Die starken fesseln der Sehnsucht von Luiako ================================================================================ Kapitel 1: Teil eins; Einen Funken zünden 1733 ---------------------------------------------- Teil eins; Einen Funken zünden 1733 Valletta, Malta Herbst 1733 Die beiden ausländischen Herren, die über Vallettas Marktplatz schlenderten, sahen so aus, als hätten sie Geldbeutel, die es sich zu stehlen lohnte. Wohl wissend, dass sie einen Jungen seiner Größe in der lärmenden Menge nicht bemerken würden, beschattete Nikolai sie unauffällig. Ein Stimmungsgewirr aus einem Dutzend oder noch mehr Sprachen umschwirrte ihn. Er kannte sie alle, und in den meisten konnte er sich auch verständlich machen. Valletta war der Knotenpunkt des Mittelmeers, wo sich Europa, Afrika und Asien begegneten und ihre Waren tauschten. Die Männer hatten die blasse Gesichtsfarbe von Nordeuropäern. Als Nikolai nahe genug an sie herankam, um ihr Gespräch zu hören, merkte er, dass sie Englisch sprachen. Das war eine der Sprachen, die er am besten beherrschte, da seine Mutter eine Vorliebe für englische Seeleute gehabt hatte. Andere Ausländer streiften auf dem Markt umher, doch diese beiden hatten das Auftreten und Aussehen reicher Herren – und waren dumm genug, allein und ohne Geleitschutz unterwegs zu sein. Sie würden von Glück sagen können, wenn sie wenigstens mit ihren Kleidern am Leib zu ihrem Schiff zurückgelangten. Nikolai folgte den Männern und schlüpfte hinter einen Eselkarren, um näher an seiner Beute heranzukommen. Seine Fähigkeit, unbemerkt zu bleiben, hatte es ihm in den Jahren nachdem Tod seiner Großmutter ermöglicht, nicht zu verhungern, auch wenn er es nur selten fertigbrachte, sich wirklich gut zu ernähren. Der größere Engländer, ein stämmiger Mann, dessen rötlich braunes Haar schon stark von grauen Fäden durchsetzt war, blieb stehen, um den Silberschmuck eines einheimischen Straßenhändlers zu bewundern. Er hob ein Paar filigrane Ohrringe auf. „Die würden meiner Frau gefallen, glaube ich.“ „In Griechenland haben wir bessere gesehen, Macrae“, bemerkte sein Begleiter, der kleiner und jünger war, von drahtiger Gestalt und wie ein Dandy angezogen. „Sag mir noch einmal, warum du so versessen darauf warst, in Malta haltzumachen.“ „Weil es eine Wohltat ist, für ein paar Tage wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.“ Nachdem Macrae sich mit dem Straßenhändler über den Preis geeinigt hatte, kaufte er zwei Paar Silberohrringe. „Außerdem hatte ich das Gefühl, dass wir hier etwas oder jemand Interessanten finden würden.“ „Das wohl kaum“, erwiderte der andere Mann verächtlich. Nikolai achtete nicht besonders auf die Unterhaltung, sondern war höchstens froh darüber, dass sie die Aufmerksamkeit seiner Opfer in Anspruch nahm. Als der größere Mann sich seinem Begleiter zuwandte, glitten Nikolais Finger leicht wie Schmetterlingsflügel in die rechte Rocktasche des Mannes. Ja, da waren Geldstücke… Plötzlich wurde Nikolai am Handgelenk ergriffen und sah sich von durchdringenden grauen Augen gemustert. Augen, die ihn ansahen, wie es niemand mehr getan hatte, seit seine Großmutter verstorben war. Nikolai wehrte sich erbittert, biss Macrae in die Hand und riss sich los, als der Mann fluchend seinen Arm losließ. So schnell er konnte, rannte Nikolai auf eine nahe Gasse zu. In der verschlungenen schmalen Seitenstraßen von Valletta würde er diese schwerfälligen Esel ruck, zuck abhängen können. Der kleinere Mann blaffte einige unverständliche Worte, worauf die Luft plötzlich seltsam prickelte und Nikolais Glieder ihm den Dienst versagten. Statt weiterlaufen zu können, schaffte er es kaum noch, sich auf den Beinen zu halten. Schwer