Herz aus Eis von Ganondorf (Fanfiction-Adventskalender 2022) ================================================================================ Kapitel 1: Herz aus Eis ----------------------- Kaufhäuser waren einst Wirtschaftswunder. Boomten. Heute geht vieles Online. Doch es gibt in den Städten noch die Betonriesen. Sie erstrecken sich über mehrere Etagen, manche sind berühmt und einmalig. Andere findet man in vielen Großstädten unter dem gleichen Namen wie manche Bäckereien. Lebensmittel, Mode, Spielzeug, Schreibwaren, Parfüm, Haushaltswaren, Leder, sogar kleine Ecken mit dem nötigsten fürs Nähen. Saisonabhängig wird mit dem neuesten Trend geworben, damit das eigene Heim aufgehübscht werden kann. Während der Weihnachtszeit sind geschmückte Tannenbäume in den Kaufhäusern nichts Ungewöhnliches. Natürlich mit unechten Geschenken doch echtem Baumschmuck mit Preisschild. Da kostet eine faustgroße Baumkugel auch gerne mal zwanzig Euro oder mehr. Egal aus welchem Material. An Hässlichkeit ist manch Baumschmuck nicht zu übertreffen. Ob elegant, schlicht oder glitzernd. Quadratisch, oval, rechteckig, geometrische Formen gibt es ebenso zuhauf wie Figuren. Was sich in Kaufhäusern jedoch nie ändert ist die Wärme. Ein kleines bisschen der Kälte entfliehen. Sich aufwärmen, Dinge ansehen die man früher gehabt hatte. Nur ein bisschen Wärme... Hinterm Firmengebäude kann man nicht nur in Ruhe eine qualmen, es ist – neben den Küchen – auch der einzige Ort an dem sich Neuigkeiten herumsprechen. Klatsch und Tratsch. Manni nimmt einen tiefen Zug und versucht sich ein Lachen zu verkneifen. Nicht des Gesagten wegen, mehr wegen seiner Voraussicht. Er hatte es vor einem halben Jahr schon gewusst, doch ihre Runde hatte ihn nur ausgelacht. Jetzt war er derjenige, der beinahe lachte. Gisela bewegte ihre Hand in einer Bewegung, die an ein Kugelstoßpendel erinnerte. Sie tat es nur beim Rauchen und auch nur dann, wenn ihr etwas auf der Zunge lag. Bald würde sie einen Kommentar abgeben. Tomas und Ingo diskutierten lieber über die Firmenaktien und malten sich schon ein tolles Rentenleben aus. Sie hatten vor in wenigen Monaten weitere Aktien zu kaufen. Yvonne zündete sich ihre zweite Zigarette an. Was bleibt vom Tag? Egal wie stumm man auch war und wartete, was bleibt vom Tag? Es hatte lange gedauert herauszufinden, wo es sich lohnte. Wo mehr Betrieb war. Natürlich auch alles Saisonabhängig. Selbst in der belebtesten Innenstadt konnte man nach Stunden nichts im Becher haben. Nicht ein verdammter Cent. Menschen ansprechen war nie ein Problem gewesen. Nie. Damals. Im Job nicht. Das erste Mal auf der Straße überwog die Scham. Lange. Sehr lange. Zwei Jahre. Von... Viel zu vielen Jahren. Unten in der Lebensmittelabteilung kann man sich all das kaufen, was man wollte. Solange man das nötige Geld dafür besaß. Bei Bedarf eine Pizza essen, frisch zubereitet oder asiatisch schlemmen. Wein gibt es auch. Teuer. Alles viel zu teuer. Zwei Euro und dreiundvierzig Cent sind alles, was seit einer Woche zusammengekommen ist. Die Menschen waren auch großzügiger. Doch jedes Jahr ist anders, die Menschen sind anders und die einzigen die man immer wieder sieht, die man irgendwie „kennt“ sind jene Menschen der Wärmestuben, des Mitternachtsbusses. Was