Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 28: Akt VI - Der Zug: 10-1 ---------------------------------- 10-1: DANTE Das Atravet hatte gewirkt. Yuri würde diesen Flug in seichtem Halbschlaf verbringen und keinerlei Gelegenheit haben, irgendeine latente Flugangst in sich zu entdecken. Mit triumphierendem Blick ließ Dante lässig die kleine Tube, die er bis eben auf dem Schoß versteckt hatte, wieder in der Manteltasche verschwinden. Jin, der sehr skeptisch gegenüber der Idee gewesen war, wirkte zufrieden mit dem Resultat. Bereits vor der Abreise hatten die beiden sich über diesen Plan kurzgeschlossen. »Wenn Yuri Luftkrankheit oder Flugangst entwickelt«, hatte Jin bemerkt, als ihr dritter Mitstreiter gerade in der Küche nach weiterem Popcorn suchte, »können zehn Stunden sehr lang werden.« »Entspann dich, das hab ich im Griff«, erwiderte Dante und förderte aus einer Schreibtischschublade das Atravet zutage. »Wenn wir in der Abfertigungshalle unseren letzten Drink nehmen, kriegt er was hiervon.« Natürlich war Jin misstrauisch, nahm ihm die Tube ab, schraubte sie auf und drückte sie, bis die klare, honigfarbene Paste hervortrat. »Was ist das?« »Ein Beruhigungsmittel. Aber ich benutze es fast nie.« Jin stutzte, drehte die Tube und las im Halbdunkel, was darauf stand. »Das ist … für Tiere.« »Ja. Eignet sich gut für Wachhunde, die Grundstücke bewachen oder Lärm machen könnten. Gehen total ab auf das Zeug. Sollte auch bei Menschen wirken … aber nicht bei Teufeln, also nicht für deine Therapie geeignet.« Jin machte den Mund auf und wieder zu und schüttelte missbilligend den Kopf. »Guck nicht so. Er wird nichts mitkriegen, bis wir in Wales sind. Kann doch nur in seinem Sinne sein.« Ihm war klar, dass er nie Jins Zustimmung für dieses kleine Attentat, das Yuris Vertrauen in seine Verbündeten untergrub, bekommen würde, aber es kam auch kein Protest mehr. Und als es schließlich an der Zeit war, die Rotznase kalt zu stellen, zeigte Jin sich sogar kooperativ, indem er vorschlug, etwas zu trinken zu besorgen, und damit die einzig mögliche Gelegenheit schuf, die sich in einer Flughalle überhaupt ergeben konnte. Als Yuri zu den Toiletten verschwunden war, kam Jin mit den Getränken zurück, stellte sie vor Dante ab und sagte auffordernd: »Du wolltest ihn doch betäuben. Hier, beeil dich.« Ihre Misshelligkeit schien vergessen. Also war sogar Jin zu gewissen Gemeinheiten zu motivieren, wenn nichts anderes zu Gebote stand. »Er muss es nicht wissen«, erwiderte Dante bedeutungsvoll, als er die Tube über einem der Gläser aufschraubte. »Jedenfalls noch nicht.« Jin erwiderte seinen Blick in stiller Übereinkunft. Eine Viertelstunde später bugsierten sie Yuri halbwegs liebevoll über die Gangway ins Innere der Boeing 737-700 von United Airlines. Es war eine ziemlich kleine Maschine, aber Eastport City war nun einmal kein Metropolenflughafen. Wie zuvor festgelegt schoben sie Yuri auf den Fensterplatz, wo er sich brav zusammenrollte, und Jin setzte sich neben ihn, in die Mitte der Dreierreihe, schnallte ihn an und hatte ein Auge auf ihn. Dante, der das Gefühl nicht los wurde, sie beide im Auge haben zu müssen, fand seinen Platz im Gang sehr angemessen, machte er ihn doch zu einem schwer überwindbaren physischen Hindernis für die Beiden – oder für die Flugzeugcrew. »Ready for take-off«, war das Signal, das die Maschine endlich in Bewegung setzte. Die meisten Passagiere gaben sich unbeeindruckt bis offen gelangweilt; viele trugen Anzüge oder zumindest