Ohne Schlips und Tadel von Maginisha ================================================================================ Kapitel 4: April, April! ------------------------ Frisch geduscht und mit einem Kaffee, der stark genug war, um mehrere tote Tanten wieder aufzuwecken, nahm Thilo am Schreibtisch Platz. Der befand sich in einer Nische des Wohnzimmers und bot durch ein großes Sprossenfenster Aussicht auf einen Gartenstreifen nebst malerischem Baum. Noch waren die Äste zwar kahl, aber Thilo war sich sicher, dass schon bald die ersten grünen Spitzen aus den spitzen Knospen brechen zu sehen. Dann würde es hier drinnen wieder etwas dunkler werden und die Sonne nicht mehr so in seine Augen scheinen. Genau die richtige Atmosphäre, um zu arbeiten. Mit einem Knopfdruck erweckte er seinen Laptop zum Leben.   Zuerst rief er ein paar Emails ab. Das meiste davon hätte noch bis Montag Zeit gehabt, aber er beschloss, eine der Anfragen lieber gleich zu beantworten. Die kurze Recherche, die das Internet ausspuckte, klang nach einem vielversprechenden Geschäft. Sein synchronisierter Terminkalender zeigte ihm einen freien Timeslot für eine Erstberatung Anfang übernächster Woche an. Perfekt. Schnell schrieb er eine entsprechende Antwort und lehnte sich dann zurück, um einen Schluck Kaffee zu nehmen. Neben der Tastatur lag sein Handy. Darauf das immer noch so überhaupt nicht zufriedenstellende Foto des schönen Unbekannten. Ob man den auch googeln konnte?   Vermutlich nicht, dachte Thilo, öffnete aber trotzdem die Webseite. Die erste Suche ergab fünf Treffer für die Zeitschrift „Klönschnack“, zwei weitere vom Hamburger Abendblatt, ein Foto von Rock Hudson und eine Rezension für einen schnulzigen Frauenroman. Frustriert löschte Thilo die Eingabe und probierte es erneut. Dieses Mal bekam er einen persönlichen Fitnesstrainer vorgeschlagen. Und eine Dating App. Thilos Kopf näherte sich der Tischplatte.   Das Internet hasst mich.   Ein Blick zwischen den verschränkten Fingern hindurch verriet ihm, dass die Anzeige immer noch da war. Und sie blinkte verlockend.   Ich kann mir das ja mal ansehen.   Normalerweise war er kein Freund davon, Bekanntschaften im Internet zu schließen. Klar, ausprobiert hatte er das schon. Mit einer App, die die Umgebung nach möglichen Matches scannte, hatte er sogar schon mal ein, zwei Dates abgemacht. Na schön, eher vier oder fünf. Aber das waren immer reine Sexdates gewesen. Wenn man damit durch die Gegend lief, war das ein bisschen wie Pokemon Go! spielen. Sobald es piepte oder vibrierte, hatte man einen neuen „Catch of the day“ in der Nähe. Dann musste man nur noch abmachen, wann und wo, und ab ging die Post. Nur, wenn er das wollte, konnte er auch weiter mit Tom ausgehen. Da sah er wenigstens gleich, was er geboten bekam, ohne sich erst noch stundenlang durch Profile zu klicken und dann am Ende festzustellen, dass die angeblichen 30 cm, doch eher nur ne halbe Handbreit waren. Von merkwürdigen Vorlieben mal ganz abgesehen. Aber vielleicht sollte er dieser Seite hier mal ne Chance geben. Da konnte man angeblich auch einfach nur Leute kennenlernen. Es gab ne Community. Gruppen, denen man beitraten konnte und in denen es nicht nur um das eine ging. Und es gab gerade eine Werbeaktion. Der erste Monat war kostenlos. Thilo atmete noch einmal tief durch, dann klickte er auf den großen, roten Button auf dem „Loslegen“ stand.   Na mal sehen. Profil erstellen. Was wollen die denn wissen?   