Bazar Noir von MizunaStardust ================================================================================ Kapitel 1: Heilung ------------------ 1. Heilung Langsam trat Bakura auf den zierlichen jungen Mann zu, der ungerührt dastand und sich besah, wie die Sonne glutrot im Nil versank. Trotz allem, was ihm den letzten Tagen widerfahren war, wirkte er noch immer stolz und gefasst. „Yami, alles okay?“, fragte der ehemalige Ringgeist und sein bester Freund wandte sich zu ihm um. Seine Haut war von einer warmen Bräune, die durch das Abendlicht zum Strahlen gebracht wurde. Doch nicht so sehr wie seine tiefgründigen, violetten Augen, die am heutigen Tag Yamis Verletzlichkeit durchscheinen ließen. „Ja, alles in Ordnung“, entgegnete der Kleinere der beiden, „es ist nur … hier hätte heute die Zeremonie stattgefunden. Wenn Seto und ich es in Japan bis aufs Standesamt geschafft hätten.“ (*) Bakura nickte. „Bereust du es, dass wir trotzdem hergekommen sind? Ist es zu seltsam für dich?“ „Nein“, seufzte Yami, „immerhin hatten wir die Flugtickets ja ohnehin schon. Und abgesehen davon musste ich einfach mal raus. Einfach nach Hause.“ Er schwieg für einen Augenblick, dann fügte er hinzu: „Danke, dass du mit mir hergekommen bist.“ „Wofür bedankst du dich? Du weißt, ich verbringe hier genauso gern Zeit wie du.“ „Ja, sicher. Trotzdem Ich hoffe, Ryou ist nicht sauer, dass du allein gefahren bist.“ „Das ist schon okay. Ich wollte für dich da sein. Er versteht sowas. Denke ich. Und …“, begann Bakura, seine Worte mit Bedacht zu wählen, „bereust du es, Seto Kaiba nicht geheiratet zu haben?“ „Noch nicht“, sagte Yami schnell, „ich denke, wenn ich mich damit wohlgefühlt hätte, dann hätte ich nie überhaupt in Erwägung gezogen, mich dagegen zu entscheiden.“ Bakura nickte verständnisvoll. Seine Sicht auf die Dinge war dieselbe. „Weißt du … mit Seth war es immer so einfach“, fuhr Yami leise fort, „da gab es keine Zweifel und er hätte mein Vertrauen nicht so missbraucht. Er hätte nie auch nur daran gedacht …“ „Das stimmt wohl“, Bakura wirkte nachdenklich, „und so sehr ich Kaiba auch dafür verabscheue, was er getan hat, … vielleicht musst du auch miteinbeziehen, dass er eine andere Vorgeschichte hat als Seth. Sie sind zwei vollkommen verschiedene Menschen. Das ist natürlich keine Entschuldigung.“ Yami schwieg. Dass sein altägyptischer Liebhaber, dem er seinerzeit sein Leben anvertraut hätte, und Seto Kaiba nicht dieselbe Person waren, war ihm nur zu gut bewusst, auch wenn er nicht umhinkonnte, einen Teil seiner Vergangenheit als Pharao Atemu in seinem Ex-Verlobten zu erkennen. „Bakura, ich … weiß nicht, wie ich in mein Leben zurückkehren soll. Nach alldem hier. Wo ich anknüpfen kann. Ich hab das Gefühl, ich stehe vor dem Nichts.“ Der Ringgeist trat an Yami heran und legte einen Arm um ihn. „Das wird sich alles finden. Du hast so viele Optionen. Du wirst neue Menschen kennenlernen, die dir guttun. Ich weiß das. Du bist einfach ein Naturtalent was sowas betrifft. Und für den Augenblick musst du dir darum ohnehin keine Gedanken machen. Also: Was hältst du davon, wenn wir heute mal zelebrieren, dass wir die Möglichkeit haben, eine Seitenstraße zu nehmen und ein wenig vom Weg abzukommen? Nicht jeder hat schließlich ein solches Schlupfloch in seiner Realität.“ Ein sanftes Lächeln stahl sich nun auf Yamis feine Züge. „Du hast Recht“, nickte er, „dann lass uns gehen.“ Vom Fenster des idyllischen kleinen Hauses mit Uferblick sah eine weitere Person versunken auf die beiden Gestalten hinab, die nicht mehr als schwarze Schemen waren. Bei dieser Person handelte es sich um Shadi, der gerade damit beschäftigt war, das Geschirr vom Mittagessen zu spülen. Doch er hielt in der Bewegung inne, als er plötzlich ein kaum hörbares Rascheln vernahm. Er drehte sich nicht um, als er sagte. „Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs?“ Erneut ertönte das Rascheln von Stoff, bevor ein hochgewachsener Mann mit schwarzem Zopf und gelben Augen sich durch die Küche bewegte und schließlich Shadis Blick zum Ufer folgte. „Passt Ihr auch immer gut auf ihn auf?“, fragte er in strengem Ton. „So gut, wie es in meiner Macht steht“, gab der Ägypter ehrlich zurück. „Gut, denn das ist essenziell. Für uns alle. Ihr wisst, ich heiße es nicht gut, dass Ihr hier lebt, so viele tausend Kilometer entfernt von diesem ‚Japan‘. Außerdem denke ich, Ihr solltet auch dann ein Auge auf ihn haben, wenn er sich bei uns aufhält.“ Shadi ließ die Pfanne sinken, die er zuvor geschrubbt hatte, und wandte sich nun endlich zu seinem Besucher um. „Er ist immer noch eine eigentständige Person und will seine Privatsphäre. Ich freue mich für ihn, dass er jetzt sein eigenes Leben lebt. Also nein, ich werde ihm sicher nicht nachstellen, wenn Euch das vorschwebt!“ „Wie Ihr meint“, knurrte der größere Mann, „aber ich spüre, dass die Dinge in Bewegung geraten sind. Bald schon wird es höchste Priorität haben, ihn zu schützen. Und spätestens dann werden wir eingreifen müssen.“ Shadis Gesichtsausdruck wurde bedrückt. „Ich wünsche mir für ihn, dass er aus alldem herausgehalten wird. Dass er einfach ein unbehelligtes Leben führen kann, ohne sich um all das Gedanken zu machen.“ „Dann solltet Ihr Euch umso mehr Mühe geben, all das von ihm abzuschirmen“, stellte der Schwarzhaarige trocken fest. Shadi musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass er sich eine Sekunde später bereits nicht mehr im Raum befand. Yami und Bakura wussten von alldem nichts. Sie machten sich im Schutz der Abenddämmerung auf ihren Weg zu einem Ort, von dem Bakura sich sicher war, dass er Yami ein wenig Heilung bringen würde. Ein Ort, der als Leichtigkeit durch ihre Adern floss, sobald sie den ersten Schritt auf seinen Boden setzten. Der sie zu ihren Ursprüngen zurückbrachte ... ~*~ Noch nie hatte Seto Kaiba die Leere in seinem Leben so deutlich wahrgenommen wie in diesem Moment. Er saß an seinem Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm. Dass Yami sich von ihm getrennt hatte war nun sechs Wochen her und er hatte bis zu dieser Sekunde gebraucht, um alles wirklich zu realisieren. Genau jetzt prasselte sein ganzes Elend wie heiße Lavafunken bei einem Vulkanausbruch auf ihn ein. So klar und schmerzhaft deutlich stand alles vor seinen Augen. Und das Schmerzhafteste daran war, dass er selbst sich das alles zuzuschreiben hatte. Und daran ließ sich nun nichts mehr rütteln. Er verspürte den heftigen Drang, all seine Gedanken auszuschalten. Und das konnte er nur tun, wenn er sich entweder mit suchtfördernden Substanzen betäubte (wozu er absolut nicht der Typ war) oder wenn er etwas tat, aktiv wurde. Sich ablenkte. Dieses Loch, das in sein Leben gerissen wurde, mit etwas füllte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ihm seine Arbeit und sein strukturiertes Leben vollkommen genügt. Doch seit er Yami nähergekommen war, hatte er entdeckt, dass da noch mehr sein konnte. Dass das nicht alles war. Und nun gab es kein Zurück mehr in sein altes, von Monotonie und Routine geprägtes Dasein. „Mokuba, ich möchte ausgehen! Bring mir die Grundregeln dafür nahe!