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Der magische Papyrus

von

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Novemberabend

Es war ein nasskalter Novemberabend, als ich diese Buchhandlung zum ersten Mal betrat. Ich war müde und wollte im Grunde nur nach Hause. Seit Monaten schon lief ich einem ziemlichen Schlafdefizit hinterher. Schuld war die Arbeit, die mich zu ständigen Überstunden trieb. Jeder kennt das: da muss ein Projekt bis zu einem gewissen Datum fertig gestellt werden. Im Grunde kein Problem, aber wenn dann noch eines und noch eines hinzukommen und dann zig Präsentationen … Und so kam es, dass ich eben auch die Nächte durchzumachen begann. Eine Zeit lang ging das gut, doch irgendwann war ich am Tag zu nichts mehr zu gebrauchen und manchmal drohte ich sogar einzunicken, trotz unzähliger Becher Kaffees. Gott sei Dank hatte ich ein Büro für mich allein … Hinzukamen diese Stimmungsschwankungen, die seit Jahren immer dann einsetzten, wenn sich die Sonne bereits um 18, dann um 17 und 16 Uhr anschickte, unterzugehen und sich am nächsten Morgen erst gegen 8 Uhr blicken ließ. Wenn sie es denn tat. An jenem Novembertag, an dem ich meine Geschichte beginnen lasse, hatte sie sich kein einziges Mal gezeigt. Und das ganz ohne Entschuldigung. Hätte sie in unserem Institut gearbeitet … hui, dann wäre sie aber ganz schnell gegangen worden. So aber. Nun ja, sie war die Sonne. Sie konnte sich das leisten. Ebenso wie ich mir diesen Abend ganz für mich allein leisten wollte, um mit einem guten Buch auf der Couch zu sitzen und dann auch früh ins Bett zu gehen.
 

Mit diesen Gedanken im Kopf stöckelte ich an jenem Abend unter meinem Regenschirm dahin, immer in hab Acht, keinen anderen Passanten mit meiner Mistkrücke aufzuspießen und mich gleichzeitig unter ihr zu schützen, während es der Nieselregen doch irgendwie schaffte, mir die bestrumpfhosten Beine hochzukriechen und mich das Frösteln zu lehren.
 

Dass ich nun diesen Buchladen betrat – und ich sollte hinzufügen, dass ich erst später erkannte, dass es sich um ein Antiquariat handelte –, also, dass ich nun diesen Laden betrat, war dem puren Zufall geschuldet, denn als ich einem anderen Passanten ausweichen wollte, geriet ich, da der Bürgersteig sehr schmal war, unweigerlich auf die Fahrbahn und dort geschah das Unglück. Ein heranrasendes Auto erwischte eine Pfütze, die sich natürlich genau auf meiner Höhe befand, und spritzte mich von oben bis unten voll. Einen Moment lang meinte ich, im falschen Film zu sein und starrte den sich rasch entfernenden Rücklichtern nach, ehe ich begriff, dass ich mich auf der Straße befand und Gefahr lief, eine neuerliche Brackwasser-Dusche abzubekommen. Rasch hupfte ich mit meinen Stöckeln zurück auf den Bürgersteig, schloss in dem Moment meinen Schirm, spürte den Regen, der sich nun in dicken Tropfen auf mich ergoss, und dann sah ich mich auch schon eine Klinke drücken und hörte gleich darauf das Klingen von kleinen Glöckchen. Dann stand ich einer schmalen Gasse aus zwei übermannshohen Regalwänden gegenüber, die über und über mit Büchern bestückt waren. Und mein erster Gedanke war: Oh mein Gott, wenn die mal nicht auf mich einstürzen.
 

Es sei erwähnt, dass ich ein seltenes Talent habe, das Unglück anzuziehen. Betrat ich einen leeren Konferenzraum, suchte ich mir garantiert jenen Stuhl aus, der entweder wackelte oder unter mir den Geist aufgab – und zwar dann, wenn ich mich für eine Frage an den Referenten erhoben hatte, um mich nun wieder zu setzen und vor aller Augen krachend auf dem Boden Platz zu nehmen. Oder … damals, als ich herzhaft in mein Frühstücksbrötchen gebissen hatte und dabei einen meiner Zähne einbüßte. Der Grund war ein eingebackener Stein gewesen. Oder … Ach, ich will nicht ausholen. Das langweilt ja nur und bringt mich noch im Nachhinein in schlechte Stimmung. Jedenfalls sah ich mich dieser Büchergasse gegenüber und wusste zuerst nicht, was ich hier wollte. Mir ein gutes Buch für den Abend kaufen? Derer gab es hier sicher recht viele. Aber …
 

Ich ging einfach weiter, entlang der schmalen Gasse, hinein zu einem schummrigen Licht, das sich, als sich der Raum plötzlich öffnete, als Thekenlämpchen entpuppte. Und neben ihr lehnte ein Mann über einer Zeitung und sah kaum auf. Doch unsere Blicke trafen sich dennoch für den Hauch einer Sekunde. Wir nickten einander zu. Ich ließ auch ein kleines „Hallo“ heraus, dann sah ich an mir herab.
 

„Schiet-Wetter“, ließ sich der Mann vernehmen und seine Stimme klang ruhig, fast unbeteiligt. Wieder nickte ich und meinte in ihm den Besitzer des Ladens oder zumindest den Verkäufer zu erkennen.
 

„Und nun?“, fragte er.
 

Das galt ganz offensichtlich mir und meiner Ambitionen in seinem Laden. Da ich, wie ich leider zugeben musste, wie ein Ferkel aussah, wagte ich es nicht, etwas zu erwidern, wandte mich um und wollte den Laden wieder verlassen, doch er hielt mich zurück.
 

