thilo würde ihn in diesem Leben wohl nicht mehr wiedersehen.   Seufzend wollte Thilo das Handy gerade in seiner Schreibtisch-Schublade verschwinden lassen – immerhin war er bei der Arbeit und hatte somit eigentlich anderes zu tun, als sich mit seinem Datingleben zu beschäftigen – als draußen Stimmen laut wurden. Es klopfte und schon im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet. Thilo konnte gerade noch die Hand aus der Schublade ziehen.   „Und hier ist das Büro von Herrn Marquardt.“   Beate betrat den Raum, der mit seinen 15 Quadratmetern, den zweieinhalb Fenstern und der Aussicht auf die Backsteinfassaden der umliegenden Häusern und die spiegelnden Wasserflächen der nahen Fleete der kühlste und ruhigste Ort des ganzen Büros war. Er lag zudem ganz am Ende des Flurs, was normalerweise hieß, dass sich nicht allzu oft jemand hierher verirrte. Beate musste also mit Absicht hergekommen sein. Der Grund dafür folgte ihm auf dem Fuße. Thilo stockte der Atem.   Oh Kacke!   Ihm gegenüber an der Seite seines ältesten Teammitglieds und der guten Seele des Büros stand niemand anderes als der schöne Fremde, den Thilo gerade eben noch in verpixelter Form auf einem viel zu kleinen Display angeschmachtet hatte. Wie schon beim letzten Mal trug er braune Chinos und dazu passende Schnürschuhe. Sein Oberkörper steckte in einem weißen Hemd, bei dem er im Gegensatz zu Thilo die zwei obersten Knöpfe offen gelassen hatte. Darunter ein weißes T-Shirt. Er sah absolut anbetungswürdig aus und dabei nicht in geringster Weise oberflächlich. Eher wie jemand, mit dem man reden konnte. Oder, der einen auch noch dann anlächelte, wenn er gerade entdeckt hatte, dass man ihn auf geradezu unverschämte Weise anstarrte.   Scheiße!   „Karim, das ist Herr Marquardt.“   Thilo zwang sich aufzustehen und hinter dem Schreibtisch hervorzutreten, obwohl seine Knie ernsthaft drohten, zu Wackelpudding zu zerfließen. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Durfte es nicht!   „Karim also.“   Oh, na prima, jetzt plapperteer auch noch vollkommen schwachsinnig nach, was Beate gerade gesagt hatte, und klang dabei wie ein grenzdebiles Schulmädchen mit Herzchenaugen. Fehlte nur noch, dass er begeistert aufseufzte. Oder in Ohnmacht fiel. Das würde nicht passieren!   Thilo riss sich zusammen. „Hallo Karim“, brachte er über die Lippen und kriegte sogar ein Nicken zustande. „Ich nehme an, du bist …“ Er warf einen fragenden Blick in Beates Richtung.   „Unser neuer Praktikant. Karim Neumann. Hast du etwa vergessen, dass er heute anfängt?“   Vergessen? Nein, natürlich nicht. Irgendwo in seinem Hirn klopfte bestimmt die Information, dass zum nächsten Ersten jemand Neues hier anfangen würde, mit dem Fuß auf den Boden und guckte säuerlich. Zu seiner Verteidigung konnte Thilo allerdings anführen, dass er mit den Praktikanten meist nicht viel am Hut hatte. Das erledigte alles sein Team. Sie suchten die passenden Kandidaten aus, übernahmen die Vorstellungsgespräche und handelten die Verträge aus. Er setzte dann meist nur noch die Unterschrift darunter, auch wenn er sich jetzt gerade wirklich, wirklich wünschte, mehr in den Prozess eingebunden gewesen zu sein. In diesem Fall hätte er jetzt nämlich nicht wie der letzte Trottel hier rumgestanden und versucht so zu tun, als hätte er alles unter Kontrolle.   „Nein, natürlich nicht“, wiederholte er schlicht, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war. „Ich hab nur wahnsinnig viel auf dem Tisch und nicht mit Besuch gerechnet.“   Während er das sagte, versuchte er noch einmal einen Blick auf Karim zu werfen. Hatte der ihn erkannt? Wusste er, dass Thilo der Bekloppte mit der pinken Kittelschürze und der Klobürste von letzter Woche war, der sich vor seinen wunderschönen, tiefbraunen Augen zum Vollhonk gemacht hatte? Oder hatten Thilos Outfit, die Schminke und die Perücke ausgereicht, um ihn unkenntlich zu machen?   Thilo gefror in der Bewegung, als ihm einfiel, dass er das blöde Ding ja abgezogen hatte. Er hatte freiwillig einen Teil seiner Tarnung aufgegeben. Warum, nur? Warum?!   Thilo begann zu schwitzen. Beate verzog den Mund zu einem spöttischen Schmunzeln. „Jaja, wir gehen ja schon. Du siehst, Herr Marquardt ist immer ein bisschen brummelig, wenn man ihn stört.“   Karim lachte und Thilo guckte säuerlich. Er war überhaupt nicht brummelig. Er war lediglich etwas norddeutsch, einsam und gerade kurz vor dem Durchdrehen. Verzweifelt passte vielleicht auch. Ha, das wäre doch ein guter Username gewesen. 'Verzweifelt0815'. Absolut passend!   „Wenn ihr schon auf dem Weg nach draußen seid, sag Sebastian doch bitte, dass ich mit ihm noch den Entwurf für den Verkauf der Bäckerei durchgehen muss. Am Donnerstag treffe ich mich wieder mit Herrn Pölding, dann muss das fertig sein. Und sind die Zahlen für das Portfolio von Bokmann Engineering schon angekommen? Die warten schon auf das Angebot. Das Shareholding der Gebäudereinigung liegt auch noch in der Pipeline. Ich brauch da eine Liste der möglichen Teilhaber.“   Beates Lächeln verschwand und wurde businessmäßig. „Ich schaue nach und schicke dir alles. Karim bring ich derweil zu Silas. Der kämpft noch an der Umsetzung von Claudias Entwürfen für die Boutique. Karim spricht fließend Französisch, der kann ihm helfen.“   Französisch. Thilo selbst hatte das irgendwann in der Schule abgegeben. Die Grammatik war nicht seins gewesen und Latein hatte sein Vater eh sinnvoller gefunden.   Karim lächelte wieder. Er sah absolut charmant aus. Gleichzeitig ließen seine Gesichtszüge immer noch jegliches Erkennen vermissen. Sollte Thilo Glück gehabt haben? Hatte er ihn wirklich nicht erkannt?   „Ich freue mich wirklich sehr, dass ich hier anfangen kann. Ihre Firma ist eine der besten.“   Während er das sagte, streckte Karim doch glatt die Hand in Thilos Richtung. Automatisch erwiderte Thilo die Geste und sie berührten sich. Thilo war, als hätte er einen Stromstoß bekommen. Gleichzeitig wollte er nie wieder loslassen. Karims Hand war so fest. Und warm. Und weich. Lediglich am Daumen konnte er eine kleine Schwiele fühlen. Woher die wohl kam?   „Wir bemühen uns“, antwortete Thilo, während er in Karims Blick versank und vollkommen vergaß, wo er sich eigentlich befand. „Das Wichtigste ist, dass uns unsere Kunden vertrauen. Immerhin geht es hier nicht nur um irgendwelche Jobs. Es geht um Existenzen. Um Lebensträume. Das ist es, was unsere Kunden uns anvertrauen, und wir bei Marquardt Consulting gehen damit um, als wären es unsere eigenen.“   Thilo klappte den Mund wieder zu und schlug sich innerlich die Hand vor die Stirn. Hatte er da gerade wirklich den Inhalt seiner Firmenbroschüre heruntergebetet? Warum das denn? Hoffte er etwa, das würde Karim beeindrucken? Der lächelte schon wieder. „Das finde ich super.“   Ich auch, dachte Thilo und meinte damit nicht sein Geplapper, sondern die Tatsache, dass Karim immer noch seine Hand hielt. Und er seine. Zu Hilf?!   „Na ja, dann …“ Thilo zog seine Hand zurück und hoffte inständig, dass der andere nicht bemerkt hatte, wie unanständig lange sie sich angefasst hatten. Obwohl es ja nur ein Händedruck gewesen war. Ein absolut schöner Händedruck. „Wir, äh … sehen uns. Ich … Arbeit.“ Thilo riss seinen Blick los und fokussierte kurz Beate, nickte ihr zu, und flüchtete dann zurück hinter seinen Schreibtisch, wo er sehr geschäftig tat. Aus den Augenwinkeln verfolgte er, wie Beate Karim hinausbegleitete. Sie sprachen miteinander und schienen sich dabei prächtig zu verstehen. Beate erzählte ihm, dass sie alle ganz gespannt die Ankunft von Claudias Baby erwarteten und Karim erwiderte, dass er selbst ebenfalls Geschwister hatte. Alles in allem schien Karim ein aufgeschlossener, junger Mann zu sein. Jemand, der gut ins Team passte. Das einzige Problem daran war, dass Thilo ihn am liebsten für sich selbst gehabt hätte. Jetzt, hier, auf dem Schreibtisch zum Beispiel. Aber natürlich lag das außerhalb sämtlicher Möglichkeiten und das nicht nur, weil es das altehrwürdige Möbelstück vollkommen entweiht hätte. Er war Karims Chef, das bedeutete, dass jegliche Aussicht auf ein unverbindliches Treffen oder gar ein Date sich gerade in sprichwörtliche Luft aufgelöst hatte. Er musste eine professionelle Distanz wahren, schon allein, weil er keine Klage wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz riskieren wollte. Karim war tabu, daran war nicht zu rütteln.   Thilo seufzte und griff nach seiner Maus. Sein Bildschirm malte sowieso schon viel zu lange bunte Kringel ins unergründliche Schwarz. Es wurde Zeit, das zu beenden. Thilo gab das Passwort ein und rief im gleichen Atemzug das Emailprogramm auf. Arbeit würde ihn ablenken. Ja, das würde sie. Während er eine geschäftliche Nachricht öffnete und anfing, den Inhalt irgendwie in sein matschiges Hirn zu kriegen, fiel sein Blick plötzlich auf die Datumsanzeige. Heute war der erste April. Was für ein schlechter Scherz.   Kapitel 5: Tabouleh ------------------- Es klopfte an der Bürotür und schon im nächsten Moment steckte Beate ihren Kopf hinein. „Hey Thilo! Kommst du mit zum Mittagessen? Es ist Pasta-Day!“   Mittagessen? Thilos Blick wanderte wie von selbst zur Uhr am unteren Bildschirmrand. Ah ja, es war schon nach zwölf. Zeit, sich mit etwas Essbarem zu versorgen; allerdings würde er den Teufel tun und mit den anderen zusammen zum Mittag gehen. Denn wenn er mit dem Team ging, würden sicherlich alle mitkommen. Alle hieß, dass auch Karim dabei sein würde, und dem ging Thilo immerhin bereits seit geschlagenen drei Tagen aus dem Weg, wo er nur konnte. Nur so konnte er sicher sein, dass er seinen Prinzipien nicht untreu wurde. Ein Teil von ihm wollte nämlich immer noch gerne mit Karim verabreden. Oder durch die Laken rollen. Oder beides. Auch wenn er sich inzwischen fast sicher war, dass Karim ihn nicht erkannt hatte, wollte Thilo da nichts riskieren. Also blieb er in seinem Büro und versucht enach Möglichkeit die äußere Welt auszublenden. Nur dass die äußere Welt ihn nicht in Ruhe ließ. Hence, die Einladung zum Mittagessen.   „Nee, sorry, muss noch das Angebot fertig schreiben.“   Musste er tatsächlich. Natürlich nicht unbedingt jetzt, aber das wusste Beate ja nicht. „Der Kunde erwartet meine Antwort in spätestens einer halben Stunde.“ Das war gelogen, aber sicher war sicher. Nicht, dass sie noch auf die Idee kam, ihn überreden zu wollen.   Beates brauner Kurzhaarschnitt zuckte mit den Schultern. „Okay, wie du willst. Ich stell dann das Telefon zu dir, ja? Wenn noch jemand anruft, kann Karim ja rangehen.“   „Ist gut“, antwortete Thilo automatisch und fing erst danach an, sich zu wundern. Karim? Wieso sollte Karim ans Telefon gehen? Nicht, dass er dazu nicht mit Sicherheit ganz wunderbar in der Lage gewesen wäre, denn der junge Mann hatte neben einem anbetungswürdigen Aussehen auch noch eine sehr angenehme und beruhigende Stimme, wie Thilo bei einem leider nicht ganz so vermeidbaren Zusammentreffen in Silas’ Büro hatte feststellen dürfen. Aber um ans Telefon gehen zu können, würde Karim sich hier im Büro befinden müssen. Zusammen mit Thilo. Während die anderen beim Mittagessen waren. Äh … Hilfe? „Wie sind dann mal weg“, rief Beate gut gelaunt und schloss die Tür wieder hinter sich. Thilo starrte auf dunkelbraunen Nussbaum und kam immer noch nicht auf ihre Ansage klar. Hieß das etwa, dass jetzt wirklich alle das sinkende Schiff verließen und ihn hier mit Karim allein ließen? Ihr Ernst?   Scheiße! Das war nun wirklich nicht das, was ihm vorschwebte. Auch sein Arzt hätte ihm sicher abgeraten. Die Vorstellung war nicht gut für seinen Blutdruck. So gar nicht.   Vielleicht hab ich mich ja geirrt.   Eigentlich konnte es gar nicht anders sein. Denn warum um alles in der Welt sollte Karim hier bleiben, wenn die anderen zum Essen gingen? Das war nicht logisch und somit sicher nur ein Versehen. Eine sprachliche Ungenauigkeit von Beate, die keinen, aber auch gar keinen Anlass dafür gab, dass Thilo jetzt heiße und kalte Schauer den Rücken hoch und runter liefen. Nein wirklich nicht.     Eine Viertelstunde später saß Thilo immer noch wie paralysiert an seinem Schreibtisch. Der Bildschirmschoner war wieder einmal angesprungen und der Lüfter pustete lauwarmen Laptopatem in die Luft. Dazwischen grummelte etwas. Es war Thilos Magen, der jetzt, da ihm Nahrung in Aussicht gestellt worden war, offenbar beschlossen hatte, mit Nachdruck Kohldampf anzumelden. So ein Mist.   Ich gehe jetzt einfach da raus.   Leichter gesagt als getan, denn was, wenn Karim wirklich irgendwo im Büro saß? Das hieß erstens, dass Thilo sich nicht einfach klammheimlich verdrücken konnte. Er hatte immer noch das Telefon und konnte ja schließlich schlecht den Praktikanten mit allem allein lassen. Es hieß jedoch auch, dass Thilo Gefahr lief, Karim zu begegnen, wenn er sich, wie öfter schon mal, in die Teeküche stahl und die dort gebunkerten Keksvorräte plünderte. Nichts zu essen war allerdings auch keine Option, wenn er die stetig lauter werdenden Geräusche seiner Körpermitte in die Kalkulation miteinbezog. Was also tun?   Sei nicht so ein Feigling.   Sich schnell ein paar Kekse holen würde schon nicht so lange dauern und außerdem war das hier immer noch seine Firma. Wie sah das denn aus, wenn er sich hier andauernd nur in seinem Büro verschanzte? Also los, nichts wie ran an den Speck. Äh … die Kekse!   Mit neu gefasstem Mut erhob Thilo sich, straffte die Schultern und marschierte dann dem französischen Volk beim Sturm auf die Bastille gleich zur Tür. Ein fester Griff und er stand im Flur. Nichts war zu hören. Sonnenlicht flutete den Gang mit den vielen Türen. Eine davon, im Grunde nicht mehr als eine einfache Öffnung ohne Verschlussmöglichkeit, war die zur Teeküche. Dort gab es neben einem großen, amerikanischen Kühlschrank und einer eingebauten Küchenzeile auch noch einen kleinen Tisch, der gerade groß genug für zwei bis drei Personen war. Wenn sie mit der gesamten Belegschaft aßen, ein Geburtstag anstand oder einfach nur etwas zu besprechen war, taten sie das natürlich im Konferenzraum am Ende des Flurs. Die Küche hätte niemals genug Platz geboten, um sie alle aufzunehmen. Sie bot allerdings, wie Thilo mit Erschrecken feststellen musste, genug Raum um einen Praktikanten darin unterzubringen. Einen Praktikanten und sein Mittagessen.   „Oh, hallo!“   Karim hatte den Kopf gehoben und strahlte Thilo geradezu an. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Schüssel mit einem rot-grün-weißen Mischmasch. Thilos Magen knurrte.   „Äh, ja. Hi.“ Thilos Herz klopfte ihm bis zum Hals und er wäre am liebsten wieder rückwärts aus dem Raum gestolpert. Nicht nur, dass er hier gerade wie gegen eine Wand gelaufen herumstand, nein, jetzt gab sein Körper auch noch so unanständige Geräusche von sich. Geräusche, die so laut waren, dass Karim sie hörte. Er lächelte.   „Hunger?“   Thilo nickte. Er wusste, dass er eigentlich eine ordentliche Antwort hätte geben müssen, aber seine Stimmbänder hatten anscheinend beschlossen, spontan Urlaub zu nehmen. In Waikiki. Wieder glitt sein Blick zu der Tupperschüssel. Der Inhalt sah ziemlich köstlich aus. Und er roch gut. Irgendwie frisch und würzig. Thilo lief das Wasser im Munde zusammen. Er schluckte. „Was ist das?“, brachte er sich irgendwie dazu zu fragen. Da panisch zurück in sein Büro rennen ja nun irgendwie ausfiel, musste er wohl oder übel die Flucht nach vorn antreten. Und Essen war moralisch neutral, oder nicht?   Karims Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Das ist Tabouleh. Hat meine Mutter gemacht. Ich hab ihr gesagt, dass sie mir nichts mitzugeben braucht, aber sie hat darauf bestanden.“ Thilo nickte leicht. „Ah ja. Tabouleh.“   Nie gehört, aber das würde er jetzt nicht zugeben. Karim hingegen schien zu wittern, dass Thilo keinen Schimmer hatte. Er lächelte wieder. „Ist eine Art Salat mit Couscous, Tomaten, Gurken und Minze. Richtig schnell zubereitet und superlecker. Leider macht Mama wirklich immer viel zu viel. Sie hat immer Angst, ich verhungere.“   Helles Lachen erfüllte den Raum und auch Thilo lächelte automatisch. Dass Thilos Mutter diejenige war, von der Karims südländischer Einschlag kam, hatte er sich schon anhand ihres Geburtstsnamens gedacht. Denn natürlich hatte Thilo heimlich seine Akte gelesen. Wenn jemand gefragt hätte, hätte er natürlich gesagt, dass er das nur getan hatte, um seine Referenzen zu prüfen. Karim hatte Sozialwissenschaften studierte, plante dieses Jahr seinen Bachelor zu machen und vor dem Übergang zum Master noch Praxiserfahrung sammeln wollte, um sich für eine Fachrichtung zu entscheiden. All das war Thilo ziemlich bekannt vorgekommen, nur dass es bei ihm ganz anders gewesen war. Er war nicht bis zum Master gekommen. „Das ist prima“, gab Thilo von sich und hätte sich im nächsten Moment am liebsten geohrfeigt. Die Aussage ergab überhaupt keinen Sinn. Karim musste denken, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Dabei war es lediglich so, dass sein Mund offenbar beschlossen hatte, ein Eigenleben zu führen. Thilo riss sich zusammen und wandte sich abrupt dem Kühlschrank zu. „Ich, äh … werde dann auch mal Mittagessen. Bei mir im Büro natürlich.“   Während er das sagte, öffnete er den Kühlschrank. Darin standen jede Menge Joghurts, Pflanzen- und echte Milch, Butter, Käse und etwas, das Thilo beim näheren Hinsehen als Pellkartoffeln mit Quark identifizierte. Offenbar hatte irgendjemand beschlossen, doch lieber Nudeln zum Mittag zu wollen und die ollen Knollen hier zurückgelassen. Was es in dem Kühlschrank dummerweise nicht gab, war etwas, das Thilo gehörte. Nichtsdestotrotz griff er nach der Milchpackung und holte sie mit grimmiger Entschlossenheit hervor. „Willst du auch einen Kaffee?“ Wieder hätte Thilo sich am liebsten die Kühlschranktür gegen den Kopf geschlagen. Nicht nur, dass er absoluten Nullsinn von sich gab, jetzt hatte er sich auch noch einen längeren Aufenthalt in der kleinen Küche eingebrockt als absolut notwendig. Der Vollautomat, den er sich und den anderen zur Eröffnung gegönnt hatte, machte nämlich echt guten Kaffee, aber es dauerte gefühlte 35 Jahre, bis eine Tasse fertig war. Nicht zu reden von einer zweiten. Mit Milch! „Danke, aber ich hab Tee.“   Karim hob eine eigentlich gut sichtbare Trinkflasche hoch und wedelte damit. Sie hatte einen türkisgrünen Farbverlauf, der am unteren Ende in ein dunkles Violett überging. Thilo war schleierhaft, wie er das Ding hatte übersehen können. „Ach so, ja, dann … nicht“, stotterte er und machte sich daran, dem schon etwas in die Jahre gekommenen Küchengerät auf die Pelle zu rücken. „Und, fühlst du dich wohl?“   Ein bisschen Smalltalk würde er ja wohl machen dürfen. Besonders, wenn er mit dem Rücken zu Karim stand und so tat, als würde die Anfertigung einer Tasse Kaffee seine volle Aufmerksamkeit erfordern. In Wahrheit wollte er nur vermeiden, dass er Karim allzu offensichtlich musterte. Der trug heute helle Jeans und einen camelfarbenen Pullover mit V-Ausschnitt. Darunter ein weißes T-Shirt.   Wie viele er davon wohl hat?   Die Frage war natürlich total unprofessionell und würde trotz seines jetzigen Zustandes nie über seine Lippen kommen. Dennoch konnte Thilo nicht leugnen, dass er sich gerne noch ein wenig mit Karim unterhalten hätte. Ganz und gar professionell selbstverständlich.   „Ja, es ist toll. Ich kämpfe nur noch ein bisschen mit der Software. Computer sind nicht so mein Ding.“   Meins auch nicht, wollte Thilo sagen, aber er biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. So was konnte man sagen, wenn man den anderen nicht in Verlegenheit bringen wollte, weil man vorhatte, sich später von ihm noch den Schwanz lutschen zu lassen. Als Chef durfte er so was definitiv nicht zugeben.   „Ach, das lernt man mit der Zeit.“   Das war okay. So etwas konnte er sagen. Musste er eigentlich sogar, immerhin wollte er seine Mitarbeiter ja motivieren und nicht dafür sorgen, dass sie sich wie Vollpfosten vorkamen.   Der Kaffee war fertig und Thilo drückte auf den Knopf, der den Vollautomaten abschaltete. Danach zögerte er. Eigentlich hätte er jetzt gehen müssen, denn je länger er sich in Karims Gegenwart aufhielt, desto wahrscheinlicher wurde es, dass er etwas Dummes tat oder sagte. Andererseits wollte er Karim nicht das Gefühl geben, etwas falsch gemacht zu haben. Der konnte ja schließlich nichts dafür, dass Thilos Hormone in seiner Gegenwart so durchdrehten. Mit einem tiefen Atemzug drehte Thilo sich herum. Karim saß immer noch da und sah ihn an. Seine braunen Augen musterten Thilo wach und interessiert. Thilo entglitt ein Lächeln.   „Du, ähm … du hast in deiner Bewerbung geschrieben, dass dein Vater ein eigenes Geschäft hatte, es aber aufgeben musste, weil er keinen Nachfolger gefunden hat. Ist das richtig?“   Karims Lächeln wurde ein bisschen weniger hell. „Ja, das stimmt“, bestätigte er. „Er hatte gesundheitliche Probleme. Ich war damals noch in der Schule und hab natürlich geholfen, wo ich nur konnte, aber am Ende hat es nicht gereicht. Das war ziemlich hart für ihn und ich hätte mir damals gewünscht, dass er … dass er sich an jemanden hätte wenden können, der ihm dabei hilft, den Laden zu retten. Es war ein kleines Lebensmittelgeschäft. Viele Kunden aus der Umgebung kauften ein, aber nachdem er die Öffnungszeiten beschränken musste, hat der Umsatz nicht mehr ausgereicht. Jetzt ist der Laden zu und ich sehe jedes Mal, wie mein Vater guckt, wenn wir an den leeren Räumen vorbeikommen. Ich glaube, wenn jemand den Laden übernommen hätte, wäre es … nicht so schwer für ihn.“   Thilo schluckte. Natürlich hatte er sich so etwas schon gedacht – er kannte die Branche schließlich in und auswendig – aber dass Karim ihm einfach so seine Geschichte erzählte, intime Familiendetails, die die Distanz zwischen ihnen mit einem Schlag auf ein absolutes Minimum reduzierten, nahm ihm förmlich den Atem. Er fühlte sich wie eine Motte, die auf eine Kerzenflamme zuflog. Er wollte es, er brauchte es, und gleichzeitig konnte er es auf gar keinen Fall haben. Er musste Abstand halten. Abstand!   „Das tut mir leid.“   Immerhin so viel konnte er Karim geben. Daran war nichts verkehrt.   „Ich nehme an, dass dein Interesse an unserer Firma daher rührt?“   Karim nickte.   „Ja. Hätte mein Vater damals Beratung gehabt, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen. Natürlich muss man sich die erst mal leisten können.“   Autsch. Der Seitenhieb hatte gesessen, denn ja, Thilo bot seine Dienste natürlich nicht kostenlos an. Er war kein Wohltätigkeitsverein. Er beschäftigte Mitarbeiter, hatte Ausgaben, Steuern und einen gewissen Lebensstil, den er unterhielt. Das alles verbrauchte Geld. Viel Geld, um genau zu sein. Geld, das andere nicht hatten. Plötzlich fühlte sich Thilo schlecht deswegen. So als hätte er etwas falsch gemacht.   „Möchtest du mich mal begleiten?“   Die Frage war vollkommen aus dem Nichts gekommen und doch … Thilo wollte, dass Karim sah, was er tat. Dass es ihm nicht nur ums Geld ging, sondern auch um die Menschen, für die er arbeitete. Er war kein Monster.   Karim blinzelte und sein Lächeln verschwand.   „Ich?“ Thilo nickte schnell. Sein Herz schlug gegen seine Rippen. „Ja, warum nicht? Immerhin ist die Beratung der wichtigste Teil unserer Arbeit. Herauszufinden, was der Kunde braucht ist manchmal der schwierigste Teil überhaupt. Die Daten und Zahlen findet man dann schnell. Finanzverhandlungen kann jede Bank führen. Aber zu erkennen, mit welcher Lösung der Kunde zufrieden und mit einem guten Gefühl aus der Transaktion hervorgeht, das ist das eigentliche Herzstück unseres Berufs.“   Erregt und fast schon ein wenig außer Atem klappte Thilo den Mund wieder zu. Er wusste, dass er gerade ziemlich weit gegangen war. Aber es war ihm wichtig, das Karim verstand, worum es hier ging. Dass Thilo nicht …   „Gern.“   Karims Mundwinkel hoben sich erneut zu einem Lächeln und das Funkeln, das seine Augen für einen Moment verlassen hatte, kehrte zurück. Thilos Herz machte einen dreifachen Salto.   „Gut“, rief er und hatte Mühe, seine Mundwinkel dabei nicht allzu weit zu heben. „Dann …. kommst du heute Nachmittag mit zu meinem Termin. Die Anfangsberatung bei Herrn Pölding hat zwar schon stattgefunden, aber wenn du mich begleitest, wirst du sehen, was wir hier eigentlich machen.“ Was ich mache, dachte Thilo, aber das wagte er nicht auszusprechen. Es wäre zu viel gewesen. Zu viel des Guten.   Thilo griff nach seiner Tasse.   „Na dann … geh ich jetzt mal.“ Er war ohnehin schon viel zu lange geblieben. Der Kaffee war bereits nur noch lauwarm. „Okay.“   Immer noch lächelte Karim und für einen Moment bildete Thilo sich ein, ein kleines bisschen mehr in seinem Blick zu sehen als nur professionelles Interesse an einem Business-Ausflug mit seinem Chef.   Was für ein Unsinn, schimpfte er mit sich selbst und zwang sich, seinen Körper endlich in Richtung Tür zu bewegen. Immer schön einen Fuß vor den anderen. Na ging doch. „Bis heute Nachmittag“, rief Karim ihm noch nach und Thilo hätte beinahe aufgeseufzt. Erst, als er wieder in seinem Büro war, fiel ihm auf, dass er die Milch vergessen hatte. Und die Kekse. Aber irgendwie hatte er jetzt auch gar keinen Hunger mehr. Kapitel 6: Business as usual ---------------------------- Der Geruch von warmem Brot und knusprigen Brötchen erfüllte die Luft. Wohin das Auge reichte, konnte man Backwaren in den verschiedensten Formen, Größen und Farben liegen sehen. Dazwischen Stimmengewirr und das verheißungsvolle Fauchen der Kaffeemaschine. Gedämpftes Licht und angenehme Brauntöne. Es war fast wie Nachhausekommen. Nur besser. „Ah, Herr Marquardt. Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich sage Herrn Pölding Bescheid.“   Die junge Frau hinter dem Tresen winkte Thilo in Richtung der Tische im hinteren Teil des Ladens. Dort war es ruhiger. Geschützt vor den Kunden, die am gläsernen Tresen einkauften und dann wieder gingen, konnte man hier in Ruhe sitzen und Zeitung lesen oder sich unterhalten, während man Kuchen, Kaffee und Gebäck genoss. Thilo musste zugeben, dass diese Aussicht äußerst verlockend war. Er hatte immer noch nichts gegessen. „Komm, dort hinten wird was frei.“   Thilo delegierte Karim, der ihm in die Bäckerei gefolgt war, an einen der Tische, an dem gerade noch zwei Frauen mit diversen Einkaufstaschen gesessen hatten. Es gab einen kurzen Stau, als sie versuchten, in dem engen Gang aneinander vorbeizukommen, doch dann konnten er und Karim endlich Platz nehmen. Kaum hatten sie das getan, stellte Thilo fest, dass die Sitzordnung vielleicht nicht ideal war. Karim hatte zwar den Stuhl ihm gegenüber frei gelassen, aber wenn Herr Pölding zu ihnen stieß, würde er neben Karim sitzen müssen. Oder neben Thilo. Der wollte Karim daher gerade dazu auffordern, an seine Seite zu wechseln, als er schon den weißen Haarschopf des Bäckereibesitzers auf sich zusegeln sah. Keine zwei Sekunden später stand der gestandene Handwerksmeister neben dem Tisch. Thilo sprang auf. „Herr Marquardt“, rief der ältere Mann und reichte Thilo die Hand. „Ich hoffe, Sie kommen mit guten Neuigkeiten.“   Thilo lachte, während er den festen Händedruck erwiderte. „Nun, das werden wir sehen. Aber darf ich Ihnen zunächst mal unseren Praktikanten vorstellen. Karim, dass hier ist Herr Pölding. Herr Pölding, Karim Neumann.“   Auch Karim erhob sich, machte jedoch keinerlei Anstalten, die Hand auszustrecken. Stattdessen lächelte er nur und nickte Herrn Pölding zu. Der schien es mit Humor zu nehmen oder gar nicht zu bemerken. Thilo hingegen fragte sich, was in Karim gefahren war. Der schien plötzlich so … nervös. Nicht, dass er auf dem Hinweg viel gesagt hätte. Eigentlich hatte er sogar ziemlich hartnäckig geschwiegen, was Thilo im ersten Moment nicht seltsam vorgekommen war und ihm Gelegenheit gegeben hatte, sich selbst eher bedeckt zu halten. Aber jetzt, da er ihn so sah, hatte er das Gefühl, irgendwas verpasst zu haben. Nur was? „Na schön, dann rücken Sie mal raus mit der Sprache, aber vorher: Wollen Sie was essen? Trinken? Kaffee vielleicht? Wir haben auch Tee, wenn Sie mögen. Oder Kakao?“   Bei den letzten Worten hatte der Bäckermeister sich Karim zugewandt. Der wirkte immer noch ein bisschen wie ein Kaninchen, dem man gerade seine Möhren weggenommen hatte. Dann jedoch straffte er sich. „Ich würde gern einen Tee nehmen. Wenn ich darf.“   Den letzten Satz begleitete ein kurzer Blick an Thilo. Der nickte unmerklich und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf Herrn Pölding.   „Ich hätte gerne einen Kaffee. Und ein Stück Kuchen. Mein Mittag war heute etwas knapp bemessen.“   Der Bäckermeister strahlte, die Falten in seinem Gesicht wurden tiefer. „Natürlich, kommt sofort. Ich nehme an, es soll ein Franzbrötchen sein?