Kleine Weihnachtswunder von KiraNear ================================================================================ Kapitel 2: Der kleine Junge mit den Lebkuchen --------------------------------------------- „Dass du es ja nicht wagst, ohne Geld wieder nach Hause zu kommen“, hatte sein Vater ihm gesagt, während sein Blick sich in seine eigenen, müden Augen gebohrt hatte. „Du wirst jede einzelne dieser Lebkuchen verkaufen, jede einzelne von ihnen! Denk ja nicht daran, sie zu verschenken, wir sind doch nicht die Heilsarmee! Wenn du sie wegwirfst, werde ich das wissen!“ Wie üblich hatte er auf einem dicken Batzen Kautabak gekaut, die einzige Freude, die sich sein Vater zusammen mit einer großen Flasche Alkohol gönnte. Sein Atem stank nach Nikotin, mit jedem Wort hauchte er den unausstehlichen Geruch in Charas Nase. Er hatte schon lange gelernt, flach genug zu atmen, um so wenig wie möglich davon abzubekommen. Allein die Tatsache, dass sein Vater ausnahmsweise den Vodka ignoriert hatte, rettete Charas Nasenhaare ein klein wenig. „Und komme ja nicht auf die Idee, sie zu essen. Du sollst damit Geld verdienen und dich nicht an unseren Waren vergreifen wie ein Affe ohne Anstand!“ Charas Blick wurde kalt, er schluckte jegliche Sprüche, die ihm auf der Zunge lagen, herunter. Solange sein Vater nur seine übliche Rede hielt, solange er seine zitternde Hand oder seinen Gürtel bei sich behielt, war alles gut. Chara wusste, wann es sinnvoll war, den Mund zu halten. Wenn der Vater komplett blau war von seinem Lieblingswasser mit den Namen Vodka, konnte er ihm alles an den Kopf werfen, was er wollte. Je mehr sein Vater getrunken hatte, desto mehr neigte er zum Weinen und Jammern. Am nächsten Tag war alles wieder vergessen, doch diese Tage wurden immer seltener. Stattdessen beschränkte sich sein Vater darauf, jeden Tag auf dem gleichen bisschen Kautabak herumzukauen, bis seine Zähne jegliche Substanz herausgedrückt hatten. „Nein, Vater, das werde ich nicht tun“, war Charas Antwort darauf gewesen. Bloß nicht zu viel sagen, bloß keinen falschen Blick aufsetzen. Chara hatte jeden Grund dafür, ruhig zu bleiben. Ihm war zuletzt eine Legende in die kleinen Ohren gekommen, eine Art von Geschichte, die ihm sein Vater niemals erzählen würde. Eine Art von Geschichte, die der Vater als Schwachsinn bezeichnen würde. Doch Chara hatte diese Geschichte gefallen. Seit er sie eines Tages während seiner Schicht in der Fußgängerzone aufgeschnappt hatte, hatte sich jedes einzelne Wort in sein Herz geprägt. Er hatte keine weitere Familie, keine Freunde und auch kein Geld, um sich ein Buch zu kaufen. Selbst für eine Bibliothekskarte fehlten ihm die finanziellen Mittel. Auf der anderen Seite, sein Vater sah darin nur Material, um den Ofen für die nächsten Stunden beheizen zu können, und das Buch der Bibliothek dann zu erstatten? Die Schulden würden ewig auf Charas kleinen Schultern lasten. Deshalb ging Chara die Worte immer wieder und wieder durch. Während seiner Tagesschichten, wenn nicht sonderlich viele Menschen in der Fußgängerzone unterwegs waren. Wenn er im Bett lag und sich unter seiner dünnen Decke zu einem Ball zusammengerollt hatte, in der Hoffnung, so viel an Körpertemperatur wie möglich zu behalten. Wenn sein Vater ihm einen Vortrag über seine alte Arbeit hielt, wie viel besser die Welt doch vor zwanzig Jahren gewesen war. Einen Vortag, den Chara sicherlich auch im Schlaf aufsagen könnte, wenn er sich dafür nur genug interessieren