„Darf ich Ihnen helfen?“
 

Ich drehte mich um.
 

„Wieso?“
 

Er zuckte mit den Schultern, erhob sich halb von seiner Zeitung und rückte sich die Brille zurecht.
 

„Wieso?“ Er blinzelte und ich erkannte zwei riesengroße Augen hinter dieser Brille. Sie waren braun und … Mein Gott, der Mann war weitsichtig! Weiter nichts! Aber es wirkte so, als starre mich eine Eule an. Und unwillkürlich fragte ich mich, wie klein sich seine Augen ausnehmen würden, wenn er die Brille absetzte. Solche Gedanken eierten durch meinen müden Kopf, während er mich betrachtete und ganz offensichtlich eine Antwort erwartete.
 

„Ich bin … nur so … ich meine draußen regnete es …“, begann ich – ganz entgegen meiner sonstigen Art – zu stottern und erntete dafür ein winziges Lächeln. „Das ist wohl wahr. Draußen regnet es.“
 

Und mit diesen Worten wandte sich der Mann wieder seiner Lektüre zu.
 

„Darf ich mich dennoch umsehen?“
 

„Ich wüsste nicht, was der Regen für einen Einfluss auf diese Entscheidung hat, aber ja, sehen Sie sich nur um.“
 

Einen Moment überlegte ich, ihm zu erklären, dass ich nicht den Regen, sondern mein Erscheinungsbild gemeint hatte, unterließ es aber.
 

„Wenn Sie Belletristik suchen, die finden Sie vorne“, meinte er mit einem Kopfnicken.
 

„Hm, ja, danke, aber davon hab ich selbst genug. Wo befinden sich die Kunstbücher?“
 

„Die befinden sich hinten.“ Und er deutete in die linke hintere Ecke.
 

„Danke.“
 

„Wir schließen aber in 10 Minuten.“
 

„Ach so … ja …“
 

„Wollen Sie sie trotzdem sehen? Die Kunstbücher?“
 

Ohne recht zu wissen, nickte ich. „Was haben Sie denn?“
 

Er zuckte mit den Schultern. „Ägypten, Mesopotamien, Griechenland …Ich bin berühmt für meine Kunstbücher.“
 

„So?“, stieß ich für meine Verhältnisse recht unüberlegt hervor. „Ich bin Ägyptologin.“
 

„Was Sie nicht sagen, dann wird Ihnen vielleicht das eine oder andere Werk meiner Sammlung gefallen?“
 

Und mit diesen Worten kam er um die Theke herum und auf mich zu.
 

„Wenn ich es Ihnen zeigen darf?“
 

„Na gut …“
 

Natürlich waren meine Erwartungen nicht allzu hoch, denn was man in normalen Läden über Ägypten finden konnte, beschränkte sich zumeist auf die Pyramiden oder Mumien, eben auf das, was die Leute interessierte und kauften. Kunstbände oder Ausstellungskataloge waren da schon seltener. Exquisite Erstpublikationen befanden sich vollkommen jenseits jeder nur denkbaren Grenze. Und ebenso verhielt es sich auch hier in diesem Laden. Der Mann präsentierte mir zwar einen kleinen Katalog über eine Tut-Anch-Amun-Ausstellung, doch erstens hatte ich den schon und zweitens hätte ich für diese schlechten Bilder in schwarz-weiß keine 20 Euro ausgegeben. Vielleicht sah mir der Mann meine Enttäuschung an, jedenfalls bemerkte er: „Ich hätte schwören können, dass ich noch etwas gehabt habe …“
 

„Na ja“, entgegnete ich nur und zuckte mit den Schultern.
 

„Sind Sie denn auf der Suche nach etwas Speziellem?“, fragte er mich da.
 

„Nein.“
 

„So, aha …“
 

„Ich werde dann mal“, fuhr ich fort. „Es ist schon spät und Sie schließen in wenigen Minuten.“
 

„Hmmm“, machte er, dann sah er mich an. „Sie sind Ägyptologin?“
 

Ich nickte, nun etwas irritiert ob der Frage.
 

„Wissen Sie“, begann er wieder, „dann können Sie mir doch Ihre Telefonnummer geben und ich rufe Sie an, sobald ich etwas reinbekomme.“
 

„Was?“
 

„Oder Ihre Emailadresse. Wie gesagt, ich bin nicht immer so schlecht ausgestattet. Und wenn ich etwas Gutes reinbekommen sollte, dann …“
 

Ich schwieg.
 

„… dann täte es mir leid, es an Leute zu verkaufen, die vielleicht nicht den Wert des Buches zu schätzen wissen“, fuhr er fort und ich zuckte schließlich mit den Schultern. Mir war zwar nicht klar, was das bringen sollte. Aber gut, ich gab ihm meine Telefonnummer – vielleicht auch ein wenig aus Mitleid, ob seiner Naivität.
 

„Wenn ich etwas habe, rufe ich Sie an.“
 

„Na klar“, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen.
 