“   Thilo merkte, wie ihm warm wurde. Das Plundergebäck mit dem karamellisierten Zimtfüllung war schon immer seine größte Schwäche gewesen. Nicht umsonst hatte Tom ihm oft genug Vorträge darüber gehalten, wie viel Fett und Kalorien sich in einem einzigen der süßen Teilchen befand und wie viel davon jedes Mal auf seine Hüften wanderte. Thilo konnte trotzdem nicht widerstehen. „Ja, gerne“, antwortete er und versuchte, nicht in Karims Richtung zu sehen. Immerhin hatte er gerade zugegeben, dass er die Wahrheit bezüglich seines Mittagessens etwas zurecht gebogen hatte. Aber vielleicht war das ja auch gar nicht aufgefallen. „Ein Tee, ein Kaffee und ein Franzbrötchen. Kommt sofort. Oder soll ich zwei machen?“ Wieder sah Herr Pölding zu Karim. Der schien unentschlossen. Thilo beschloss, ihm auszuhelfen. „Nimm ruhig auch eins. Die Franzbrötchen hier sind Weltklasse. Die besten in Hamburg.“   Ein kleines, unsicheres Lächeln erschien auf Karims Gesicht. Seine braunen Augen hefteten sich an Herrn Pölding. „Wenn das so ist, muss ich wohl probieren.“   Herr Pölding lachte wieder. „So lob ich mir das. Also gut, zwei Franzbrötchen, ein Tee, ein Kaffee. Mit Milch und Zucker, richtig?“   Thilo bejahte und sah zu, wie Herr Pölding eine Bedienung heranwinkte, um die Bestellung weiterzugeben. Dabei fiel sein Blick auf Karim, der immer noch ein bisschen eingeschüchtert zu sein schien. Darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Er wird schon klarkommen. Die Bedienung kam und räumte zunächst das dreckige Geschirr der anderen Gäste ab, bevor sie eine dampfende Tasse Kaffee und einen Teller mit einem riesigen, goldglänzenden Franzbrötchen vor Thilo abstellte. Er konnte genau sehen, dass das Gebäck die perfekte Mischung aus knuspriger Leichtigkeit und saftiger Konsistenz hatte. Wie auf Kommando fing sein Magen wieder an zu knurren. Zum Glück konnte man das bei der herrschenden Geräuschkulisse nicht hören. „Also dann schießen Sie mal los. Was haben Sie ausgeknobelt.“   Herr Pölding, der mittlerweile Thilo gegenüber Platz genommen hatte, sah ihn auffordernd an. Dabei wirkte er wie jemand, der wusste, was er wollte. Jemand, der es gewohnt war, mit den Händen zu arbeiten. Der Fakten sehen wollte. Und Taten. Butter bei die Fische.   Thilo goss mit Milch seine Tasse und rührte den Zucker hinein. „Zunächst einmal möchte ich zusammenfassen, was wir bei unserem letzten Gespräch besprochen haben“, begann er und nahm einen Schluck Kaffee, bevor er nach seiner Tasche griff und einen Block herausholte und ihn aufschlug.   „Sie haben diese Bäckerei von ihrem Vater übernommen, der diese kurz nach Kriegsende eröffnet hat. Neben diesem Betrieb besitzen Sie noch zwei weitere Filialen im Uhlenhorster Weg und in der Barmbeker Straße sowie einen Verkaufsstand am Dammtor mit insgesamt 27 Angestellten. Alle Geschäfte wurden innerhalb der letzten fünf bis zehn Jahre modernisiert. Es liegt kein Investitionsstau vor und keine der Liegenschaften ist mit einer Hypothek belastet. Nachdem es unwahrscheinlich ist, dass ihre Tochter den Betrieb übernehmen wird und noch dazu letztes Jahr Nachwuchs bekommen hat, möchten Sie ein oder zwei Filialen veräußern, um die liquiden Mittel Ihrer Familie zur Verfügung zu stellen. Ist das so korrekt?“   Herr Pölding, der aufmerksam zugehört hatte, nickte. „Ja, das ist korrekt. Ich mein, es ist schade, weil das Geschäft wirklich gut läuft. Ich will ja die Leute auch nicht auf die Straße setzen. Wir ham ein gutes Team. Aber die Zwillinge werden nicht ewig klein sein. Und sie brauchen Platz. Mein Schwiegersohn studiert zudem noch. Kann man ja nichts sagen, der wird später mal was, aber jetzt ist eben kein Geld da, um sich was eigenes aufzubauen. Außerdem haben meine Frau und ich nächstes Jahr silberne Hochzeit. Da würd ich ihr gern ihren großen Traum erfüllen. Eine Kreuzfahrt, wissen Sie. So richtig mit allem Drum und Dran. Aber ich hab kein Geld. Das steckt alles in den Läden.“   Jetzt war es an Thilo zu nicken. Er wusste, dass Herr Pölding mit dem Versuch, die Ladengeschäfte selbst zu veräußern, bereits einmal gescheitert war. Der Bäcker war daraufhin mit dem Wunsch, den Verkauf über seine Firma abzuwickeln, an ihn herangetreten, doch Thilo hatte sich etwas anderes ausgedacht. Etwas, von dem er überzeugt war, dass es den Wünschen seines Kunden besser gerecht wurde. Er lächelte. „Sehen Sie, und das wollen wir ändern. Allerdings möchte ich Ihnen eine Möglichkeit präsentieren, mit denen Sie sowohl die Geschäfte wie auch Ihre Mitarbeiter behalten und trotzdem einen Teil Ihres Kapitals für private Zwecke sichern können. Der Vorschlag, den ich Ihnen machen möchte, ist ein Teilverkauf.“   Er sah, wie Herr Pölding die Stirn runzelte und auch Karim schien nicht so ganz zu wissen, worauf Thilo hinauswollte. Der zückte einen Stift und malte einen großen Kreis.   „Sehen Sie, sie sind jetzt alleiniger Besitzer der Bäckerei. Alles steht und fällt mit Ihnen. Sollten Sie, was wir nicht hoffen wollen, aus gesundheitlichen Gründen für längere Zeit ausfallen, würde das nicht nur Ihre sondern auch die Existenz der Bäckerei an sich bedrohen. Was ich deshalb machen möchte, ist, eine zweite Kraft ins Boot holen. Einen Teilhaber, der Ihre Firma als Kapitalanlage nutzt, während Sie der Geschäftsführer bleiben und hier weiter schalten und walten können, wie Sie es für richtig halten. Lediglich die Last würde sich auf mehrere Schultern verteilen.“   Herr Pölding verzog den Mund. „Der Gewinn auch, nehme ich an.“   Thilo lachte „Ja, das ist sicherlich richtig. Schließlich möchte auch der Käufer am Ende etwas bei dem Geschäft verdienen. Allerdings birgt diese Variante für sie beide Vorteile. Der mögliche Käufer geht mit seiner Investition nur ein sehr geringes Risiko ein, da er sich in ein gut situiertes Unternehmen einkauft und somit Ihre volle Expertise übernehmen kann. Sie wiederum profitieren davon, dass die Finanzierung nicht von der Zustimmung einer Bank abhängt. Wir beide wissen, dass die Finanzmärkte vorsichtig geworden sind, was die Investition in Business-Immobilien angeht. Außerdem können Sie so bereits jetzt eine eventuelle Altersübernahme in die Wege leiten. Das Problem ist nämlich, dass die meisten inhabergeführten Geschäfte sich derzeit in Händen von Leuten Ihres Jahrgangs befinden. Was das bedeutet, wenn die sich alle gleichzeitig zur Ruhe setzen, kann man sich vorstellen. Es wird ein regelrechtes Überangebot und infolgedessen einen massiven Markteinbruch geben. Viele werden weit unter Wert verkaufen oder sogar Insolvenz anmelden müssen. Dem können Sie vorbeugen, indem Sie heute schon jemanden mit dazu holen, der später für Sie die Geschäfte weiterführen kann. Gleichzeitig erhöht ein Teilhaber die Chance, die Bäckerei auch nach Ihrem Ausstieg zu erhalten, denn einen Käufer für ein finanziell abgesichertes Teil-Unternehmen zu finden, ist viel einfacher als der Komplettverkauf, womöglich noch unter Zeitdruck.“   An dieser Stelle machte Thilo eine Pause und griff nach seiner Kaffeetasse. Er wusste, dass er Herrn Pölding mit seiner Idee etwas überrumpelt hatte. Statt das Unternehmen zu halbieren, wie ursprünglich angenommen, wollte er es plötzlich querteilen. Das würde den Bäckermeister einen Teil seiner so geschätzten Unabhängigkeit kosten. Ihn davon zu überzeugen, dass das vorgeschlagene Vorgehen trotzdem zu seinem Vorteil war, würde nicht leicht werden. Und tatsächlich schien der Bäcker Zweifel zu haben. „Aber wenn sich hier jemand einkauft“, meinte er langsam, „wird der dann nicht zusehen, dass er möglichst viel Geld rauszieht und dann wieder verkauft?“   Thilo deutete ein Lächeln an und dann auf sein Franzbrötchen.   „Was Sie anzubieten haben, Herr Pölding, ist eine langfristige Investition. Echte Handwerkskunst. Die Käufer, die ich für Sie finden werde, werden daran interessiert sein, dauerhaft mit Ihnen Geschäfte zu machen. Sie werden Kapital zu Verfügung stellen – Kapital das Sie nutzen können – und gleichzeitig darauf vertrauen, dass Sie etwas aus diesem Geld machen. Was wir suchen, ist nicht jemand, der die Kuh schlachten will, sondern Ihnen dabei helfen wird, sie weiter zu versorgen und zu füttern, um mit dem Verkauf der Milch gemeinsam Gewinne zu erwirtschaften. Dabei wird er sich auf Ihr Fachwissen verlassen. Zudem kann man sämtliche Entscheidungsgewalten vertraglich festlegen. Sie werden also Herr im eigenen Haus bleiben, teilen aber in Zukunft das Risiko. Gleichzeitig erhält ihr Teilhaber einen modernen, zukunftsträchtigen Betrieb mit gut ausgebildetem Personal und enormen Wachstumschancen, aus dem er langfristig abschöpfen kann. Sie sehen, so wird beiden Seiten geholfen, das zu erreichen, was sie wollen.“   Thilo sah, dass Herr Pölding die Sache durch den Kopf ging und bereits in die richtige Richtung driftete. Der Bäckermeister zog die Nase kraus. „Und Sie? Was ist für Sie dabei drin?“   Natürlich. Die Frage nach dem Honorar. Thilo lehnte sich entspannt zurück.   „Zunächst einmal werden wir Ihnen nur eine kleine Aufwandsentschädigung berechnen.“   Herr Pölding zog die weißen Brauen zusammen. „Wie viel?“   „Knappe 2000 Euro im Monat. Die Sie übrigens zurückfordern können, sollten Sie mit unseren Leistungen nicht zufrieden sein. Sie sehen, es besteht überhaupt kein Risiko für Sie.“   Der Bäcker brummte. „Und das ist alles?“   Thilos linker Mundwinkel hob sich. „Natürlich nicht. Die eigentliche Zahlung richtet sich nach der Höhe der Summe, die Sie letztendlich bekommen. Sie sehen also, ich bin durchaus daran interessiert, das Maximum für Sie herauszuholen. Je mehr Sie am Ende bekommen, desto höher ist mein Lohn, und je schneller ich jemand passenden für sie finde, desto eher komme ich an mein Geld. Sie können sich also darauf verlassen, dass ich mich anstrengen werden. Immerhin stehe ich sonst mit leeren Händen da.“   Herr Pölding überlegte. Und überlegte. Und überlegte. „Na gut“, brummte er am Ende. „Wir machen es so. Aber Sie müssen zusehen, dass dabei mindestens 500.000 locker werden. So viel braucht meine Tochter wenigstens, um sich was Anständiges leisten zu können.“   Thilos rechter Mundwinkel gesellte sich zu dem ersten. „Lassen Sie uns die Summe verdoppeln und dann sehen wir, wie weit wir kommen.“       Thilo streckte sich und atmete die frische Luft ein. Während er mit Herrn Pölding verhandelt hatte, hatte es offenbar geregnet. Jetzt waren die Steine vor seinen Füßen dunkel vor Feuchtigkeit und von den Bäumen und Markisen der Ladengeschäfte tropfte es. Neben ihm zog Karim die Schultern hoch.   „Ein Glück haben wir es verpasst.“ Während er das sagte, sah er Thilo nicht an. Die dünne, schwarze Lederjacke, die er sich übergeworfen hatte, stand ihm gut. Sie betonte seinen lässigen Look, ohne übertrieben oder billig zu wirken. Er war wirklich jemand, mit dem man sich sehen lassen konnte.   Nur ich nicht, dachte Thilo und seufzte im Stillen. In seiner Hand knisterte eine Tüte mit Franzbrötchen. „Und jetzt?“   Karim hatte sich nun doch entschlossen, in Thilos Richtung zu schauen. Für einen Moment trafen ihre Blicke sich. In Thilos Magen begann es zu kribbeln. „Mhm, tja keine Ahnung. Eigentlich müssten wir wohl zurück in die Firma, aber irgendwie finde ich, dass wir für heute schon genug getan haben.“   Er überlegte nicht, bevor er hinzufügte: „Wenn du willst, bringe ich dich nach Hause.“ Es war ein Angebot, das man leicht ablehnen konnte. Thilo sah, wie Karim zögerte. „Ich weiß nicht. Mein Rucksack ist noch im Büro und das Tabouleh …“ „Ich sag Beate, dass sie es in den Kühlschrank stellen soll“, sagte Thilo schnell. „Und deine Sachen einschließen. Also, was meinst du? Soll ich dich nach Hause fahren?“   Thilo ahnte, dass es falsch war, was er da gerade tat. Dabei hatte er wirklich keinerlei Absichten. Es war nur … während des Termins hatte er sich voll und ganz auf seinen Kunden konzentrieren müssen. Jetzt hatte er die Gelegenheit, noch ein wenig Zeit mit Karim zu verbringen. Mehr als nur eine kurze Autofahrt um die Alster herum. Sie würden plaudern, vielleicht sogar über Geschäftliches, und dann würden sich ihre Wege trennen. Da war nichts dabei. So überhaupt gar nichts.   Karim sah zu Boden. Plötzlich war Thilo sich sicher, dass er den Bogen überspannt hatte. Karim hatte es bemerkt und überlegte jetzt, wie er aus der Nummer wieder rauskam, doch noch bevor Thilo dazu kam, sein Angebot zurückzunehmen, hob der junge Mann den Kopf.   „Okay.“   Während Karim das sagte, sah er Thilo direkt in die Augen. Wieder glaubte der, das Franzbrötchen in seinem Magen hüpfen zu spüren. Es tanzte geradezu Tango. „Aber ich muss Sie warnen, es ist ziemlich weit.“ Thilo rettete sich in ein Grinsen. „Na, da bin ich aber froh, dass ich einen Automatik habe. Nicht, dass mir zwischendurch noch die Füße einschlafen.“   Karim lachte. Es war ein dummer, absolut hirnloser Scherz gewesen, der nicht einmal Sinn ergab, aber er lachte trotzdem. In seinem Magen spürte Thilo so etwas wie Vorfreude.   Kapitel 7: Stop and Go ---------------------- Thilo startete den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein. Noch während er ausparkte, wählte er die Nummer vom Büro. Es klingelte. „Marquardt Consulting, Weber, was kann ich für Sie tun?“   „Ja, hi, Beate, ich bin’s. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich heute nicht mehr reinkomme. War noch was Wichtiges?“   Während er das fragte, warf er einen kurzen Blick auf Karim, der neben ihm im Beifahrersitz saß. Der Abstand zwischen ihnen war nicht groß, aber doch so merklich, dass Thilo sich unwillkürlich wünschte, damals ein kleines Modell gewählt zu haben. Es hätte sie näher zusammengebracht. „Nein, nicht wirklich“, kam Beates Stimme aus der Freisprech-Einrichtung. „Allerdings solltest du mal nach deinen Emails gucken. Ich glaube, da ist irgendwas schief gelaufen.“   Thilo setzte den Blinker und wartete auf eine Lücke im Verkehr, um auf die Hauptstraße einzubiegen. Auf dem Navi wurde ihm die Fahrtzeit angezeigt. 32 Minuten. Nicht gerade üppig.   „Schief gelaufen?“, fragte er abgelenkt. Endlich ließ der Strom der Fahrzeuge kurz nach. Thilo gab Gas. „Was meinst du damit?“   „Ach, das siehst du dann schon“, meinte Beate leichthin. Thilo konnte trotz der blechernen Verbindung hören, dass sie grinste „Es ist nichts Geschäftliches.