atmend taumelte er gegen die Backsteine der Gassenwand. Er hatte sich nicht mehr so geschwächt gefühlt, seit er fast dem Fieber erlegen war, das auch seine Mutter ins Grab gebracht hatte. Macrae betrat die Gasse und legte die Hände auf Nikolais Schultern, bevor er sich bückte, damit ihre Augen auf gleicher Höhe waren. „Wir wollen dir nichts Böses“, sagte er in einigermaßen gutem italienisch. Nikolai spuckte ihn an, verfehlte merkwürdigerweise aber irgendwie sein Ziel. Macrae runzelte die Stirn. „Er scheint kein italienisch zu verstehen“, sagte er auf Englisch zu seinem Begleiter. „Ich wünschte, ich verstünde dieses miserable Arabisch, das die Einheimischen sprechen.“ Nikolai hielt sich nicht damit auf, erneut zu spucken, da es beim ersten Mal nichts genützt hatte, aber jetzt knurrte er wie ein Hund. Miserables Arabisch! Maltesisch war die uralte Sprache der Phönizier. Da sie nie alphabetisiert worden war, war sie die ureigene Sprache Maltas und natürlich ein Mysterium für unbedarfte Ausländer wie diesen hier. Der kleinere Mann, der hinter dem Rothaarigen stand, sagte trocken: „Bist du sicher, dass du mit einem tollwütigen jungen Hund wie diesem reden willst?“ Macrae nahm seine Hände von Nikolais Schultern und richtete sich auf. „Betrachte ihn mit den Augen des Sehers und frag mich das dann noch einmal!“ Die Augen des kleineren Mannes verengten sich vorübergehend, dann riss er sie verwundert auf. „Großer Gott, der Junge glüht förmlich vor Macht! Wenn er erwachsen ist, wird er ein vortrefflicher Magier sein.“ „Sofern er lange genug lebt und die entsprechende Ausbildung erhält“, entgegnete Macrae grimmig. „So wie er aussieht, ist er auf dem besten Weg zu verhungern.“ „Sprecht nicht von mir, als wäre ich nicht hier, Ihr Flegel!“, fauchte Nikolai. „Die Kreatur spricht Englisch“, stellte der kleine Mann voller Erstaunen fest. „Sein Akzent ist grauenhaft, aber er spricht recht fließend.“ „Nenn ihn nicht Kreatur!“, versetzte Macrae ärgerlich. „Er ist ein Junge, vermutlich jünger als mein Duncan. Er ist einer von uns, Jasper. Seine Macht fühlt sich anders an als alle, die ich kenne, doch sie ist real und beinhaltet große Möglichkeiten.“ „Vielleicht hat er afrikanisches Blut“, meinte Jasper. „Es liegt etwas davon in seinem Gesicht und seiner Hautfarbe wie auch in der Aura seiner Macht.“ Nikolai gewann seine Kraft zurück, aber er war immer noch gefangen zwischen den beiden Männern. Warum wurde das von niemanden bemerkt? Viele Leute gingen nur ein paar Schritte entfernt über den Platz und blickten nicht einmal in ihre Richtung. Magier, hatte einer der beiden Männer gesagt. Nikolais Großmutter hatte ihm erklärt, das Wort bedeutete Zauberer oder Medizinmann. Diese Männer hatten also offenbar Magie benutzt, um ihn zu stellen und dafür zu sorgen, dass niemand in ihre Richtung blickte. Nikolai schirmte seine Gedanken ab, wie Nona es ihm gelehrt hatte, und duckte sich unter Macraes Arm hindurch, um einen weiteren Fluchtversuch zu unternehmen. Doch wieder wurde er von einer starken Hand gepackt. „Sieh dir das an, Jasper! Der Junge verfügt über Barrieren, die stark genug sind, ihn vor der Sicht eines Magiers zu verbergen!“ „Entweder hat er schon eine Ausbildung genossen, oder er hat die Fähigkeit entwickelt, um zu überleben“, meinte Jasper nachdenklich. „Ich muss zugeben, dass er auch mein Interesse weckt. Aber was kann man mit einem so wilden Jungen wie dem hier anfangen?“ „Geben wir ihm zunächst einmal etwas zu essen.“ Der größere Mann fing Nikolais Blick auf. „Ich bin Macrae von Dunrath, und das ist Jasper Polmarric. Du hast schon immer gewusst, dass du anders bist, nicht wahr, mein Junge?