„Ganz bestimmt tue ich es.“
 

„Auf Wiedersehen.“
 

„Auf Wiedersehen, Frau Schappach.“
 

Dass ich selbst weder den Namen des Mannes noch den seines Ladens kannte, fiel mir erst daheim auf. Seltsames Gefühl, fand ich, jemandem meine Nummer gegeben zu haben, von dem ich selbst gar nichts wusste – und auch, wenn er ein Antiquar war, wusste man ja nie. Also setzte ich mich an meinen heimischen Laptop und gab die Straße und das Stichwort Antiquariat in die Suchmaske ein, doch als Resultat erhielt ich nichts. Also gab ich Buchladen ein, aber es kam wieder nichts dabei heraus. Wie das? Ich stutzte. Besaß der Laden keine Internetpräsenz? Also bemühte ich google maps, gab wiederum die Straße ein, zoomte sie heran, fand alles, nur kein Antiquariat. Verdammt noch eins! Wie konnte das möglich sein? War ich schon so durchgedreht, dass ich mich in der Straße geirrt hatte? Wo nur war ich heute langgegangen? Etwa nicht meinen herkömmlichen Weg?
 

All das, auch wenn es sich vollkommen bescheuert anhörte, ließ mich nicht los und verhinderte es natürlich auch, dass ich mich erstens mit meinem guten Buch aufs Sofa verzog und zweitens wenigstens diesmal rechtzeitig ins Bett ging. Zu aufgeregt war ich, dass ich diesen dämlichen Laden nicht finden konnte. Es schien gerade so, als gäbe es ihn gar nicht. Aber wo gab‘s denn das?

Faksimile

Am nächsten Morgen das gleiche Lied wie immer: ich kam kaum aus dem Bett hoch, fühlte mich zerschlagen und nicht recht bei mir. Musste aber hoch, um den Tag irgendwie zu beginnen. Ich zählte die Stunden bis zum Mittag, dann die bis zum Feierabend, sah mich dann einem Haufen an Arbeit gegenüber – und mein Magen begann verrückt zu spielen. Aber ich musste ja erscheinen. Erscheinen Pflicht!
 

Erst am späten Nachmittag hatte ich die Möglichkeit, mich erstmals wieder mit der Frage nach dem Antiquariat zu befassen, schickte nochmals eine Suchanfrage los, die wieder nichts ergab, hatte dann einen meiner wenigen Geistesblitze und suchte mir eine Liste aller Antiquariate des Viertels heraus. Denn es konnte doch nicht angehen, dass ich gestern Abend in einem Antiquariat war, ohne genau zu wissen, wo es sich befand. Aber ehe ich nun Sturm im Wasserglas machen wollte, zwang ich mich zur Ruhe. Überdies hatte ich noch immer viel zu tun. Da war die neue Konferenz, die vorbereitet werden musste. Die Teilnehmer wollten schon jetzt bespaßt und in ihrer Eitelkeit, manchmal aber auch in ihrer Tollpatschigkeit unterstützt werden. Es war keine Freude, ständig Emails beantworten zu müssen, in denen es hieß: „Wie sieht das Frühstück in Hotel XY aus?“ Und: „Bekomme ich auch ja ein Zimmer in ruhiger Lage?“ Oder: „Könnten Sie mir meinen Aufenthalt bis zum Montag verlängern?“ … Solche Emails waren der Horror und mir kams so vor, als hätte ich es nicht mit erwachsenen Leuten zu tun, sondern mit Kindern. Und ehrlich, Kinder waren da erträglicher … Das Beste war eine Anfrage von einem Mann, der wissen wollte, wie denn so das Nachtleben in der Stadt ausschauen würde und ob ich ihm da nicht helfen könne …!!!
 

So kam es, dass ich den Gedanken an dieses seltsame Antiquariat oder eher meinen gestrigen Aussetzer immer wieder verdrängte, denn es stand für mich außerfrage, dass ich am gestrigen Abend einfach zu müde gewesen war, um zu realisieren, wohin es mich verschlagen hatte. Dass ich den Weg dennoch nach Hause gefunden hatte, war wohl dem Umstand geschuldet, dass ich nicht sehr weit vom Weg abgekommen war. Nur, wohin war ich gegangen? Welche Straße hatte ich benutzt. Und warum überhaupt? Nun tut man ja im Zustand geistiger Umnachtung sehr viele Dinge einfach so und ganz bestimmt gehört dazu auch das Erlaufen neuer Wege, aber dass ich mich so gar nicht daran erinnern konnte, ließ mich doch etwas nachdenklich sein. Meines Erachtens nach war ich immer auf der Hauptstraße geblieben und geradewegs nach Haus gegangen.
 

Wie dem auch sei. An diesem Abend nun nahm ich mir vor, ganz bewusst durch die Straßen zu gehen – auch wenn mich die Müdigkeit wieder drückte und ich im Grunde nur eines wollte: nach Haus und in mein Bett. Aber es ging doch einfach nicht an, dass …
 

… doch, es ging an, denn um es kurz zu machen: weder an diesem, noch an den folgenden Tagen fand ich meine Route und somit dieses Antiquariat wieder. Ich war durch alle Straßen im Umkreis gegangen, hatte wieder und wieder die Suchmaschinen des Internets bemüht und sogar einige Freunde befragt, ob sie nichts wüssten. Sie wussten nichts. Wie auch? Da war nichts. Rein gar nichts. Wohin also war ich gegangen? Wohin hatte ich mich verstiegen?
 

Ich war ratlos und fühlte mich schlecht, denn solcher Art von Aussetzer hatte ich noch nie gehabt, jedenfalls nicht in dieser Vehemenz. Gut, Wortfindungsstörungen kannte jeder, auch, dass man nicht wusste, ob man den Herd nun ausgemacht hatte oder nicht. Aber das hier, das spürte ich, war etwas Anderes, etwas vollkommen Anderes. Und wenn man mich fragte: es machte mir Angst.
 

Und ich sollte Recht behalten.
 