“ Die Nachricht beruhigte Thilo im gleichen Maße, wie sie ihn beunruhigte. Was sollte das denn jetzt heißen? Wieder sah er hinüber zu Karim. Der versuchte anscheinend gerade, überhaupt nicht da zu sein. Es drängte Thilo, gleich nach seinem Handy zu greifen und herauszufinden, wovon Beate sprach, aber er hielt sich zurück. Dazu hatte er auch später noch Zeit. „Gut, ich kümmer mich drum.“   Vor ihm stockte der Verkehr. Weiter hinten verengte eine Baustelle die Fahrbahn. Normalerweise hätte Thilo wohl die Spur gewechselt, um schneller voranzukommen, aber er blieb schön, wo er war. Vor ihm schob ein Mann sein Fahrrad über die Straße. Thilo ließ ihn passieren, bevor er wieder anfuhr. Innerlich wappnete er sich für den nächsten Satz.   „Karim kommt übrigens auch nicht mehr. Könntest du wohl seinen Salat in den Kühlschrank stellen und seine Tasche einschließen?“   Leicht nervös wartete Thilo auf die Antwort. Er hatte absichtlich nichts davon erwähnt, dass Karim jetzt gerade mit ihm im Auto saß. Beate musste schließlich nicht alles wissen. Im nächsten Moment flutete ihn Erleichterung. „Klar, mach ich. Hab mich schon gewundert, dass er die nicht mitgenommen hat. Also bis morgen dann.“   „Bis morgen“, antwortete Thilo und legte auf. Vor ihm quälte sich der Verkehr immer noch an den rot-weiß gestreiften Baken vorbei und die Fahrtzeit war bereits auf 34 Minuten gestiegen. Wenn das so weiterging, blieb ihm vielleicht doch noch genügend Zeit. Ein Hoch auf den Feierabend-Verkehr.   „So, das wäre geregelt“, meinte er und warf einen zuversichtlichen Gesichtsausdruck in Karims Richtung. Der wiederum lächelte ein wenig verhalten und wich Thilos Blick aus. „Das ist toll“, sagte er „Sie ist wirklich nett.“   Wieder kam der Verkehr zum Erliegen und Thilo kam nicht umhin zu denken, dass das irgendwie auch für ihr Gespräch galt. Eigentlich hatten sie wohl nicht mal einen Gang eingelegt, ihr Hebel stand immer noch in Parkposition. Er gab sich einen Ruck.   „Also wie fandest du es?“, fragte er und versuchte dabei freundlich-beiläufig zu klingen. „Den Termin meine ich.“   Vielleicht gelang es ihm ja, Karim damit aus der Reserve zu locken. Karim lächelte wieder.   „Es war schon ziemlich beeindruckend“, meinte er, ohne Thilo anzusehen. „Vor allem die Summen. Ich meine, eine Million Euro. Wer hat so viel Geld?“ Thilo schmunzelte. „Also eigentlich ja sogar 1,2 Millionen“, korrigierte er. „Wenn ich denn einen passenden Käufer finde.“   Für einen Moment war es still im Auto, doch als sie an die nächste Ampel kamen, ergriff Karim wieder das Wort. „Wie machen Sie das eigentlich? Also, ich meine, woher nehmen Sie Ihre Käufer? Aus dem Internet?“   Thilo lachte. „Nein, aber das wäre praktisch.“ Er lächelte und sah kurz zu Karim, bevor er sich wieder auf die Fahrbahn konzentrierte. „Ich habe da eher persönliche Beziehungen. Investoren, Firmen und Privatleute, denen ich solche Dinge anbiete. In der Regel findet sich unter Ihnen jemand, dem ich ein Angebot vermitteln kann. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass Käufer und Verkäufer miteinander harmonieren. Gute Geschäftsbeziehungen beruhen auf gegenseitigem Vertrauen.“   Karim krauste die Stirn. „Aber dafür müssen Sie diese Leute ja schon ziemlich gut kennen.“   Thilo atmete kurz durch, bevor er antwortete. „Das tue ich. Die meisten sind ehemalige Kunden oder Geschäftspartner meines Vaters. Sie waren quasi Teil des Kapitals, das er mir nach seinem Tod hinterlassen hat.“   Dazu eine internationale Im- und Exportfirma. Thilo hätte damals gleich anfangen können. Nicht einmal das Schild an der Bürotür hätten sie wechseln müssen. Nur war ihm dieser Schuh damals viel zu groß erschienen. Zu schwer. Zu klobig. Nicht sein Stil. Er hätte die Lücke, die sein Vater hinterlassen hatte, niemals ausfüllen können. Und auch nicht wollen. Also hatte er die Firma verkauft. Mit Verlust, wie er später herausgefunden hatte, aber es hatte gereicht, um mit seiner Hälfte des Erlöses etwas Eigenes aufzubauen. Etwas, bei dem Thilo nicht das Gefühl gehabt hatte, mit jedem Atemzug den Staub von 60 Jahren Firmenvergangenheit einzuatmen. Und doch waren Dinge geblieben. Dinge von damals.   Das Tennisstadium am Rothenbaum kam in Sicht. Das Navi sagte ihm, dass er dahinter abbiegen musste. Links, hinter einigen Häuserreihen, das Wohngebiet, in dem er lebte. Von hier aus ließen sich die Villen nicht mal erahnen. Jetzt gerade war er seltsam froh darum.   „Es tut mir leid.“   Karims Stimme ließ Thilo hochschrecken. Er fühlte dessen warmen Blick auf sich, traute sich aber nicht hinzusehen. Die Gefahr, sich zu verraten, war zu groß. Thilo räusperte sich. „Was meinst du?“, fragte er und wollte es eigentlich gar nicht wissen. „Dass Sie Ihren Vater verloren haben. Er muss Ihnen viel bedeutet haben.“ Thilos spürte seinen Hals eng werden. „Nein, eigentlich nicht. Wir standen uns nicht sehr nahe. Er hat immer viel gearbeitet, war selten zu Hause. Wir kannten uns kaum.“ Die Pause, die nach dieser Offenbarung entstand, war lang. Thilo versuchte, sich ganz auf das Fahren zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Als sie die Grindelallee passierten, musste er unwillkürlich daran denken, dass sie ganz in der Nähe der Uni waren. Danach der Park und das angesagte Schanzenviertel mit seinen Bars und Boutiquen, Cafés und Treffpunkten für junge Leute. Thilo erinnerte sich, wie er damals selbst in lauen Nächten vor der Roten Flora abgehangen hatte, in der Hand ein kühles Blondes, an seiner Seite Tom. Warm und vertraut. Zufällige Berührungen, die alles andere als das waren. Sie hatten es damals geheimgehalten. Thilo hatte darauf bestanden. Er hatte immer auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, und ihn dann doch irgendwie verpasst. So wie jetzt wohl gerade auch. Mit Karim. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er war so ein Narr.   Eine S-Bahn ratterte über sie hinweg. Die Unterführung über der Allee vollgeklebt mit Plakaten. Graffiti bedeckte den Rest der Wände und Säulen. Einige schön, andere nur Schmierereien. Grellbunte Tags, eindutzendfach übersprüht, bis man nicht mehr erkennen konnte, was irgendwann mal darunter gewesen war. Zu sehen bekam man nur die oberste Schicht. „Wir sind bald da.“   Das Navi zeigte nur noch acht Minuten. Thilo hatte das Gefühl, dass die Fahrt viel zu schnell und doch nicht schnell genug vorübergegangen war. Es wurde Zeit, dass er Karim und sich aus der Lage befreite, in die er sie so ungeschickt reinmanövriert hatte. Von morgen an würde seine Bürotür wieder zubleiben und damit hatte es sich. Ende der Fahnenstange. Aus und finito.   Die Straße wurde wieder zweispurig. Thilo beschleunigte und wechselte auf die linke Spur. Er musste zwar laut Navi demnächst rechts ab, aber das würde er schon schaffen. Er musste.   „Bei uns kann man schlecht parken.“   Offenbar hatte auch Karim den Stimmungswechsel mitbekommen. Wahrscheinlich schob er es immer noch auf die Nachricht vom Tod seines Vaters. Aber gut, sollte er. Thilo war das ganz recht. Als wenn er nach so langer Zeit noch daran zu knabbern gehabt hätte.   „Dann lass ich dich nur raus.“ Was anderes hatte er ja sowieso nicht vorgehabt. Es machte also keinen Unterschied, ob er kurz in zweiter Reihe hielt oder sich einen regulären Parkplatz suchte. So gar keinen.   Wieder hielten sie auf eine Unterführung zu. Dieses Mal war sie länger. Mehrere Gleise führten darüber hinweg. Karim richtete sich in seinem Sitz auf.   „Da hinten links.“   Thilo verkniff sich den Kommentar, dass ihm das Navi das schon angezeigt hatte. Er nickte nur.   Im nächsten Moment tauchten sie in den Tunnel ein. Auch hier wieder Unmengen von Grafitti. Gelbe Lampen sandten trübes Licht auf die beschmutzten Wände. Weiter hinten Plakate. Einige davon kannte Thilo schon. Werbung für Konzerte. Rod Stewart, Bryan Adams, Die Fantastischen Vier. Dazwischen in rosa und grün eine Werbung für Melanie Martinez. Thilo hatte nie von ihr gehört, aber das merkwürdige Fabelwesen mit den vier Augen war ihm nicht geheuer. „Es ist grün.“   Tatsächlich war der Wagen vor ihnen bereits weitergefahren. Prompt hupte es hinter ihm. Thilo hob entschuldigend die Hand und betätigte das Gaspedal. Sie bogen in ihre Zielstraße ein. Thilo musterte die Umgebung. „Nett“, entfuhr es ihm. „Mit Blick auf den Bahnhof.“   Auch hier verunstaltete Graffiti die unteren Etagen der einstmals eleganten Stadthäuser. Graffiti auf den Mülltonnen, Graffiti auf den Stromkästen, Graffiti auf den Haustüren. Bei einem Gebäude hatten man offenbar versucht, den Schmierereien Herr zu werden. Hellgrau prangte seine Fassade in der sonst so heruntergekommen wirkenden Kulisse. Die Freude hatte jedoch nicht lange gewährt. Schon zierte ein rotes, zerflossenes Herz die graue Wand. Es sah merkwürdig aus; als würde es weinen. „Hier ist es“, sagte Karim prompt. Auf dem Display des Navis prangte die schwarz-weiße Fahne. Thilo hielt am Straßenrand. „Na dann.“   Eigentlich erwartete er, dass Karim sofort aus dem Auto springen würde, aber der rührte sich nicht. Stattdessen blieb er sitzen, den Blick auf seine Knie gerichtet. Thilo sah, wie er sich die Lippen befeuchtete. „Ich …“, begann er und unterbrach sich gleich wieder. Seine Hand ballte sich zur Faust. „Ich muss Ihnen noch was gestehen, aber zuerst mal wollte ich sagen, dass es mir leidtut. Weil ich heute so schräg drauf war. Ich weiß, dass ich mich bei dem Termin total daneben benommen habe. Ich hab mich auf die falsche Tischseite gesetzt, hab den Kunden nicht ordentlich begrüßt, war vollkommen von der Rolle. Das muss sehr peinlich für Sie gewesen sein. Es tut mir leid.“   Während er das sagte hatte er den Kopf gehoben. In seinen Augen glühte ein Feuer, das Thilo den Atem nahm. Er kam gar nicht dazu zu antworten. „Aber vor allem wollte ich mich bei Ihnen bedanken. Weil Sie nichts gesagt haben. Wahrscheinlich hätte ich es nie mitbekommen, wenn da nicht diese Email gewesen wäre. Ich hab echt gedacht, ich fall aus allen Wolken. Also zumindest … ja. Deswegen wollte ich mich bedanken, dass Sie mir das nicht übel genommen haben. Es war wirklich keine böse Absicht.“ Thilo blinzelte. Und blinzelte gleich nochmal. Vordergründig deswegen, weil er keine Ahnung hatte, wovon Karim sprach. „Ähm … ja. Kein Problem.“   Schätze ich. Wovon zur Hölle redet er? Was für eine Email?   Karim sah ihn immer noch an. In das verzehrende Feuer hatten sich inzwischen noch ein paar andere Dinge gemischt. Erleichterung, Hoffnung, vielleicht sogar Freude. Ja, tatsächlich. Offenbar freute Karim sich wirklich, dass Thilo ihm verziehen hatte, auch wenn der keinen blassen Schimmer hatte, was eigentlich. „Dann sind Sie wirklich nicht sauer?“   Anscheinend wollte er sichergehen. Thilo schüttelte den Kopf.   „Nein, natürlich nicht. Es ist doch … nichts passiert.“   Die Formulierung war so vage, dass sie mit ziemlicher Sicherheit zu was auch immer es war, von dem Karim redete, passte. Und tatsächlich. Karim lächelte. „Danke. Sie sind wirklich … nett.“   Nett ist der kleine Bruder von scheiße, tönte es prompt in Thilos Kopf, aber irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass Karim eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen. Etwas das Thilo … besser gefallen hätte.   Du hast Hirngespinste.   Hatte er bestimmt. Sogar welche, die ihm einredeten, dass Karim auf wundersame Weise ein Stück näher gekommen war. Oder dass er, für einen ganz kurzen Augenblick, auf Thilos Lippen geschaut hatte. Was nicht stimmen konnte. So gar nicht. „Na ja, ich … geh dann mal.“ Fast erschien es Thilo, als wäre es dieses Mal Karim, der sich von ihm losreißen musste. Was, wie er ja schon festgestellt hatte, nicht stimmen konnte. Das wäre ja vollkommen …   „Okay. Bis morgen.“   In Thilos Herz klopfte es ein ganz klein wenig mehr, als angebracht war. Schließlich war das hier kein Date und weder er noch Karim Teil einer amerikanischen Romcom. Es wurde also höchste Zeit, dass Karim endlich ausstieg. Offenbar etwas, das auch Karim auffiel. Sein Blick begann zu flackern.   „Ja, äh, bis morgen“, sagte er seltsam entschieden und griff endlich nach der Tür. Er öffnete sie und wollte sich erheben, doch der Gurt, den er noch nicht gelöst hatte, hielt ihn zurück. Verlegen lächelnd griff er nach der Schnalle. „Ups, vergessen.“   „Sicherheit geht vor“, erwiderte Thilo und kam sich dabei nicht einmal dämlich vor. Das Einzige, was in diesem Moment zählte, waren Karims dunkle Augen, die ihn noch einmal ansahen. Wie gerne hätte er sie noch länger betrachtet. Mehrere Stunden lang. Die ganze Nacht. „Okay. Ich bin dann mal weg.“   „Ja. Gut.“ Thilos riss sich am Riemen. Das hier war ja jetzt fast schon lächerlich. „Dann also bis morgen.“   Karim nickte. Und lächelte. Und kriegte es endlich hin, die Tür zu öffnen, auszusteigen und sie auch wieder hinter sich zu schließen. Mit zwei Schritten war er beim Gehweg und sah sich noch einmal um. Er winkte sogar. Thilo winkte nicht zurück. Er zwang sich dazu, es nicht zu tun.   Die Hände fest an das Lenkrad geklammert sah er Karim zu, wie der auf ein Haus mit ochsenblutroter Fassade zuging und dann, nicht ohne einen letzten Blick in Thilos Richtung, darin verschwand. Erst danach wagte Thilo wieder zu atmen.   Was für eine Email?   Die Frage drängte sich, jetzt, da die visuelle Ablenkung verschwunden war, mit Macht in Thilos Hirn. Vor allem, weil es schon die zweite Mail war, die heute offenbar für Ärger gesorgt hatte. Oder ging es dabei etwa um dieselbe? Thilo bekam plötzlich ein ganz mieses Gefühl. Schnell zückte er sein Handy und rief die entsprechende App auf. Tatsächlich, zwei neue Nachrichten auf dem Firmenaccount. Eine davon war an die allgemeine Adresse geschickt worden, auf die alle Mitarbeiter Zugriff hatten. Die Mail hatte einen großen Anhang. Thilo warf einen Blick auf den Absender.   Scheiße!, war sein erster Gedanke. Der zweite lautete: Ich bringe sie um.     Kapitel 8: Trainingspläne ------------------------- Das Laufband zitterte unter Thilos Schritten. Er rannte. Trat regelrecht zu und hätte am liebsten einen auf „Rocky“ gemacht, wenn das nicht wirklich, wirklich albern gewesen wäre und er außerdem die Befürchtung hatte, dass er dadurch das Gleichgewicht verlor und volle Kanne auf die Fresse flog. Und das war dann, bei aller Liebe, doch etwas viel des Guten. Somit presste er nur die Zähne zusammen und regelte die Geschwindigkeit noch ein bisschen nach oben. Neben ihm machte Tom ein unbestimmtes Geräusch.   „Also nochmal, damit ich das richtig verstanden habe. Deine Schwester hat die Fotos von deinem Geburtstag an die Firmenadresse geschickt? Und alle haben sie gesehen?“   Thilo schnaufte. Dieses Gerenne war wirklich anstrengend. „Ja“, knurrte er. Eine der Zahlen auf der blinkenden Tafel vor ihm zeigte seine Herzfrequenz an. Sein Puls war viel zu hoch, um seinen Grundumsatz zu steigern und Fett zu verbrennen. Hatte zumindest der Typ gesagt, der ihn eingewiesen hatte. Davor hatte er Thilo von oben bis unten durchgecheckt, seine Ziele und Wünsche abgefragt und ihm schließlich einen individuellen Trainingsplan geschrieben. Tom hatte derweil auf ihn gewartet und ihn dann „zum Aufwärmen“ auf die Laufbänder beordert. Also lief Thilo jetzt und schwitzte in seinem schon leicht ausgeblichenen, schwarzen Tanktop und den um den Bauch herum vielleicht etwas knapp sitzenden Shorts. Keine engen natürlich, sondern welche, die locker bis zum Knie fielen. Alles andere wäre undenkbar. Nicht einmal die Frauen liefen hier in so etwas rum, obwohl das Studio schon eines der schickeren war.   „Das Schlimmste hab ich aber wohl gerade noch verhindert. Sie hatten immerhin noch keine Memes daraus gebastelt.“   Tatsächlich war er sich nicht mal sicher, ob wirklich alle die Bilder gesehen hatten, bevor er sie – natürlich – gelöscht hatte. Und dann ein sehr langes und sehr wütendes Telefongespräch mit seiner Schwester geführt. Die Nullkommanull verstanden hatte, warum das so schlimm gewesen war, was sie gemacht hatte. Es wäre ein Versehen gewesen. Sie hätte seine private Email-Adresse nicht finden können. Lauter lahme Ausreden. Es brachte sein Blut immer noch zum Kochen, wenn er daran dachte. Seine Pulsfrequenz stieg.   „Und warum regst du dich dann so auf?“ Tom, der locker neben ihm herjoggte, schickte ihm einen Blick unter hochgezogenen Augenbrauen. Thilo schnaufte und guckte lieber wieder nach vorne. So eine dumme Frage. Als wenn das nicht offensichtlich war.   „Liegt es an dem Kleinen?“   Thilo kam aus dem Takt. Seine Füße hatten offenbar auf einmal vergessen, wie man geradeaus lief. Das Ende des Laufbandes kam schlagartig näher. „Quatsch“, blaffte Thilo und fing sich wieder. Er arbeitete sich wieder nach vorne vor und entschied, die Geschwindigkeit doch lieber wieder etwas runterzuregeln. Wahrscheinlich sah er eh schon aus wie ein geprügelter Hund. Es hatte bestimmt einen Sinn, warum es gegenüber der Bänder keine Spiegel gab. Die Leute sahen sich mit Sicherheit nicht gerne dabei zu, wie sie sich hier abstrampelten. Aus einem der Kursräume schallte die Stimme des Spinning-Coaches.   „Noch 4 … 3 … 2 … 1.“   Thilo fühlte Neid in sich aufkommen. Die waren gleich fertig mit der Scheiße hier und er …? Seine Hände ballten sich zu Fäusten.   „Nein“, fauchte er und korrigierte sich im nächsten Augenblick innerlich. Denn eigentlich war es genau das, was ihn störte. Dass Karim die Bilder gesehen und so merkwürdig darauf reagiert hatte. Thilo verstand es nicht. So gar nicht und das machte ihn rasend. Und nervös. Und hatte außerdem dazu geführt, dass er nun endlich Toms Angebot, sich mit ihm um seine körperliche Fitness zu kümmern, angenommen hatte. Jetzt zappelte er sich hier einen ab und versuchte, das Thema zu verdrängen. Ohne Erfolg, wie man sah. Tom lachte.   „Ach, und wenn es das nicht ist, was stört dich denn dann so? Dass die anderen dich im Fummel gesehen haben? Ist ja nicht so, als wenn du der Erste wärst, der die Nummer abgezogen hat.“ Das stimmte natürlich. Wie oft hatte Thilo selbst schon andere arme Teufel dabei beobachten können, wie sie sich in aller Öffentlichkeit zum Horst machten. Nur waren das eben immer die anderen gewesen. Es passte ihm nicht, dass diese Sache jetzt bei ihm auf der Arbeit die Runde machte. Obwohl er schon versucht hatte, dem vorzugreifen, indem er sich in einer kurzen Mail für den Fehler seiner Schwester entschuldigt und klargestellt hatte, dass er davon ausging, dass diese Episode keine große Erwähnung finden würde. Danach hatte er sich in seinem Büro verschanzt und war nur noch herausgekommen, wenn es unbedingt sein musste. Ein bisschen Flurfunk hatte er natürlich trotzdem mitbekommen. Dabei waren sowohl sein Outfit, seine Reaktion und ganz eventuell auch seine Humorlosigkeit Thema gewesen. Von Karim hatte niemand gesprochen, was, wie Thilo vermutete, höchstwahrscheinlich daran lag, dass er auf keinem der Fotos klar zu erkennen war. Die ganze Aufregung war also auch noch vollkommen umsonst gewesen. Ganz und gar vollkommen umsonst. „Es ist unprofessionell“, maulte Thilo trotzdem. „Ich bin der Chef und der sollte verlässlich sein. Vorgesetzt. Keine Witzfigur.“   Jetzt war es an Tom zu schnauben. „Es schadet aber auch nicht, wenn der sich mal ein ganz kleines bisschen menschlich zeigt und zum Lachen nicht in den Keller geht. Wenigstens dann, wenn es ins Team passt. Und lieber darüber lachen als über irgendwelche Altherren-Witze. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“ Thilo presste die Kiefer auseinander. Natürlich wusste er, wovon Tom sprach. Nicht nur wegen der Geschichten, die der von seiner Arbeit erzählte, sondern auch, weil Thilo selbst solche Runden aus Erfahrung kannte. Und gleichzeitig konnte er einfach nicht über seinen Schatten springen. „Ja, eben“, ätzte er. „Jetzt stell dir doch mal vor, deine Kollegen hätten solche Fotos von dir. Wie würdest du dich fühlen?“ Tom gab ihm nur einen Seitenblick, der sich gewaschen hatte. „Du weißt, dass das was anderes ist“, meinte er trocken. „Außerdem sind wir nicht hier, um über mich zu sprechen. Also was ist denn nun mit dir und dem Fröschlein? Hast du vor, ihn flachzulegen?“   Thilos Schritte wurden langsamer. Das Band hatte offenbar die Abklingphase erreicht, in der er sich wie ein Rennpferd nach dem Derby trockenlaufen sollte. Ihm persönlich wäre ein Handtuch lieber gewesen. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sie war schweißnass.   „Nein, natürlich nicht“, schnappte er. „Ich bin sein Chef, schon vergessen?“   Tom guckte, als wenn er das Problem nicht sehen würde. Thilo stöhnte. „Hallo~o? Abhängigkeitsverhältnis? Solltest du doch bestimmt schon mal was von gehört haben. Am Ende verklagt er mich noch wegen sexueller Belästigung. Oder Nötigung. Oder sonst irgendeinem Unsichtlichkeitsdelikt.“   Wieder richtete Thilo seinen Blick stur geradeaus. War ja nicht so, dass es da nichts zu sehen gab. Ein schierer Wald aus Metallstangen und Fitnessgeräten, Hanteln, Gewichten, Streckbänken und mit schwarzem Leder verkleideten Hebeln. Insgeheim kam er nicht umhin, das Ganze mit gewissen Folterkammern zu vergleichen. An dem Gestell mit der beweglichen Hantelstange und dem Seilzug beispielsweise wäre sicherlich ein Leichtes gewesen, jemanden festzubinden und dann interessante Dinge mit ihm anzustellen. Nicht, dass Thilo auf so etwas stand, aber möglich wäre es wenigstens.   Neben ihm erklang ein Prusten. Thilo guckte irritiert in Toms Richtung. Der lachte wirklich. Obwohl Thilo doch so gekonnt mit Strafrechtsbegriffen um sich geschmissen hatte. Warum lachte der? „Warum lachst du?“   Tom kicherte. Es war wirklich nicht anders zu bezeichnen. „Der verklagt dich doch nicht, Dummerchen. Der steht auf dich.“   Thilo blinzelte. Und blinzelte gleich noch einmal, weil er nicht wusste, bei welchem Denkfehler er anfangen sollte. Hatte Tom sie noch alle? „Sag mal, hast du sie noch alle? Der Kl… Karim steht nicht auf mich. Wie kommst du denn auf die Idee?“   Tom grinste. Seine Augen funkelten. „Na, denk doch mal nach. Warum sollte er dich denn sonst darüber informieren, dass er jetzt weiß, dass du es warst, dem er einen Korb gegeben hat? Ich weiß zwar nicht, warum ihm das nicht schon vorher aufgefallen ist, aber wenn ich meinen Chef in einer kompromittierenden Lage nicht erkannt hätte und der mir gegenüber darüber kein einziges Wort verloren hätte … da würde ich garantiert den Teufel tun, ihn darauf anzusprechen, wenn es rauskommt. Ich würde mich kleinmachen, den Kopf einziehen und hoffen, dass es weiter beim gegenseitigen Ignorieren bleibt. Es sei denn natürlich, ich möchte nicht, dass mein Chef mich ignoriert. Zum Beispiel, weil ich gerne mal ne Runde auf seinem Schwanz spazieren reiten würde. In dem Fall natürlich …“   Tom grinste vielsagend und Thilo hätte ihn sehr, sehr, sehr gerne mit einem Handtuch geschlagen. Oder mit einer Hantelstange. Das nächste Mal musste er unbedingt so was mitnehmen. Ein Handtuch selbstverständlich, keine Hantel. „Ich geh mir was zu trinken holen.“   Alles war besser, als sich noch weiter Toms dämliches Grinsen anzugucken, das Thilo blöderweise auch noch über das nachdenken ließ, was er gesagt hatte. Denn was, wenn Tom recht hatte? Wenn Karim wirklich … Thilo schüttelte den Kopf. Dann war er immer noch sein Untergebener. Er hatte ihm gegenüber eine Verantwortung und außerdem konnte er seine Position nicht so ausnutzen. Der andere musste immer die Möglichkeit haben, Nein zu sagen, ohne Angst haben zu müssen, das Thilo ihn deswegen feuerte. Oder verließ. Oder sich aus dem Fenster stürzte. Das war nicht gesund und auch wenn Thilo klar war, dass er bestimmt den einen oder anderen Schaden hatte, würde so etwas für ihn nie infrage kommen. Dazu war er zu …   „Auffüllen bitte.“ Eines musste er dem Training lassen, er hatte es immerhin schon geschafft, eine ganze Flasche von diesem Fitnessgetränk in sich reinzuschütten. Und wieder auszuschwitzen, wenn er so an sich runtersah. Er musste nachher wirklich dringend duschen. „Okay, geht klar. Welche Sorte?“   Thilo gefror in der Bewegung. War ihm gerade noch heiß gewesen, rauschte jetzt ein eiskalter Wasserfall seinen Rücken hinunter. Niagaramäßig. Er blickte auf und somit direkt in ein paar haselnussbrauner Augen. Thilos Mund wurde trocken.   „Äh … Wald…meis…ter?“   Es klang, wie eine Frage. Thilo hasste es, dass es wie eine Frage klang. Vor allem, weil eine andere viel dringender war. „Was tust du hier?“ Karim, der auf der anderen Seite des Tresens stand, guckte erschrocken. „Arbeiten?“, fragte er zurück. Es hörte sich ein bisschen an, als wäre er sich nicht sicher. „Ich bin normalerweise vormittags da, aber weil Babsi mich gebeten hatte zu tauschen, hab ich dann doch … “   Karim verstummte. „Es ist besser als kellnern“, schob er ein wenig zusammenhangslos hinterher. So wirklich vorstellen konnte Thilo sich das nicht. Immerhin gab es hier kein Trinkgeld. Dafür stank man nach der Arbeit nicht nach Fritten. Und vermutlich ließen die Kunden auch seltener ihr Essen zurückgehen. Das ohnehin nur aus irgendwelchen Riegeln bestand, die angeblich den Muskelaufbau unterstützten, aber nichts für ihn waren. Wegen der Kalorien.   „Ja, das … ja.“   Viel mehr brachte Thilo gerade nicht zustande. Karim griff nach seiner Flasche und machte sich, nachdem er nochmal unsicher in Thilos Richtung geschaut hatte, daran, eine grüne Flüssigkeit aus einem Zapfhahn einzufüllen. Als er fertig war, schraubte er den Deckel mit dem Sportverschluss wieder drauf. „Hier, bitte“, sagte er und stellte das Getränk zurück auf den Tresen. „Die geht heute aufs Haus.“ Thilo lag auf der Zunge, dass er ohnehin eine Flatrate hatte, aber aus irgendeinem Grund wollte er den Moment nicht ruinieren. Den Moment, in dem er nassgeschwitzt, abgekämpft und vollkommen außer Atem dem Mann seiner Träume gegenüberstand und sich ungefähr so eloquent wie ein Fisch auf dem Trocknen verhielt. Trotzdem wollte er nicht gehen. „Wie lange geht deine Schicht?“   Ein kleines Lächeln zupfte an Karims Mundwinkel. „Bis 23 Uhr. Das heißt, danach muss ich noch die Duschen und den Saunabereich kontrollieren, Handtücher auffüllen und so was alles. Also eher 23.30. Wenn nichts dazwischenkommt.“   Wenn nichts dazwischenkommt.   Die Worte brachten etwas in Thilo zum Klingen. Was, wenn nicht er, sollte wohl dazwischenkommen? Zumindest wenn Tom recht hatte. Andererseits konnte Karim natürlich auch von einem Wasserrohrbruch sprechen. Oder einer verstopften Toilette. Oder einem bewusstlosen Gast in der Sauna. Je länger Thilo darüber nachdachte, desto mehr Dinge fielen ihm ein, die Karim wohl eher gemeint haben konnte, als das, was Thilo bei dem Einwurf zuerst in den Sinn gekommen war. Die Bilder hatten ihn beinhaltet. Und Karim. Nackt. In der Sauna. Dort war es schön warm und es konnte sie niemand sehen. Sie wären vollkommen ungestört und … „Soll ich dich danach nach Hause bringen?“   Gott, was redete er denn da? Zumal es gerade erst halb acht war. Bis Karim Feierabend hatte, waren es noch vier Stunden! Und wenn Thilo noch solange Sport trieb, tat er danach sicherlich einiges, aber keine zusätzlichen Turnübungen mehr absolvieren. Egal ob mit oder ohne Karim. Außerdem war da immer noch die Chefsache! Er musste sich ganz dringend daran erinnern, dass das mit Karim nicht ging. Niemals. Unter keinen Umständen.   „Ja, äh … gern.“   Karim strahlte. Thilo war, als wären gerade ein gutes Dutzend Kronleuchter angegangen, so hell war dieses Lächeln, das ihm da entgegensprang. Dabei hatte Thilo sich doch vorgenommen, sich fernzuhalten. Fern! Was tat er hier? „Gut, dann … geh ich mal noch ein bisschen trainieren. Und meinen Drink trinken.“ Er hob die Flasche. „Also nochmal danke für die Einladung.“ Thilo lächelte noch einmal, bevor er sich umdrehte und ziemlich eindeutig Reißaus nahm. Tom bemerkte das natürlich, als er wiederkam. Stirnrunzelnd musterte er ihn. „Was ist los? Bist du einem Geist begegnet? Oder einer guten Fee? Du siehst auf jeden Fall aus, als hättest du was genommen. Sag mir nicht, dass du …“   „Nein, nein“, wehrte Thilo sofort ab. Himmel, nein, er nahm doch keine Drogen. Also mal nen Joint, oder so. Wer hatte das nicht ausprobiert? Ansonsten ließ er lieber die Finger davon. Er trank nur und aß Schokolade. Momentan allerdings fühlte er sich, als hätte er gerade beides gehabt. Und noch einen Schuss obendrauf. „Er ist hier“, hauchte er und kam sich dabei selbst peinlich vor. Als Tom immer noch verständnislos guckte, fügte Thilo hinzu: „Der Frosch. Der Junge. Karim. Er ist hier.“ Tom sah ihn an, als habe er ihm so eben verkündet, dass er Bundeskanzler werden sollte. Dann endlich ging ein Ruck durch ihn. Seine Augen wurden schmal. „Wo?“, zischte er. „Na los, zeig ihn mir. Ich will mir das Bürschlein mal ansehen.