“ Nikolai ging einen Moment mit sich zurate, ob er lügen sollte, bevor er widerstrebend nickte. „Auch wir sind anders“, fuhr Macrae fort. „Auf die gleiche Art wie du. Oder eine vergleichbare zumindest. Es gehört zu unseren Pflichten, anderen unserer Art zu helfen, wenn es nötig ist. Und das Mindeste, was du brauchst, ist eine anständige Mahlzeit. Möchtest du uns Gesellschaft leisten? Wenn du mein Bewusstsein anrührst, wirst du feststellen, dass ich dir nichts Böses will.“ Nikolai hatte Absichten schon immer gut durchschauen können, und bei Macrae konnte er keine Feindseligkeit spüren, was aber nichts bedeuten musste, da es auch noch andere Arten von Attacken gab. „Ich werde nicht Eure Hure sein!“ Statt mit Verärgerung zu reagieren, lächelte Macrae ihn an. „Ich habe kein Interesse an schmutzigen kleinen Jungen. Oder höchstens dann, wenn sie dein Potenzial besitzen. Gibt es hier eine Gaststube, wo wir ein gutes Essen bekommen und uns in Ruhe unterhalten können?“ Nikolai nickte und führte die beiden Männer durch die engen Gassen zu der besten Taverne am Wasser. Sie bot einen großartigen Ausblick auf den Hafen und war ein beliebter Treffpunkt für Schiffoffiziere und Kaufleute. Natürlich hatte er hier noch nie gegessen, aber manchmal holte er sich Reste an der Hintertür. Der Wirt runzelte die Stirn, als er Nikolai hereinkommen sah, doch der offensichtliche Reichtum der Engländer bewahrte ihn vor einem Rauswurf. Jasper blieb am Tresen stehen, um Essen und Getränke zu bestellen, während Macrae Nikolai zu einer stillen Nische im hinteren Teil des Gastraums führte. Nikolai ließ sich nicht gern bevormunden, aber der verlockenden Gerüche wegen nahm er es diesmal klaglos hin. Er hätte vieles ausgehalten, um sich ein Mal an den besten Gerichten der Taverne satt essen zu können. Außerdem wollte er wissen, was diese Männer von ihm wollten. Macrae saß rechts von Nikolai, Jasper Polmarric zu seiner Linken. Obwohl sie ihm genug Platz ließen, war klar, dass sie ihn daran hindern konnten fortzulaufen, falls er es versuchte. Aber er spürte nach wie vor keine Gefahr von ihnen ausgehen, nur ein ausgeprägtes Interesse. „Wie heißt du?“, fragte ihn Macrae. „Du kannst auch lügen, wenn du willst, doch ich möchte einen Namen hören, um dich ansprechen zu können.“ Bei einer solchen Fragestellung machte Lügen keinen Spaß. „Nikolai Gregorio.“ „Russisch und Italienisch?“, fragte Polmarric. „Hast du auch afrikanisches Blut?“ „Ein bisschen.“ Mindestens zu einem Viertel, aber er kannte nicht alle seine Verwandten. Nikolais Großmutter war eine reinblütige Afrikanerin gewesen, sein Großvater Malteser, und wer sein Vater war, hatte seine Mutter ihm nie sagen können. Vielleicht ein Italiener, ein Grieche oder sogar ein Engländer. Das war schwer zu entscheiden. Dass seine Mutter den Namen Nikolai gemocht hatte, machte ihn noch lange nicht zu einem Russen. Die Unterhaltung stockte, als ein Schankmädchen mit einem Krug Wein und drei Bechern herüberkam. Das Tablett enthielt auch einen Laib Sauerteigbrot, ein Stück Käse und einen Teller marinierten Fisch. Mit kaum noch zu bändigendem Hunger nahm sich Nikolai ein Stück Fisch und schlang es herunter, während er gleichzeitig ein Stück Brot von dem Laib abriss. Mit dem Messer, das auf dem Tablett lag, hackte er eine Ecke Käse ab und stopfte sie sich zusammen mit einem Stückchen Brot in den Mund. Die Schärfe des Ziegenkäses hinterließ einen herrlich würzigen Geschmack auf seiner Zunge. „Nicht sehr zivilisiert“, bemerkte Polmarric auf Französisch und beobachtete die Vorgänge mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination. „Sei froh, dass du nie so hungrig warst!