ordentlich gebügelte Hemden und lasen die Times, die am Eingang ausgegeben worden war. Ein reiner Business-Flug, Routine für die meisten an Bord. Dante sah zwei oder drei Kinder, die sich die Nasen an den Bullaugen plattdrückten, ein aufgeregtes Seniorengrüppchen im vorderen Teil und nicht weit weg ein kuschelndes junges Paar, das in England vermutlich eine Menge vorhatte. Entsprechend wenig Aufmerksamkeit erhielt das Personal bei der routinemäßigen Sicherheitseinweisung. Kaum jemand schaute hin. Außer Jin natürlich, den seine angedrillte Höflichkeit durchs Leben dirigierte. Yuri schlummerte friedlich an die Bordwand gelehnt und sabberte gegen die Scheibe. Auch an ihn war jede Mühe verschenkt. Dante war tatsächlich sehr lange nicht mehr geflogen und beobachtete alles mit einem gewissen Wohlwollen. Vor allem gefiel ihm das interessante Gefühl, als sich die voran rasende Maschine plötzlich vom Boden löste und wie mühelos alles unter sich zurückließ. Sobald sich jedoch alles beruhigt hatte, wurde der Flug ziemlich langweilig. Dante sah zu Jin, der irgendetwas auf seinem Telefon las. Von ihm zumindest ging keine Gefahr aus, er war sichtbar entspannt, und die schwarzen Ponyfransen fielen locker über seine nach unten gewandten Augen, deren Brauen jetzt buschige Bögen waren und keine schmalen Sägeblätter, die einem den Weg in die Hölle zeigten. Zwar ließen Jins Züge wie üblich wenig Emotion erahnen, doch sie waren auch frei von der ebenso gut bekannten mühsam verhohlenen Wut, die sich gelegentlich Bahn brach. Dante schaute wieder beiseite und seufzte theatralisch. »Fliegen ist nicht wie in Filmen, hm? Keine Erdnüsse, kein Tomatensaft und keine leicht bekleideten Stewardessen. Klischees verfehlt.« Jin nickte nur, ohne aufzusehen. Dante fragte sich, wie Menschen ohne Humor überleben konnten. Das schien Jins Superkraft zu sein. »Wenn wir die korrekte Flughöhe erreicht haben, werden sie bestimmt einen Film zeigen. Bis dahin … Lies die Zeitung, oder was auch immer.« Offensichtlich war das genau das, was Jin gerade tat: die Zeitung lesen, nur auf seinem Handy. Dante sah nur japanische Schriftzeichen auf dem Display und fragte sich, wie man jemals alle davon auswendig lernen konnte. Er hatte gehört, dass Kinder in Japan erst mit zehn Jahren eine Zeitung lesen konnten, da sie erst dann genügend Zeichen verstanden, um den Aufbau der Sätze zu begreifen. Das war doch irgendwie nicht normal. »… Oder schlaf einfach, wie Yuri, oder bestell dir was zu trinken.« Jin schien es nicht zu mögen, wenn man zusah, was er las, auch wenn man nichts davon verstand. »Gibt es hier auch Getränke mit Kohlensäure?« »Natürlich. Wir sind im Flugzeug, nicht im Weltraum.« Jin klappte das Telefon zu und steckte es weg. »Warst du schon mal in New York?« »Sicher. Mich haben Aufträge schon an viele verschiedene Orte geführt. Aber eigentlich reise ich nicht gern.« »Nicht mal dann, wenn dein Auftraggeber die Kosten trägt?« »So wie jetzt, meinst du?« Dante legte die Arme im Nacken zusammen und erwiderte gleichmütig Jins fragenden Blick. »Nein. Weil … ach, weil ich faul bin. Ich mag es, wenn ich einen Auftrag schnell und möglichst ohne viel Mühe erledigen kann. Was bei den meisten auch der Fall ist.« Jin schüttelte verständnislos den Kopf. »Du bist überhaupt nicht … neugierig?« »Nicht wirklich.« Dante fragte sich selbst, warum das eigentlich so war. Warum ihn die Welt oft derart langweilte. Obwohl sie, wenn man den großen Denkern glaubte, doch voller Wunder sein sollte. Als Kind war er nicht so gewesen. »Meine Neugier muss man erst wecken.