“   Thilos Herz hüpfte. Er blickte sich um und bugsierte Tom in Richtung eines Fitnessgeräts, das neben einer Säule stand. Eine große Topfpflanze gab ihnen zusätzliche Deckung.   „Da. Am Tresen. Der mit dem Lockenkopf.“ Thilo biss sich auf die Lippen, während Tom die Lage checkte. Am liebsten hätte Thilo auch geguckt, aber das wäre nun wirklich zu auffällig gewesen. Stattdessen beobachtete er Toms Reaktion. Dessen Gesicht war unergründlich. „Und?“, fragte Thilo irgendwann, als er die Spannung nicht mehr aushielt. „Was sagst du?“   Tom lupfte eine Augenbraue.   „Schon ganz niedlich“, sagte er gedehnt. „Wobei man ja momentan nicht viel von ihm sieht. Aber er lacht viel. Eigentlich also nicht wirklich dein Typ.“   Thilo zuckte bei dem Seitenhieb. Warum hackten nur immer alle deswegen auf ihm rum? „Er ist ganz genau mein Typ“, gab er ärgerlich zurück. „Mal abgesehen davon, dass ich ihn ja eh nicht haben kann, schon vergessen. Ich bin sein Chef!“   „Ja, das erwähntest du.“ Tom fixierte ihn kritisch. „Ich frage mich nur, wen du damit überzeugen willst. Mich oder dich selbst?“   Thilo hielt für einen Augenblick Toms Blick stand, dann senkte er den Kopf. Sein Freund hatte ja recht. Er verrannte sich da in etwas. Ein Therapeut hätte bestimmt seine helle Freude daran gehabt. Andererseits hatte er ja nicht wirklich was Schlimmes gemacht. Und nur, weil er ein bisschen nett zu Karim war, hieß das ja nicht, dass den das zu irgendwas verpflichtete. Es fühlte sich nur gut an, in seiner Nähe zu sein. Seine Stimme zu hören. Ihm in die Augen zu sehen. Stundenlang. „Hallo? Erde an Thilo? Ich glaube, dein Püppchen kommt her.“   „Was?“   Thilo sprang auf und sah sich panisch um. Wenn Karim ihn hier entdeckte, war er geliefert. Ganz bestimmt würde er dahintersteigen, dass Thilo ihn beobachtet hatte. Wieso ein kranker Stalker. Das war nicht gut. So gar nicht. In seiner Panik griff er nach Toms Arm. „Trainieren. Jetzt.“   Noch bevor sein Freund irgendetwas dagegen tun konnte, hatte Thilo ihn bereits in Richtung des Gerätefeldes gezerrt. Der Fitnesscoach hatte ihm zwar gesagt, dass er am besten ein paar gezielte Übungen für den Bauch machen sollte – Crunches, Situps, Planks, das volle Programm – aber Thilo hatte auch vor, seine Arme und Beine nicht zu vernachlässigen. Und den Rücken natürlich. Er steuerte daher ein Gerät an, bei dem er Gewichte ähnlich wie beim Schwimmen mit gerade ausgestreckten Armen nach hinten ziehen musste. Dass er bei der Benutzung des „Reverse Butterfly“, wie das Ding laut Typenschild hieß, ganz genau in entgegengesetzter Richtung zum Tresen saß, war natürlich reiner Zufall. Tom krauste die Stirn. „Solltest du nicht mit den freien Übungen anfangen?“   „Nö nö“, meinte Thilo leichthin und steckte den Stift zwischen die Gewichte, um sie für sich einzustellen. „Das geht schon in Ordnung. Hauptsache, ich hab am Ende alles gemacht.“   Kapitel 9: Regeln im Regen -------------------------- Autsch. Thilo bewegte vorsichtig seinen linken Arm und damit sein protestierendes Schultergelenk. Irgendwas hatte er bei seinem Training wohl doch falsch gemacht. Vonwegen Schmetterling! Dieser verdammte „Butterfly“ hatte sich als absolute Killermotte herausgestellt inklusive Giftstachel. Thilo verzog das Gesicht und unterdrückte ein Stöhnen. Nicht, dass ihn jemand gehört hätte, aber … Es klopfte. „Äh, ja?“ Unwillkürlich richtete Thilo sich in der kleinen Holzkabine auf. Um ihn herum mehrere Bänke auf verschiedenen Ebenen, einige gitterartige Kopfstützen, ansonsten nur heiße Luft. Wie sollte es auch anders sein in einer Sauna. Die Tür öffnete sich und ein Mitarbeiter steckte den Kopf herein. „Sorry, ich muss hier jetzt abdrehen. Wir schließen in einer halben Stunde.“ Thilo, der unwillkürlich sein Handtuch ein wenig enger um den Körper geschlungen hatte, nickte nur. Darauf wartete er ja eigentlich schon die ganze Zeit. Um nicht nur dumm herumzustehen, hatte er beschlossen, nach Beendigung seines Trainingsplans noch in die Sauna zu gehen. Er war damit nicht der Einzige gewesen. Mehrere schwitzende Körper hatten bereits den Großteil der Bänke bevölkert, sodass Thilo erst kurz davor gewesen war, rückwärts wieder rauszustolpern, aber dann war ein älterer Herr aufgestanden und hatte ihm seinen Platz angeboten. Also hatte Thilo sich gesetzt und versucht, sich innerhalb der brodelnden Hitze umgeben von halbnackten Fremden zu entspannen. Mit geschlossenen Augen hatte er da gesessen und dem gelegentlichen Knacken des Ofens oder dem Knarzen der Fichtenbretter gelauscht, wenn sich jemand erhob, um die Kabine zu verlassen. Danach war stets wieder Ruhe eingekehrt und Thilo hatte die Wärme tatsächlich ein wenig genießen können. Bis auf diese blöde Schulter. „Okay“, antwortete er dem Typ in Sportklamotten, der irgendwo einen Hebel betätigte, um die Hitzezufuhr abzuschalten. Kurz nachdem er gegangen war, begannen die Heizelemente unter dem Steinhaufen wieder zu knacken und zu knistern. Gleichzeitig wurde es merklich kühler. Thilo seufzte und beschloss, es gut sein zu lassen. Schließlich hatte er noch was vor und wenn er jetzt noch duschte und langsam machte, würde er wohl genau zu Karims Feierabend fertig sein. Die letzten Gäste zahlten gerade, als Thilo aus der Umkleidekabine kam. Die Zeiger der Uhr zeigten schon mehrere Minuten nach und auf der Gerätefläche war bereits jemand dabei, die Polster zu desinfizieren. Thilo trat an den Tresen. Karim, der gerade noch etwas in ein Buch eingetragen hatte, sah auf. Als er Thilo entdeckte, begann er zu strahlen. „Ah, Herr Marquardt. Sie sind ja doch noch da.“ Thilo lag auf der Zunge zu sagen, dass er natürlich noch da war, entschied sich aber doch lieber für ein Lächeln. „Klar“, meinte er und schob nach kurzem Überlegen hinterher: „Du kannst übrigens Thilo zu mir sagen.“ Thilo. Thilo sah förmlich, wie Karim das Wort in Gedanken wiederholte. Fast schon andächtig und ein bisschen ehrfürchtig. Thilo war bewusst, dass er damit die Grenze zwischen ihnen noch ein wenig mehr senkte. Gleichzeitig wäre es albern gewesen, weiterhin auf seinem Nachnamen zu bestehen. Hier im Studio duzten sich alle. „Okay. Cool.“ Wieder lächelte Karim und entblößte dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne. Thilo hätte darin baden mögen. Und in seinem Blick. „Ich mach nur noch den Tresen fertig, dann können wir gehen.“ Thilo nickte und war sich nicht sicher, ob er sich lieber setzen oder stehenbleiben sollte. Karim nahm derweil einen der Tanks des Getränkespenders ab und begann, ihn zu spülen. Thilo überlegte nicht lange. „Kann ich irgendwas helfen?“ Wahrscheinlich war es falsch, dass er das anbot, aber Karim nur zuzusehen, fühlte sich ebenso falsch an. Wieder erntete er ein Strahlen. „Ja klar. Du kannst mal die Gläser einsammeln, die noch auf den Tischen stehen. Also, wenn du magst, natürlich nur.“ Karim machte ein entschuldigendes Gesicht, aber Thilo lächelte nur. „Sicher. Deswegen hab ich ja gefragt.“ Er machte sich daran, das verbleibende Geschirr von den Stehtischen zu holen, die nahe des Tresens auf einem Areal ohne Teppich aufgestellt worden waren. In allen anderen Bereichen waren Glasflaschen streng verboten. „So, hier.“ „Danke.“ Karim nahm die Sachen entgegen und ordnete sie in die Spülmaschine. Danach wandte er sich wieder dem Getränkespender zu. Er warf einen Blick in Thilos Richtung und nahm den letzten Tank ab. „Nur noch den hier, dann bin ich fertig.“ Thilo schmunzelte etwas. „Und was ist mit der Sauna?“ „Das hat Steffen schon gemacht.“ Steffen, das musste der Typ in dem grauen Athletics-Shirt sein, der jetzt einige verstreute Hanteln einsammelte und wieder zurück an ihren Platz brachte. Er wirkte, als würde er öfter hier trainieren. Breites Kreuz, definierte, haarlose Oberarme, Schenkel zum Nüsse knacken und einen ziemlich gut definierten Gluteus maximus. Karim, der Thilos Blick bemerkt hatte, grinste. „Nette Rückansicht, oder?“ Thilo fühlte sich ein wenig ertappt. „Wieso?“, schoss er zurück. „Bist du interessiert?“ Mit ein wenig mehr Herzklopfen, als angebracht war, wartete Thilo auf Karims Antwort. Der schüttelte jedoch nur den Kopf. „Nee, ist nicht mein Typ.“ Thilo fühlte Erleichterung in sich aufkommen. Er spitzte die Lippen. „Wieso? Zu sportlich?“ „Nee, zu hetero.“ Der Blick, den Karim ihm daraufhin zuwarf, war verschwörerisch und gleichzeitig glaubte Thilo, dahinter noch etwas anderes zu erkennen. Etwas, das er in anderem Zusammenhang als „aber dich würde ich nicht von der Bettkante stoßen“ interpretiert hätte. Flirtete Karim etwa mit ihm? Thilo lehnte sich auf den Tresen. „Soll das ne Anmache sein?“, fragte er geradeheraus. Karim grinste. „Weiß nicht. Funktioniert’s?“ Damit waren die Karten dann wohl auf dem Tisch. Thilo hätte sie spielen könnten. Den Gewinn einstreichen und sich über mögliche Konsequenzen keine Gedanken machen. Das Ding war nur, dass Karim immer noch sein Angestellter war. Thilo seufzte innerlich. „Du weißt, dass das nicht geht. Ich bin immerhin dein Chef und wenn das rauskäme …“ Thilo verstummte. Das war eigentlich nicht das, was er hatte sagen wollen. Das war nicht der Grund. Trotzdem zeigte es Wirkung. Karim hob abwehrend die Hände. „Schon gut, kein Problem. Ich hab nur gedacht … ach, ist ja auch egal. Vergiss es einfach.“ Ein wenig abrupter, als er gemusst hätte, wendete Karim sich wieder dem Tank zu. Offenbar hatte er sich wirklich Chancen ausgerechnet. Aber konnte das sein? War er tatsächlich interessiert? Thilo räusperte sich. „Ich, äh … also wenn mein Angebot irgendwie falsch rübergekommen ist, dann … tut es mir leid. Ich wollte nicht …“ Karim hob den Kopf. Er lächelte. „Kein Problem. War eh ne dumme Idee. Ein Missverständnis, nichts weiter. Kann passieren.“ Thilo sah, dass es das nicht gewesen war. Karim hatte sein Angebot ernst gemeint und Thilo war ein Idiot, dass er es ausgeschlagen hatte. Aber er musste. Mit ein wenig Nachdruck zwang auch er sich zu einem Lächeln. „Schon okay. Ist ja nichts passiert. Brauchst du noch Hilfe?“ Er sah, wie Karim nachdachte. Etwas suchte, dass er Thilo auftragen konnte, um den peinlichen Moment zu überbrücken. Irgendwann zuckte er mit den Schultern. „Nein, eigentlich bin ich durch. Wir könnten also gehen. Wenn du das noch möchtest.“ Da war eine kleine Frage. In seinem Blick und in seiner Stimme. Thilo beeilte sich, sie zu beantworten. „Natürlich will ich. Also, ich meine, ich hab es dir doch angeboten. Das war … an keine Bedingung geknüpft.“ Wieder sahen sie sich an. Karim schien abzuwägen, ob er Thilos Worten trauen konnte. Schließlich lächelte er. „Gut. In Ordnung. Ich hol nur noch meine Sachen, dann können wir los.“ Thilo nickte und sah zu, wie Karim das Handtuch, mit dem er gerade noch den Tank abgetrocknet hatte, sorgfältig über dem Rand der Spüle drapierte, bevor er hinter dem Tresen hervorkam, ein Stück Richtung Umkleidekabinen ging und dann stehenblieb. Mit einem seltsamen Blick taxierte er Thilo. „Wartest du hier?“ Thilo lächelte. „Klar. Oder brauchst du Hilfe beim Tragen?“ Da war sie wieder, die Leichtigkeit mit dem Hauch eines Untertons. Thilo wusste, dass er das lassen sollte, aber … Karim grinste. „Nein. Ich hab nur meinen Rucksack. Bin gleich wieder da.“ Damit verschwand er und ließ Thilo allein zurück. Hinter sich hörte der Schritte. „Wir schließen jetzt.“ Es war tatsächlich der Typ, der ihn vorhin in der Sauna überrascht hatte. Kurze blonde Haare, blaue Augen, ziemlich muskulös. Nicht mein Typ, dachte Thilo bei sich. Und zum Glück auch nicht Karims. „Ja, ich weiß. Ich warte nur noch auf Karim. Hab ihm versprochen, ihn nach Hause zu bringen.“ Kaum hatte er das gesagt, fielen ihm ungefähr ein Dutzend Formulierungen ein, die wohl besser geeignet gewesen wären, aber „Steffen“ schien sich nicht daran zu stören. „Gut, sagt Bescheid“, brummte er nur. „Ich schließ dann ab.“ Thilo wollte gerade noch etwas erwidern . Etwas Geistreiches, wenn’s ging, aber er kam nicht mehr dazu. Karim war wieder auf der Bildfläche erschienen und er sah großartig aus. „Hey, wir können. Kommst du?“ Thilo erhob sich von seinem Barhocker. Er hatte keine Ahnung, was genau Karim in der Umkleidekabine angestellt hatte – außer sich eine Jacke überzuwerfen – aber irgendetwas an ihm zog Thilo geradezu magisch an. Wenn das hier eine Deo-Werbung gewesen wäre, das Zeug wäre mit Sicherheit ein Verkaufsschlager gewesen. Frisch wie der Frühling, oder so ähnlich. „Nimmst du deine Tasche nicht mit?“ Karim, der immer noch bereit und lächelnd dastand, deutete hinter Thilo. Der blinzelte ein paar Mal bevor er verstand. „Ach so, ja, natürlich. Keine Ahnung, wie ich die vergessen konnte.“ Wieder ein Lächeln von Karim. „Wäre uns wohl spätestens am Auto aufgefallen.“ Thilo lachte. „Ja, da könntest du recht haben. Na gut, dann … los?!“ „Bin dabei.“ Sie hielten einander die Tür auf, gingen zusammen die Treppe hinunter und fuhren dann einträchtig mit dem Fahrstuhl zum Parkdeck, wo Thilo sein Auto abgestellt hatte. Erst, nachdem sie eingestiegen waren, ergriff Karim wieder das Wort. „Ist ne ziemlich luxuriöse Karre.“ Thilos Mundwinkel zuckte. „Wenn du damit das Auto meinst, könntest du recht haben. Hat zumindest ne ganze Stange Geld gekostet.“ Karim schwieg einen Augenblick, bevor er fragte: „Stehst du auf so was? Ich meine so Luxusschlitten, teure Yachten, Jet Set, Champagner und Kaviar?“ Thilo legte den Hebel um und begann auszuparken. Um sie herum war es ziemlich leer, auch wenn noch einige Parkplätze besetzt waren. Wahrscheinlich Besucher der Spätvorstellung im Kino. Für die üblichen Vergnügungsviertel war es von hier aus zu weit. Er dachte an Tom, der heute Abend wohl allein dort unterwegs war. „Nein“, gab er schließlich zur Antwort. „Eigentlich nicht. Ich hatte nur das Gefühl, dass ich … ein bisschen was aussagen muss. Ein Unternehmensberater, der im Fiat Panda vorfährt, erweckt halt nicht gerade Vertrauen.“ Karim schwieg einen Augenblick, er schien über die Antwort nachzudenken. Währenddessen kam die Schranke des Parkdecks näher. Thilo zückte die Karte, die er vom Fitnessstudio erhalten hatte. Eine goldene Parkplakette. Thilo bemerkte Karims Blick und hob entschuldigend die Schultern. „Die war im Paket dabei. Ich hab mir das nicht ausgesucht.“ Ohne Karim noch einmal anzusehen, schwenkte er die Karte vor dem Sensor, der die Schranke öffnete. Karim musterte ihn von der Seite. „Ein Geschenk, mhm? Von dem Typen, der bei dir war?