also mit dem Geld anfangen? Wofür ausgeben? Ein Riegel mit Nüssen? Eine Tafel Schokolade? Bonbons? Eigentlich wären einige belegte Brötchen toll. Doch bei der Kälte draußen werden sie so schnell hart, dass sie am nächsten Tag weggeworfen werden müssen. Toast? Zu teuer, da fehlen einige Cents. Und nur Toastscheiben, so trocken und nach Pappe schmecken, dann das Geld doch lieber sinnvoll investieren. Eine Packung Wurst ist im Sonderangebot. Doch zwei davon übersteigern das Budget. „Sie sind zu teuer.“ Es hatte Yvonne vor einer Woche getroffen. Gleiche Begründung. Sie war im Chefbüro zusammengebrochen. Jetzt war man selbst dran. Dabei hatte nichts darauf hingedeutet, dass es der Firma schlecht geht. Also verhandelt man. Bietet an weniger zu arbeiten in der Woche. Ne, würde nicht funktionieren, man habe schon „alles nur erdenkliche“ durchgerechnet aber trotzdem klappt es nicht. Es ist wie es ist, aber man würde schon einen neuen Job finden. Der Markt ist groß und Personal vom Fach überall gesucht. Überall. Nur nicht hier. Leck mich doch. Es gibt keine Familie. Weder im In- noch im Ausland. Und wenn, dann ist man zerstritten. Die Tante mütterlicherseits nie kennengelernt, da war wohl was in der Jugendzeit vorgefallen. Großeltern, ach, die leben auch schon lange nicht mehr. Die eigenen Eltern verstorben, keine Geschwister. Nur vom Nötigsten gelebt. Erspartes gibt es nicht mehr, das Elternhaus, nein, besser nicht. Das würde nur wieder böse Gefühle wecken. Man sagt, wenn man nichts hat, verkauft man sogar sein letztes Hemd. In der Not tut man so was. Alles was verkauft werden konnte, was nicht unter dem Hammer landete, war verkauft worden. Es ist Winter. Arschkalt, Schnee liegt. Wind bläst und die Straßen sind glatt. Der Rucksack aus Leder ist nicht groß, doch passen persönliche Dinge rein. Ersatzschal, Mütze, Handschuhe, Ausweise, Geld, Dokumente. Dicke Socken, mehrere Paare und ein Schuhpaar als Ersatz. Mehr ist nicht drin, obwohl noch was geht. Aber das ist okay, passt schon so. Wohin? Es ist der vierte Monate der Obdachlosigkeit. Scheiß Wetter, alles scheiße. Wenn man sich zulange irgendwo aufhält wird man erst schief angeguckt, dann beschimpft. Wohin für die Nacht? Die metallenen Container bieten etwas Windschutz. Eine alte Matratze passte gerade so zwischen das Metall und die Gebäudefassade. Mit alten Kartons und dünnen Sperrholzplatten ist der Boden irgendwie isoliert. Wenigstens nicht direkt auf dem eiskalten Boden liegen. Eiskalt ist es dennoch. Zeitungspapier, alte Müllsäcke und Tüten, sogar ein paar alte Bücher liegen unter der durchgelegenen Matratze um den Kontakt zu den Kopfsteinpflastern so gering wie möglich zu halten. Auch aus alten Kartons gebastelt, ein provisorischer Schutz für den Kopf. Mutet wie ein quadratischer Astronautenhelm an. Doch so ist der Kopf geschützt. Von oben, beidseitig. Wenn der Schal weiter hochgezogen wird, über Mund und Nase, wärmt er etwas die roten Backen. Sie hat gut getan. Die Wärme im Kaufhaus. Wenn auch nur für etwa eine Stunde. Am Ende war es eine Dose Erdnüsse gewesen, für die das meiste Geld draufgegangen ist. Etwas über dreißig Cent sind noch übrig und werden beim nächsten Mal neu investiert. Auf drei der Erdnüsse wird noch gekaut. Die Dose selbst ist im Rucksack, Wegbegleiter seit Jahrzehnten und Kissen seit ebenso langer Zeit. Die Blicke an der Kasse unvergessen. Als hätte die Kassiererin fragen wollen „Sie können sich das leisten?