« Jin betrachtete ihn skeptisch. »Dann verstehe ich, warum dein Name nicht bekannter ist«, sagte er. »Bei dem, was du leisten kannst – schnell und ohne Mühe, wie du sagst –, müsstest du mehr als nur ein Geheimtipp sein. Dann würden weit mehr exotische Gäste wie ich um deine Hilfe bitten und dir viel mehr dafür anbieten. Aber du willst es gar nicht.« Darauf brachte Dante nicht mehr als ein Schulterzucken zustande. »Es gibt wenig Materielles, das mir was bedeutet. Ich hab viel Begeisterungsfähigkeit verloren, als – du weißt schon, als ich meinen Rachefeldzug antrat. Das ging dir doch genauso, stimmt’s? Du bist drauf eingeschossen, irgendjemanden für das bezahlen zu lassen, was dir und deiner Mutter angetan wurde. Was du dafür opfern musst, bedeutet dir nichts. Auch dein plötzlicher Reichtum bedeutet dir nichts. Dass du jetzt Chef dieser Firma bist, ist dir völlig egal. Nichts davon hat irgendeinen Wert für dich. Und genauso hat mein Geschäft keinen Wert für mich – ich bin nur froh, wenn ich ein Stück von dieser Brut zurück in die Hölle schicken kann, und ob ich dafür einen feuchten Händedruck, zehn Dollar oder ein Strandhaus in Miami Beach kriege, ist mir vollkommen egal.« Jins zuerst noch ertappte Miene veränderte sich, und er gab so etwas wie ein verhaltenes Lachen von sich. Jin hatte die Fähigkeit, beim Lachen seine Mundwinkel an Ort und Stelle zu belassen, aber das Geräusch dahinter war weich, wie Erde nach dem Regen. »Nanu, du kannst lachen?« »Was? Natürlich kann ich lachen.« Schade, schon hatte er das zarte, scheue Tier, das Jins Humor war, wieder in den Wald gescheucht. Nüchtern fragte Jin: »Wenn das alles bedeutungslos ist, was sollte dann Bedeutung haben? Für dich und mich?« »Hmm. Werte.« Dante antwortete ohne zu überlegen. »Moral. Fairness. Das Ethos des Ehrenhaften … Oh, hab ich das wirklich gerade gesagt?« »Aber was soll Moral einem nützen?«, fragte Jin verständnislos. »Moment, Kazama. Du musst aufpassen. Werte unterscheiden dich von den Typen, die du hasst. Vergiss das nicht.« Jin rieb sich mit dem Handrücken die Stirn. »Meine Mutter wollte auch immer, dass ich das verstehe. Aber das habe ich nie.« »Wie alt warst du, als sie starb?« »Fünfzehn.« »Fast doppelt so alt wie ich, als meine starb. Ich glaub, mit fünfzehn nimmt man nicht mehr jedes Wort der Mutter als göttliches Gesetz hin, sondern hinterfragt es. Normal. Ich war noch nicht so weit, als ich meine verloren habe. Für mich ist das, was sie mir beigebracht hat, bis heute Gesetz. Aber du hast Zweifel. Das ist okay, aber … wenn du dir nicht im Klaren bist, ob du ein guter oder ein schlechter Kerl sein willst, ob du fair kämpfst bis zum Schluss oder ob du Andere mit reinziehst, wenn du verzweifelst … dann hat sie irgendwas falsch gemacht.« Jin schwieg. Sein Blick war forschend, aber seltsam in sich gekehrt. »Ich muss aufhören zu reden«, stellte Dante fest. »Ich schwadroniere wie ein alter Sack.« Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und legte sich demonstrativ den Arm über die Augen, was nicht bequem war, aber Jin signalisierte, dass er den Mund zu halten hatte. Als sie über den Wolken flogen, spiegelte sich das Sonnenlicht auf den genieteten Tragflächen und sandte blitzende Reflexe ins Innere der Kabine, die aber zumindest Yuri bei seinem komaartigen Tiefschlaf keineswegs zu stören schienen. Allmählich fragte sich Dante, ob er ihm vielleicht zu viel Atravet in den Tee gemischt hatte. Oder ob Yuri das Zeug einfach nicht vertrug. Schließlich war er schon nach zwei Schlucken abgekippt, was ziemlich bedenklich schien. Andererseits konnte sein Zustand nicht ernsthaft gefährlich sein, denn die tiefen, ruhigen Atemzüge ließen darauf schließen, dass er nicht bewusstlos war, sondern nur … verdammt gut schlief. Wenn alles ganz still war, konnte man aus seiner Manteltasche sogar ganz leise das Ticken der magischen Uhr vernehmen. Die Flugroute führte, unschwer zu erraten, einmal quer über den Nordatlantik. Selbst wenn man aus dem Fenster schaute, bot sich keinerlei Fixpunkt, nichts Interessantes. Schon wegen der Wolkenmassen, die sich naturgemäß über jedem Meer dahinwälzen, war die Aussicht noch eintöniger als das Innere der Maschine. Kurze Zeit später wurde, gemäß Jins Prophezeiung, ein Film gezeigt: Bloodline, ein alter Krimi mit Audrey Hepburn und einer Schar weiterer berühmter Schauspieler im Gefolge. Etwa nach der Hälfte murmelte Jin: »Ich verstehe vieles nicht. Die sprechen sehr undeutlich.« Aber er bat Dante nicht um eine Zusammenfassung des Geschehens, und Dante gab ihm auch keine. Als es vor den Fenstern allmählich dunkler wurde und die Nacht hereinbrach, verebbten auch die letzten leisen Gespräche. Hier und da beklagte sich noch quengelnd ein Kind darüber, dass sein Kuscheltier unter den Sitz gefallen war, und wenige Leselampen über einzelnen Plätzen blieben angeschaltet. Ansonsten versuchten die Leute tatsächlich, die vor ihnen liegenden Nachtstunden bis zur Landung mit Schlaf zu überbrücken. Nun, wer es bequem haben wollte, der flog wahrscheinlich auch nicht Economy Class. Die meisten Typen an Bord waren den mangelnden Komfort gewöhnt: Sie würden nach dem Aussteigen routiniert die nächste Herrentoilette aufsuchen, das Hemd wechseln, eine Handvoll Rasierwasser ins Gesicht klatschen und dann ausgeschlafen zum Meeting erscheinen. Geschäftsleute. Dante stellte fest, dass er wohl auch vor Langeweile eingeschlafen sein musste, denn er wachte auf, als begleitet vom bekannten Signalton die Symbole zum Hinsetzen und Anschnallen aufleuchteten. Die Lichter über den Sitzen sprangen flackernd an, und der Kapitän meldete in munterem Ton, dass er nun in den Landeanflug überging. Die Flugbahn senkte sich spürbar. Als Dante über Jin hinweg zu Yuris Fenster sah, glitten sie gerade durch die undurchsichtige Wolkenschicht nach abwärts. Nur die blinkenden Lichter an den Tragflächen offenbarten dies, alles andere lag noch immer in völliger Dunkelheit. Die Stewardessen begrüßten die Passagiere zuckersüß und verteilten Zeitungen – diesmal The Guardian. Jin bestellte sich einen Kaffee und befand, dass er fürchterlich war, er aber nichts anderes erwartet hatte. Dante trank den Rest und sagte Jin, dass er seine Meinung teilte. Schon hatten sie beide keine hohen Erwartungen mehr an England. Unter den Wolken regnete es. Auch das entsprach den Erwartungen. Als immer mehr Tropfen geräuschvoll gegen die Fenster prasselten, wachte Yuri auf. »Holla. Was war denn das?« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das mausbraune Haar und streckte sich ausgiebig, wobei Jin seiner Faust ausweichen musste. »Sind wir … sind wir im Flugzeug?« Schon drehte er sich auf dem Sitz um und kroch halb über die Lehne, um sich in der Kabine umzuschauen. Amüsiert sah Dante zu, wie Jin Yuri wieder auf seinen Sitz zog und ihn anschnallte wie einen sich daneben benehmenden Dreijährigen. »Ja, du siehst ein modernes Flugzeug von innen«, sagte er geduldig. »Wir landen gleich. Bitte sei ruhig.