Erst mal natürlich das Übliche. Größe und Gewicht. Thilo zögerte. Unter 1,80 m ging wahrscheinlich gar nicht. Und viel fehlte ihm ja nicht. Ein lächerlicher Zentimeter. Den konnte man schon dazu schummeln. Und damit es nicht komisch wirkte, lieber gleich zwei. Also 1,81 m. Nach kurzem Überlegen änderte er auf 1,82 m. Es würde schon keiner nachmessen. Dann das Gewicht. Die 85 war nicht mehr in allzu weiter Ferne, aber eigentlich hatte er ja vor, daran was zu ändern. Und Muskeln brachten schließlich auch Gewicht auf die Waage. Also 79 kg. Weiter im Text.   Haarfarbe braun, Augenfarbe auch. Bart … mhm. Drei-Tage-Bart mit der Tendenz zur Fünf-Tage-Länge am Kinn. Dafür an den Seiten rasiert. Aber das konnte man ja nicht hinschreiben. Also vielleicht … „ja, aber kurz“? Das passte bestimmt.   Ich setz ja noch ein Foto rein, da sieht man das ja.   Na schön, dann weiter. Keine Piercings, keine Tattoos – jetzt nicht mehr – Sprachkenntnisse. Englisch und Deutsch konnte er wohl angeben. Beziehung?   Keine, sonst wäre ich ja nicht hier.   Alter. Thilo nahm die Hände von der Tastatur und überlegte. Sollte er da jetzt auch die Wahrheit ein bisschen zurechtbiegen, oder sollte er die Tatsachen auf den Tisch packen? Immerhin würde spätestens bei einem Blick in seinen Ausweis herauskommen, dass er gelogen hatte. Das war zwar auch bei seiner Größe der Fall, aber der konnte man wenigstens mit dem richtigen Schuhwerk nachhelfen. Ein Mittel, um die Zeit zurückzudrehen, hatte aber leider noch niemand erfunden. Er war alt und daran ließ sich nicht rütteln. Thilo schnaufte und tippte dann zuerst eine 3 und dann eine 0 ein. Anschließend betätigte er die Entertaste. Es passierte … nichts. Nicht, dass Thilo wirklich erwartet hatte, dass der Bildschirm plötzlich in Flammen aufging und eine unangenehme Stimme aus der Hölle ihm hohnlachend verkündete, dass er sich die Anmeldung hier mal schön in die Haare schmieren konnte, aber dass der Cursor einfach im nächsten Eingabefeld landete, war nun doch etwas unspektakulär. Immerhin hatte Thilo gerade das Gefühl, sich regelrecht geoutet zu haben. Da wäre ein „Wir bieten Ihnen aufgrund Ihrer Eingabe den vergünstigten Senioren-Tarif an“ doch irgendwie das Mindeste gewesen. Aber nein, stattdessen sollte er seine Position beim Sex eingeben. Noch so etwas, wo Thilo zögerte. „Nur aktiv“ tippte er schließlich und sprang dann einfach zum nächsten Punkt. „Oh man, echt jetzt?“   Thilo nahm einen Schluck von seinem Kaffee und ging die Liste durch. Nein, kein bareback, kein Natursekt oder anderer Ekelkram, kein Fisting, kein SM. Leder beim anderen war okay und vielleicht würde er auch beim Augenverbinden und ab und an mal ein paar Fesselspielchen nicht nein sagen, aber er hatte weder vor, sich zu einem wehrlosen Paket verschnüren zu lassen, noch mit Gasmaske und Hundeohren unterwegs zu sein. Andersrum dito. Zum Schluss noch die Angabe, dass er nicht beschnitten war. Fertig.   Das war’s jetzt? Mehr wollen die nicht wissen?   Thilo scrollte ein bisschen und sah, dass er optional noch seine Interessen angeben konnte. Es war aber kein Muss. Trotzdem überlegte er.   Lieblingsessen? Italienisch. Pizza ging schließlich immer. Ausgehen? Ja bitte. Musikgeschmack. Thilo wackelte mit der Nase und griff wieder zur Tasse. Eigentlich hörte er ja nicht viel Musik. Halt das, was so im Radio kam. Solange es kein Death Metal war, hatte er eigentlich keine Vorlieben. Mit entsprechendem Pegel ging er auch zu Schlagern ab oder gab sich mal ein klassisches Konzert oder ein Musical. Im Grunde war er da ziemlich offen. „Querbeet“, lautete schließlich seine Angabe. Als Beruf „selbstständig“, Religionszugehörigkeit keine, obwohl er irgendwann mal getauft und konfirmiert worden war, weil man das halt so machte. Außerdem trug er beim Sport „Fitness“ ein. Immerhin