Ein vertrautes Gesicht von Kerstin-san ================================================================================ Kapitel 1: Ein vertrautes Gesicht --------------------------------- Es dauert eine Weile, bis Peter bewusst wird, dass er einem bestimmten Geräusch folgt. Das rhythmische Klicken des Blindenstocks verstummt vor einer roten Ampel und bringt auch Peters Füße zum Stillstand. Verdutzt schaut er auf und beim vertrauten Anblick der Person vor ihm, die eine Aktentasche mit sich herum trägt, scheint sein Herz kurz auszusetzen, ehe es plötzlich zu rasen beginnt. Mr. Murdock! ist sein sein erster Gedanke, gefolgt von einem Verdammt, schon wieder?, denn es ist nicht das erste Mal, seit dem Vorfall mit dem Vergessenszauber, dass Peters Füße ihn unbewusst zu Menschen führen, die er von früher kennt. Sogar Dr. Strange selbst und dem obersten Zauberer Wong ist er seitdem schon begegnet - natürlich ohne dass die beiden ihn wiedererkannt haben. Als Doctor Strange ihn vor dem Sanctum Sanctorum angesprochen hat, vor dem Peter sich auf einmal wiedergefunden hat, hat er so sehr gestottert, dass der Magier ihn für einen völlig überwältigten Superheldenfan gehalten hat. Dass Peter ihn aus Versehen auch noch geduzt hat, hat die Sache nicht besser gemacht. Während der ehemalige Neurochirurg auf sein Gestammel und seine Entschuldigungen sichtlich entnervt reagiert hat, hatte Wong eher Mitleid und hat Peter kurzerhand eine Autogrammkarte in die Hand gedrückt. Er hat es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen, sondern hat die Karte stattdessen an eine kahle Wand seines Apartments geklebt, wo ihn Wongs ernster Gesichtsausdruck nun jedes Mal begrüßt, wenn er zu seinem Kühlschrank geht. Neben seiner Star Wars-Legofigur, die ihn an Ned erinnert, wann immer er sie ansieht, ist das so ziemlich die einzige Dekoration, die es bisher in seiner Wohnung gibt. Er hat bisher einfach nicht genug Zeit gehabt, um sich besonders wohnlich einzurichten, obwohl er schon einige Wochen hier lebt. Peter büffelt hart, um seinen GED nachzuholen und schwingt weiterhin als freundlicher Spider-Man durch die Nachbarschaft. Zusätzlich hat er verschiedene Aushilfsjobs angenommen, um sich irgendwie über Wasser zu halten und seine Miete zahlen zu können. Außerdem sind es nur noch wenige Wochen, bis Ned und MJ nach Massachusetts ziehen werden und er versucht die beiden so oft wie möglich zu sehen, ohne wie ein vereinsamter Einzelgänger oder ein seltsamer Stalker zu wirken. Wenn er an MJs zunehmend argwöhnische Blicke denkt, mit denen sie ihn mustert, wenn er wieder einmal einen Kaffee bestellt und sich bemüht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, ist er sich allerdings nicht sicher, wie erfolgreich er damit ist.   Vor ihm springt die Fußgängerampel auf Grün und wie einige andere wartenden Passanten, setzt sich auch Mr. Murdock wieder in Bewegung. Peter folgt ihm, während er seine Umgebung nun etwas genauer mustert. Das ist nicht mehr Queens, wird ihm klar, sondern Hell's Kitchen. Abwesend fährt er sich durch seine braunen Haare. Eigentlich logisch. Die Kanzlei von Mr. Murdock ist schließlich in Hell's Kitchen und da der Anwalt mit seiner Aktentasche unterwegs ist, ist er bestimmt auf den Weg in sein Büro. Peter wirft einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr und beißt sich auf seine Lippe. Wie lange er dem blinden Anwalt wohl schon durch die Straßen folgt, nachdem er das Café, in dem MJ arbeitet und wo er sich einige Donuts zum Frühstück geholt hat, verlassen hat? Gedankenverloren mustert er Mr. Murdock, der sich, ohne zu zögern, seinen Weg durch die Menschen bahnt und so selbstverständlich Hydranten, unangeleinten Hunden oder anderen Fußgängern ausweicht, dass man gar nicht auf die Idee käme, dass er blind ist.   