Wie erwartet, hörte ich nichts von diesem seltsamen Antiquar, sodass ich davon ausging, dass er mich entweder nur foppen wollte oder tatsächlich nichts Interessantes hereinbekommen hatte. Oder er hatte mich einfach vergessen. Nur leider konnte ich ihn nicht vergessen, ihn in seinem Laden, der zwar, wie ich im Nachhinein fand, gemütlich wirkte – er zwischen all seinen Büchern am Thresen über einer Zeitung lehnend –, allerdings gleichzeitig auch so unscheinbar, fade. Im Grunde hatte er absolut nichts Außergewöhnliches zu bieten. Und vielleicht war es dem Antiquar auch bewusstgeworden, dass er mich als Ägyptologin nicht begeistern würde können, wenn er mir ein Bilderbuch über Mumien oder das was weiß ich nicht wievielte Werk über die Erbauung der Pyramiden vorlegen würde. Vielleicht. Ganz sicher. Kurzum, ich ging davon aus, ihn, wenn es der Zufall nicht anders wollte, nie wiedersehen würde.
 

Aber es kam anders. Ganz anders und dieses Ganz anders erschütterte mich in Mark und Bein.
 

Die Konferenz, die ich eingangs erwähnt hatte, rückte näher und näher und meine Aufregung stieg und stieg, da ich – die rechte Hand meines Chefs, der gleichzeitig Professor des Instituts war – mich für alles verantwortlich zeigen musste. Er übernahm einzig den Part, die Leute vorzustellen – und auch nur jene, die er für wichtig erachtete, die anderen überließ er mir. Jedenfalls bestürmten mich die Leute, die sich bereits per Mail als Kindergartenkinder vorgestellt hatten nun in einer Vehemenz, jetzt, da sie mich persönlich vor sich hatten, und ließen ihre kleinen, dummen Fragen an mir ab. Und ich durfte mich nie auch nur einen Millimeter wegbewegen, denn ich hatte für deren Wohl zu sorgen. Dass dies wichtig war, sah ich ein, ging es doch hier nicht um irgendein kleines Kolloquium, sondern um eine Konferenz, an der an die 50 Leute teilnahmen. Und im Grunde hätte mein Chef für mehr Personal sorgen müssen – darauf aufmerksam gemacht hatte ich ihn nur allzu oft. Doch er hatte jedes Mal abgewunken. „Das schaffen Sie doch allein, Frau Schappach. Oder sehen Sie sich dem nicht gewachsen?“
 

Was hatte ich darauf antworten sollen, außer, dass ich es selbstverständlich schaffen würde. Und so stand ich nun da auf dem Flur vor dem Konferenzsaal, natürlich dauermüde und auf wackligen Beinen, hielt mich am Türrahmen fest und ließ eine Kanonade von knottrigen Bemerkungen über die Qualität des Frühstücks über mich ergehen und dann auch die Frage, warum man denn Herrn Prof. Hanfnuss in einem anderen, viel, viel besseren Hotel untergebracht hätte. Wo da die Gerechtigkeit sei. Tja …, die gab’s nicht, oder anders: sie definierte sich als Produkt aus dem Grad der Bekanntheit einer Person und der Einschätzung meines Chefs, inwieweit er dem Institut nützen könnte. Nützen – und das meine ich vollkommen ernst. Denn wie so viele andere Institute litt auch das Unsrige unter den Einsparungen und Kürzungen, die die Universität über die kleinen, sogenannten Lotusfächer verhängt hatte. Man sehe ihren Nutzen für die Universität an sich nicht, sie lieferten nichts, was die Welt bewegen würde. Und dass die Ägypter nun die Schrift – ungefähr zeitgleich mit den Sumerern – erfunden hätten, tja, nun, das hätte in jedem anderen Landstrich auch geschehen können. Das mache diese Fächer noch lange nicht zu einem wertvollen Mitglied der hiesigen Unilandschaft, denn das Geld, wo bleibt das Geld? Diese Konferenz, die nun mein Chef und ich ausrichteten, wandte sich genau diesen Fragen zu: Sind diese kleinen Fächer, die sich mit der kulturellen Evolution der Menschheit auseinandersetzen, nicht gerade deswegen von großer Bedeutung, weil sie einerseits darauf verweisen, wo unsere Wurzeln liegen, und andererseits dies auch weitertragen und das vor allem an interessierte Laien. Und einer dieser Laien war ein gewisser Herr Prof. Dr. mult. Dr. h.c. Karol Hanfnuss, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, gerade diesen kleinen Fächern wieder auf die Beine zu helfen. Welches seine Motive waren, darüber lässt sich streiten. Aber vielleicht dachte er, dass er so viel Geld hätte, was er in die Wirtschaft investieren würde, da könne er auch ruhig uns, die ganz Kleinen, unterstützen. Unnötig zu betonen, dass dieser Prof. Dr. mult Dr. h.c. Hanfnuss nun eine gesonderte, bevorzugte Behandlung erfuhr. Er war wichtig – zumindest im Kampf ums Geld. Und da hatte ein dürres Kerlchen namens Ulrich Hensel, der gerade seinen Doktor gemacht hatte, nichts zu melden. Nur konnte ich ihm das nicht so sagen. Ja, in meiner müden Verzweiflung konnte ich ihm überhaupt nichts sagen und ließ mich, ich konnte es minutiös beobachten, nicht nur an die Wand reden, sondern auch an diese quetschen.
 