hatte er ja vor, demnächst wirklich mal ins Studio zu gehen, und die Absicht zählte doch bestimmt auch. So, fertig. Blieb nur noch das Problem mit dem Bild. Thilo griff nach seinem Handy und scrollte. Nein, nein, nein. Okay, das waren dann die drei Bilder, die er von sich besaß. Wer machte auch Fotos von sich selbst mit dem eigenen Handy? Er hätte natürlich Tabby nochmal anmorsen können, aber wenn sie irgendwie Wind davon bekam, wofür er das Bild brauchte, würde er keine ruhige Minute mehr haben. Also doch ein Selfie? Thilo sah an sich herab.   Nach der Dusche hatte er sich für Jogginghosen und ein ausgeleiertes Shirt mit leicht angestoßenem Kragen entschieden. Auch wenn er sonst im Anzug unterwegs war, mochte er es doch eigentlich lieber bequem. Nicht, dass er so an die Tür oder gar davor gegangen wäre, aber wenn ihn keiner sah …   Vielleicht sollte ich mir was anderes anziehen.   Ein Hemd war wohl das Mindeste. Der Rest musste ja nicht mit aufs Foto. Und stylen würde er sich auch müssen. Der letzte Friseurbesuch war schon etwas her und die Haare fielen ihm, wenn er nichts dagegen tat, schon recht deutlich in die Stirn. Aber ein bisschen Wachs würde das mit Sicherheit richten. Nicht zu streng, aber so ein bisschen Partyfrisur. Er wollte ja cool rüberkommen. Lässig aber auch weltgewandt. Boyfriend material, vielleicht sogar mehr. Der Gedanke ließ Thilo aufspringen. Er musste das hinkriegen. Unbedingt. Jetzt gleich.   Eine halbe Stunde später wischte er fluchend ein Bild nach dem anderen zur Seite. Er sah auf allen blöd aus, hatte Augenringe, Falten, käsige Haut und war ungefähr so attraktiv wie ein Sack Mehl. Mit Würmern.   „Scheiße.“   Mit einem Fluchen ging er sich nochmal ein anderes Hemd holen. Ein dunkles dieses Mal. Damit wurde seine Haut zwar nicht gebräunter, wirkte aber weniger ungesund. Dazu die Haare nochmal durchgesträhnt, den Kopf leicht zur Seite, und Klick.   Dieses Mal gefiel Thilo das Bild. Zwar lächelte er nicht, aber er hatte ja auch nicht vor, sich vollkommen zu verstellen. Tabea behauptete ja schließlich ständig, dass er zum Lachen in den Keller ging. Also passte das wohl.   „Und senden.“   Thilo klickte auf den Abschicken- Knopf am Ende der Eingabeliste. Es dauerte einige Sekunden, dann erschien eine Fehlermeldung. „Du musst noch einen Usernamen angeben.“   Oh Scheiße. Einen Namen? Öhm. Wie sollte er sich nennen? Ganz sicher würde er nicht seinen richtigen Namen verwenden. Was, wenn ihn jemand mit seiner Firma in Verbindung brachte? Es sollte aber auch nicht zu abgedroschen klingen oder aus tausend Nummern oder Zahlen bestehen, die sich kein Schwein merken konnte. Und so was wie „Sugardaddy4U“ oder „JustFunXXL“ fielen definitiv auch aus. Ein bisschen was mit ihm zu tun haben, sollte es ja schon. Er gab einen kleinen frustrierten Laut von sich, bevor er tippte. „Tassilo.“   So hatte Tabby ihn früher immer genannt. „Die Schöne und das Biest“ war ihr absoluter Lieblingsfilm gewesen und irgendwie hatte sie beschlossen, dass der kleine Tassenjunge zu ihm passte. Später hatte sie behauptet, das läge an dem Sprung, den er in der Schüssel hätte, aber Thilo war sich sicher, dass das ursprünglich nicht Teil des Plans gewesen war. „Dieser Name ist bereits vergeben.“   Ach ja prima. War ja klar.   „Möchtest du stattdessen 'Tassilo179' verwenden?“   Thilo schnaufte und schnaufte noch einmal und klickte auf „Annehmen“. Was Besseres würde ihm eh nicht einfallen und so hatte er seine richtige Größe wenigstens noch irgendwo untergebracht. „Herzlichen Glückwunsch, dein Profil wurde erstellt.