würde. Vaters olle Kamellen interessierten ihn aber nicht. Stattdessen mochte er die Geschichte, in welcher die Menschen über eine andere Spezies gesiegt hatten. Wie eine Gruppe von Monstern besiegt und in den Untergrund des Mount Ebott verbannt wurde. Dass sie seitdem hinter der Barriere ihr Dasein fristen würden. Niemand wusste, ob an der Legende was dran ist, hatte der fremde Vater zu seiner Tochter gesagt. Die Tochter hatte einen erschreckten Eindruck gemacht, doch Chara konnte das nicht verstehen. Er konnte nicht verstehen, warum die Tochter so eine Angst haben würde. Er wusste auch nicht, warum der Mann es ihr erzählte; warum Chara ausgerechnet diese Geschichte zu hören bekommen hatte. War es Schicksal? Immerhin war diese Geschichte, so heroisch der Vater sie auch rüberbringen wollte, nur ein weiteres Zeugnis dafür, wie verdorben und schlecht die Menschheit an sich war. Chara fand sich in seiner Abneigung nur bestätigt, und war deshalb froh, außer seinem Vater keinen weiteren Menschen zu kennen, mit dem er sich regelmäßig abgeben musste. Die Kunden, die seine Lebkuchen abkauften, waren stets andere, er hatte keine Stammkunden. Er verließ sich dagegen auf die Laufkundschaft, die durch die Läden lief, nach Geschenken oder Ablenkung suchten. Sie gaben ihm Geld, hin und wieder ein Lächeln, doch davon konnte er sich nichts kaufen. Sein Herz erreichte es sowieso nicht.   Nun stand Chara wie üblich in der kleinen Spalte zwischen zwei Häusern, die Wände schützten ihn vor den strengen Winden, die seit Tagen die Stadt fest in ihren Händen hielt. In seinem Korb lagen noch sechs der Lebkuchen, vier hatte er bereits verkaufen können. Chara sah sich um, der Nachmittag war bereits fast vollkommen vorbeigegangen und nur wenige Menschen hatten seine Stelle passiert. Normalerweise war die Gegend belebter, da sich hier viele Geschäfte befanden, in welcher Verzweifelte ihre Käufe auf die letzte Minute erledigen konnten. Chara war dies alles egal, solange genug Menschen an ihm vorbeiliefen und seine Lebkuchen kauften, das war für ihn die Hauptsache. Geld bedeutete Freude. Geld bedeutete, dass sein Vater mit ihm zufrieden war. Geld bedeutete, dass er hin und wieder Essen bekommen würde. Je mehr Geld, desto mehr Essen. So einfach war das. Das hatte Chara schon sehr schnell verstanden. Die Praxis wich jedoch von der Theorie ab. Als hätten sich die Menschen einen neuen Ort zum Einkaufen gesucht, war eine deutlich geringere Menge an Menschen unterwegs. Oder war ihnen alle das Geld abhandengekommen? Chara konnte es sich nicht erklären, nur mit der Situation zurechtkommen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Um sich abzulenken, ging er wieder die Geschichte durch, die er vom unbekannten Vater belauscht hatte. Dass es den Berg tagsächlich gab, daran hatte Chara keine Zweifel. Ab und zu hatte er den Mount Ebott in der Ferne betrachten können. Das ist ein Ort, an den man nicht hingeht. Das ist ein Ort, den man nur aufsucht, wenn man verschwinden möchte. „Geh doch weg, wenn es dir hier bei mir nicht passt!