“, deklarierte er wenige Minuten später auf seine übliche trockene Art im Telefonat mit seinem jüngeren Bruder. Dieser befand sich gerade auf Geschäftsreise im Zug (er lehnte Dienstreisen mit dem Privatjet ab, da er nachhaltig dachte und die Umwelt nicht belasten wollte) und lachte laut auf, was die Blicke neugieriger Mitreisender auf sich zog. „Also das … deine Frage überfordert mich jetzt etwas. Wie basic soll ich denn da genau werden?“, fragte der jüngere Kaiba amüsiert zurück. Seit Ewigkeiten war Seto am Wochenende nicht mehr alleine ausgegangen. Geschäftsessen waren da natürlich eine Ausnahme. Hier kannte er die Etikette in- und auswendig und wusste, was er zu tun hatte und was seine Funktion im Gesamtgefüge war. Auch mit Yami war er selbstverständlich auf Dates und ab und zu auch feiern gegangen (letzteres nur Yami zuliebe), aber bei diesen Gelegenheiten war er nicht gezwungen gewesen, die Fühler auszustrecken und Kontakte zu knüpfen. Jetzt jedoch war alles vollkommen anders. Und Abläufe, die Seto Kaiba nicht kannte, brachten ihn aus seinem langerprobten Konzept. „Naja, fangen wir doch mal mit dem Grundlegendsten an: Wo könnte man überhaupt hingehen?“, fragte der Besitzer der KaibaCorp. kleinlaut. Am anderen Ende der Leitung seufzte Mokuba hörbar. „Seto, lass mich dir was vorschlagen: Mach es dir doch nicht schwerer als nötig. Wenn es außerhalb deiner Komfortzone liegt, dich ins Getümmel zu stürzen und wegzugehen, warum bringst du die Menschen nicht dahin, wo du dich wohlfühlst und auskennst?“ „Du meinst …“ „Ja, genau. Warum lädst du dir nicht ein paar Gäste ein?“ Der ältere Kaibabruder schwieg einen Moment und schien zu überlegen. „Mokuba, manchmal bist du echt clever.“ „Manchmal?“, hakte Mokuba neckend nach. „Immer öfter“, versicherte Seto. Dann fügte er hinzu: „Vielleicht frage ich mal Limono, wie man so eine Privatparty organisiert.“ „Seto, ich will mich ja nicht allzu sehr einmischen, aber: Solltest du wirklich den Typen um Hilfe bitten, wegen dem deine Beziehung in die Brüche gegangen ist?“ „Du denkst, das wäre nicht angebracht?“, fragte Seto, eher ehrlich interessiert als defensiv. „Das musst du wissen“, Mokuba zuckte mit den Schultern, was sein Bruder natürlich nicht sehen konnte. „Immerhin ist er mein Freund und davon habe ich nicht allzu viele“, überlegte Seto etwas resigniert. „Auch wieder wahr“, gab Mokuba zu. Bereits zwei Wochen später an einem Samstagabend war die Kaibavilla nicht wiederzuerkennen. Aus den „paar Gästen“ waren etwa hundert geworden. Seto versuchte, seine Gedanken auszuschalten und hoffte inständig, dass sein Leben eine neue Wendung nehmen würde. ~*~ „So ist das also. Hochinteressant“, mit flinken Fingern blätterte eine dunkel gekleidete Gestalt im Schein einer einzigen Kerze ein antik anmutendes Buch durch. Niemand durfte bemerken, dass in diesen Raum jemand eingedrungen war, deshalb drängte die Zeit, unbehelligt so viele Informationen zu erlangen wie nur irgend möglich. „Ich hätte mir denken können, dass es um ihn geht. Um wen auch sonst!“, murmelte die Gestalt und schnaubte verächtlich. Ihr Gesicht verformte sich zu einer angewiderten Grimasse, „aber damit hat es bald ein Ende. Alles Nötige steht bereits zur Verfügung. Eine neue Ära wird anbrechen.“ --------- (*) Wie immer in meinen FFs ist auch hier die Ehe für alle in Japan erlaubt. Kapitel 2: Wurzeln ------------------ 2. Wurzeln „Wir ihr ja wisst, liegen meine Wurzeln in Ägypten – einem Land, in dem Homosexualität leider noch weniger geduldet ist als hier in Japan“, sagte Yami in die laufende Kamera in dem kleinen Studio, das er sich für seinen Youtube-Kanal eingerichtet hatte, „einem Land, in dem homosexuelle Menschen sogar unter Vorwänden verfolgt und bestraft werden und Angst vor dem Gesetz haben müssen. Natürlich macht mich das oft sehr traurig. Heute freue ich mich deshalb besonders, dass ein guter Freund von mir in diesem Video zu Gast ist, dem es genauso wie mir am Herzen liegt, dass sich daran bald etwas ändert. Begrüßt also mit mir meinen Freund Umko Bari, der ebenfalls in Ägypten aufgewachsen ist und jetzt hier in Japan lebt. Hi Umko.“ Yami lächelte seinem Freund mit dem schwarzen, widerspenstigen Haar und den azurblauen Augen ermutigend zu und dieser rückte seine Brille zurecht. „Ja, hi Yami. Ich freue mich auch total, dass du mich gebeten hast, bei diesem Video mitzuwirken!“ „Ganz wichtig zu sagen: Wir können heute hier nur so offen sprechen, weil du nicht mehr die ägyptische Staatsbürgerschaft hast und auch nicht mehr dem ägyptischen Recht unterstellt bist.“ „Ganz genau“, bestätigte Umko. „Umko, erzähl doch mal unseren Zuschauerinnen und Zuschauern ein bisschen über deine Entscheidung, Ägypten zu verlassen.“ Umko nickte. „Also, das hat für mich persönlich schon sehr lange festgestanden. Ich wusste ziemlich früh, dass ich mich nicht für Frauen interessiere, hab aber gleichzeitig auch immer mitbekommen, dass das in meinem Heimatland ein großes Problem ist: Dass Menschen, die so waren wie ich, sich verstecken mussten, und man von niemandem wirklich sicher wusste, dass er oder sie homosexuell ist. Es gab immer nur Gemunkel hinter vorgehaltener Hand. Ja und glücklicherweise stammt meine Mutter aus Japan und ich bin auch zweisprachig aufgewachsen. Deshalb war mir schnell klar, dass ich nach der Schule in Japan studieren wollte. Ich weiß zwar, dass das Thema in Japan leider auch noch nicht so gut aufgearbeitet ist, wie man es sich wünscht, aber da mein Englisch nicht so gut ist, habe ich mir dann doch nicht zugetraut, in ein anderes Land zu gehen. Hier ist es zumindest so, dass man nicht für seine Sexualität bestraft werden kann, sondern es den Leuten egal ist, für wen man sich interessiert, solange man es nicht in die Öffentlichkeit trägt. Und prominente Personen wie du zum Beispiel gehen mit gutem Beispiel voran, indem sie ihr Privatleben offen kommunizieren.“ „Danke, das freut mich zu hören. Es gab aber noch einen Grund, wieso es für dich wichtig war, nach Japan zu gehen, richtig?