“   Thilo wollte sich gerade entspannt zurücklehnen und die Früchte seiner Arbeit genießen, als es am Bildschirmrand zu blinken begann.   „Du hast eine neue Nachricht.“   Neugierig klickte Thilo auf das entsprechende Icon. Im nächsten Moment prangte ein Schwanz auf seinem Bildschirm. Riesig, geädert und laut Bildunterschrift bereit, von ihm gelutscht zu werden. Schnell schloss Thilo die Nachricht und hatte bereits zwei weitere im Posteingang. Wie ihm die Vorschau verriet, alle mit Bildanhang. Frustriert klappte Thilo den Laptop zu.       „Ich bin 29, sportlich, Single, ausdauernd im Bett, devot, liebe Tiere und Pflanzen …“   Thilo schloss das Profil und auch gleich noch die ganze App. Nach seinen ersten Erfahrungen gestern, hatte er beschlossen, sich einfach selbst auf die Suche zu machen, statt sich nur mit Dickpics bombardieren zu lassen. Nicht, dass die weniger geworden wären – sein aktueller Zählerstand belief sich auf 28 – aber er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es da draußen vielleicht doch noch ein paar normale Leute gab. Also nicht so normal, wie „Rudolph457“, dessen Profil Thilo schon beim Durchlesen zum Gähnen gebracht hatte. Es hatte ihn damit schmerzlich an sein eigenes erinnert, weswegen er und Rudi sich vielleicht sogar prima verstanden hätten. Allerdings stand der auf Füße und auch wenn Thilo nichts gegen Kinks hatte, erregte ihn die Aussicht, dass jemand genüsslich an seinen Zehen lutschte oder von ihm verlangte, dass er seine Socken zwei Tage lang anzog, um genüsslich daran zu riechen oder sich darauf einen runterzuholen, so gar nicht. Also weg mit Rudi und her mit den Fotos, die Tabby ihm geschickt hatte. Thilo konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft er diesen einen schrägen Schnappschuss mit dem allenfalls Viertelprofil wohl schon aufgerufen hatte, um sich minutenlang darin zu vertiefen, nur um ihn dann frustriert wieder zu schließen. Es brachte ja doch nichts. Der schöne Unbekannte war weg und Thilo würde ihn in diesem Leben wohl nicht mehr wiedersehen.   Seufzend wollte Thilo das Handy gerade in seiner Schreibtisch-Schublade verschwinden lassen – immerhin war er bei der Arbeit und hatte somit eigentlich anderes zu tun, als sich mit seinem Datingleben zu beschäftigen – als draußen Stimmen laut wurden. Es klopfte und schon im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet. Thilo konnte gerade noch die Hand aus der Schublade ziehen.   „Und hier ist das Büro von Herrn Marquardt.“   Beate betrat den Raum, der mit seinen 15 Quadratmetern, den zweieinhalb Fenstern und der Aussicht auf die Backsteinfassaden der umliegenden Häusern und die spiegelnden Wasserflächen der nahen Fleete der kühlste und ruhigste Ort des ganzen Büros war. Er lag zudem ganz am Ende des Flurs, was normalerweise hieß, dass sich nicht allzu oft jemand hierher verirrte. Beate musste also mit Absicht hergekommen sein. Der Grund dafür folgte ihm auf dem Fuße. Thilo stockte der Atem.   Oh Kacke!   Ihm gegenüber an der Seite seines ältesten Teammitglieds und der guten Seele des Büros stand niemand anderes als der schöne Fremde, den Thilo gerade eben noch in verpixelter Form auf einem viel zu kleinen Display angeschmachtet hatte. Wie schon beim letzten Mal trug er braune Chinos und dazu passende Schnürschuhe. Sein Oberkörper steckte in einem weißen Hemd, bei dem er im Gegensatz zu Thilo die zwei obersten Knöpfe offen gelassen hatte. Darunter ein weißes T-Shirt. Er sah absolut anbetungswürdig aus und dabei nicht in geringster Weise oberflächlich. Eher wie jemand, mit dem man reden konnte. Oder, der einen auch noch dann anlächelte, wenn er gerade entdeckt hatte, dass man ihn auf geradezu unverschämte Weise anstarrte.   