“ Macrae schenkte den Rotwein ein und probierte einen Schluck. Obwohl er Polmarric auf Französisch geantwortet hatte, wechselte er nun wieder ins Englische, um mit Nikolai zu sprechen. „Iss, so viel du willst, mein Junge, aber vielleicht wäre es klüger, es langsamer zu tun. Wenn du dir zu viel auf einmal zumutest, hast du bald wieder einen leeren Magen.“ Das klang vernünftig. Nikolai aß noch ein Stück Brot und Käse und griff nach seinem Wein, um es herunterzuspülen. Es war ein leichter Tischwein, wohlschmeckend und vermutlich extra ausgewählt, um einen Jungen nicht zu Kopfe zu steigen. Das war ein weiteres Anzeichen für gute Absichten, denn das war sicher nicht der Wein, den sie bestellen würden, wenn sie ihn betrunken machen wollten. Die Schankmagd kam mit drei Tellern fenek zurück. Wieder langte Nikolai tüchtig zu. Seit seine Großmutter nicht mehr lebte, hatte er kein gutes fenek mehr gegessen. Die Ausländer nahmen sich wesentlich mehr Zeit zum Essen. „Das Kaninchen ist gar nicht schlecht“, bemerkte Polmarric. „Schmorr einen Stiefel in so viel Wein, und er würde genauso gut schmecken“, erwiderte Macrae, aber auch er griff tüchtig zu. Nachdem Nikolai zwei Stücke des geschmorten Kaninchens verputzt hatte, lehnte er sich zufrieden auf der Bank zurück. Nun, da der Hunger vorläufig gestillt war, kehrte seine Neugierde zurück. „Ihr sagt ihr wärt anders, Inwiefern?“ Macraes Blick glitt durch den Gastraum, um sich zu vergewissern, dass niemand an ihre abgelegene Nische hineinsehen konnte. Als er sicher war, dass sie ungestört waren, hob er eine Hand, und Lichtfunken sprühten darum herum wie goldenes Feuerwerk. Dann hob er die tanzenden Lichter auf und ließ sie vor Nikolai herunterregnen. Entzückt versuchte der Junge, die goldenen Funken aufzufangen, die mit einem kühlen Kribbeln aber auf seiner Hand zerfielen. „Magie“, flüsterte er. Er hatte gedacht, alle Magie wäre aus der Welt verschwunden als seine Großmutter gestorben war. „Wir nennen das normalerweise Macht“, sagte Macrae mit gedämpfter Stimme. „Das ist ein weniger alarmierender Begriff als Magie. Polmarric und ich sind beide Wächter – Mitglieder von Familien, die über große Macht verfügen. Wächter gibt es in sämtlichen europäischen Nationen, und wir alle haben geschworen, unsere Fähigkeiten zu benutzen, um anderen zu helfen und keinen persönlichen Gewinn daraus zu ziehen.“ „Was für eine Art Magie – oder Macht – habt ihr?“ Nikolai versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie brennend ihn das interessierte. Polmarric warf seinem Begleiter einen warnenden Blick zu. „Bist du sicher, dass du so viel über uns erzählen willst?“ „Er muss es wissen.“ Macrae wandte sich wieder Nikolai zu. „Es gibt viele Dinge, die alle Wächter bis zu einem gewissen Grad bewirken können. Wir können heilen, die Energien anderer Menschen lesen, uns abschirmen oder Licht erzeugen. Die meisten Wächter sind auch auf irgendeinem besonderen Gebiet befähigt. Ich zum Beispiel bin ein Wettermagier und kann Winde und Stürme beeinflussen. Es ist ein Talent, das in unserer Familie liegt. Mein Freund Polmarric hier verfügt über enorme Fähigkeiten auf dem Gebiet mentaler Kommunikation.“ „Ihr sagt, Ihr hättet geschworen, Menschen zu helfen. Was hindert Euch dann daran, Könige zu werden? Obwohl Ihr ja auch so schon gar nicht schlecht zu leben scheint“, sagte Nikolai mit einem vielsagenden Blick auf die aufwendige Kleidung der beiden Männer. „Es ist schwerer, König zu werden, als manche vielleicht denken“, entgegnete Macrae spöttisch. „Im Laufe der Jahrhunderte haben wir gelernt, dass es besser ist, sich nicht zu oft in Angelegenheiten der weltlichen Gesellschaft einzumischen, weil die Folgen unvorhersehbar sind - und gewöhnlich schlimmer, als man glaubt. Unter uns wahren wir dir Ordnung durch nationale Wächterkonzile. Seiner Kommunikationstalente wegen wird Polmarric voraussichtlich ein Mitglied dieses Rates werden, sobald ein Platz frei wird. Wenn irgendeiner von uns zu einem schwarzen Schaf unter den Wächtern wir und andere verletzt… Nun, dafür haben wir spezielle Magier, die die Fähigkeiten besitzen, Böses zu entdecken und der Ordnung Geltung zu verschaffen.