Unweigerlich denkt Peter an das erste Treffen mit Mr. Murdock und die darauf folgenden Gespräche zurück. Er weiß bis heute nicht, wieso der Anwalt einfach so auf dem Polizeirevier aufgetaucht ist. Niemand hatte ihn engagiert. Er war auf einmal einfach da und hat die anwesenden Beamten höflich, aber sehr bestimmt darauf hingewiesen, dass Peter und den anderen rechtlicher Beistand zusteht und wie problematisch es wäre, falls sich heraus stellen sollte, dass es versäumt worden wäre, die Beschuldigten auf die ihnen zustehenden Rechte hinzuweisen. „Ich nehme doch an, dass Miranda vs. Arizona Ihnen ein Begriff ist, oder?“, hat er den leitenden Beamten freundlich gefragt, als der Peter gerade erneut in die Mangel nehmen wollte. Zu Peters großer Überraschung wurde das Verhör daraufhin auf später verschoben und er hatte Gelegenheit, sich mit Mr. Murdock zu beratschlagen und zu entscheiden, ob er ihn als seinen Rechtsbeistand akzeptiert. Peter war anfangs misstrauisch. Dass er Mysterio auf den Leim gegangen ist, ist ihm die ganze Zeit durch den Kopf gespukt und er wollte nicht, dass seine Gutgläubigkeit ein zweites Mal ausgenutzt wird. Was, wenn der Anwalt sich nur profilieren wollte? Aber irgendetwas an Mr. Murdocks Art mit ihm zu sprechen und umzugehen, hat dazu geführt, dass er seine Zweifel abgelegt hat. Peter hatte das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Während er völlig verzweifelt war, weil sein Leben in Trümmern lag und er sein ganzes Umfeld in diese Sache mit hineingezogen hatte, hat Mr. Murdock einen kühlen Kopf bewahrt. Er hat ihn auch nicht von oben herab behandelt, sondern hat Peter erst einmal alles erzählen lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Etwas, das Peter ungemein gut getan und ihm geholfen hat, sich zu sortieren. Und er hat ihm geglaubt. Das war das Überraschendste von allem. Mr. Murdock hat ihm sofort geglaubt. Ganz egal, wie absurd Peters Erzählung von Mysterio und den Illusionen klang. Er hat ihm die Geschichte sofort abgekauft, hat ihm nicht mal wütend die Leviten dafür gelesen, wie leichtsinnig er mit der ihm anvertrauten Stark Technologie umgegangen ist oder ihn gemaßregelt, weil er sein Vertrauen in die falschen Leute gesetzt hat. Er hat ihm zwar gesagt, dass es sehr unüberlegt war, wie er gehandelt hat, aber ohne, dass Peter das Gefühl hatte, dass er ihn verurteilt oder für einen naiven Teenager hält. Mr. Murdock hat ihm zugehört, sich Notizen gemacht und ihn, May, Ned und MJ aus dem Schlamassel rausgeboxt, in den sie alle dank Peter unüberlegten Entscheidung erst gekommen sind. Und er wollte nicht mal Geld für seine Dienste. Weder er noch sein Partner wollten Mays Angebot, alles in Raten abzustottern, annehmen. Gerade Mr. Nelson schien fast beleidigt zu sein, dass May das Thema mehr als einmal angeschnitten hat. Die beiden wollten einfach nur helfen. Peter kämpft gegen das Brennen in seinen Augen. Und jetzt kann Mr. Murdock sich nicht mal mehr daran erinnern, was er für Peter, dessen Familie und seine Freunde getan hat.   „Du Idiot, pass doch auf!“ Die lauten Worte reißen Peter abrupt aus seinen Gedanken und er macht einige schnelle Schritte auf Mr. Murdock zu, der gerade mit einem anderen Fußgänger zusammengestoßen ist, unbeholfen zur Seite stolpert und seine Ledertasche fallen lässt, um mit rudernden Armen sein Gleichgewicht wiederzufinden. „Warten Sie, Mr. Murdock! Ich helfe Ihnen!“ Eilig bückt Peter sich nach der braunen Tasche vor ihm, während der andere Passant, immer noch vor sich hin fluchend, einfach weitergeht. Peter wirft einen prüfenden Blick auf den Gehweg, aber es sieht nicht so aus, als wäre irgendetwas aus der Aktentasche herausgefallen. „Hier, bitte.“ Er drückt die Tasche Mr. Murdock in die Hand, der der mittlerweile wieder fest auf beiden Füßen steht und seinen Kopf in Peters Richtung gewandt hat „Vielen Dank“, antwortet Mr. Murdock. Seine Finger gleiten tastend über die Schnalle und der Anwalt atmet erleichtert aus, als er feststellt, dass sich die Tasche bei ihrem unsanftem Aufprall nicht geöffnet hat. Peters Blick bleibt derweil an den aufgeschürften Handknöcheln seines Gegenübers hängen. Es ist ein seltsam vertrauter Anblick, denn auch bei den zahlreichen Gesprächen, die Mr. Murdock mit ihm geführt hat, kam es oft vor, dass der Anwalt frische Verletzungen an den Händen oder im Gesicht hatte. Er muss ein schrecklich ungeschickter Mensch sein, der in schöner Regelmäßigkeit in Möbel hineinrennt oder sich an hervorstehenden Ecken stößt, was allerdings so gar nicht zu der selbstsicheren Art passen will, mit der er sich über New Yorks Gehwege bewegt. Andererseits: Was weiß Peter schon vom Blindsein? Vielleicht macht es einen entscheidenden Unterschied, ob man sich in engen Räumen oder auf weitläufigen Straßen bewegt? Eine andere Erklärung wäre, dass Mr. Murdock auffällig oft ein Opfer von Raubüberfällen wird, weil Kriminelle in einem blinden Mann ein leichtes Ziel sehen. Bei dem Gedanken daran, wie viel Unrecht tagtäglich geschieht, ballt Peter seine Fäuste. Auch Spider-Man kann nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein, um alle Verbrechen zu verhindern, so gerne er das auch täte. Dennoch: Vielleicht sollte er zukünftig einen genaueren Blick auf Mr. Murdock werfen? Bei seinen Patrouillen etwas öfter in dieser Gegend vorbeischauen? Ein „Kennen wir uns?“ reißt Peter aus seinen Grübeleien und sein Magen macht einen nervösen Satz, ehe ihm bewusst wird, dass der Anwalt darauf anspielt, dass er ihn gerade mit seinem Namen angesprochen hat. Nichts deutet darauf hin, dass er Peters Stimme als die seines früheren Mandanten wiedererkennt. „Nicht direkt“, antwortet er vorsichtig, während Mr. Murdock seinen Kopf leicht zur Seite neigt, als würde er versuchen, besser zu hören. Redet Peter etwa zu leise? „Sie haben vor einiger Zeit einigen Freunden von mir aus der Klemme geholfen“, sagt er daher etwas lauter. „Sie sind...“ Peter schluckt und atmet zittrig aus, während ihm zu seiner eigenen Überraschung einige Tränen in die Augen steigen, die Mr. Murdock zum Glück nicht sehen kann. „Sie sind ein sehr anständiger Mensch.