Antinoos von tobiiieee (Tod Auf Dem Nil) ================================================================================ Kapitel 4: Convivium -------------------- Warum hat Wein die Farbe von Blut? Es füllt zahllose Karaffen, verschmiert Tische und Münder. Es klebt an den Zähnen, Fleisch ist noch zu erkennen, tropft von den Lefzen der Wölfe vor mir. Ich war längst in Ganymeds schlimmstem Albtraum gefangen.             „Antinoe!“ Ich schreckte zusammen und der Wein in der Karaffe in meinen Händen schwappte beinahe über. „Sachte, sachte“, sagte der Kaiser, während er mir seinen Weinbecher entgegenstreckte. Es dauerte einen Moment, bis ich wieder Gefühl in meinen Gliedmaßen hatte, doch dann füllte ich seinen Becher auf und ging um die Klinen herum, um auch die Gäste des Kaisers zu bewirten. Die Augen der römischen und lokalen Elite folgten mir unaufhörlich, hingen an meinem Nacken, meinen Waden.              „Kleiner Bithynier!“, flüsterten sie mir zu, Atem in meinem Ohr. Ich wand den Kopf zur Seite, um dem warmen Hauch zu entgehen, das beharrliche Wispern machte mich buchstäblich wahnsinnig, als ich einen Zug an meinem Haarband spürte. Ich fuhr herum, um die Hand wegzuschlagen, die mich peinigte, egal, wessen sie sein sollte, und mein Blick fiel auf den Kaiser – der nachwievor auf seiner Kline ruhte. Nicht Odysseus stand vor mir, sondern in der Tat niemand.             „Was machst du, deliciolae?“, fragte mich der Kaiser vergnügt. „Es ist noch nicht Zeit zu tanzen!“             „Da war ...“, stotterte ich. „Aber – ich hab ... Jemand ...!“             „Antinoe“, sagte der Kaiser augenzwinkernd, „hattest du etwas viel Wein?“             „Domine“ war alles, was ich hervorwürgen konnte. Ich konnte mich nicht erinnern, auch nur einen Schluck Wein gehabt zu haben. Der Kaiser gluckste amüsiert.             „Trink doch ein wenig Wasser und geh kurz frische Luft schnappen, bevor du hier weitermachst“, schlug er vor. Ich nickte gehorsam, stellte das Weingefäß ab und bewegte mich durch die Dutzenden Gäste des kaiserlichen Gastmahls nach draußen. Nah am Meer gelegen, war es windig in der Villengegend. Der Wind hauchte mir ihr Salz direkt ins Gesicht und trug ein seltsames Krächzen an mein Ohr wie von einer unbekannten Gans oder Möwe. Ich schloss die Augen und versuchte zu atmen. Doch sogleich riss ich die Augen wieder auf. Ich durfte keinen Moment nicht wachsam sein. Immerhin hatten sie mich nicht bekommen. Sie wollten mich immer noch. Ich ließ meinen aufmerksamen Blick um mich herum wandern, während ich mich bedächtig rückwärts der Hauswand der kaiserlichen Villa näherte: Sie sollten mich nicht überraschend von hinten packen und mitschleifen können.             Überhaupt, dachte ich, als sich mein Atem vor Aufregung beschleunigte. Was würde mich erwarten, wenn ich wieder hineinging? Der Kaiser und seine Freunde spielten mit mir. Sie wollten mir weismachen, ich würde mir Dinge einbilden, aber so leicht würde ich es ihnen nicht machen. Ich wusste, was ich wusste. In diesen Momenten hatten sie Zeit, sich zusammenzurotten und gegen mich zu verschwören. Sollte ich wieder hineingehen?             Die Stimmen von drinnen wuchsen laut wie das Brummen von Hornissen. Ich schlug die Hände auf meine Ohren und sank an der Wand in meinem Rücken zu Boden. Was sollte ich tun? Die Augen des Kaisers waren überall. Ich stand wieder in der kaiserlichen Bibliothek, sortierte herumliegende Schriftrollen, ordnete sie in ihre Regale ein, entfernte Staub von den Regalbrettern, und während ich mich fragte, ob es die Statuen in den Nischen zwischen den Regalen waren, die mir das Gefühl gaben, beobachtet zu werden, war es in Wahrheit der keuchende Kaiser, der in seinem Versteck stand, sich über die Lippen leckte und seinen Blick nicht von mir nehmen konnte, von meiner langsam zu kurz werdenden Tunika, von meinen nackten Füßen, von meinem Nacken, von dem das Haarband meine Locken fernhielt, von meinen freiliegenden Schultern oder von meinen jugendlichen Händen, die den einen oder andere Papyros aufrollten.              