Wie ich dem Redeschwall des durchaus nicht schlecht aussehenden Hensel entgehen konnte, weiß ich nicht mehr. Plötzlich allerdings stand ich allein da und holte tief Luft, die, da sie schon von so vielen Menschen geatmet, ziemlich schlecht war. Unwillkürlich ging ich deswegen zu einem der Fenster, öffnete es und holte noch einmal tief Luft. Und wie gut das tut, weiß wohl nur einer, der … Ach, das wissen alle. Frische Luft wirkt Wunder, wahre Wunder und kann sogar die Nebelschleier der immerwährenden Müdigkeit ein wenig lüften. Und dann schoss mir durch den Kopf, dass dieser Hensel im Grunde ja noch harmlos war. Er war ein Youngster – ebenso wie ich. Hätte ich es mit Hanfnuss zu tun, ja, würde der auf mich zukommen und sich beschweren … Na, hola die Waldfee. Einmal davon abgesehen, dass er der Geldgeber in spe war und damit das Ansehen der Ägyptologie an der hiesigen Universität retten würde, war er leider als ein gar zu selbstverliebter Pascha bekannt. Und lief ihm was quer, dann konnte er lospoltern. Und wie! Niemand, nicht einmal mein Chef hielt es dann in seiner Nähe aus. Man nennt dies wohl eine narzisstische Persönlichkeit, die es – und das schoss mir gerade durch den Kopf – nötig hatte, dass ihr die Allerkleinsten huldigten, weil sie ihnen aus lauter Güte mehrere 10.000 Euro im Jahr zukommen ließ. Auf Anfrage auch mehr. Er, der Hanfnuss, wie er sich selbst gern bezeichnete, käme nicht ungeschmückt.
 

Und bei all diesen Gedanken, die so durch meinen Kopf kullerten, lehnte ich mich mit dem Rücken ans Fenster, versuchte die Kühle zu genießen und begann mich auf dem Flur, vor dem Konferenzsaal umzusehen. Es befanden sich hier die von den jeweiligen Verlagen delegierten Verkäufer, die ihr Sortiment anbieten, auf Neuheiten hinweisen und Antiquarisches unterm Ladentisch hüteten. Mit denen befanden sich nur noch wenige Teilnehmer der Konferenz auf dem Flur. Warum? Klar, der nächste Vortragsmarathon würde gleich starten. Und vielleicht war das der Grund, warum Hensel schließlich von mir abgelassen hatte? Jedenfalls sah ich mich um und dann traf mich der Schlag, denn ich sah ihn, ihn, diesen Antiquar. Er lehnte da über einer Zeitung an einem Tisch sitzend, der sich ein wenig im Hintergrund befand und bot, wie ich aus der Ferne sehen konnte, tatsächlich Antiquarische Bücher an. Mein erster Gedanke: Wie kommt der hierher? Mein Zweiter: Warum hatte er mir nicht gesagt, dass er zu uns gehört?
 

Mit zwei, drei, vier langen Schritten war ich bei ihm, baute mich rasenden Herzens vor ihm, presste ein „Hallo“ hervor und holte, als er aufsah, tief Luft. Gleich, ganz gleich, würde ich erfahren, wo er sich mit seinem Antiquariat versteckt hielt. Er sah auf: wieder dieser Eulenblick hinter der Brille. Braune Augen. Aber diesmal kein Lächeln.
 

„Ja?“, fragte er und wirkte verwundert.
 

„Ich bin‘s“, bestürmte ich ihn. „Die, die vor einigen Wochen bei ihnen war, total verdreckt, weil es geregnet hatte.“
 

„Was?“, machte er nur. „Bei mir?“ Und legte die Stirn in Falten.
 

„Ja, erinnern Sie sich nicht mehr? Sie wollten sogar meine Telefonnummer haben, um mich anzurufen, wenn Sie etwas Gutes über Ägypten hineinbekämen …“
 

„Das kann nicht sein. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.“
 

„Aber Ihr Antiquariat …“
 

„Ich habe kein Antiquariat. Noch nicht.“
 

„Was?“, presste ich heraus und spürte, wie mir die Beine zu schlackern begannen.
 

„Ja“, nickte er. „Sie verwechseln mich mit jemandem.“
 

„Nein, nein, gewiss nicht.“
 

Ich besah ihn mir genau. Ganz unmöglich, dass ich mich irrte: die gleiche Brille, die gleichen großen Augen dahinter, die gleiche gerade Nase, der gleiche schmale Mund, die gleichen kurzen grauen Haare. Und zu allererst, die gleiche lässige Körperhaltung beim Lesen der Zeitung. Unmöglich, dass ich mich täuschte. Also stellte ich die mir einzig sinnvoll erscheinende Frage: „Haben Sie vielleicht einen Zwillingsbruder?“
 

„Nein“, erwiderte er ganz ruhig. „Nicht einmal einen Bruder. Aber ich schätze, dass Sie mich wirklich verwechseln.“
 

„Ja“, brachte ich schließlich heraus und spürte, wie mir mein Herz eine Etage tiefer zu rutschen schien. „Ja.“
 

Wieder wandte er sich seiner Zeitung zu und wirkte gleichsam so, als ginge ihn all das nichts an. Und zur Hölle, es war ja auch so. Ich …, wenn er hier kein Spiel trieb … hatte plötzlich ein ziemlich großes Problem. Ich kannte diesen Mann, konnte mich an ihn erinnern, er sich aber nicht an mich, obwohl er mir sein Versprechen, mich anzurufen, ja geradezu aufgedrängt hatte. Und nun das? Das passte doch alles nicht.
 