Scheiße!   „Karim, das ist Herr Marquardt.“   Thilo zwang sich aufzustehen und hinter dem Schreibtisch hervorzutreten, obwohl seine Knie ernsthaft drohten, zu Wackelpudding zu zerfließen. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Durfte es nicht!   „Karim also.“   Oh, na prima, jetzt plapperteer auch noch vollkommen schwachsinnig nach, was Beate gerade gesagt hatte, und klang dabei wie ein grenzdebiles Schulmädchen mit Herzchenaugen. Fehlte nur noch, dass er begeistert aufseufzte. Oder in Ohnmacht fiel. Das würde nicht passieren!   Thilo riss sich zusammen. „Hallo Karim“, brachte er über die Lippen und kriegte sogar ein Nicken zustande. „Ich nehme an, du bist …“ Er warf einen fragenden Blick in Beates Richtung.   „Unser neuer Praktikant. Karim Neumann. Hast du etwa vergessen, dass er heute anfängt?“   Vergessen? Nein, natürlich nicht. Irgendwo in seinem Hirn klopfte bestimmt die Information, dass zum nächsten Ersten jemand Neues hier anfangen würde, mit dem Fuß auf den Boden und guckte säuerlich. Zu seiner Verteidigung konnte Thilo allerdings anführen, dass er mit den Praktikanten meist nicht viel am Hut hatte. Das erledigte alles sein Team. Sie suchten die passenden Kandidaten aus, übernahmen die Vorstellungsgespräche und handelten die Verträge aus. Er setzte dann meist nur noch die Unterschrift darunter, auch wenn er sich jetzt gerade wirklich, wirklich wünschte, mehr in den Prozess eingebunden gewesen zu sein. In diesem Fall hätte er jetzt nämlich nicht wie der letzte Trottel hier rumgestanden und versucht so zu tun, als hätte er alles unter Kontrolle.   „Nein, natürlich nicht“, wiederholte er schlicht, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war. „Ich hab nur wahnsinnig viel auf dem Tisch und nicht mit Besuch gerechnet.“   Während er das sagte, versuchte er noch einmal einen Blick auf Karim zu werfen. Hatte der ihn erkannt? Wusste er, dass Thilo der Bekloppte mit der pinken Kittelschürze und der Klobürste von letzter Woche war, der sich vor seinen wunderschönen, tiefbraunen Augen zum Vollhonk gemacht hatte? Oder hatten Thilos Outfit, die Schminke und die Perücke ausgereicht, um ihn unkenntlich zu machen?   Thilo gefror in der Bewegung, als ihm einfiel, dass er das blöde Ding ja abgezogen hatte. Er hatte freiwillig einen Teil seiner Tarnung aufgegeben. Warum, nur? Warum?!   Thilo begann zu schwitzen. Beate verzog den Mund zu einem spöttischen Schmunzeln. „Jaja, wir gehen ja schon. Du siehst, Herr Marquardt ist immer ein bisschen brummelig, wenn man ihn stört.“   Karim lachte und Thilo guckte säuerlich. Er war überhaupt nicht brummelig. Er war lediglich etwas norddeutsch, einsam und gerade kurz vor dem Durchdrehen. Verzweifelt passte vielleicht auch. Ha, das wäre doch ein guter Username gewesen. 'Verzweifelt0815'. Absolut passend!   „Wenn ihr schon auf dem Weg nach draußen seid, sag Sebastian doch bitte, dass ich mit ihm noch den Entwurf für den Verkauf der Bäckerei durchgehen muss. Am Donnerstag treffe ich mich wieder mit Herrn Pölding, dann muss das fertig sein. Und sind die Zahlen für das Portfolio von Bokmann Engineering schon angekommen? Die warten schon auf das Angebot. Das Shareholding der Gebäudereinigung liegt auch noch in der Pipeline. Ich brauch da eine Liste der möglichen Teilhaber.“   Beates Lächeln verschwand und wurde businessmäßig. „Ich schaue nach und schicke dir alles. Karim bring ich derweil zu Silas. Der kämpft noch an der Umsetzung von Claudias Entwürfen für die Boutique. Karim spricht fließend Französisch, der kann ihm helfen.