“ Nikolai brach ein Stück Brot ab und tunkte es in die Sauce des Kaninchenbratens. Was Macrae sagte, klang für ihn, als wären die Wächter eine große, geheime Familie, die sowohl über Macht als auch über Weisheit verfügte. In Erinnerung an seine Großmutter fragte er: „Sind die Magier alles Männer?“ „Keineswegs. Frauen können genauso mächtig oder sogar noch mächtiger als männliche Magier sein. Meine Frau zum Beispiel ist eine sehr begabte Heilerin. Und Polmarrics Gattin ist die beste Finderin in England, denke ich.“ Macrae schwieg einen Moment, als überlegte er, was noch gesagt werden musste. „Die volle Macht erlangt man normalerweise erst als Erwachsener, bei außergewöhnlich Talentierten ist es allerdings nichts Ungewöhnliches, wenn sie schon in ihrer Kindheit magische Fähigkeiten erkennen lassen. Mein Sohn Duncan trägt sie in sich, und du anscheinend auch, mein Junge.“ Nikolai starrte auf seinen leeren Teller und versuchte, das Gesagte zu verarbeiten. „Warum erzählt Ihr mir das alles?“ „Weil du Hilfe zu brauchen scheinst.“ Macrae sah müde aus, und Nikolai merkte jetzt, dass er älter war, als er vermutet hatte. „Es gibt zu viele heimatlosen Kinder auf der Welt, um alle retten zu können. Aber du bist von unserer Art, und deshalb habe ich die Verpflichtung zu versuchen, dir zu helfen.“ „Und wie?“ „Eine Möglichkeit wäre, in einer Schule in Valletta einen Platz für dich zu suchen, wo du ernährt und gekleidet würdest und lesen und schreiben lernen könntest.“ „Ich kann schon lesen und schreiben“, erwiderte Nikolai angriffslustig. Macraes Augenbrauen fuhren in die Höhe. „Beeindruckend. Wie hast du das gelernt?“ Nikolai zuckte mit den Schultern. „Meine Großmutter hatte ein Gasthaus unten am Wasser, dort hat sie einen sterbenden englischen Schiffoffizier gepflegt, der mich als Gegenleistung unterrichtete. Und der alte Smithy brauchte ganz schön lange, um zu sterben.“ Lange genug, um Nikolai das Rechnen, Lesen, Schreiben und sogar etwas über Geschichte beizubringen. „Du lernst schnell“, bemerkte Polmarric. „Dein englischer Akzent hat sich während unserer Unterhaltung schon verbessert. Fast so, als könntest du die Sprache unserem Verstand entnehmen. Kannst du Gedanken lesen?“ Nikolai verzog misstrauisch das Gesicht, und fragte sich, wie der Engländer das herausgefunden hatte. Er konnte nicht wirklich Gedanken lesen, aber manchmal erspürte er Antworten, die Menschen, die tadelloses Englisch sprachen, verbesserte tatsächlich seine eigene Ausdrucksweise. „Smithy sagte, ich sei schlau.“ „Ein schlauer Junge mit Macht wäre in einer hiesigen Schule vielleicht nicht sicher, solange die Johanniter über Malta herrschen“, bemerkte Polmarric. „Diese Leute sind bekannt dafür, dass sie Magier der Inquisition ausliefern.“ „Das ist mir bewusst“, sagte Macrae. „Was du also wirklich brauchst, ist eine Familie, Nikolai. Menschen, die dich gernhaben und die auch du gernhaben kannst.“ Eine Familie. Nikolai senkte den Blick, um die Fremden nicht die entwürdigende Feuchtigkeit in seinen Augen sehn zu lassen. Seine Familie war klein, aber immer für ihn da gewesen. Doch nun, da seine Mutter und Großmutter nicht mehr lebten, hatte er geglaubt, für immer allein zu sein. Der Gedanke an ihren Verlust schnürte ihm heute noch die Kehle zu und machte ihm das Schlucken fast unmöglich. „Wie können eine Wächterfamilie in Italien oder Frankreich suchen, die dich als Ziehkind aufnimmt, falls du lieber in der Nähe deiner Heimat bleiben willst. Wenn du jedoch bereit wärst, nach Norden mitzukommen, nehme ich dich mit zu mir nach Hause und ziehe dich mit meinen eigenen Kindern auf“, erklärte Macrae ruhig. Nikolai hon den Kopf und starrte ihn an. „Das würdet Ihr tun?