„Aber schauen Sie sich nur um“, forderte er mich da plötzlich auf und ein Lächeln umzuckte seinen Mund. „Nur zu, ich habe seltene Sachen.“
 

Dass das diesmal stimmte, davon konnte ich mich mit einem Blick überzeugen. Da gab es zum Beispiel ein bereits antiquarisches Faksimile der Erstausgabe des ägyptischen Totenbuches in mehreren Bänden, das ich schon immer hatte haben wollte. Und nun … Ich packte zu und schob ihm den 100-Euroschein zu. Ohne aufzusehen, nahm er das Geld entgegen und bemerkte: „Gefällt Ihnen das? Ist es gut? Ist es ein ordentlicher Preis?“
 

Natürlich nickte ich und als er aufsah, sich unsere Blicke trafen, da durchschoss es mich wie ein feuriger Blitz. „Wenn Sie an solchen Kostbarkeiten Interesse haben, gebe ich Ihnen gern meine Karte. In zwei Wochen eröffne ich mein Antiquariat auf der Hauptstraße. Ich würde Sie dort gerne willkommen heißen.“

Michael Rosen

Verständlich, dass ich für den Rest des Tages nicht mehr ganz bei mir war. Dass mich dieser Antiquar, dieser Michael Rosentau, so hieß er, noch nie im Leben gesehen hatte, war unvorstellbar und glich einer Katastrophe, die mich zu der Frage zwang, ob ich noch alle Tassen im Schrank hatte. Wie konnte es sein, dass ich ihm schon einmal begegnet war und er mich nicht kannte? Wie war es möglich, dass ich schon einmal mit ihm gesprochen, ja, ihm sogar meine Telefonnummer gegeben hatte, und er sich an nichts, aber auch gar nichts erinnern konnte? Und schließlich: wie konnte ich in einem Laden gewesen sein, der noch gar nicht eröffnet hatte? Mich machte all das fix und fertig. Und obwohl er mir diese wundervolle Faksimilie-Ausgabe des ägyptischen Totenbuches verkauft hatte und das obendrein für einen Ramschpreis – wie kam er überhaupt dazu, mir solch ein Werk für 100 Euro zu verkaufen? Und wie konnte ich so blöd sein, es ihm abzukaufen? Mit dem Buch stimmte doch irgendetwas nicht. Wahrscheinlich war es ein Fehldruck, eine Niete. Wahrscheinlich wollte der Kerl einfach seine faulen Eier unters Volk bringen. Und gierige, aber nicht gerade betuchte Ägyptologen waren ein gefundenes Fressen für ihn. Solche Ausgaben kosteten nämlich in der Regel ein wenig mehr. Ich war ihm wohl einfach in die Falle gegangen …
 

Nun hatte ich während dieses Konferenztages keine Zeit, um meine Neuerwerbung auf Fehler hin zu untersuchen, jedoch auch bald keine mehr, um mich meinen trüben Gedanken hinzugeben, denn just nach dem letzten Vortrag an diesem Tag kam mein Chef auf mich zu – im Gefolge Prof. Dr. Hanfnuss.
 

„Ach, Frau Schappach, Sie haben doch sicher einen Moment Zeit?“, fragte mich mein Chef und deutete auf Hanfnuss, der mir lächelnd die Hand darbot.
 

„Ja, natürlich“, quälte ich mir heraus. Unnütz zu erwähnen, dass ich müde war und im Grunde nur nach Hause wollte, aber in dem Moment, als diese beiden Kerle vor mir standen, wusste ich, dass ich jetzt nicht dahin durfte. Und wie vermutet, begann mein Chef: „Darf ich Ihnen noch einmal Herrn Prof. Dr. Hanfnuss, unseren großen Gönner, vorstellen?“
 

„Na ja … Gönner, Herr Reincke … Gönner, so würde ich es nicht nennen. Eher Liebhaber …“
 

Hanfnuss grinste und drückte meine Hand. Mein Chef nickte und fuhr dann fort: „Herr Prof. Dr. Hanfnuss wünscht zu speisen. Und da ich leider, leider indisponiert bin, könnten Sie …“
 

Mein Chef musste diesen Satz nicht beenden, denn ich wusste auch ohne dieses unsägliche Ende, was an diesem Abend auf mich zukommen sollte: da Hanfnuss, das muss ich erklärend hinzufügen, nicht nur ein exorbitant großer, sondern auch unsäglich dicker Mann war und ich von meinem Chef wusste, dass er mehr ein Schlemmer als ein Lukullus war, würde es wohl darauf hinauslaufen, dass ich ihm beim Verzehr seiner unzähligen Speisen zusehen musste, während die Uhr tickte und tickte und mein Bett immer lauter nach mir rief.
 

Innerlich verdrehte ich die Augen, musste aber einwilligen, wollte ich nicht meinen Job in Gefahr bringen. Mitspielen, sich auf keinen Fall verweigern, war das erste, was ich in dieser Position gelernt hatte. Niemals ablehnen, immer nicken und ein selbstbewusstes „Ja, das mache ich doch gern“ oder „Es ist mir ein großes Vergnügen“ hervorsagen. Ich entschied mich an diesem Abend für die zweite Variante, erntete von meinem Chef ein überglückliches Lächeln und in einem ruhigen Moment – Hanfnuss war gerade auf dem WC verschwunden – ein: „Seien Sie nett zu ihm.“
 

Mich fragend, was dieses Nettsein in diesem Kontext bedeutet, nickte ich und nahm den etwas tollpatschig wirkenden, dicken Mann unter meine Fittiche. Zwar wusste ich, dass er ganz und gar nicht tollpatschig war; diesen leicht linkischen Menschen konnte er allerdings vorzüglich spielen, wobei ihm sein Körpergewicht natürlich zu Hilfe kam. Doch an diesem Abend wollte ich mich gern diesem Schein des Tollpatsches neben mir ergeben. Alles andere hätte mich nur überfordert.
 