“, hatte sein Vater sehr oft gesagt und das war alles, was Chara dazu wissen musste. Lange Zeit hatte Chara diesen Satz an sich abprallen lassen, doch seit zwei, drei Wochen? Erschien ihm die Möglichkeit, in einem Berg voller gefährlicher Monster zu verschwinden, als tröstlich. Die Alternative war, eines Tages in seinem Bett zu verhungern oder auf der Straße zu erfrieren. Irgendwann würde Chara noch weiterwachsen und dann? Würden ihm seine Kinderklamotten nicht mehr passen, ihm keinen Schutz mehr vor den strengen Temperaturen des Winters mehr geben können. Chara würde sein rasches Ende finden, dessen war er sich bewusst. Es war nur eine Frage der Zeit, auch kam es stark auf das Wie an. Chara wusste nur eins: Wenn er schon keine Kontrolle über sein Leben hatte, dann wollte er wenigstens für den letzten Moment, für ein paar Minuten, das Sagen haben.   Müde blickte er sich um, die wenigen Menschen, die sich auf der Straße befanden, ignorierten ihn oder waren zu tief in einem Gespräch vertieft. Sein Magen schmerzte, und ein Gefühl von Übelkeit stieg in ihm auf. Beim Anblick der Lebkuchen lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Sofort zwang sich Chara, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Menschen zu bringen. Immerhin mussten sie ihm die restlichen Lebkuchen abkaufen, sonst konnte er nicht eher nach Hause gehen. Sein Korb musste leer an Lebkuchen und voll an Geld sein, sonst würde ihn sein Vater nicht mehr hineinlassen. Er hatte es probiert, doch sein Vater hatte ihm keine Gnade, kein Mitleid gezeigt. Es waren die schlimmsten Nächte und Chara versuchte, so wenig wie möglich daran zu denken. Eine kleine Welle durchfuhr seinen Kopf, der sich wie leergefegt anfühlte. Er war froh, dass er direkt zwei Häuserwände zur Seite hatte, an welche er sich stützen konnte. Sie gaben ihm den Halt, dem ihm sonst niemand geben wollte. Mit den kalten Fingern rieb er sich über seine müden Augen, und um sich wach zu halten, versuchte sich wieder vorzustellen, wie die Monster wohl ausgesehen hatten. Angeblich gab es unter ihnen Skelette, Echsenwesen und gar Ziegen, die auf zwei Beinen laufen würden! Allein die Vorstellung gab Chara ein Gefühl der Freude, brachte ihn aber auch zum Nachdenken. Wer waren die wirklichen Monster? Die Wesen, die seit knapp tausend Jahren von der Welt abgeschnitten waren? Oder die Monster im Menschenkostüm, die fürchterliche Taten vollbrachten, mit der Überzeugung, im Recht zu sein? Für Chara lag die Antwort ganz klar auf der Hand. Es fiel ihm schwer, ein Lächeln auf seine Lippen zu zaubern oder die Menschen anzusprechen. Seine Stimme war schwach, leise und überhörbar. Wieder und wieder schluckte er Speichel und Übelkeit herunter, doch sie wollten nicht gehen. Wieder sah er auf seinen Korb hinab, sah die leckeren Lebkuchen, wie sie darauf warteten, gegen wenige Münzen eingetauscht und zeitnah verspeist zu werden. Nur zu gerne würde Chara seine eigenen Zähne in diese kleinen Köstlichkeiten drücken, seinen eigenen kleinen Magen damit füllen. Doch sein Vater würde nach dem Geld fragen, das er ihm nicht geben konnte. Zehn Lebkuchen gegen zwanzig Münzen. Das wäre eine viel zu große Differenz von zwölf Münzen. Die Strafe, die sich sein Vater dafür ausdenken würde, wollte Chara sich lieber nicht vorstellen. Wenn Chara dem Verlangen nachgeben und diese Lebkuchen essen würde, dann hätte er nur noch zwei Möglichkeiten. Er könnte sie essen, es seinem Vater erzählen und dann mindestens erneut Bekanntschaft mit dessen Gürtel machen. Oder er könnte davonlaufen, sich verlaufen und dann langsam erfrieren. Wo würde der Unterschied liegen? Keiner der beiden Wege war erstrebenswert, es war nicht so, als hätte Chara eine andere Wahl … Er riss seine Augen auf, ein Geistesblitz durchzuckte seine Gedanken, es war so hell, dass sein Innerstes zu glühen schien. Warum war er nicht gleich auf