“ Mr. Murdock wirkt überrascht und legt den Kopf schief, während er Peter ansieht. Nun ja, nicht ansieht, schließlich ist er blind, aber wenn er sehen könnte, würde er Peter jetzt genau in die Augen starren. „Na ja, das wollte ich Ihnen nur sagen, jetzt, wo ich Sie hier zufällig treffe“, fährt er hastig fort, froh, dass seine Stimme nicht zittert und seine wahren Gefühle verrät. Eilig wischt er sich über die Augen. „Sie tun sehr viel Gutes, helfen Leuten, die sich keinen Anwalt leisten können und... Das bedeutet einer Menge Leute sehr viel.“ Peter zuckt etwas unschlüssig mit den Achseln. „Also danke.“ Auf Mr. Murdocks Gesicht breitet sich ein schiefes Lächeln aus. „Man tut, was man kann, um seiner Stadt und ihren Leuten zu helfen“, wiegelt er ab und wirkt angesichts Peters Lobeshymne fast etwas beschämt. Unweigerlich lächelt Peters zurück und nickt eifrig. Das ist etwas, was er nur zu gut nachvollziehen kann. „Ja. Ähm, ich will sie auch gar nicht länger aufhalten, Mr. Murdock. Sir“, stammelt er. „Sie haben sicherlich viel zu tun. War jedenfalls schön, sie zu sehen.“ Wieder hebt sich der Mundwinkel seines Gegenübers an. „Ich würde gerne das Selbe behaupten, aber...“ Er gestikuliert zu seiner Brille und Peters Magen macht erneut einen Satz. Diesmal allerdings vor Entsetzen. „Oh Gott. Nein! So meinte ich das nicht. Tut mir schrecklich leid, Mr. Murdock!“, stottert er, aber das Auflachen des Anwalts lässt ihn verstummen. „Schon gut. Schon gut“, winkt er amüsiert ab. „Ich weiß, wie es gemeint war.“ Peter atmet erleichtert auf. „Gut. Das ist gut. Und äh, richten Sie Mr. Nelson und Miss Paige auch ein Dankeschön aus, ja?“, sagt er. „Gerne. Und von wem?“ Oh. Stimmt. „Entschuldigen Sie, wie dumm von mir“, murmelt er. „Von Peter“, sagt er nach kurzem Zögern. „Peter Parker.“ Sein Herz hämmert wie wild, er ist ähnlich angespannt wie zu Beginn seines Gesprächs mit Mr. Murdock, aber wie nicht anders zu erwarten, zeigt der Anwalt kein Zeichen des Erkennens, als er den Namen hört. Peters Schultern sacken unweigerlich etwas herab. Was hat er auch erwartet? Dass bei Mr. Murdock etwas anderes geschieht, als bei Ned und MJ? Dass er sich an ihn erinnert, obwohl es weder Wong, Doctor Strange oder Happy tun? Warum sollte das der Fall sein? Trotzdem versetzt die Tatsache Peter einen Stich. Was für eine blöde Reaktion. Er sollte sich vielmehr freuen, dass der Vergessenszauber so gut funktioniert. Er hat gewusst, worauf er sich einlässt und war bereit, den Preis zu zahlen, um die Welt zu retten und seine unüberlegten Taten wieder gut zu machen. Und dennoch... Matt Murdocks Stimme reißt ihn aus seinen Überlegungen. „Also gut, Mr. Parker. Ich werde es den beiden ausrichten. Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Er streckt Peter zum Abschied seine Hand entgegen, die dieser eilig ergreift, um den festen Händedruck zu erwidern. „Auf Wiedersehen, Mr. Murdock und... vielleicht sieht man sich ja mal wieder“, fügt er etwas zögerlicher hinzu. Der Anwalt tippt lächelnd seine Brille an und diesmal gerät Peter nicht in Panik, sondern lacht kurz auf. „Vielleicht, Mr. Parker, man kann nie wissen. Sollten Sie je einen Anwalt brauchen: Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“ „Ich weiß, Mr. Murdock. Sie wären jederzeit meine erste Wahl“, sagt Peter aufrichtig. „Sie... Sie sind nicht nur irgendein Anwalt.“ Er zögert kurz, ehe er einem plötzlichen Impuls folgend noch einige Worte hinzusetzt. „Sie sind ein sehr guter Anwalt“, bekräftigt er. „Sie sind sogar ein verdammt guter Anwalt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)