“ Von oben herab, ignoriert, unsichtbar. Die Nase hochgezogen, den Schleim herunterschlucken, wieder die Nase hochziehen, nochmal. Ein kräuseln, ein niesen, die Augen schließen. Manche schlafen im Bahnhof. In Filialen von Geldinstituten. Es wird geduldet im Winter, denn Obdachlose vertreibt dort niemand. Nur keine Option. Da sind auch andere. Etwas crazy Menschen auf die man keine Lust hat. Dann lieber draußen in der Kälte. Hier war es noch halbwegs sicher. Auf jedes Geräusch wird dennoch gelauscht. Ratten? Streuende Katzen? Randalierende Menschen? Ruhig verhalten, abwarten. Für eine Flucht ist immer gepackt, der Rucksack ist das einzig wertvolle. Neben der Kleidung am Körper. An wirklichen Schlaf ist nicht zu denken. Das funktioniert im Sommer vielleicht, nicht jetzt. Erst wenn es ganz schlimm ist, geht es in die Wärmestube. Heute Früh hatte es eine heiße Tasse Tee gegeben. Schmeckt besser als Kaffee, schmeckt abwechslungsreicher. Bringt Erinnerungen zurück. „Bitte?“ Eigentlich übersehen. Nein, mehr ignoriert. Alle ignorieren sie. Denn sie sind schlimmer als eine Krankheit, eine Plage, Zeichen von Versagen, Elend. Der wievielte war das? Nicht heute, insgesamt. Nie gezählt aber es nervt. Man fühlt sich belästigt, wechselt die Straßenseite um auszuweichen, nur um irgendwo versteckt den nächsten scheiß Penner zu sehen. Jetzt war Schluss. „Verrecke du Stück Scheiße.“ Weitergehen, ignorieren. Wie das Leben einem so spielt. Man kommt aus einer gut situierten Familie, hat immer Geld, ein Dach über dem Kopf, warmes Essen, einen verdammt gut bezahlten Beruf. Dann fällt man. Nicht einmal selbstverschuldet. Man wird gekündigt nach über dreißig Jahren, sucht sich eine neue Firma, schreibt Bewerbungen. Erfolglos. Man lebt in den Tag hinein, anfangs noch vollen Mutes, irgendwann kommt Ernüchterung, unvorhergesehenes und plötzlich steht man da. Auf der Straße, alleine, mit wenig Habseligkeiten und weiß nicht wie es weitergehen soll. Scham beherrscht einen. Jetzt liegt man in einer Nebenstraße hinter einem Container und versucht die Nacht zu überleben. Wieder einmal. Man versucht ein paar Stunden für sich zu haben, sich auszuruhen, obgleich das Leben auf der Straße einen nicht ausruhen lässt. Wie komme ich an Geld? Wann werde ich wieder feste Nahrung zu mir nehmen? Habe ich die Möglichkeit einen Arzt aufzusuchen? Oder überwiegt meine Scham? Mein heruntergekommenes Äußeres? All der Schmutz im Gesicht, die Haare verfilzt, die Fingernägel kurz gehalten, teils abgekaut, dreckig. Was wird man über mich denken? Wieder die Nase hochgezogen, die Augen leicht geöffnet. Fast sechzehn Uhr durch. Halbe Stunde gedöst. Na gut, besser als nichts. Es dämmert bereits. Vielleicht doch noch ein paar Runden gehen, in Bewegung bleiben. Durch die Arkaden schlendern, in ein, zwei Geschäfte gehen um sich dort nochmals aufwärmen. Darauf hoffen, nicht aus dem Laden geworfen zu werden. Auch das gibt es. Man wolle solche Menschen nicht. Nette Umschreibung. Solche Menschen. Als wäre man ansteckend. Also doch auf, auf. Konstanze schaltet das Licht