“ „Richtig. Und zwar stammte mein damaliger Partner aus Japan. Überraschenderweise hatten wir uns in Ägypten kennengelernt und es war natürlich dann erst mal eine große Herausforderung, diese Beziehung geheimzuhalten. Vor allem meinem damaligen Freund, der in Japan vorher schon offen in der LGBTQ-Szene unterwegs war und auch in seiner Familie schon lange dafür gekämpft hatte, sich nicht verstellen zu müssen, ist das schwergefallen.“ „Und da war es dir dann natürlich nochmal wichtiger, dass ihr in ein anderes Umfeld gelangt.“ „Ja, definitiv.“ ~*~ „Danke, dass du dich dazu hast überreden lassen“, sagte Yami grinsend, als er mit Umko später die Uferpromenade entlangschlenderte. Über ihnen erstreckte sich ein strahlend blauer Frühsommerhimmel und die Sonne schien ihnen wärmend in den Nacken. Die geplatzte Hochzeit lag nun ein dreiviertel Jahr zurück und es war eingetreten, was Bakura für Yami vorhergesagt hatte: Er hatte neue Bekanntschaften geschlossen und genoss es regelrecht, Zeit mit Menschen zu verbringen, die nichts von seiner mystisch-antiken Vergangenheit ahnten. Einfach zu existieren. Ohne doppelten Boden. In den vergangenen Monaten hatte Yami einige Dates gehabt, doch er hatte selbst gespürt, dass er eigentlich noch nicht bereit gewesen war, wieder eine feste Bindung einzugehen. Deshalb genoss er in erster Linie nette Gesellschaft und anregende Gespräche. „Nein, nein. Du musst dich nicht bedanken. Ich hab‘ mich echt gefreut, dass du mich gefragt hast“, winkte Umko ab, „Ich find’s wirklich gut, dass du als jemand mit Einfluss was bewegen willst.“ Yami nickte nur. „Wie geht’s dir denn eigentlich?“, hakte Umko nach, wobei er forschend Yamis Gesicht in Augenschein nahm, „ich meine dir als Privatperson, nicht als Influencer.“ Wieder nickte Yami. „Ach, gut soweit. In letzter Zeit war viel zu tun und es blieb wenig Zeit, um in mich zu gehen. Aber doch, es füllt mich aus, was ich mache. Es ist alles okay.“ „Das ist schön“, sagte Umko offen, „ehrlichgesagt finde ich, du wirkst viel selbstsicherer und zufriedener seit deiner Trennung von Kaiba.“ Nun sah Yami etwas verlegen aus. „Ja, da hast du vielleicht Recht. Da war einfach so viel, was ich nicht ausprobiert habe, während meiner Beziehung mit ihm. Das hat alles so viel Raum in meinem Leben eingenommen. Zu viel mittlerweile.“ Umko nickte verstehend. „Und du?“, fragte Yami nun seinerseits nach und sah wieder zu Umko auf, „wie läuft es bei dir?“ „Auch gut“, Umko lächelte, „auch wenn ich mich manchmal frage, was mein Leben noch so für mich bereithalten könnte – ob es das schon gewesen sein soll.“ Yami blieb stehen und wandte sich zu ihm um. „Ja, den Gedanken kenne ich gut. Wenn du Limono zurückhaben könntest, für immer, würdest du es wollen?“, fragte er ernst und unvermittelt. Umko seufzte. „Hach, schwere Frage. Ich weiß es nicht. Aber das spielt keine Rolle. Er wird mir immer entgleiten, wie ein Phantom. Und das führt mich einfach nirgendwo mehr hin. Das weiß ich sicher. Dieser letzte Korb war nur noch erniedrigend. Ich will einfach nicht mehr dieser Typ sein, den alle bemitleiden und über ihn sagen: ‚Der arme Kerl, lernt es einfach nicht.‘“ Yami berührte aufmunternd Umkos Arm. „Na, das hast du immerhin selbst in der Hand. Niemand zwingt dich, in dieser Sackgasse zu bleiben.“ Umko hatte das Pech ereilt, zum bereits dritten Mal vom selben Mann abserviert zu werden – demselben Mann, mit dem Yamis Verlobter und der bekannteste Geschäftsmann Dominos, Seto Kaiba, einen One-Night-Stand gehabt hatte. Erst kurz vorm Trauungstermin hatte Yami gemerkt, dass er Setos Seitensprung nicht richtig aufgearbeitet hatte und nicht bereit dazu gewesen war, Seto zu heiraten. Danach war diese jahrelange Beziehung in die Brüche gegangen. Umkos Ex-Mann hatte die Affäre nichts bedeutet. Sie war nicht der Grund dafür gewesen, weshalb seine Ehe mit Umko wenig später in einer Scheidung endete. Zumindest nicht der einzige Grund. Diese Begebenheiten hatten Umko und Yami, die sich vorher nur flüchtig kannten, einander nähergebracht und nachdem sie sich viel über alles ausgetauscht und ihren Redebedarf gestillt hatten, waren sie gute Freunde geworden. Nicht zuletzt verband sie ihr gemeinsames Heimatland. „Wie sieht es denn beruflich mit einer neuen Herausforderung aus?“, fragte Yami jetzt. „Ja, diesen Gedanken hatte ich auch schon, aber so richtig ausgereift ist er noch nicht“, gab der gelernte Krankenpfleger zu, „aber vielleicht wäre es wirklich schön, mal was Neues zu lernen, obwohl ich meinen Job sehr gerne mache. Und obwohl ich mich erst auf eine andere Station habe versetzen lassen – und das war aufregend genug.“ Auch diese Versetzung hatte er indirekt seinem Ex-Mann zu verdanken, dessen homophober Vater sein ehemaliger Chef gewesen war. Nach einer unangenehmen Auseinandersetzung mit ihm hatte er nicht mehr auf seiner alten Station arbeiten wollen. „Ja, verstehe. Ich meine ja nur: Es gibt ähnliche Optionen“, schlug Yami vor, „ein neues Umfeld, neue Kolleginnen und Kollegen. Überleg's dir mal“ „Okay, danke. Vielleicht werd' ich das.“ Yami selbst arbeitete nicht nur als Youtuber und fürs Fernsehen. An zwei Tagen die Woche ging er seinem erlernten Beruf als Sozialarbeiter nach und betreute bei einer speziellen Anlaufstelle spielsüchtige Jugendliche. Es war ihm wichtig, dass er auch in dem Beruf arbeitete, zu dem er sich mühevoll hatte ausbilden lassen. „Und? Schon Pläne für deinen Heimaturlaub?“, wechselte Yami jetzt das Thema. Er spürte, dass Umko noch Zeit brauchte, sich mit einem Berufswechsel gedanklich auseinanderzusetzen, und wollte nicht weiter in ihn dringen. „Ja, ich fahre in einer Woche schon“, bestätigte Umko, „ich brauche das irgendwie gerade. Ich muss mal raus.“ Yami grinste. „Ehrlich? Bakura und ich fahren in vier Tagen! Ich hab Shadi eine gefühlte Ewigkeit nicht gesehen, ich freue mich schon seit Monaten darauf! Dann überschneiden wir uns ja!“ Shadi war in Yamis Zeit als Pharao dessen Leibdiener gewesen, den er kannte, seit er vier Jahre alt war. Und da der Ägypter sieben Jahre älter war, war er für Yami so etwas wie ein älterer Bruder geworden. Leider sahen sie sich nur sehr selten, da Shadi in Ägypten lebte. Bakura, Yamis bester Freund, der ebenfalls bereits mit ihm aufgewachsen war, hatte eine ebenso starke Bindung zu seinem Heimatland wie Yami. Jeden Sommer zelebrierten sie die Zeit, die sie dort zusammen verbringen konnten. „Wie schön!“, sagte Umko ehrlich, „würde mich freuen, wenn wir mal was zusammen unternehmen!“ Yami lächelte. „Mich auch. Sehr!“ ~*~ Limono Otoya schaltete das Video aus, in dem sein Ex-Mann vor einigen Tagen über die Anfänge ihrer Beziehung ausgepackt hatte, und rollte genervt mit den Augen. „Der redet eindeutig zu viel“, murrte er. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Kopfschüttelnd klappte er den Laptop zu und ging, um zu öffnen. „Hey Taro“, begrüßte er einen Jungen mit Pilzfrisur und riesigem Geigenkoffer auf dem Rücken, „komm rein.“ Als sein Schüler sich wenige Minuten später sortiert hatte, die Geige ans Kinn hob und zu spielen begann, was er geübt hatte, zog Limono kritisch eine Augenbraue nach oben. Nachdem Taro mit seiner Tortur in C-Dur geendet hatte, blickte Limono ihn streng an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast schon wieder nicht geübt“, stellte er trocken fest. „Keine Zeit“, nuschelte Taro betreten und blickte auf seine Zehen. Limono zog die Luft ein. „Taro, was soll ich mit dir machen? Wir können das auch einfach lassen. Wenn du keine Fortschritte machst, machen deine Eltern mich dafür verantwortlich, und dann bin ich den Job ohnehin los.“ „Das ist nicht wahr! Die wissen genau, dass es an mir liegt!“, platzte es aus dem Geigenschüler heraus, „ich hab ihnen auch gesagt, dass ich gar nicht Geige spielen will! Ich will lieber was Cooles lernen, wie Gitarre! Kannst du mir nicht statt der blöden Geige was auf der Gitarre zeigen?!“ Er schielte zu der grünen Telecaster aus Limonos Zeit als Frontmann der Band „Green Leviathan“ hinüber, die an der gegenüberliegenden Wand hing. Limono seufzte. Seine Gedanken schweiften ab zu einem Tag vor vielen Jahren. Seine Schwester hatte gerade das Haus verlassen, auf dem Weg zum Tennistraining. Mit zitternder Hand und pochendem Herzen drückte der achtjährige Limono behutsam die Klinke ihrer Zimmertür herunter, huschte hinein und drückte lautlos die Tür hinter sich zu. Da an der Wand stand sie: Limettas schöne ¾-Westerngitarre mit Fichtendecke. Eilig nahm Limono sie vom Ständer und schnappte sich das Buch mit dem Titel „Gitarrenschule“. Letzte Woche hatte er bereits den zehnten und elften Akkord geübt. Jetzt musste er sich beeilen, damit er sie noch einmal wiederholen und die nächste Lektion beginnen konnte, bevor Limetta wieder da war. Sollte sie Wind davon bekommen, dass er ihre Sachen benutzt hatte, würde sie ihm die Hölle heiß machen. Vertieft spielte er das Zupfmuster im Buch, stellte zufrieden fest, dass alle Saiten durchgängig klangen, und blätterte dann voller Tatendrang weiter, als sich plötzlich die Tür öffnete und er zusammenzuckte. Doch in der Tür stand nicht Limetta, sondern sein Vater, Dr. Otoya. Limono starrte ihn mit offenem Mund an. „Ich … äh ... ich wollte …“, begann er und wusste eigentlich selbst nicht, was er sagen sollte. Doch Dr. Otoya wartete gar nicht erst auf eine Erklärung seinerseits. Er ging auf ihn zu, nahm ihm bestimmt das Instrument aus der Hand und stellte es zurück auf seinen Platz. Dann hielt er die Hand auf und Limono reichte ihm gehorsam das Buch, das der Chefchirurg der Uniklinik Domino bestimmt zurück ins Regal stellte. „Limono, kannst du denn schon deine Lektion für den Geigenunterricht diese Woche?“, fragte sein Vater streng. „Nein, aber …“, setzte Limono an. Dr. Otoya wandte sich ihm wieder zu. „Dann solltest du dich doch auch nicht von anderen Dingen ablenken lassen, habe ich Recht?“ „Aber … ich will nicht mehr Geige spielen!!“, begehrte Limono wütend auf, „es macht keinen Spaß! Ich will auch Gitarre lernen, wie Limetta! Warum muss gerade ich diese blöde Geige lernen!“ „Limono, das hatten wir schon oft genug: Ihr lernt bereits beide Klavierspielen. Wir möchten, dass ihr auch verschiedene Instrumente beherrscht, damit ihr beide zusammenspielen könnt. Du wirst die Geige lernen, ob es dir passt oder nicht! Wenn du gut genug bist, können wir über ein drittes Instrument sprechen.“ „Nein! Ich will es JETZT!“, schnappte Limono patzig, doch verstummte, als Dr. Otoya sich angsteinflößend in voller Größe vor ihm aufbaute. „Das wird nicht passieren und das ist mein letztes Wort!“, bellte er, „und für dein freches Benehmen hast du eine Woche Hausarrest. Jetzt raus mit dir!“ Limono blieb an Ort und Stelle stehen und rührte sich nicht. Kochend vor Wut schritt sein Vater auf ihn zu, packte ihn schließlich rabiat am Arm und zog ihn aus dem Raum bis hin zu seiner eigenen Zimmertür. Dann ließ er ihn wortlos stehen. Dicke Tränen kullerten über Limonos erhitztes Gesicht, als er die Tür seines eigenen Zimmers zuschlagen ließ. Hasserfüllt starrte er auf die zierliche Violine auf seinem Bett. Er begriff nicht, wieso seine Eltern ihn nicht verstanden, nicht sehen wollten, wofür er brannte. „Otoya-sensei?“, fragte Taro zögerlich, nachdem Limono zum wiederholten Mal nicht reagiert hatte. „Was? … entschuldige.“ Limono schüttelte die Erinnerung ab. Er seufzte. „Also schön. Ich werde mal mit deinen Eltern sprechen und sehen, was ich ausrichten kann, okay? Aber versprechen kann nicht nichts.“ „Ehrlich?“, Taros Augen weiteten sich vor Überraschung. „Das ist … danke!!“, er sprang energisch auf und umarmte Limono stürmisch. Dieser stand stocksteif da und ließ die Geste über sich ergehen. „Okay, kein Ding. Aber unter einer Bedingung: Bis zum nächsten Mal kannst du dieses Stück hier perfekt auf der Geige vorspielen. Ich will sehen, dass du es ernst meinst und die nötige Disziplin aufbringen kannst.“ „Versprochen! Ich werde dich nicht enttäuschen!“, strahlte Taro über beide Ohren. „Also gut, dann mal ab mit dir! Ich will dich nicht mehr sehen, bis du mir was vorspielen kannst, klar?“ Taro nickte eifrig und packte zusammen. Als der Schüler Limonos Wohnung verlassen hatte, umfing den jungen Mann mit den kinnlangen grünen Haaren eine aufdringliche Stille und eine ungewohnte Beklemmung überkam ihn, die ihn tief anrührte. Als er die Tür verriegelt hatte und wieder das kleine Wohnzimmer seiner Dachgeschoßwohnung betrat, blieb sein Blick abermals an der Gitarre an der Wand hängen. Ein deplatziertes Überbleibsel aus einem anderen Leben, wie es schien. Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass er mit seiner Garagenband überraschend einen Charthit landen würde. Mit ihrer Single „Lemonade and Poison“ waren sie über Nacht national bekannt geworden, aber der Plattenvertrag und der damit einhergehende Druck war der Anfang vom Ende gewesen. Heute, mit 27, musste Limono wieder ganz von vorn anfangen. Seine Ehe war in die Brüche gegangen und er hatte er einen riesigen Kredit abzubezahlen für den Club, den er nach dem Band-Aus gekauft hatte. Nun saß er hier und erteilte untalentierten Teenagern Unterricht, statt auf der Bühne zu stehen. Er zuckte verschreckt zusammen, als plötzlich das schrille Klingeln seines Handys seine Gedanken durchbrach. Er atmete einmal tief durch, bevor er abheben konnte. „Ja“, sagte er kurz angebunden in den Hörer. Und dann: „Okay … verstehe. Ja. Ich komme gleich hin. Danke, dass du angerufen hast. Bis dann.