« Fürs Erste blieb Yuri sitzen, klebte allerdings fasziniert am Fenster und starrte lange Zeit auf die völlig einförmigen Regenschleier inmitten der Finsternis, die das Flugzeug umgaben. Schließlich konnte Dante nicht mehr widerstehen. »Hyuga, mal ehrlich … Du hast gar keine Flugangst, oder?« »Nö. Ich weiß, wie die Welt von oben aussieht. Ich hatte nur … Bedenken, wegen … Schiffen.« »Oh.« Zum Glück wirkte das Atravet auch dämpfend auf jede Art von Kotzreiz. Hatte zumindest der Tierarzt gesagt. »Aber jetzt geht’s mir gut. Wirklich, ich fühl mich großartig. Wann gibt’s Frühstück?« Jetzt merkte Dante, dass sie dem Erdboden schon ganz nahe waren – er sah die Lichter des Flughafens unter dem Fenster. Die Maschine lag auf der Seite. Im nächsten Moment wurde ihm klar, dass sie zu steil hereinkamen. »Festhalten«, verkündete der Pilot, kurz bevor er durchstartete und den Flieger wieder hochzog, was den Passagieren ein überraschtes Ächzen entrang. »Was machen die denn?«, fragte Yuri und klammerte sich kurzzeitig an die Armlehnen. Der Pilot entschuldigte sich für den Go-Around und begann den Anflug erneut. Misstrauisch beobachtete Dante die sich wie aus dem Nichts auftürmenden, tief liegenden Wolken, die die Lampen der Landebahn unter ihnen immer mehr verdeckten, bis sie nur noch wie matte Irrlichter durch Nebel schimmerten. Die Herausforderung für den Kapitän wurde mit jeder Sekunde größer. Jin beugte sich zu ihm. »Siehst du das? Jemand oder etwas will nicht, dass wir sicher landen.« »Was du nicht sagst«, raunte Dante zurück. Yuri starrte fasziniert aus dem Fenster; noch hatte er die Besorgnis in den Gesichtern der anderen Passagiere nicht bemerkt. Diese Leute flogen, im Gegensatz zu ihm, sehr häufig und hatten längst erkannt, dass hier etwas nicht stimmte. Wieder versuchte der Pilot zu landen, und wieder musste er durchstarten, als ein kräftiger, rüttelnder Wind die Maschine anschob. Diesmal bekam er sie kaum wieder nach oben. Dantes sah etwas leuchtend Rotes am Fenster vorbei zischen, etwas, das sicher kein wegweisendes Licht war. »Jin«, sagte er leise zu seinem Nachbarn. »Er hat dein Blut. Sarris, meine ich.« »Was?« Jin sah inzwischen sehr beunruhigt aus. »Wovon redest du?« »Von dem Ritualdolch. Da klebte bestimmt genug dran.« Endlich verstand Jin. »Du hast Recht. Wir müssen was tun.« »Die Frage ist, was. Wir können schlecht aus dem Flugzeug klettern wie Superman und das Ding auf den Boden setzen.« Das Flugzeug schlingerte hart, und ein Kind in der hintersten Reihe quietschte auf. »Bitte bleiben Sie unbedingt angeschnallt«, ließ der Pilot aus dem Cockpit verlauten. Seine Stimme klang gefasst. »Wir haben es mit unerwarteten Turbulenzen zu tun. Kein Grund zur Aufregung.« »Kein Grund zur Aufregung mein Arsch«, knurrte Yuri, die Fingerknöchel weiß vom Festkrallen. »Hey, Sarris war vor uns hier und will verhindern, dass wir nach Wales kommen – ist euch das klar?« In Dantes Hirn arbeitete es. Sarris konnte weder sicher sein, dass sie ihm nach Wales folgten, noch konnte er wissen, mit welchem Flugzeug sie kamen und wo sie landen würden. Wenn er für das hier verantwortlich war, dann … »Energiespuren«, sagte er stirnrunzelnd. »Oder so was Ähnliches. Das ist die einzige Erklärung. Als ich mich auf Mallet Island zu Mundus’ Thronsaal durchgeschlagen habe, sind alle seine Wächter auf mich aufmerksam geworden und haben mir aufgelauert. Sie kannten das Blut meines Vaters.