ein. Es flackert zuckend, dauert, dann ist der Raum hell. So hell wie er sein muss, wie er immer ist wenn sie im Dienst ist. Der immer gleiche Geruch. Sie schnäuzt in ihr Stofftuch, steckt es sich in die Tasche und nähert sich dem Tisch. Schon der fünfte diesen Monat. Gleiche Verletzungen, gleiche Stellen. Sie würde auch das gleiche Ergebnis erhalten. Wieder einmal. Der Dezember nähert sich dem Ende. Die Feiertage vorbei und die große Umtauschaktion geht los. Menschen haben wieder Geld. Vielleicht sogar etwas mehr. Der Schlafplatz existiert nicht mehr. Der Container weg, alles andere auch. Keine Matratze, keine Kartons, keine Bücher. Nur der Rucksack und alles was am Körper getragen wird. Nicht nur dass ein neuer Schlafplatz gesucht werden muss, vielleicht ist es endlich an der Zeit einen neuen Ort zu suchen. Eine neue Stadt. Zwei Jahre waren hier genug. Hatte sich nicht gelohnt. Weiter gen Norden wäre eine Option. Hoch ans Meer. Regionalbahnen nehmen. Soweit fahren, bis man erwischt wird. Ja, dass ist eine gute Idee. Morgen. Morgen ist eine gute Zeit diese Stadt im Osten des Landes zu verlassen und gen Norden zu ziehen. Dort leben reiche Menschen. Auf den Inseln. Die Scham Leute anzusprechen existiert nicht mehr. Direkt sein, höflich, um etwas Kleingeld bitten. Keiner gibt. Die ersten vier Stunden nicht. Also eine Pause einlegen, sich aufwärmen. Es gibt Anlaufstellen und heute ist ein guter Tag, eine solche das letzte Mal in dieser Stadt in Anspruch zu nehmen. Eine halbe Stunde Aufenthalt, ein Fencheltee, nicht reden, das übliche. Auch nicht mit den anderen Gleichgesinnten. Nicht sagen dass man vorhat die Stadt zu verlassen. Wozu? Man ist doch nur einer von vielen obdachlosen Menschen und man bleibt nicht in Erinnerung. Wie auch, wenn es so viele gibt? Zurück auf die Straße und Leute ansprechen. Was bleibt sonst vom Tag? Bahnhöfe – so die Erfahrung – eigneten sich nicht als Ort zum betteln. Die Leute wischen einem schon aus bevor man etwas sagen konnte. Gaben sie doch etwas, dann war es nur Müll, Reste. Nein, auf keinen Fall. Auch wenn der Hunger groß war. Saucen aus Papptellern lecken? Niemals. Das letzte bisschen Brötchen, dass noch kleiner war als der kleine Finger? Nie und nimmer. Nach acht Jahren Bahnhöfe musste man einen Schlussstrich ziehen. Lohnte sich nicht den ganzen Tag hier zu sein. Zu keiner Jahreszeit. Mochte an der Stadt liegen, konnte sein. Dennoch nein. Nie wieder. Jedes Mal nach der Obduktion blieb Konstanze noch eine Viertelstunde. Sie wollte den toten Körper nicht einfach wegschließen und gehen. Sie blieb. Fand Worte, immer. So wie auch jetzt. Erst erzählte sie etwas von sich, von ihrer heutigen Arbeit, dann hoffte sie man würde das Monster finden, welches es auf Obdachlose abgesehen hat. Dem Mörder war Alter, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe egal. Er tötete einfach. Konstanze wollte nicht wissen wieso, sie verstand solch ein Verhalten nicht. Billigte es nicht. „Danke, dass du auf der Welt warst.“ Das Zugabteil war leer. Nur eine schlafende Person. Er baute sich vor seinem Opfer auf. Betrachtete es, thronte über ihm. Dann tat er, was er seit längerem tat. Manche Menschen hatten ein Herz aus Eis. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)