“ Einen Moment lang starrte er auf das verstummte Mobiltelefon, bevor er eine weitere Nummer wählte. „Hey Sigi“, sagte er, als die Person am anderen Ende der Leitung sich meldete, „hör zu, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Kannst du vorbeikommen und mich ins Krankenhaus fahren? Mein Vater hatte einen Herzinfarkt.“ ~*~ Limono konnte die beiden grünen Haarschöpfe seiner Mutter und Schwester bereits von Weitem ausmachen, als er und sein bester Freund Siegfried Aoyagi den langen Korridor hinabliefen. Die beiden verstummten, als sie die Neuankömmlinge bemerkten, und wandten sich zu ihnen um. „Hi“, sagte Limono wenig herzlich. Seine Mutter, Midori Otoya, kam dennoch zu ihm herüber und schloss ihn in die Arme. Limono war in etwa so groß wie seine zierliche Mutter, seine Schwester Limetta hingegen war nach ihrem Vater gekommen und war eine sportliche, hochgewachsene Frau. Limetta trat nun ebenfalls näher und nickte ihm zu. „Hey kleiner Bruder.“ Dann schenkte sie Sigi einen kurzen, leicht hochmütigen Blick. „Siegfried“, nahm sie seine Anwesenheit zur Kenntnis, „Immer noch unzertrennlich, ihr beiden, was?“ „Immer noch so charmant wie eh und je“, brummte Sigi zurück. Er und Limetta waren für kurze Zeit verheiratet gewesen, aber genau wie Limonos Ehe hatte auch diese nicht lange Bestand gehabt. Limono und Sigi, die sich kannten, seit Limono 14 war, hatte die Scheidung der beiden nur noch mehr zusammengeschweißt. „Kinder, das ist nicht der richtige Zeitpunkt zum Streiten“, mahnte Frau Otoya streng. „Wie ist die Lage?“, fragte Limono mit einem Kopfnicken in Richtung des Krankenzimmers, vor dem die beiden Frauen standen. „Er ist von der Intensiv runter und noch ziemlich erschöpft“, informierte ihn Limetta. „Aber er wird wieder gesund“, sagte seine Mutter sichtlich erleichtert. Limono nickte lediglich. Er hatte seit Jahren kein Wort mehr mit seinem Erzeuger gewechselt. Er hatte den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen, als er 19 und in der Lage war, auszuziehen. „Zu viel Arbeit, was?“, fragte er nach dem Grund für den unfreiwilligen Krankenhausaufenthalt. Seine Mutter nickte bedrückt. „Dein Vater arbeitet sehr hart. Mit der neuen Professur und allem.“ Vor einigen Wochen war Dr. Otoya auf eine Professur an der Uniklinik berufen worden. „Willst du nicht reingehen?“, hakte seine Mutter nun hoffnungsvoll nach. Limonos Gesicht wurde ernst. Schließlich trat er unentschlossen auf die Tür zu und legte seine Hand auf die Klinke. Er zögerte. All seine Erlebnisse in Krankenhäusern prasselten in diesem Augenblick auf ihn herab wie Hagelkörner, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er rang nach Atem. Im Nacken spürte er die nagenden Blicke seiner Familie auf sich ruhen. Dann hörte er wie Sigi sagte: „Ist es okay, wenn ich auch reingehe?“ Im nächsten Moment war er bei Limono und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Endlich fand Limono den Mut, die Tür zu öffnen. Ohne Gemütsregung trat er ein und ging zum Bett, in dem sein Vater lag – schutzlos und erschöpft. So kannte Limono den sonst so energischen und stattlichen Mann nicht. „Hallo Vater“, sagte er leise. „Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst“, stellte Professor Otoya fest. Limono hob beide Hände. „Tja, hier bin ich – Ich denke, du erinnerst dich an Siegfried.“ „Wie könnte ich nicht?“, seufzte der Arzt, dessen ehemaliger Schwiegersohn nie die erste Wahl für seine Tochter gewesen war – geschweige denn für seinen Sohn. Professor Otoyas heteronormative und prestigeorientierte Welt, in der er aus Limono jemanden hatte machen wollen, der er nicht war (sowohl was seine sexuelle Orientierung als auch was seinen Berufswunsch betraf), hatte dafür gesorgt, dass sie einander irgendwann nichts mehr zu sagen gehabt hatten. Also war Limono gegangen. Dorthin, wo er akzeptiert, mehr noch, respektiert und sogar bewundert wurde. Und doch war ein Vermächtnis von seinem Vater ihm geblieben: Das Gefühl, nie gut genug zu sein. „Tut mir leid, dass … dir das passiert ist. Ich hoffe … dir geht es bald besser“, flüsterte er heiser. „Anständig von dir, dass du hergekommen bist“, sagte Professor Otoya, „du warst als Kind nicht gern hier.“ Limono nickte angespannt. Es stand zu viel im Raum, um Worte dafür zu finden. Kapitel 3: Nachtleben --------------------- 3. Nachtleben „Gab es nie einen Moment in den letzten Monaten, in denen du Kaiba zurückhaben wolltest?“, fragte Umko, als er anderthalb Wochen nach dem Videodreh neben Yami her über einen großen belebten Platz in Kairo lief. Sie hatten jeder ein Getränk in der Hand und flanierten ausgelassen durch die zahlreichen Reihen voller Stände. „Ehrlichgesagt: Doch, es gab so einige“, gestand Yami etwas beschämt, „aber am nächsten Tag habe ich meistens wieder klargesehen. Es wäre nicht gutgegangen, wenn ich in mein altes Leben zurückgegangen wäre. Ich bin noch nicht soweit, mich wieder auf Seto einzulassen. Und ich denke, Seto weiß das insgeheim auch. Aber wir haben uns immerhin ausgesprochen und ich hab meinen Groll und meine verletzten Gefühle abhaken können.“ „Und jetzt?“, fragte Umko neugierig und versuchte dabei einen Blick auf Yamis tiefgründige Augen zu erhaschen. „Jetzt – mache ich mir darüber einfach mal keine Gedanken. Ich nehme die Dinge gerade, wie sie kommen.“ Umko nickte lächelnd. Er bewunderte Yami für seinen Lebenswandel. Früher war der hübsche, zierliche junge Mann ihm selbst sehr ähnlich gewesen: Planvoll, strukturiert, pflichtbewusst. Alles Dinge, die sein Ex-Mann Limono nicht von sich behaupten konnte. Umko wollte es so sehr, wollte sich ebenfalls verändern, lockerer werden. Er dachte an einen Moment vor einigen Wochen zurück. Er war mitten in einem öden zweiten Date gewesen. Nach dem Restaurant wollte seine Verabredung unbedingt einen Abstecher ins BlackRainbow machen, ausgerechnet in den Club, der Limono gehörte – nun sogar auf dem Papier. Insgeheim hatte ihn bereits der Verdacht beschlichen, dass Yuichi, sein Date, ihn ebenso langweilig fand, wie er diesen fand. Als sie den Vorplatz überquerten, konnte Umko bereits von weitem den Mann ausmachen, dem er heute Abend nicht hatte begegnen wollen. Seine wie immer makellose, elfengleiche Erscheinung schlenderte über den Hof, bekleidet mit einem roten Mantel, der mit seinem Haar kontrastierte, sofern man keine Rotgtrünschwäche hatte. Begleitet wurde er von seinem unverschämt attraktiven besten Freund Siegfried. Die letzte Hoffnung, dass sie ihn vielleicht gar nicht entdecken würden, erstarb, als Sigis Blick direkt auf seinen traf, und dieser Limono mit einem Fingerdeut sofort über seine Anwesenheit informierte. „Hey Umko“, die beiden kamen zu ihnen herüber. „Oh … hi. Ich hab euch gar nicht wahrgenommen“, log Umko. Limonos Blick inspizierte Yuichi unverhohlen von oben bis unten. Etwas, das er sich leisten konnte, ohne unverschämt zu wirken. „Schön, dich hier zu sehen – und deine Begleitung natürlich. Ich hoffe, ihr habt eine gute Zeit hier“, sagte er, ganz der charmante Gastgeber. „Oh, danke. Umko, willst du uns nicht vorstellen?