“ Polmarric, der nach Luft geschnappt hatte, als er die Worte seines Freundes hörte, sagte auf Französisch: „Willst du diesen kleinen Wilden allen Ernstes in dein eigenes Heim mitnehmen?“ In der gleichen Sprache erwiderte Macrae: „Ich bin Schotte und selbst gar nicht so zivilisiert.“ Dann suchte er Nikolais Blick und wechselte ins Englische. „Du brauchst ein Zuhause, und meinem Sohn Duncan würde es guttun, einen anderen Jungen mit magischen Fähigkeiten und Macht im Haus zu haben. Mein kleiner Sohn ist so viel jünger als er, dass er noch kein guter Gefährte für ihn ist.“ Nikolai ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen, und obwohl er seine Heimat nur ungern verließe, fand er die Möglichkeiten doch sehr aufregend. „Ihr würdet mich zu einem Gentleman machen?“ Macrae nickte. „Du würdest das gleiche Essen, die gleiche Kleidung und Erziehung erhalten wie mein Sohn. Vor allem aber wirst du die Ausbildung genießen, die du brauchen wirst, wenn dein Talent sich offenbart. Du verstehst bereits, gewisse Anlagen zu nutzen, aber deine Fähigkeiten werden erst richtig zutage treten, wenn du das Mannesalter erreichst. Ohne Ausbildung riskierst du, dir selbst und anderen Schaden zuzufügen. Du wärst natürlich nicht der Erbe meines Familiensitzes Dunrath, aber wir Wächter haben die Mittel, um jungen Männern und Frauen in deiner Situation beim Aufbau einer Existenz zu helfen. Du wirst also mein Pflegesohn und ein Gentleman sein. Meine Frau wird dich sehr gern bei uns aufnehmen.“ Auf Französisch sagte Polmarric: „Da deine Frau ja ständig herrenlose Hündchen mit nach Hause bringt, wird einer mehr sie wohl kaum stören. Obwohl dieser Junge natürlich erheblich mehr Arbeit als ein Welpe machen wird.“ „Und er wird auch viel lohnender sein“, erwiderte Macrae gelassen. „Ich weiß das ich das richtige tue, Jasper.“ Nikolai zerrupfte mit nervösen Fingern ein Stück Sauerteigbrot. Seine Großmutter hatte ihm einst vorausgesagt, dass er einmal ein Gentleman sein würde. Natürlich hatte er darüber gelacht, weil er sich nicht hatte vorstellen können, im Leben eine andere Stellung als die eines gewöhnlichen Matrosen einzunehmen. Er hätte jedoch wissen müssen, dass seine Großmutter keine solchen Fehler unterliefen. Wehmütig dachte er an ihr dunkles, altersloses Gesicht. Ihr Grab und das seiner Mutter zu verlassen, würde schmerzlich sein, aber beide hätten ihm dazu gedrängt, diese einmalige Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Macrae wollte ihm nichts Böses, dessen war sich Nikolai inzwischen sicher. Er umklammerte das Brot in seiner Hand und zerdrückte es zu einer formlosen Masse. „Ich werde mit Euch kommen und Euer Sohn sein“, sagte er zu Macrae. Der Schotte lächelte. „Das freut mich, Nikolai. Und du wirst sicher auch sehr froh darüber sein.“ Der pure Schalk sprach Nikolai aus den Augen, als er Polmarric ansah und auf Französisch zu ihm sagte: „Und Ihr braucht eine andere Sprache, wenn Ihr vertraulich vor mir reden wollt.“ Es sprach für Polmarric, dass er in Macraes Lachen einstimmte. Männer, die lachen konnten, und so viel Essen, wie er wollte … Seine Vorfahren hielten ihre Hand über ihn. Nikolai schnitt sich noch ein Stück Käse ab und versuchte, sich vorzustellen, wie er in der Kleidung eines Gentlemans aussehen würde… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)