“ Thilos Finger krampften sich um das Lenkrad. Er setzte den Blinker und schaltete den Scheibenwischer ein. Draußen nieselte es. „Ja. Sein Name ist Tom. Eigentlich Thomas, aber so nennt ihn niemand. Wir kennen uns schon eine halbe Ewigkeit. Waren im Studium mal zusammen. Ist aber auch schon etliche Jahre her.“ Für einen Moment gab Thilo vor, sich auf den verkehr zu konzentrieren. Dabei wartete er eigentlich nur darauf, was Karim dazu sagen würde, dass er und Tom … Warum hatte er das überhaupt erzählt? Es spielte doch gar keine Rolle. „Find ich gut.“ Thilo war so überrascht, dass er glatt vergaß, sich in die linke Spur einzuordnen. Hinter ihm hupte es, als er korrigierte.. „Was findest du gut?“, wollte Thilo wissen und hob die Hand, um dem Fahrer hinter ihm sein Bedauern zu signalisieren. „Dass Tom und ich mal ein Paar waren?“ Karim zeigte die Zähne. „Nein“, entgegnete er lachend. „Dass er dir die Mitgliedschaft im Fitnessstudio geschenkt hat. Ohne ihn säßen wir jetzt wohl nicht hier.“ Thilo warf einen forschenden Blick zum Beifahrersitz, aber Karims funkelnde Augen ließen nicht darauf schließen, dass er das irgendwie anders meinte, als er gesagt hatte. Thilos Mundwinkel hoben sich. „Tja, er versucht es schon seit Jahren. War vielleicht gut, dass es dieses Mal geklappt hat.“ Für eine Weile fuhren sie schweigend durch das nächtliche Hamburg. Lichter und Regen. Die Route ähnelte der, die sie bereits beim letzten Mal genommen hatten. An der Kreuzung mit den vielen Plakaten hielt Thilo an. Sein Blick glitt über die zahlreichen Graffiti. „Ziemlich fleißig, die Sprayer hier. Die nutzen jede freie Fläche.“ Karim nickte und seufzte. „Ja, ist schon nicht die beste Gegend. Aber wenigstens liegt nicht jeden Tag eine Leiche im Treppenhaus.“ Thilo blinkte und realisierte erst dann, was Karim gerade gesagt hatte. Und wie er es betont hatte. Er runzelte die Stirn. „Wieso? Kennst du Gegenden, wo das so ist?“ Karim schob die Unterlippe vor. „Nein, aber vor anderthalb Jahren hat sich bei uns im Haus wohl einer erschossen. Hat erst seine Freundin und dann sich selbst getötet. Wir haben die zwei vorher im Treppenhaus streiten hören. Dann hat es zweimal geknallt und mit einem Mal war es totenstill. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das war ziemlich gruselig.“ Thilo blinzelte. Das Haus, in dem Karim wohnte, war gerade in Sichtweite gekommen, aber Thilo fühlte in sich den starken Drang, einfach daran vorbeizufahren. Er hielt trotzdem an, als die rot eingefasste Haustür neben ihm erschien. Die Farbe hatte plötzlich eine beunruhigend prophetische Wirkung. „Tja, wir sind da.“ Thilo stellte den Automatikhebel in Parkposition und zog die Handbremse an. Danach nahm er den Fuß vom Pedal. Er räusperte sich. „Soll ich … dich noch zur Tür bringen? Nur für den Fall, dass wieder irgendwelche Verrückten hier um sich schießen.“ Karim gönnte ihm ein schiefes Lächeln. „Ich weiß nicht. Denkst du, du könntest mich dann beschützen?“ Die Frage war nicht ernst gemeint. Thilo wusste es. Trotzdem schüttelte er den Kopf. „Nein, das … würde ich wohl nicht schaffen. Ich bin schließlich nicht Superman.“ Karims Lächeln wurde wärmer. „Nein, das bis du nicht. Macht aber auch nichts, finde ich. Du bist trotzdem ziemlich attraktiv.“ Thilo hätte nicht das Aufblitzen in Karims Augen gebraucht, um zu wissen, dass er das ernst meinte. Plötzlich war die Chance wieder zum Greifen nahe. „Tja, dann … danke für das Kompliment. Vielleicht sollte ich mir das einrahmen und im Bad neben den Spiegel hängen. 'Nicht Superman, aber trotzdem attraktiv.' Klingt doch nach nem guten Slogan.“ Thilo lächelte leicht und auch Karim zeigte ein Lächeln gepaart mit etwas, das Thilo als leise Hoffnung interpretierte. Zudem bewegte er sich nicht vom Fleck. Thilo atmete hörbar aus. „Hör mal Karim, ich … ich weiß, dass wir beide gerade darüber nachdenken, ob es nicht doch ne gute Idee wäre mit hochzukommen. Aber … das ist es nicht. Du weißt das und ich …“ „Du bist immer noch mein Boss“, beendete Karim den Satz. „Schon klar. Tut mir leid, dass ich nochmal gefragt habe. Das Nein ist jetzt angekommen. Ehrlich.“ Er lächelte immer noch, doch Thilo sah, dass sich etwas darin verändert hatte. Vielleicht der Ausdruck in seinen Augen. „Kommst du morgen wieder zum Training?“ Thilo lächelte ein wenig gequält. „Ah, ich glaube, ich mach erst mal eine Pause. Meine Schulter …“ Karim sah ihn an. Er schien zu überlegen. „Also wenn du möchtest“, begann er vorsichtig, „könnte ich sie dir massieren. Ich kenn mich ein bisschen damit aus, weißt du. Nicht so sehr, dass sie mich an die Kunden ranlassen würden, aber …“ Er schwieg, als er Thilos Blick auffing. Sofort wurde sein Lächeln entschuldigend. „Schon gut, war nur ein Versuch. Jetzt aber wirklich der letzte. Ich schwör’s.“ Thilo lachte. „Ah, ich seh schon. Ich hätte mich besser nicht auf dich einlassen sollen.“ Karim grinste. „Tja, mich wird man schwerer wieder los als Hundeflöhe. Wobei die von Katzen auch nicht ohne sind. Als unsere Minka damals gestorben ist, mussten wir die ganze Bude ausräuchern. Die Biester waren einfach nicht totzukriegen.“ Thilo lächelte und schloss für einen Moment die Augen. „Du solltest jetzt wirklich gehen.“ Er fühlte Karims Blick auf sich. Wie Seide. „Ja, muss ich wohl. Und du … ach vergiss es. Ich hab’s ja versprochen.“ Thilo hörte, wie Karim die Autotür öffnete. Er nahm seinen Rucksack, stieg aus und klappte dann die Tür wieder zu. Thilo öffnete die Augen und sah ihn draußen stehen. Mit dem Rücken zum Auto, sein Hintern genau auf Thilos Blickhöhe. Als hätte er es geplant. Thilo sah, wie Karim ein paar Schritte auf das Haus zuging, kehrtmachte und wieder zurückkam. Ergeben öffnete Thilo das Fenster. „Was ist?“, fragte er halb besorgt, halb belustigt. „Hast du was vergessen?“ Karim beugte sich runter. Er lehnte sich auf den Fensterrahmen, sein Lockenkopf draußen im Regen. „Tja also weißt du … ich wollte dich fragen, ob du morgen schon was vorhast. Zum Sport willst du ja schon mal nicht, also dachte ich …“ Thilo versteifte sich. So langsam wurde es … „Nicht auf ein Date, selbstverständlich.“ Karim lachte ein wenig verlegen. „Es ist nur … ich bin morgen bei meiner Familie. Meine Mutter hatte Geburtstag und es kommen ein paar Leute und da dachte ich, dass du vielleicht auch …“ Plötzlich war da wieder diese Hoffnung. Eine Hoffnung, die Thilo nicht schon wieder zerstören wollte und doch musste. Er wandte den Kopf ab. „Hast du nicht einen Freund oder Freunde, die du danach fragen kannst? Ich glaube, die wären besser …“ Karim schnaufte. „Ja sicher. Ich könnte Till fragen. Oder Markus. Oder Sabrina. Meine Mitbewohner. Ein paar Kommilitonen vom Studium oder den Milchmann um die Ecke. Die Sache ist nur, dass ich gerne dich fragen würde, ob du mitkommen willst. Es gibt auch Tonnen zu essen. Und keine Hintergedanken. Ich versprech’s.“ Thilo war sich sicher, dass ihn gerade ein echter Hundeblick™ traf und gab sich alle Mühe, nicht hinzusehen. Als er es doch tat, hatte er die Bestätigung. Er seufzte. „Du … ich … das geht doch nicht. Ich kann doch nicht einfach …“ „Warum nicht?“ An Karims treuherzigem Blick hatte sich nichts geändert. „Es ist wirklich ganz unverbindlich. Wir feiern bei meinen Eltern im Garten, Meine Familie wird da sein, Freunde, Verwandte. Wahrscheinlich die halbe Nachbarschaft. Mehr wie so ne Art Straßenfest. Du würdest da wirklich gar nicht auffallen. Und ich würde mich freuen, wenn du mitkommst.“ Thilo zögerte. Er konnte es selbst nicht glauben, denn eigentlich war die einzig mögliche Antwort auf diese Frage natürlich ein Nein, aber wenn er vielleicht doch … „Wann … wäre das denn?“ Karims Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Wir fangen um drei an, aber du kannst auch später kommen, wenn du willst. Ich gebe dir die Adresse und du überlegst es dir einfach, okay?“ Thilo sah, wie er in seinen Taschen nach einem Zettel und einem Stift suchte. „Du kannst es mir auch sagen, ich … merke sie mir.“ Karim brach die Suchaktion ab und lehnte sich wieder ins Fenster. „Beethovenstraße. Nummer 32. Der Eingang ist hinterm Haus, aber wir sind bestimmt sowieso im Garten. Du kannst uns gar nicht verfehlen.“ Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte: „Wirst du kommen?“ Thilos Herz setzte einen Schlag aus. Da war er wieder, der Hundeblick. „Ja“, sagte sein Mund, noch bevor der Rest seines Körpers sich dazu entschieden hatte. „Ja, ich komme.“ Karims Blick wurde eine Spur leuchtender. „Versprichst du es?“ Thilo seufzte. „Ja, ich verspreche es. Bist du jetzt zufrieden?“ Karim grinste. „Zufrieden bin ich erst, wenn du auch wirklich erscheinst.“ Thilo war sich nicht sicher, ob das nicht trotz allem zweideutig gemeint war. Außerdem würde er seine Schwester anrufen müssen. Schon wieder. Kapitel 10: Bildbearbeitung --------------------------- „Søndergaard?“   Thilo hätte beinahe das Telefon fallen lassen. Ungläubig starrte er auf das Display. Warum zum Geier hatte er Tabeas Festnetznummer gewählt? Und warum war Liv rangegangen? Er atmete tief durch und führte den Hörer zurück ans Ohr. „Äh, ja. Hi Liv, ich bin’s.“   Thilo spürte förmlich, wie sich die Raumtemperatur um mindestens drei Grad senkte. Er und Liv waren ohnehin nicht die besten Freunde, aber nach der Aktion von Donnerstag, war er vermutlich endgültig unten durch. Dabei hatte er doch gar nichts falsch gemacht.   „Ist Tabby da?“ Wenn er Glück hatte, würden seine Finger vielleicht nicht abfrieren, weil die nordische Göttin ihm mit ihrem Eisatem traf. Leider schienen die Würfel nicht zu seinen Gunsten zu fallen. „Nein, sie ist einkaufen. Soll ich ihr was ausrichten?“   Thilo schluckte. Oh ja, das würde es besser machen. Wenn er Liv ausrichten ließ, dass er plante, ihr Versöhnungsessen heute Abend ausfallen zu lassen. Die Wahl zwischen Pest und Cholera. Yeah! „Nein, ich wollte nur …“   „Für heute Abend absagen.“ Liv seufzte. „Weißt du, manchmal bist du echt ein Arsch.“   Thilo presste die Kiefer zusammen. Erstens weil er nicht damit gerechnet hatte, so schnell durchschaut zu werden. Und zweitens wegen der Beleidigung.   „Es ist nicht meine Schuld …“ begann er, wurde aber sofort von Liv unterbrochen. „Ja, genau. Es ist ja nie irgendwas deine Schuld. Du bist sozusagen schuldimprägniert. Wie Autopolitur.“   Thilo hätte gerne erwidert, dass das überhaupt nicht stimmte. Leider wäre das wohl ungefähr so effektiv gewesen, wie Feuer mit Benzin zu löschen. Er konnte es trotzdem nicht lassen. „Hey, immerhin hat Tabby die Fotos an die falsche Adresse geschickt. Nicht ich.“   Liv grollte.   „Ja, hat sie. Aber kann man es ihr verdenken? Du bist doch quasi mit deiner Arbeit verheiratet. Und hast du überhaupt eine Ahnung, wie sehr sie mich vorher gelöchert hat, damit ich die Fotos durchgehe und die besten raussuche? Das war verdammt viel Arbeit.“   Thilo lag auf der Zunge zu sagen, dass Liv dann nicht so viele Bilder hätte machen sollen, aber er verkniff es sich. Nützte ja nichts, wenn er jetzt auch noch Dynamit hinterherschmiss.   „Sie hätte mir ja einfach alle schicken können“, nörgelte er deswegen auch nur ziemlich leise und ließ sich aufs Sofa fallen. Die Makrameekissen protestierten nicht.   Liv schnaubte am anderen Ende.   „Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie das auch gemacht, aber ich wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Das Fotografieren fremder Personen im öffentlichen Raum ist zwar nicht verboten, aber wenn du die Bilder irgendwo online stellst und dann rauskommt, dass die von mir sind …“   Liv sprach nicht weiter, aber Thilo verstand. Es war ja nicht so, dass er den Struggle um die Eröffnung ihres Fotostudios nicht mitbekommen hätte. Die Geschichte war einer der Gründe, warum sie sich nicht verstanden. Thilo hatte Liv damals vorgeworfen, nur hinter Tabbys Geld her zu sein, als diese ihrer neuen Freundin nach nur zwei Monaten Beziehung eine größere Summe hatte „leihen“ wollen. Eine Meinung, die er inzwischen revidiert hatte, aber … Thilo knurrte. „Als wenn ich das machen würde. Oder meinst du vielleicht, ich will, dass mich irgendwer so sieht.“   Irgendwer außer den gefühlten drei Dutzend Menschen, die ihn live und in Farbe hatten bewundern dürfen. „Dich vielleicht nicht, aber was ist mit deiner kleinen Befreierin? Deren Mutter wäre sicherlich nicht begeistert, Bilder ihres Kindes auf irgendwelchen ominösen Webseiten zu finden. Oder nehmen wir den niedlichen Lockenkopf. Wer weiß, was er dazu sagt, wenn man ihn auf einmal mit dir zusammen auf einem Foto zu sehen bekommt.“   Thilo stockte der Atem. Hatte Liv etwa gerade gesagt …? „Du meinst, du hast Bilder von ihm?“ Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. Irgendwo zwischendrin hatte er vergessen zu atmen. Livs Ton wurde misstrauisch.   „Ja, warum?“ „Könntest du sie mir schicken?“ Erst, als er die Frage ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass er sich gerade voll in die Nesseln gesetzt hatte. Thilo schluckte und Livs Stimme wurde noch eine Spur schärfer. „Wieso? Was hast du damit vor?“ „Nichts!“   Dass die Antwort wie aus der Pistole geschossen kam, war vermutlich nicht hilfreich.   „Also nichts Schlimmes. Ich will nur …“   Thilo seufzte.   „Ich kenne ihn, okay? Also zu dem Zeitpunkt noch nicht, aber … er hat die Woche drauf bei uns als Praktikant angefangen. Und heute Abend hat er mich eingeladen. Zum Geburtstag seiner Mutter und da dachte ich … es wäre doch toll, wenn ich ihr ein Bild von ihm schenken würde. Mit Rahmen und alles. Auf so was stehen Mütter doch, oder nicht?“   Mit leichten Schweißperlen auf der Stirn erwartete Thilo Livs Antwort. Die natürlich genau so ausfiel, wie er es sich gedacht hatte. „Ein Praktikant?“, fragte sie ungläubig. „Und er hat dich zum Geburtstag seiner Mutter eingeladen? Sag mal, für wie dumm hältst du mich eigentlich?“   Thilo zog es vor, darauf nicht zu antworten.   „Es stimmt“, beteuerte er stattdessen. „Wenn das nicht die Wahrheit wäre, meinst du nicht, dass ich mir da eine bessere Geschichte einfallen lassen würde?“   Die Logik war unbestechlich. Ebenso wie Liv. Thilos Fingernägel bohrten sich in seine Handflächen, während er betete, dass irgendwo da oben jemand ein Einsehen mit ihm hatte.   „Und wenn sie fragt, woher die Bilder sind?“ Thilo riss die Augenbrauen nach oben. „Dann sag ich ihr, dass sie von einer professionellen Fotografin sind. Ich geb ihr auch deine Adresse, wenn du willst. Und wer weiß, vielleicht ist das sogar kostenlose Publicity. Die Leute werden bei dir anrufen und auch so tolle Bilder haben wollen. Ganz bestimmt.