“, kritisierte Yuichi unbedarft. „Entschuldige. Natürlich. Yuichi, das sind Limono und Sigi. Das ist Yuichi Hino.“ „Ohhh“, eine Erkenntnis schien Yuichi zu treffen, „Das ist Limono? Dein Ex-Mann Limono?“ „Richtig.“ Spätestens jetzt bereute Umko es, so viel geplaudert zu haben. „Wow!“, platzte es aus Yuichi heraus. „Freut mich! Witzig, dass ihr euch heute beide mit Dates trefft, oder? Das flasht mich gerade echt. Limono, Sigi, ihr seid beide so attraktiv, wenn ich das sagen darf! Umko, sind sie nicht ein tolles Paar? Wie die Hauptbesetzungen in einem Hollywoodfilm! Dagegen wirken wir echt glanzlos. Oder was meinst du?“ Er griff nach Umkos Arm, um seine Worte zu unterstreichen. „Ja, ganz reizend“, knurrte Umko zähneknirschend. Limono und Sigi tauschten einen vielsagenden und amüsierten Blick. „Vielen Dank. Das hören wir öfter“, sagte Limono nicht minder charmant. Er machte sich nicht die Mühe, irgendwas aufzuklären, sondern schwebte wenige Augenblicke später neben Sigi davon. Umko wollte das alles nicht mehr. Er wollte nicht mehr derjenige sein, dessen Leben stillstand. Aber er konnte auch nicht so einfach aus seiner Haut. „Yami, zeig mir, wie du es machst“, bat er seinen Freund unvermittelt. Dieser blickte ihn überrascht an. „Was meinst du?“ „Ich meine – wie man ein neues Leben anfängt. Was erlebt. Sich fallenlässt.“ „Ach das“, Yami lächelte, dann schien er zu überlegen. „Naja, lass uns doch einfach gleich damit anfangen.“ Umko wollte das so sehr. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass Yami der interessanteste Mann war, der ihm in den letzten Jahren, in denen er wieder mit dem Dating begonnen hatte, jemals begegnet war. Um sie herum kroch nun die Dämmerung über den Horizont und die Straßen leerten sich. Es war noch schwül, doch am Himmel stand bereits ein geheimnisvoller Mond. Yami haderte indes mit sich. Er wollte Umko seinen Wunsch gern erfüllen. Die Luft prickelte und es roch nach Abenteuer und Geheimnis. Er hatte da etwas für sie im Sinn, doch er wusste nicht, wie weit er gehen konnte und sollte. Das letzte Mal, als er jemandem von seiner Identität als Pharao Atemu erzählt hatte, war alles gründlich aus dem Ruder gelaufen. In seiner Euphorie, neue Bindungen einzugehen, hatte er seinen Nachbarn Sigi, mit dem er sich ein paar Mal verabredet hatte, in einem schwachen Moment in seine Biografie eingeweiht. Hinterher hatten sowohl Sigi als auch er selbst nicht gewusst, wie sie jetzt mit dieser neuen Situation umgehen sollten. Als er Bakura gebeichtet hatte, vielleicht einen großen Fehler begangen zu haben, hatte er sich von diesem eine gehörige Moralpredigt anhören müssen. „Wie kommst du eigentlich dazu, irgendwelchen wildfremden Aufreißern sowas zu erzählen!“, hatte er ungehalten gekeift, „du musst vorsichtiger sein, mit wem du dich einlässt.“ „Sigi ist kein Wildfremder! Und außerdem: Wie soll ich jemals wieder einen Partner finden, wenn ich ihm nichts von mir erzählen kann!? Wie stellst du dir das vor?! Soll ich mir eine Kindheit ausdenken? Du hast gut Reden. Du hast ja Ryou, der ohnehin von allem weiß!“ Darauf hatte Bakura nichts mehr erwidert. Doch etwas Seltsames war passiert, nachdem sie dieses Gespräch geführt hatten. Als Yami zum nächsten Mal auf Sigi traf, hatte er feststellen müssen, dass dieser alles, was er ihm offenbart hatte, vergessen hatte. Er hatte Bakura im Verdacht, der sicher irgendeinen Zauber gefunden hatte, um den Schaden zu begrenzen. Aber gefragt hatte er ihn nie danach. Und dennoch war er jetzt erneut in Versuchung, Bakuras Warnungen zu missachten und seine Vorsicht über Bord zu werfen. Er biss sich auf die Unterlippe. Um sie herum wurden nun überall Lampions entzündet. „Komm mit“, sagte er schließlich und nahm Umko entschlossen an der Hand. Er zog ihn weg vom Gedränge durch viele dunkle Gässchen, zielstrebig und wortlos. Umko sah sich skeptisch um. „Yami, wo bringst du mich hin?“, hakte er vorsichtig nach. „Du wirst sehen“, sagte Yami nur geheimnisvoll. Schließlich waren sie angekommen: An dem Ort, den er bisher nur mit Bakura jemals betreten hatte. Er war über die Jahre und Jahrtausende zu ihrem gemeinsamen geheimen Platz geworden. Sie befanden sich mitten im mystischen und verheißungsvollen Gedränge des Nachtbasars. Einem Ort, wo sich all diejenigen fanden, die anders waren, die zwei Leben führten, die ihre Identitäten am Tag als Geheimnisse hütete und des Nachts hier sie selbst sein wollten. „Willkommen an dem Ort, an dem du alles sein kannst, was du willst“, wisperte Yami. Umko stand der Mund offen. *** „Nachtbasar“ hatten Bakura und Yami es damals, vor 3000 Jahren, getauft, als sie an manchem Abend heimlich aus dem Palast geschlichen und hier ihre Abende und Nächte verbracht hatten. Ein besseres Wort war ihnen für diesen Nicht-Ort nicht eingefallen. Stände und kleine Buden mit bunten Stoffen, Talismanen und allerlei Kuriositäten reihten sich in der engen Gasse aneinander. In ihre Nasen stieg der Geruch von Gewürzen und Seifen und in den schalkhaften Augen der Verkäufer spielte ein verschmitzter Funke. Überall schien ein melodisches Gemurmel zu pulsieren. Farbenfrohe Lampions hingen über den Buden und quer über die Gasse gespannt und am Rande des Weges gab ein Feuerspucker seinen atemberaubenden Tanz mit den Flammen zum Besten. Krüge mit würzigen Getränken krachten aneinander und fröhliches, raues Gelächter erfüllte die Luft. Alles hier schien mehr zu sein. Dieser kleine Fleck unter dem dämmernden Abendhimmel war – genau wie die Personen, die ihn mit Leben füllten – immer. Zeit schien hier keinen Platz zu haben. Und das Beste daran war: Alle hier waren wie Yami und Bakura. Die beiden waren hier keine Fremdkörper, sondern fügten sich nahtlos in das Bild ein, und niemand wunderte sich über ihre Anwesenheit. Sie gehörten hierher, waren ein Teil von diesem Ort, und alle Anwesenden bestätigten