« »Treffer, Alter. Sarris hat an der Küste irgendwas platziert, das anspringt, wenn wir auf der Insel landen wollen«, bestätigte Yuri. Jin korrigierte: »Wenn ich landen will. Er hat nur mein Blut … wegen des Rituals.« Die Drei beobachteten, wie der schwarze, wabernde Dunst, der das Flugzeug umgab, sie ansah: Zwei rote Punkte schwammen in der beinahe flüssigen Dunkelheit. Die Lichter des Flughafens schienen fern wie Trugbilder. Die Passagiere tuschelten aufeinander ein, bemühten sich, die Ruhe zu bewahren. »Es wird verschwinden, wenn ich verschwinde«, erklärte Jin ruhig. »Erst dann können wir landen.« »Ach, und was hast du vor?«, fragte Yuri in bissigem Ton. »Raushüpfen?« »Ich werde mein chi unterdrücken. Wenn ich es gut mache, genügt das vielleicht.« »Dein – oh, okay.« Yuris Miene zeigte Verständnis, und er nickte brav. »Versuch das.« Dante hatte rein gar nichts verstanden. Was unterdrücken? Er für sein Teil war kurz davor, tatsächlich aus diesem jämmerlich herum schaukelnden Flieger zu springen und einzugreifen, auch wenn er die starke Vermutung hatte, dass er nicht so einfach herauskäme. Von hier drinnen aus konnte er jedenfalls nicht viel gegen diese ungnädigen Nebelwalzen tun. Dann allerdings fiel ihm ein, dass ja alle seine Waffen irgendwo anders waren – und nicht in Reichweite. Mist. Er sah neben sich zu Jin, der sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte. Er atmete nur noch langsam. Es schien, als würde sich sein ganzes Sein in ihn zurückziehen, sich auf einen einzigen Punkt konzentrieren, der sich ganz tief in seinem Innern befand. Nach wenigen Momenten hob er wie in Trance die rechte Hand und legte sie sich über die Stirn. Handfläche nach außen. Vor dem Fenster blitzte es rot. Die Fluggäste waren jetzt so unruhig, dass ihre aufgeregten Gespräche die Kabine mit auf- und abschwellendem Stimmengewirr erfüllten, das zunehmend hysterisch klang. Zwei Stewardessen standen im Mittelgang und hielten sich an den Sitzen fest; ihre Gesichter waren kalkweiß, die Blicke hektisch. Dante sah abwechselnd aus dem Fenster und auf Jin, der jetzt still wie ein Stein war. Er verstand nicht viel von meditativen Techniken – das war einfach nicht sein Ding –, doch er vermutete, dass Kampfkunstexperten, wie Jin einer war, damit ihre Kräfte zusammenzogen, sie versammelten, um sie dann auf einen Schlag zu entfesseln und den Gegner damit zu überrollen. Bam. Ein Finishing Move. »Da, es haut ab!«, hörte er Yuri sagen. Dante drehte den Kopf. Alle starrten wie gebannt aus dem Fenster, wo die schummrige Düsternis sich ganz allmählich zu verflüchtigen begann. Die roten Irrlicht-Augen waren bereits nicht mehr zu sehen; schwarze Nebelschwaden zogen hier und dort beiseite, und hinter ihnen tauchte wieder die ganz gewöhnliche Finsternis der Nacht auf, eine klare, durchsichtige Finsternis, durchdrungen von Lichtern aller Größen, Formen und Farben. Nur wenige Sekunden später lag das Flugzeug wieder ruhig in der Luft. Die Landebahn strahlte unter ihnen. »Verehrte Fluggäste, wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten«, brummte es aus den Lautsprechern. »Wir werden in Kürze in Birmingham landen.« Das Flugzeug ging ohne jegliche Schwierigkeiten nieder. Unter den Wolken regnete es weiter lange Fäden. Erst als die Räder hart auf dem Asphalt aufsetzten, schlug Jin die Augen auf und bedachte seine Umgebung mit dem gewohnt düsteren Blick, ehe er ohne ein weiteres Wort den Sicherheitsgurt löste. Sie waren in England angekommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)