“   Liv schnaubte ein drittes Mal. Thilo konnte hören, wie sie auf ihrer Maus herumklickte. Er hielt den Atem an.   „Ich hab da eins“, verkündete sie kurz darauf. „Er ist gut getroffen und du bist nicht mal drauf zu sehen. Zumindest nicht, wenn ich deinen Hinterkopf wegschneide. Das sollte nicht lange dauern.“   Erneutes Klicken, dann ein zufriedenes Brummen. „Mhm, gar nicht schlecht. Warte, ich versuch das mal in schwarz-weiß.“   Wieder Klickgeräusche. „Okay, das ist toll. Definitiv zum auf dem Nachttisch stellen.“   Es folgte ein kurzes Schweigen. „Und du machst auch wirklich keinen Mist damit?“ „Nein, natürlich nicht“, versicherte Thilo schnell. „Ich will einfach nur nicht mit leeren Händen kommen und wo wir uns doch schon auf so ungewöhnliche Weise kennengelernt haben, sollte er doch vielleicht auch eine Erinnerung daran haben.“   Es dauerte nur zwei Sekunden, bevor Liv schaltete. „Läuft da etwa was zwischen euch?“   Ups, voll reingetreten. Thilo widerstand dem Drang, seinen Fuß irgendwo abzuwischen. „Nein“, behauptete er rasch. „Natürlich nicht. Ich meine, er ist mein Angestellter. Das geht doch nicht.“ Wieder konnte er hören, dass Liv ihm kein Wort glaubte. So vorwurfsvoll schweigen konnte wirklich nicht jeder. Dann jedoch seufzte sie. „Na schön, ich schick dir die Aufnahme. Aber wenn ich das irgendwo im Netz finde, komme ich persönlich vorbei und kastriere dich mit einem rostigen Küchenmesser. Verstanden?“   Thilo richtete sich auf. „Nein. Ja. Also würde ich nie machen. Wirklich nicht.“   Während er das sagte, kreuzte er die Finger. Schließlich würde Liv nie erfahren, was er wirklich mit dem Bild vorhatte.   Sie grunzte. „Na schön, ich schick’s dir.“   Ein Klappern, ein Klicken. „Ist unterwegs.“ Thilo sprang auf. Mit zwei Schritten war er bei seinem Laptop, klappte den Deckel auf und hämmerte auf den Tasten herum, bis es surrend zum Leben erwachte. Mit zittrigen Fingern schob er den Mauszeiger auf das Symbol des Maildienstes und öffnete ihn. Eine Flut von Nachrichten ergoss sich auf seinen Bildschirm. Jede Menge Werbung, Spam, Anfragen seiner Dating-App und ganz oben mit einer verheißungsvollen Büroklammer im Anhang: Livs Mail. So schnell er konnte, öffnete er sie. Im nächsten Moment stockte ihm der Atem. „Wow.“   Anders konnte man das Bild wirklich nicht beschreiben. Es musste aus derselben Reihe stammen wie das, was Thilo sowieso schon die ganze Zeit angehimmelt hatte, nur dieses Mal war Karims volles Gesicht zu sehen. Er lächelte und seine Aufmerksamkeit war auf etwas oder jemanden gerichtet, der ein Stück neben der Kamera stand. Es gab der Aufnahme ein leichtes Profil und brachte seine perfekten Proportionen gekonnt zur Geltung. Gleichzeitig wirkte das Bild unheimlich lebendig. Thilo konnte praktisch sehen, wie sich sein Lächeln verbreiterte, wie er den Blick senkte, den Kopf schief legte und dann wieder zu ihm aufsah. Allein die Tatsache, dass er es gewesen war, der diesen Blick abbekommen hatte, brachte die Haare auf seinen Armen dazu, sich aufzurichten. Das war wirklich der absolute Wahnsinn.   „Unglaublich. Du bist eine Künstlerin.“   Thilo fühlte sich verpflichtet, das zu sagen. Er wusste noch, wie er Liv mal an den Kopf geworfen hatte, doch nicht mehr zu tun, als ihre Kamera in die richtige Richtung zu halten und den Auslöser zu drücken. Daraufhin hatte er sich einen fast zwanzigminütigen Vortrag darüber anhören müssen, dass zum Erkennen des richtigen Motivs und des Einfangens des perfekten Augenblicks weit mehr gehörte als nur draufzuhalten und das Beste zu hoffen. Bisher hatte er das eigentlich immer nur für Gewäsch gehalten, aber jetzt, wo er Karims Bild vor sich sah, wusste er, was sie gemeint hatte. „Danke“, kam es trocken zurück. „Ich hoffe, seiner Mutter gefällt das Bild. Du wirst es doch ausdrucken, oder?“   Klar. Natürlich würde er das. Allerdings hatte er nicht im Geringsten vor, es weiterzuverschenken. Vielleicht in Postergröße über sein Bett hängen, ja, aber sonst …   „Du kannst dich auf mich verlassen.“   Immerhin insoweit, dass er das Bild niemandem zeigen würde. Nicht einmal Karim, denn wenn der wüsste, dass Thilo ein Foto von ihm hatte …   Liv schnaubte. „Na gut, dann mach. Und melde dich bei Tabea, damit sie weiß, dass du sie mal wieder hängen lässt.“   Thilo verzog das Gesicht. „Kannst du das nicht vielleicht machen?“   Wieder ein Schnauben.   „Wenn du es ihr beibringst, ist sie bestimmt nicht ganz so geknickt“, fuhr er fort. „Und ich verspreche, dass wir es nachholen. Ich bin auch nicht mehr sauer wegen der Mail. Ehrenwort.“   Liv schnaubte noch einmal. Es erinnerte Thilo an ein gestresstes Pferd. „Na schön“, meinte sie schließlich. „Aber damit das klar ist: Ich mache das nur für Tabby. Weil sie es nämlich absolut nicht verdient hat, so einen ignoranten Trottel wie dich zum Bruder zu haben.“ Thilo zuckte ein bisschen bei der Spitze, aber ein Blick auf Karim, ließ ihn die Stacheln wieder anlegen. Irgendwo hatte Liv ja recht.   „Ja, ich weiß“, sagte er stattdessen. „Ich versuch, mich zu bessern, okay? Sag Tabby, dass ich sie lieb hab.“ Das war jetzt ein großes Zugeständnis und genau das, was Liv hören wollte. „Sag es ihr selbst“, murrte sie in den Hörer und legte auf. Thilo hörte das Klicken und brauchte einen Augenblick um zu realisieren, dass Liv ihn quasi hatte stehen lassen. Am Telefon. Was für ne Bitch.   Aber fotografieren kann sie, dachte er bei sich und war für einen Moment versucht, zärtlich über den Bildschirm zu streichen, bevor er sich zusammenriss. Er hatte da immer noch eine Einladung zu bewältigen und nicht den leisesten Schimmer, was er anziehen würde.     Thilo war kaum im Schlafzimmer angekommen, als es schon wieder klingelte. Dieses Mal sein Handy. Er ging ran, ohne hinzusehen. „Ja?“, fragte er und schob die Tür des Kleiderschranks beiseite. Jede Menge Hemden enthüllten sich ihm. Mit Blicken ging er die Reihe durch. An seinem Ohr ein warmes Lachen. „Oh, na da ist aber jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden. Was ist los? Hat der Kleine dich doch nicht rangelassen.“   Thilo schloss für einen Moment die Augen. War ja klar, dass jetzt auch noch Tom anrufen musste. „Ich hab es gar nicht versucht“, gab er zur Auskunft und griff nach dem dunklen Hemd, das er letztens schon für die Profilfotos angehabt hatte. Das saß gut, war lässig genug für eine private Feier, aber nicht so schäbig, dass das einzig passende Accessoire ein Sixpack gewesen wäre. Eines mit Flaschen drin. Mit einer ausladenden Geste beförderte er das Kleidungsstück aufs Bett und öffnete die andere Schrankseite, um eine passende Hose herauszusuchen. „Nicht?“ Tom schien ehrlich erstaunt. „Ich dachte, nachdem du seinetwegen extra Überstunden gemacht hast, hätte sich die Sache wenigstens für dich gelohnt.“   Thilo entblößte die Vorderzähne. „Hat es. Es war ein sehr netter Abend. Also eine nette Autofahrt. Vorher hab ich noch beim Aufräumen geholfen.“   Toms Antwort bestand aus einem Prusten. „Beim Aufräumen? Oh man. Und demnächst wäscht du dann seine Wäsche und bügelst seine Unterhosen, oder wie?“   Die Frage ließ Thilo darüber nachdenken, was für eine Art von Unterwäsche Karim wohl trug. Wenn er hätte raten müssen, hätte er auf Pants getippt. Oder vielleicht Shorts, wie er selbst? Auf keinen Fall aber mit Muster, da war Thilos sich sicher. Es hätte nicht zum Rest gepasst.   „Quatsch“, gab er jedoch nur zurück und griff nach einer hellgrauen Chino. Ob die wohl noch passte?   „Ich hab dir gesagt, dass da nichts laufen wird. Ich bin sein Boss und damit hat es sich.“   Und warum putzt du dich dann gerade so raus? Thilo hätte die kleine Stimme gerne ignoriert, aber da ihn das leise Gefühl beschlich, dass sie nicht ganz unrecht hatte, drehte er sich auf dem Absatz herum und verließ das Schlafzimmer. Er würde einfach irgendwas anziehen. Kein Grund, Eindruck zu schinden Es war nur … kein Date!   Zurück im Wohnzimmer fiel sein Blick sofort auf Karims Foto. Nein, eigentlich fiel er nicht. Er wurde geradezu magisch angezogen. Schnell ging Thilo zum Schreibtisch und schloss die Ansicht. Während er wild klickte, öffnete er aus Versehen eine andere Mail. Sie war von Rudolph457. Der Typ hatte Thilos „danke, aber nein danke“ offenbar nicht verstanden. Er fragte, ob sie nicht doch mal Kaffee trinken gehen wollten. So ganz unverbindlich.   Tom schnaubte auf der anderen Seite der Leitung.   „Mir scheint, dass dich das nicht unbedingt glücklich macht, oder warum bist du so zickig?“   Thilo bleckte erneut die Zähne. Warum interessierte sich Tom heute so für seinen Gemütszustand? „Ich hab gerade mit Liv telefoniert.“ Das anschließende „Oh“ von Tom bedeutete wohl, dass er damit immerhin schon mal seine Laune erklärt hatte. Leider reichte Tom das nicht. „Und was wollte sie?“   Thilo fühlte Kopfschmerzen in sich aufsteigen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Er begann, seine Nasenwurzel zu massieren. „Nichts. Ich hab sie angerufen. Also eigentlich Tabby, aber …“ „Warum denn das? Wart ihr nicht eh verabredet?“   Mist, jetzt hatte er sich verraten. Dabei hatte er Karims Einladung doch vor Tom geheim halten wollen. Warum, wusste er selbst nicht genau. Vielleicht, um genau solche Kommentare zu verhindern.   „Ja, aber ich hab abgesagt. Hab was Besseres vor.“ „Und was?“   Klar, dass Tom das jetzt wissen wollte. Immerhin hatte Thilo ihm wegen Tabea abgesagt. „Ich hab …“   Thilos Blick fiel auf den Bildschirm. Da stand immer noch Rudis Anfrage. Was, wenn er ihn vorschob? Tom würde es kaum kontrollieren, wenn er ihm sagte, dass er eine Verabredung hatte und …   „Ich bin eingeladen worden. Von Karim.“   In Thilos Ohr pfiff es anerkennend. „Sieh an, also doch ein Date. Und heute Abend wollt ihr’s dann krachen lassen, ja?“ Thilo presste die Lippen aufeinander. So gerne er ja behauptet hätte, dass er nie daran gedacht hatte, mit Karim zu schlafen, wäre das wohl eine zu dreiste Lüge gewesen. Einzig die Vernunft war es, die ihn zurückhielt. Wo die allerdings abgeblieben war, als er der Einladung zugestimmt hatte …   „Kein Date“, stellte er richtig. „Ich bin … er hat mich zu einer Familienfeier eingeladen. Seine Mutter hat Geburtstag.“   Am anderen Ende herrschte jetzt Schweigen. Wenn Thilo nicht gesehen hätte, wie sich der Sekundenzähler auf dem Display veränderte, hätte er angenommen, dass Tom aufgelegt hatte. Aber das hatte er nicht. Er war noch dran.   „Wow“, kam es irgendwann dann doch aus dem Lautsprecher. „Und ich dachte, das wird nur so ne Bettgeschichte. Dich hat es ja wirklich erwischt.“   Thilo antwortete nicht. Stattdessen schloss er die Mail des Datingportals und öffnete wieder die von Liv. Karims Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Er seufzte lautlos. „Ja“, gab er leise zu. Denn das es so war, ließ sich jetzt wohl irgendwie nicht mehr leugnen. Andererseits ging es halt nicht. Er konnte nichts mit Karim anfangen. Es war unmöglich. „Und weiß er das?“ Die Frage, so fies sie war, musste wohl gestellt werden. Thilo zuckte automatisch mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er ist auf jeden Fall nicht uninteressiert. Obwohl ich ihm gesagt habe, dass da nichts laufen wird.“ „Weil du ein Idiot bist.“ Toms Kommentar kam so knochentrocken, das Thilo sich beinahe daran verschluckt hätte. Er fuhr auf. „Hey! Jetzt mal langsam, okay? Ich hab dir gesagt, warum das mit uns nichts wird.“ „Und was ist, wenn er sein Praktikum beendet hat?“ Die Frage, erwischte Thilo eiskalt. Ein Schauer rann seinen Rücken hinab und gleich darauf wieder hoch. Er spürte seine Ohren warm werden. „Wie meinst du das?“ Tom lachte. „Na genau das, was ich gesagt habe. So ein Praktikum dauert doch nicht ewig. Wie lange ist er denn bei euch? Ein paar Monate? Dann lasst ihr die Sache halt so lange unter dem Radar laufen und danach hast du doch alle Möglichkeiten. Ist ja nicht so, dass ihr es jedem gleich auf die Nase binden müsst. Solange ihr es nicht auf deinem Schreibtisch treibt, wird schon keiner was mitkriegen.“   Thilo überlegte. Da war natürlich etwas Wahres dran. Gleichzeitig wusste er, dass das auf gar keinen Fall infrage kam. Karim verdiente es, mehr zu sein als nur eine heimliche Affäre hinter verschlossenen Türen. Jemand wie er brauchte echtes Commitment. Keinen Duckmäuser wie Thilo. „Das kann ich ihm nicht antun.“   Kaum hatte er das gesagt, hätte Thilo sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Denn im Grunde war es genau das, was er damals von Tom verlangt hatte. Dass niemand was mitbekam. Und auch wenn Tom selbst kein großes Verlangen danach gehabt hatte, öffentlich als Paar aufzutreten, war das trotzdem … „Ach Thilo.“   Die Wärme und gleichzeitige Resignation in Toms Stimme ließ gleich noch einen weiteren Schauer über Thilos Rücken rieseln. Er war wirklich zu angespannt.   „Wenn er der Richtige ist, wird er das verstehen.“ Thilo hätte nie geglaubt, diese Worte ausgerechnet aus Toms Mund zu hören. Tom, der jedem, der es hören wollte, erklärte, dass Beziehungen nur Zeitverschwendung waren. Tom, der ewige Single. Jungesselle auf Lebenszeit. Weil er sich an niemanden binden wollte. Sich nicht einschränken. Sein Ding machen. Kein Rückblick, keine Reue. Und ausgerechnet er gab Thilo jetzt Beziehungstipps? Da musste was faul sein. „Das glaubst du nicht wirklich, oder?“, wollte er wissen. Er hörte Tom grinsen. „Nein, aber du glaubst das. Sonst würdest du da heute Abend bestimmt nicht hingehen.“   Thilo biss sich auf die Lippen. Hatte Tom recht? Hatte er sich selbst so weit manipuliert, dass er insgeheim gegen seine eigenen Prinzipien verstieß?   „Was soll ich tun?“   Was würde Tom sagen? Würde er ihm raten, sich Karim aus dem Kopf zu schlagen und stattdessen mit auszugehen? Oder würde er …   „Geh hin. Finde raus, was das mit euch ist. Und dann hör auf, so viel darüber nachzudenken, Mach einfach.“   Mach einfach. Das war schon damals Toms Motto gewesen. Thilo hatte es von Anfang an fasziniert, wie sicher Tom sich bei allem war. Wie selbstbewusst. Als könnte ihm niemand das Wasser reichen. Als würde die Welt ihm gehören.   Thilo seufzte. „Na schön, ich geh hin.“   Tom lachte am anderen Ende. „Braver Junge. Und jetzt sag mir, was du anziehen wirst.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)