ihnen das beinahe in jeder Minute ihres Aufenthalts, wenn die Marktschreier sie mit einem konspirativen Wispern näher zu sich lockten, wenn die anderen Kunden ihnen ein wissendes Lächeln schenkten oder ihnen kaum merklich anerkennend zunickten. Jeder, der diesen Ort aufsuchen konnte, besaß etwas, das auch Yami und Bakura eigen war: In ihr Leben war Magie hauchdünn eingewoben wie Goldfäden in ein prachtvolles Gewand. ~*~ Die dröhnenden Bässe im Black Rainbow übertönten all die leise gesprochenen Worte aus dem Krankenhaus. Dominos LGBTQ-Szeneclub hatte erst vor Kurzem den Besitzer gewechselt. Limono hatte die urige Kellerdisko von seinem ehemaligen Chef übernommen, nachdem er jahrelang dort hinter der Bar gearbeitet hatte. Den ganzen Abend lang hatte er bereits seine Runden gedreht, mit gezielt platzierten Gesten dafür gesorgt, dass sich neue Gäste im Club wohlfühlten und wiederkommen würden, und mit Stammgästen geflirtet, die sich erhofften, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Zeit zum Nachdenken blieb dazwischen nicht und das kam Limono gerade recht. Er bestellte seinen siebten Shot an der Bar und ließ sich scheinbar ausgelassen neben Sigi auf einem Barhocker nieder. „Denkst du nicht, es reicht so langsam?“, fragte sein Freund kritisch. Limono winkte angeekelt ab. „Was bist du? Mein Bodyguard? Das ist mein Club und hier kann ich machen, was ich will, klar?“ „Schon klar“, sagte Sigi und zog eine Augenbraue hoch, „ich finde nur – und werd nicht gleich wieder kratzbürstig – du solltest lieber darüber reden, was das heute mit dir gemacht hat, als deine Gedanken mit Alkohol und bedeutungslosen Flirts runterzuspülen.“ „Oh Gooott“, sagte Limono langgezogen und warf den Kopf in den Nacken, „seit wann sind wir so erwachsen geworden?“ „Alles klar, versteh schon“, Sigi erhob sich, „aber wenn du doch mal reden willst, weißt du ja, wo du mich findest. Das war ein schwerer Gang für dich heute, ich weiß das.“ Dann ließ er Limono stehen und begrüßte eine Gruppe bekannter junger Männer, die soeben hereinströmte. Gegen Mitternacht beschloss Sigi, dem Clubbesuch ein vorzeitiges Ende zu setzen. Ihm war nicht nach lauter Musik und Getümmel. Als er das BlackRainbow verließ, sah er eine kleine Gestalt mit grünem Haar alleine draußen stehen, eine Bierflasche in der Hand und den Blick weit entfernt. Langsam trat er an seinen Freund heran. „Komm mit, ich bring dich nach Hause“, sagte er. Er legte seine linke Hand um Limonos Schulter und dieser schlang seinen rechten Arm um Sigis Taille. So traten sie stumm ihren Weg an. „Kommst du noch auf nen Absacker mit rein?“, wollte Limono wissen, als er die Wohnungstür aufschloss. Sigi schien kurz zu zögern, dann sagte er: „Ach, was solls. Okay.“ Wenige Minuten später reichte Limono ihm ein Glas Whiskey und ließ sich mit seinem eigenen Getränk neben ihm auf dem Sofa nieder. Er atmete hörbar aus. „Ist lange her, dass wir so zusammengesessen haben“, stellte er etwas nostalgisch fest. „Das kannst du laut sagen“, bestätige Sigi. „Danke“, sagte der Kleinere der beiden sachlich. „Für was?“, fragte Sigi, während er sein Glas schwenkte, offenbar fasziniert von der braunen Flüssigkeit darin. „Du weißt schon. Für heute. Denk ja nicht, ich hab’s nicht gemerkt.“ Sigi nickte. „Limono, du musst über Dinge sprechen. Wenn du’s mit sonst niemandem tust, dann wenigstens mit mir.“ Limonos große, violette Augen glommen im Schein einer Kerze, die auf dem Sofatisch brannte. Jetzt lächelte er verschmitzt und sein Mund stand leicht offen. „Ich hab eine bessere Idee“, flüsterte er. Sigi vergaß, sich zu wehren, als Limono sich langsam zu ihm herüberlehnte, seine Hand in Sigis Nacken legte und ihn in einen Kuss zog. Erst als bereits einige Sekunden verstrichen waren, schaffte er es, Limonos Hände einzufangen und vor dessen Brust zusammenzuführen. „Limono, das sollten wir nicht …“, sagte er leise. Limono verdrehte genervt die Augen. „Dann erzähl mal, warum nicht“, forderte er ihn herausfordernd auf. „Weil du getrunken hast und der Tag heute viel für dich war. Ich will nicht, dass du was tust, was du später bereust. Und ich will deine Situation nicht ausnutzen.“ Sein jüngerer Freund schüttelte lachend den Kopf. „Du Idiot“, sagte er, „warum kannst du nicht einfach wie alle Typen sein und dir nehmen, was man dir anbietet? Warum musst du gerade heute so scheiß-rücksichtsvoll sein?“ Sigi grinste. „Seien wir ehrlich: Wenn ich wie alle Typen wär, würdest du mir das Angebot gar nicht erst machen.“ Limono grinste zurück. Dann legte er eine Hand an Sigis Hinterkopf, vergrub seine Finger in dessen Haar und küsste ihn erneut, stürmischer, gieriger. „Ich brauche jetzt genau das“, wisperte er lasziv in Sigis Ohr. Dieses Mal widersprach dieser nicht. ~*~ Yami schien nun noch gelöster als zuvor. Er war größer, eindrucksvoller, als Umko ihn je erlebt hatte. Erhaben und herrschaftlich schwebte er durch das bunte, exotische Gedränge und leitete ihn zielstrebig durch die Gassen, an Ständen vorbei und in die ein oder andere zwielichtige Schenke. Dennoch fühlte sich Umko mit Yami sicher, behaglich, fast ausgelassen. Yami schien hier noch mehr von seiner betörenden Aura zu entfalten und Umko genoss es, darin einzutauchen. Dieses wohlige Gefühl wurde immer stärker, je länger sie sich auf dem Nachtbasar aufhielten. Das hier war genau das, was er zuvor vermisst hatte. „Woher kennst du diesen Ort?“, fragte er ehrfürchtig. „Bakura und ich kommen oft her. Wir haben diesen Geheimtipp entdeckt“, entgegnete Yami vage. Dass dies bereits vor 3000 Jahren geschehen war, verschwieg er geflissentlich. Als Umko glaubte, sein Hirn könne von all den Eindrücken nichts mehr aufnehmen, ließen sie sich endlich auf einer Bank vor einer kleinen Spelunke nieder. Yami reichte ihm ein prickelndes, feuriges, dunkles Getränk. „Hi Atemu“, grüßten zwei Männer in Yamis Alter diesen und blieben stehen. „Hi, schön, euch zu treffen. Alles klar bei euch?“, fragte Yami. Er schien die beiden gut zu kennen. „Joa, seit einer ganzen Woche haben wir es mal wieder hergeschafft. Wo hast du Bakura gelassen? Seid ihr nicht zusammen angereist? Wir haben einige Neuerwerbe, die ihn sicher interessieren dürfen.“ „Er ist hier“, winkte Yami ab, „aber heute bin ich mit meinem Freund Umko hergekommen.“ Die beiden musterten nun Yamis Begleitung. In ihre tiefschwarzen Augen trat etwas Überhebliches und Hartes. „Atemu, du bringst Externe her? Was denkst du dir dabei? Du spielst mit dem Feuer, bist du dir darüber im Klaren?