Lieber erging ich mich in Smalltalk und Bemerkungen übers Essen und das allgemein zu dieser Jahreszeit so schlechte Wetter, als an das zu denken, was unter Umständen auch an diesem Abendessen hing. Ich zeigte mich nett, zuvorkommend und lächelte diese Walze von Mann selbst dann noch an, als er mich fragte, ob ich denn meine Spätzle nicht mehr essen wolle und er sie haben könne. Es dürfe doch nichts umkommen.
 

„Natürlich, gern“, erwiderte ich und verkniff mir jeglichen Gedanken an seine Leibesfülle und auch die Fragen nach dem Warum seines übermäßigen Essens, denn all das ging mich nichts an und interessierte mich auch nicht. Aber ich musste doch an mich halten, nicht zu lachen, als er plötzlich aufstehen wollte, ihm das aber nicht gelang, weil ihn die Armlehnen einzwängten. Und mir war klar, dass er um meine Anwandlung wusste und sich gerade deswegen weitermühte, so tollpatschig, so unbeholfen, und dann meinte: „Das war wohl ein Spätzle zu viel.“
 

Natürlich erwiderte ich nichts, doch da er mich anlächelte und es immer weiter versuchte, musste ich schließlich auch grinsen, bis er sich plötzlich, wie von Zauberhand erhob und mir ein kleines „Sie, Sie“, entgegenwarf. Dann verließen wir das Restaurant.
 

An dieser Stelle hätte der Abend ein Ende finden müssen … Aber plötzlich trat Hanfnuss ganz nah an mich heran, nahm meine Hand und drückte sie leicht. Und ich wusste nicht weiter. Mein Geist versagte. Überdies spürte ich die Hauswand im Rücken. Und als dieser Berg von Mann dann aus seinen zwei Metern Höhe auf mich herabsah und „Frau Schappach“, sagte, da hüpfte mir mein Herz vor Schreck in die Rocktasche und wollte sich nur die Ohren und Augen zuhalten. Denn wie er meinen Namen ausgesprochen hatte, flößt mir Angst ein.
 

„Wir beide haben uns heute so wunderbar unterhalten …“
 

Weiter musste auch er nicht sprechen, denn ich ahnte, was folgte. Und richtig. „Wollen wir noch ein Stück zusammengehen? Es regnet ja gerade nicht.“
 

„Aber gern“, brachte ich mühsam hervor, denn ich wollte ihn nicht verletzen. Und so gingen wir. Hand in Hand. Ich traute mich nicht, sie ihm zu entziehen, obwohl sich alles in mir dagegen auflehnte. Diese Berührung fühlte sich total falsch an. Diese große, dicke Hand. Was wollte die mit meiner? Hinzukam, dass er mit der anderen meine Tüte trug, in der sich das Totenbuch befand, ich also nicht einfach abhauen konnte. Es war furchtbar. Und wenn ich eingangs erwähnt hatte, dass ich das Pech anzöge, bitte, hier war der Beweis erbracht, ich saß in der Falle. Was passieren würde, wollte ich mir nicht ausmalen. Kurzum: ich hatte den Schlüpfer gestrichen voll, denn ich kannte den Mann ja nicht und konnte ihn somit auch nicht einschätzen. Jedenfalls wackelte ich neben ihm her. Wohin? Das wusste ich gar nicht. Ich war wie blind, tapste umher und versuchte den Eindruck seiner großen Pranke, die sich um meine Hand gelegt hatte, nicht zur Panik auswachsen zu lassen. Ihm einfach sagen, dass ich nun gerne gehen würde – unmöglich! Und das Seien Sie nett zu ihm!, stand mir plötzlich grellleuchtend vor Augen …
 

Wie ich es dann letztlich geschafft hatte, mich von ihm zu trennen und gegen halb zwei Uhr morgens meine Wohnung zu betreten, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls fühlte ich mich total leer, wie eine Mumie, der man die inneren Organe genommen hatte, um sie für den Weg in die Ewigkeit vorzubereiten. Ein furchtbares Gefühl war das – unruhig, aufgewühlt und zugleich nicht mehr geradeaus gehend könnend, da der Flur wankte. Ich konnte mich nur noch ausziehen und ins Bett fallen. Ich schloss die Augen in dem Wissen, dass es morgen früh weiterginge. Und dann war da noch ein Gedanke, der sich wie ein Pflock in mein Bewusstsein trieb: ich war verrückt. Mit mir stimmte etwas nicht! Ich war unter Umständen ernsthaft krank. Und so, als wolle mir das Schicksal nochmals beweisen, dass es mich nicht leiden konnte, sah ich plötzlich diesen Michael Rosentau vor meinem geistigen Auge erstehen, wie er über seiner Zeitung lehnte und mich anlächelte.
 