die Idee gekommen? Wollte er nicht wenigstens ein Teil seines Schicksals in den Händen halten? Wollte er nicht bestimmen, wie seine Geschichte enden würde? Ein schwaches Lächeln, mehr konnte Chara nicht zustande bringen. Selbst wenn es nur eine Legende war, welche Rolle würde es dann spielen? Niemand würde nach ihm suchen, niemand würde ihn vermissen. Sein Vater würde meckern, aber mehr? Nein, so viel Energie würde der Mann nicht in sein ungewolltes Kind stecken. Auch dies hatte er Chara eines Abends wissen lassen, während sie beide ganz genüsslich an einer trockenen Entenkeule geknabbert hatten.   Verlockend lagen die Lebkuchen in seinem Körbchen und lachten ihn an. Nach all der Zeit des Verzichtens, des Hungerns, des Leidens: Warum nicht? Er hatte sich ohnehin immer öfter ausgemalt, wie es wäre, wegzulaufen. Wie es wäre, den ganzen Weg bis zum Berg zurückzulegen und für immer in seinem Inneren zu verschwinden? Da konnte er auch gleichzeitig sein letztes, leckeres Mahl genießen, nicht wahr? Sofort nahm Chara die Silbermünzen heraus und steckte sie in seine Hosentasche, sie fühlte sich sofort viel schwerer an. Dann nahm er einen der Lebkuchen heraus, konnte sein Glück kaum fassen – und biss hinein. Glückseligkeit erfüllt seine Seele, der Geschmack von Schokolade, Zimt und Lebkuchengewürz bereiten sich auf seiner Zunge aus. Schöne Dinge, die er schon lange nicht mehr hatte schmecken dürfen. Tränen liefen seine Wangen hinab und er wischte sie hastig mit seinem langen Ärmel weg. Dann folgte der zweite Lebkuchen, der dritte, der vierte. Hatte er die ersten beiden Lebkuchen mit großen Bissen und eiligem Kauen verschlungen, beim dritten und vierten gelang ihm das mit dem Genuss dann schon eher. Sofort wünschte er sich, er hätte ein wenig Wasser, um sich den Gaumen wieder anzufeuchten. Doch er hatte nichts dabei und der Schnee um sich herum, grau, matschig, war keine Alternative. Schließlich fanden, nachdem er diese ausgiebig gegessen hatte, auch die letzten Lebkuchen den Weg in seinen Magen. Chara wusste es natürlich besser und doch hatte er das Gefühl, als hätte er ein ganzes Menü verspeist. Schon lange hatte er nicht mehr so viel Nahrung auf einmal zu sich nehmen können! Zufrieden blickte Chara sich um, weder konnte er enttäuschte Kunden sehen noch seinen Vater mit rotem Gesicht und wehendem Gürtel. Chara hatte den ersten Schritt getan, am Ende war der Hunger doch zu groß gewesen. Und der nächste Schritt wartete auf ihn. Der Mount Ebott wartete auf ihn, wenn es denn sonst niemand tat. Er hatte seine Ware aufgegessen, anstatt sie in Geld umwandeln. Und wenn! Das spielte keine Rolle mehr! Erfüllt mit Energie und Entschlossenheit, ließ Chara den Korb neben sich fallen. Dorthin, wo er nun gehen würde, brauchte er diesen Korb nicht mehr. Sollte ihn doch jemand finden und behalten, das war Chara recht. Stattdessen, mit einem immer breiter werdenden Grinsen, machte Chara sich auf den Weg. Durchschritt die Fußgängerzone, verließ die Stadt und ließ die Menschheit wie auch seine Vergangenheit hinter sich. Vor ihm lag der Berg, die Monster die angeblich dort lebten und ein Schicksal, welches Chara noch nicht sehen konnte. Es war ihm mittlerweile egal, was mit ihm passieren würde. Ob er in dem Berg nun sein Ende fand oder in den Fängen der Monster geriet – es war alles besser als das, was er bis jetzt durchgemacht hatte. Und darauf freute er sich mit ganzem Herzen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)