“, wisperte einer der beiden Männer, der nachtblaues Haar hatte, das ihm lang und seidig über die Schultern fiel. Yami schüttelte den Kopf. „Lass das nur meine Sorge sein“, tat er den Einwand ab. „Du musst es wissen.“ Die beiden zuckten mit den Schultern. „Yami, wieso nennen sie dich Atemu?“, fragte Umko vorsichtig, als die beiden im Gewühl verschwunden waren. „Es wird Zeit“, sagte Yami, ohne zu antworten. Er erhob sich und stumm verließen sie den Nachtbasar. Als die wundersamen Klänge der nächtlichen Musik verstummt waren, standen sie sich in einer engen, leeren Gasse gegenüber. Umko hatte in Yami noch nie so viel gesehen, sich so zu ihm hingezogen gefühlt. Seine großen Augen glommen in der Finsternis und machten den Anschein, als erblickte man in ihnen lediglich die Oberfläche von Yamis tiefgründiger Seele. Er fühlte sich hellwach. „Das war – unglaublich“, gestand er seinem Gegenüber, „mit sowas hätte ich heute im Leben nicht gerechnet.“ „Ich … hoffe, ich konnte dich damit auf andere Gedanken bringen. Ich dachte, ein kleines Abenteuer tut dir gut“, sagte Yami verschmitzt. „Das war genau, was ich gebraucht habe“, sagte Umko leise. Eine Tür hatte sich plötzlich geöffnet und alles stand so glasklar vor seinen Augen. Er lehnte sich leicht zu Yami hinüber und berührte mit einem Zeigefinger dessen Lippen. Dann hauchte er ihm einen Kuss darauf. Er hielt inne, um Yamis Reaktion abzuwarten. Dieser lächelte und lehnte sich in Umkos Berührung. Ihre Gesichter waren sich ganz nah. Schließlich küssten sie sich, lange und neugierig. Sie ließen sich Zeit, den Moment auszukosten. Yami legte seine Hände auf Umkos Brust, spürte, wie sein Brustkorb sich hob und senkte. „Ey, ihr Scheiß-Schwuchteln!“ Die beiden stoben auseinander. In der eben noch ausgestorbenen Gasse stand ihnen nun eine Gruppe etwa Zwanzigjähriger gegenüber. „Shit“, entfuhr es Umko. Er stellte sich näher zu Yami. „Verschwindet, hier gibt’s nichts zu sehen!“, rief dieser ihnen gebieterisch zu. „Das entscheiden immer noch wir. Wenn zwei kranke Homos wie ihr mitten auf der Straße Unzucht treibt, dann können wir wohl schlecht einfach wegsehen!“, grölte einer der jungen Männer. „Genau“, bestätigte ein anderer, „es ist unsere Pflicht, so ein widerliches Verhalten zu bestrafen, wie es sich für ordentliche Bürger gehört!“ In aggressivem Tempo schritt er auf Yami zu und ehe dieser sich versehen konnte, schlug er ihm mit voller Wucht seine Faust ins Gesicht. „Scheiße, Yami!“, fluchte Umko. Er schob sich vor seinen Freund und wollte in einen Gegeneingriff übergehen, aber ein anderer Halbstarker griff sich seine Arme und hielt ihn unter den Achseln fest. Ein dritter packte sich Yami und warf ihn zu Boden, drückte sein Gesicht auf den Asphalt, sodass seine Wange sofort zu bluten begann. Umko wehrte sich mit aller Kraft, dann spürte ebenfalls er einen heftigen Schlag auf seinen Hinterkopf. Seine Sinne schwanden kurz. Im nächsten Moment lag er auf dem Boden. Er fühlte Tritte in seinem Kreuz und seiner Seite. Zwei, drei, vier. Verschwommen nahm er wahr, dass sie auch von Yami noch nicht abgelassen hatten. Er versuchte, Yamis Namen zu rufen, aber nur ein Gurgeln verließ seine Kehle. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie sich Todesangst anfühlte. Plötzlich war es vorbei. Die Typen waren abgezogen und sie waren wieder völlig allein. Stöhnend zog Umko sein Handy aus der Tasche und wählte die Notfallnummer. „Yami?“, fragte er in die Dunkelheit. Er erhielt keine Antwort. ~*~ Limono drehte sich verschlafen zu dem warmen Körper hin, der neben ihm lag. Sigi zog ihn enger an sich und legte einen Arm um seine Taille. So lagen sie einfach eine Weile lang nur da, ohne einen Morgengruß. „Was hast du heute Abend vor?“, fragte Limono schließlich müde. „Nichts, wieso?“, murmelte Sigi. „Ich dachte, wir könnten das vielleicht wiederholen.“ Sigi grinste verschmitzt. „Ach, und wieso dachtest du das?“, neckte er seinen fünf Jahre jüngeren Freund. „Hmmm“, Limono machte ein zufriedenes, summendes Geräusch, „weil ich echt ne gute Zeit hatte gestern. Und du weißt doch: Never change a winning team.” Sigi sah ihn stirnrunzelnd an. „Aha“, machte er, „kannst du eigentlich jemals was sagen, was auch nur ansatzweise mit deinen wirklichen Gefühlen zu tun hat? Oder willst du dein Leben lang jede Unsicherheit mit Sprüchen überspielen?“ Langsam setzte er sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Limono konnte förmlich spüren, wie sich die Atmosphäre schlagartig veränderte. Eine abweisende Ausstrahlung ging jetzt von Sigi aus. Bevor dieser sich jedoch erheben konnte, rückte Limono an ihn heran und schlang von hinten seine Arme um dessen Schultern. Dann vergrub er sein Gesicht in Sigis Haar. „Okay, komm schon. Du weißt, ich bin total schlecht in sowas. Was willst du von mir hören? Ich bin froh, dass du gestern hiergeblieben bist. Du … hast mich echt aufgefangen. Und … ich fand es wirklich schön.“ Betörend knabberte er an Sigis Ohrläppchen. Der Ältere schien zu überlegen. Dann seufzte er gequält. „Naja, schätze, mehr kann ich nicht von dir erwarten. Das ging dir ja schon schwer genug über die Lippen“, sagte er versöhnlich. „Dann sehn wir uns nachher?“, hakte Limono hoffnungsvoll nach. „Ja“, stimmte Sigi zu. ~*~ „Verdammt, warum hast du nicht besser auf ihn aufgepasst!“, fauchte Bakura Umko an, als er mit Shadi im Schlepptau ins Krankenzimmer stürmte. Er war stocksauer. Seine Augen funkelten wild. „Ich – es tut mir leid“, sagte Umko ehrlich, „ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ „Dann lass es besser!“, keifte Bakura. Shadi trat an Yamis Bett, streckte eine Hand aus und strich ihm über sein lädiertes Gesicht. Trauer und Sorge lag in den Augen des Ägypters. Man hatte Yami viele Schmerzmittel verabreicht und er schlief jetzt. Es hatte ihn wesentlich schlimmer erwischt als Umko. „Was ist denn eigentlich passiert?“, fragte Shadi an Umko gewandt. „Wir … sind von ein paar homophoben Jugendlichen angegriffen worden.“ Erkenntnis trat auf Bakuras Gesicht. „Verdammt, wieso konntet ihr nicht vorsichtiger sein, was ihr in der Öffentlichkeit treibt?“, knurrte er. „Ich weiß auch nicht“, gestand Umko geknickt, „es war alles so – da war dieser verrückte Ort mit diesen mysteriösen Gestalten – und dann war alles wie verzaubert und die Straße war vollkommen leer. Wir haben niemanden kommen gehört.“ „Verrückte Ort?“, Bakura horchte auf, „du meinst, eine Art … Basar?“ „Ja, genau sowas!“ Bakuras Gesicht verdunkelte sich. Er sah mit einem Mal verletzt aus. Schließlich erhob er sich und schritt zum Fenster. Bis Yami aufwachte, wechselte er kein Wort mehr mit den anderen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)