“   Französisch. Thilo selbst hatte das irgendwann in der Schule abgegeben. Die Grammatik war nicht seins gewesen und Latein hatte sein Vater eh sinnvoller gefunden.   Karim lächelte wieder. Er sah absolut charmant aus. Gleichzeitig ließen seine Gesichtszüge immer noch jegliches Erkennen vermissen. Sollte Thilo Glück gehabt haben? Hatte er ihn wirklich nicht erkannt?   „Ich freue mich wirklich sehr, dass ich hier anfangen kann. Ihre Firma ist eine der besten.“   Während er das sagte, streckte Karim doch glatt die Hand in Thilos Richtung. Automatisch erwiderte Thilo die Geste und sie berührten sich. Thilo war, als hätte er einen Stromstoß bekommen. Gleichzeitig wollte er nie wieder loslassen. Karims Hand war so fest. Und warm. Und weich. Lediglich am Daumen konnte er eine kleine Schwiele fühlen. Woher die wohl kam?   „Wir bemühen uns“, antwortete Thilo, während er in Karims Blick versank und vollkommen vergaß, wo er sich eigentlich befand. „Das Wichtigste ist, dass uns unsere Kunden vertrauen. Immerhin geht es hier nicht nur um irgendwelche Jobs. Es geht um Existenzen. Um Lebensträume. Das ist es, was unsere Kunden uns anvertrauen, und wir bei Marquardt Consulting gehen damit um, als wären es unsere eigenen.“   Thilo klappte den Mund wieder zu und schlug sich innerlich die Hand vor die Stirn. Hatte er da gerade wirklich den Inhalt seiner Firmenbroschüre heruntergebetet? Warum das denn? Hoffte er etwa, das würde Karim beeindrucken? Der lächelte schon wieder. „Das finde ich super.“   Ich auch, dachte Thilo und meinte damit nicht sein Geplapper, sondern die Tatsache, dass Karim immer noch seine Hand hielt. Und er seine. Zu Hilf?!   „Na ja, dann …“ Thilo zog seine Hand zurück und hoffte inständig, dass der andere nicht bemerkt hatte, wie unanständig lange sie sich angefasst hatten. Obwohl es ja nur ein Händedruck gewesen war. Ein absolut schöner Händedruck. „Wir, äh … sehen uns. Ich … Arbeit.“ Thilo riss seinen Blick los und fokussierte kurz Beate, nickte ihr zu, und flüchtete dann zurück hinter seinen Schreibtisch, wo er sehr geschäftig tat. Aus den Augenwinkeln verfolgte er, wie Beate Karim hinausbegleitete. Sie sprachen miteinander und schienen sich dabei prächtig zu verstehen. Beate erzählte ihm, dass sie alle ganz gespannt die Ankunft von Claudias Baby erwarteten und Karim erwiderte, dass er selbst ebenfalls Geschwister hatte. Alles in allem schien Karim ein aufgeschlossener, junger Mann zu sein. Jemand, der gut ins Team passte. Das einzige Problem daran war, dass Thilo ihn am liebsten für sich selbst gehabt hätte. Jetzt, hier, auf dem Schreibtisch zum Beispiel. Aber natürlich lag das außerhalb sämtlicher Möglichkeiten und das nicht nur, weil es das altehrwürdige Möbelstück vollkommen entweiht hätte. Er war Karims Chef, das bedeutete, dass jegliche Aussicht auf ein unverbindliches Treffen oder gar ein Date sich gerade in sprichwörtliche Luft aufgelöst hatte. Er musste eine professionelle Distanz wahren, schon allein, weil er keine Klage wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz riskieren wollte. Karim war tabu, daran war nicht zu rütteln.   Thilo seufzte und griff nach seiner Maus. Sein Bildschirm malte sowieso schon viel zu lange bunte Kringel ins unergründliche Schwarz. Es wurde Zeit, das zu beenden. Thilo gab das Passwort ein und rief im gleichen Atemzug das Emailprogramm auf. Arbeit würde ihn ablenken. Ja, das würde sie. Während er eine geschäftliche Nachricht öffnete und anfing, den Inhalt irgendwie in sein matschiges Hirn zu kriegen, fiel sein Blick plötzlich auf die Datumsanzeige. Heute war der erste April. Was für ein schlechter Scherz.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)