Wenn er mich schon seit fünf Jahren beobachtete, so fragte ich mich nun, warum sollte er es nicht auch diesen Abend auf mich abgesehen haben? Er und alle seine Freunde? Würden sie alle ihre Hände auf mich legen und mir in den Nacken atmen? Unwillkürlich begann ich, mit den Fingernägeln über mein Genick zu kratzen, wobei ich meine Hände von den Ohren nahm und die Augen blinzelnd öffnete. Ich hielt inne und blinzelte erneut. Mir war, als hätte ich vor mir ein Gesicht schweben sehen. Mehr ein Schatten als Fleisch und Blut, aber dennoch ein Gesicht. Hatten die Götter mich gefunden? Suchte Thanatos nach mir? Wollte er mich auf seinen schwarzen Flügeln davontragen?             Derselbe Vogelruf wie gerade eben trug sich an mein Ohr und ich wandte den Kopf zum Eingang der Villa. Aus dem Augenwinkel war ich mir sicher gewesen, eine Figur durch die Tür treten zu sehen. Ich sprang auf die Füße und jagte ihr nach. Selbst Thanatos sollte mich nicht zum Narren halten. Entweder, er nahm mich mit sich oder er ließ mich in Ruhe, ganz einfach. Also lief ich ihm nach, um ihn zur Rede zu stellen.             Das Atrium der Villa war leer. Atemlos lauschte ich. Allerdings gelangten nur mein Herzrasen und mein eigenes rauschendes Blut an meine Ohren. Und das Lachen aus der Halle des Triklinions. Ich betrachtete den von Öllampen erhellten Eingang zum Saal des Gastmahls. Die Lampen strahlten heute besonders hell. Während ich mich auf die Tür zu bewegte, brach sich das Licht, wurde abwechselnd orange, weiß, gelb, grünlich und bewegte sich vor meinen Augen in rechteckigen Formen. Ich schüttelte blinzelnd den Kopf und das Licht wurde wieder normal. Die Lampen schienen kurz vor dem Erlöschen zu sein, denn der Türrand wurde langsam dunkel, verkohlt, schwarz.             Als ich darin erschien, war das Fest jedoch noch immer im vollen Gange. Niemand schien zu merken, wie sich die Mauern verfinsterten. Jemand sollte den Kaiser darauf hinweisen. „Domine“, sprach ich, als ich am Speisesofa des Kaisers angekommen war, doch er unterbrach mich sogleich.             „Deliciolae, du bist zurück“, sagte er, wobei er Schwierigkeiten zu haben schien, seine Augen auf mich zu fokussieren. „Geht es dir besser?“             „Herr“, beharrte ich, „es wird sehr schnell sehr dunkel.“             „Was redest du?“, fragte der Kaiser. „Die Nacht ist schon vor Stunden hereingebrochen.“ Die Tischgesellschaft lachte und ich zuckte zusammen ob des unerwarteten Lärms. Ich wollte erneut ansetzen, doch da streckte der Kaiser eine Hand aus, platzierte sie auf meinem unteren Rücken und zog mich näher zu sich heran. Unwillkürlich versuchte ich mich aus seinem Griff zu winden.             „Nicht hier“, sagte ich, als er versuchte, mich für einen Kuss zu sich herabzuziehen.             Der Kaiser erstarrte und sein plötzlich sehr strenger Blick wusch über mich. „‚Nicht hier‘?“, fragte er beinahe mit einem Knurren. „Ich kann dich haben, wann und wo immer ich will, kleiner Bithynier.“ Er schlang seine große Hand in einem festen Griff um meinen Unterarm. Sein Blick versprach Unheil. Ich schluckte.             Vor meinem Geist erschien das Bild eines Bettes: Aphrodite und Ares in liebevoller Umarmung, gefangen und zur Schau gestellt mitten im Akt. Um sie herum alle Götter, Dutzende Münder, aus denen ein unauslöschliches Lachen drang, in der Welt widerhallte, auf dem Olymp, auf dem Ozean, in der Unterwelt zu hören war, das so intensiv war, dass es ewig schien, während Aphrodite und Ares vom Netz des Hephaistos begraben waren und, unbeweglich, kaum ihre Scham bedecken konnten, die alle Welt zu sehen bekam.             Sicherlich würden die Freunde des Kaisers ebenso unauslöschlich lachen. Während der Kaiser mich packte, mich auf die Kline drückte, mir die Kleider vom Leib riss, all seinen Freunden meinen Körper präsentierte, seine eigene Toga von den Schultern fallen ließ, und sich mir erbarmungslos aufdrängte, lag über allem dieses Lachen, diese Freude an meinem Leid, alle Gesichter johlten, ergötzten sich an der Erniedrigung dieses Sklaven, an seinen Schreien, an seinem Würgen, daran, wie sich seine Finger in die Liege krallten, als der Kaiser ihn aufriss, entzweiriss wie Eurymedon den namenlosen Perser, seine Seele zerriss, und in all dem heiteren Trubel stand nur Thanatos in der Ecke, den Körper von seinen Flügeln bedeckt, und sein Mund allein bildete keine offene Höhle, sondern einen geraden Strich ...             „Wenn ich will“, sagte der Kaiser schließlich. Er ließ meinen Arm los und ich musste mich kurz umsehen, um mich zu orientieren. Wo war Thanatos schon wieder hin? „Mehr Wein“, hörte ich den Kaiser sagen. Aufgeregt atmend starrte ich auf ihn herab. Erneut hielt er mir seinen Weinbecher entgegen. Ich brauchte mehrere Momente, um die Situation zu verstehen: War ich in der Zeit zurückgereist?             „Sicher“, murmelte ich schließlich planlos. „Wein ...“ Der Kaiser warf seinen am nächsten sitzenden Freunden einen Blick zu und als ich fortging, um mehr Wein zu holen, hörte ich sie hinter mir lachen. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Hatte ich nur geträumt, dass der Kaiser mich vor der versammelten Gastmahlgesellschaft entblößte? War ich im Stehen eingeschlafen?             Ich kehrte mit dem Wein aus der Küche in den erneut grell erhellten Bankettsaal zurück. Das nun wieder erglommene Licht nutzte ich, um einen Blick in die Karaffe in meinen Händen zu werfen, denn ich wollte wissen, ob es eigentlich weißer oder roter Wein gewesen war, den ich blind gegriffen hatte.             Mit einem Mal erlosch das Licht im Raum. Laut schreiend schleuderte ich die Karaffe von mir: Sie zersplitterte mit einem gedämpften Scheppern in tausend Scherben und aus ihr heraus kam ein blutgetränkter Ibis zum Vorschein, der ein leises, unheimliches Krächzen von sich gab. Zunächst blieb er wie ein unförmiger Klumpen zwischen den Trümmern liegen, doch dann, ich war unfähig auch nur einen Muskel zu bewegen, hob er seinen hässlichen, länglichen Kopf und seine roten Augen starrten in meine aufgerissenen Augen, bevor er seine Flügel ausbreitete, die den gesamten Raum einnahmen, und sich mir entgegenstürzte.             Ich schrie und hob die Hände vors Gesicht, kniff die Augen zusammen, doch auch das würde gegen den spitzen Schnabel dieses Todesvogels nichts bringen, die Leber würde er mir herausreißen, doch hier würde er nicht aufhören, wieder und wieder würde er seinen Schnabel in mir versenken, mich nach und nach zerpflücken, zerstückeln, zerreißen, verschlucken und in der Welt verteilen – vielleicht würde ich so meine Heimat wiedersehen ...             Kreischen und Schreien waren zu hören, unauslöschlich, göttlich, unterweltlich, himmlisch, ewiges Schreien, das durch die feste Luft schnitt, die keine Luft mehr war, sondern ein greller, solider Block, wie der, aus dem die lebendig gewordene Aphrodite geschaffen war, ein Ozean, der sich in meine Lungen ergoss, durch den es kein Entrinnen gab, egal, wie sehr ich kämpfte, egal, wie sehr ich mich bemühte, zu fliehen, ich musste weg, sonst würde mich die schiere Menge ersticken, ich würde ertrinken, hier in diesen Fluten, in den Wellen Poseidons, würde für immer zum Grund sinken und bei Triton und den Nereiden bleiben, die mir ihre Hände entgegenstreckten, ich musste sie nur greifen, mich an den Armen festhalten, die in hübschen schwarzen Flügeln endeten – Moment, in Flügeln? Ich blinzelte und schaute genauer hin: Es war gar nicht Triton, auch nicht Poseidon, der mir die Hand reichte, es war Thanatos, der mir über die Wangen strich. „Antinoe ...“             „Antinoe!“ Ich schlug die Augen auf. Das Schreien erstarb. Übelkeit überschwemmte mich. Ich zitterte. Mein Körper war übersät mit kaltem Schweiß. Nur langsam kam ich zu mir. Die Öllampen flackerten wieder normal. Im Raum war es so gut wie still. Ich kniete auf dem harten Boden. Menschen musterten mich. Neben mir kniete ebenfalls jemand. Thanatos! Panisch wich ich zurück.             Doch es war der Kaiser. „Antinoe!“, wiederholte er. Ich versuchte zu sprechen, doch meine Kehle war ausgetrocknet. Also nickte ich. Mit mehreren unsicheren Atemzügen kehrte das Gefühl in meinen Körper zurück und Erschöpfung drohte mich zu überwältigen. „Kannst du aufstehen?“, fragte der Kaiser. Beinahe unfähig, überhaupt die Augen offen zu halten, nickte ich erneut; der Kaiser packte mich an den Armen und zog mich hoch.             Ein Gefühl der Ohnmacht stieg in meinem Kopf auf. Meine Atmung wurde flach. Mit einem letzten Zittern meiner Gliedmaßen fiel ich in die Arme des Kaisers. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)