„Ist es gut? Ist der Preis ok?“, hörte ich ihn dann fragen und ich wollte ihm schon erwidern, dass er sich sein dämliches Totenbuch sonstewohin stecken könne, ich es nicht wolle …
 

Um fünf Uhr in der Früh erwachte ich nach gerade einmal drei Stunden Schlaf und fand keine Ruhe mehr. Zuerst wälzte ich mich von einer Seite zur anderen und versuchte mich zu entspannen, doch als mir klarwurde, dass ich kein Auge mehr zubekommen würde, stand ich auf. Wieder war eine Nacht gelaufen, wieder erwartete mich ein Tag, an dem ich nur mit Mühe zwischen Wachen und Schlafen würde unterscheiden können. Ich fühlte mich wie ein flattriges Hemd, begann später unter der Dusche zu zittern und setzte mich dann mit einem Tee, mehr konnte ich zu dieser frühen Stunde nicht hinunterbringen, auf mein Sofa ins Wohnzimmer. Um 8 Uhr hatte ich an der Universität zu sein. Genug Zeit also …ja, wofür eigentlich? Mein Kopf dröhnte, alles in mir schrie nach Ruhe, doch ich kannte mich inzwischen: würde ich mich wieder hinlegen, spielte mein Kreislauf total verrückt. Es nützte nichts, ich würde hier auf meinem Sofa die Zeit absitzen müssen. Dazu schlürfte ich meinen Tee und ertappte mich dabei, wie ich ins Leere starrte. Und in dieser Verfassung angelte ich mir, weiß Gott, was mich trieb, den ersten Band des Totenbuches. Vielleicht wollte ich mich davon überzeugen, einen Fehldruck erstanden zu haben. Hätte zu meiner Stimmung gepasst, jetzt auch noch einen 100-Euro teuren Schund in den Händen zu halten. Doch soweit ich es durch meine verquollenen Augen wahrnehmen konnte, schien die Ausgabe ok zu sein. Hier die Drucke der Vignetten, dort der Text in Hieroglyphen wiedergegeben, daneben die Übersetzung. Saubere Arbeit … und ich begann zu lesen …
 

Anfang der Sprüche des Herauskommens am Tage,
 

der Erhebungen und der Verklärungen,
 

des Herausgehens und Eingehens ins Totenreich,
 

die zu sprechen sind am Begräbnistag des NN, gerechtfertigt,
 

der (wieder) eintritt, nachdem er hervorging.
 

Ich holte tief Luft. Wie oft hatte ich diesen Text bereits gelesen? Zuerst im Studium – da hatte ich ihn übersetzen müssen, später dann für meine Arbeit. Und nie hatte er an Eindruck auf mich verloren – galt er mir doch als Auge einer uns so fremden Kultur und Zeit, in das ich, das Glück hatte, schauen zu dürfen, wenn ich mich dem Text immer wieder aufs Neue näherte. Doch an diesem Morgen wirkte die Überschrift des ersten Kapitels nur schräg auf mich, fühlte ich mich doch selbst gerade wie eine, die lieber in der Unterwelt verbleiben wollte, als wieder ins Tageslicht hinauszutreten … Kurzum: ich verstand den Wunsch des Verklärten – nicht des Toten! – nach Teilhabe an der Welt der Lebenden nicht.
 

Davon einmal abgesehen, bekam ich gerade noch an der Peripherie meines Bewusstseins mit, dass mir dieser Michael Rosensau … Rosentau erstklassige Ware verkauft hatte, ehe ich …
 

… ich weiß nicht, wie lange ich dort vor den Bänden des Totenbuches vor mich hingedämmert, wie oft ich auf die Vignette des Totenbuchspruchs 125, das sogenannte Totengericht gestarrt hatte und dem Verstorbenen, dessen Herz gegen die Maat-Feder gewogen werden mussten – und wehe, es war leichter als diese federleichte Feder – oder gar schwerer … Dann lauerte die große Fresserin schon auf ihren allzu begehrten Schmaus, im Übrigen hinter Thot, dem Schreibergott, versteckt … Also, ich hatte keine Ahnung, wie oft ich denen einen guten Morgen gewünscht hatte und eben auch Anubis, dem amtlich geprüften Mumifizierer … der sich da so bereitwillig über die Waage neigte, um sie zu eichen, sowie nochmals Thot, der, da in Ägypten alles seine Ordnung haben musste, jeden Pups protokollierte. Nicht zu vergessen, den Ba-Vogel, die Seele des Verstorbenen, der sich neben der Waage niedergelassen hatte. Ach ja, dass der Verstorbene auf den Namen Schay hörte, konnte ich auch gerade noch entziffern, ehe …
 

… mich das Telefon unsanft aus meinen Betrachtungen riss. Sofort war mein Herz hellwach und ließ mich mit einem lauten Schrei, der mir selbst wie zerspringendes Glas in den Ohren klang, auffahren. Ein Blick zur Uhr verriet mir, dass es bereits 8 Uhr durch war. Verdammt!
 

Mit einem Ruck zog ich das Telefon zu mir heran. Es konnte ja nur mein Chef sein, der sich nach meinem Verbleiben erkundigen wollte. Und was sollte ich ihm dann sagen? Mein Herz raste und stach mir gleichzeitig in der Brust. Ich konnte kaum Luft holen.
 

„Ja, bitte?“, flämmelte ich in den Hörer und rechnete schon mit einer Schimpfkanonade meines Chefs. Denn dass der diesem Hanfnuss in nichts nachstand, das wusste ich nur allzu gut. Und wenn man mich nun fragt, warum ich bei ihm blieb, kann ich nur antworten, dass diese Jobs an der Universität Goldstaub sind und ich ganz fest an die Gültigkeit des ägyptischen Totengerichts glaubte und mich schon darauf freute, wenn Prof. Dr. Harald Reincke diese große Gerichtshalle zu betreten hatte, sein Herz gegen die Maat-Feder gewogen und für zu schwer befunden wurde und sich die große Fresserin das Maul leckte … Und bis dahin würde ich es bei dem Kerl eben irgendwie aushalten (müssen).
 

„Frau Schappach?“, hörte ich eine Stimme am anderen Ende der Leitung sagen. Eindeutig eine männliche. Und eindeutig nicht die meines Chefs.
 

„Ja bitte? Wer spricht dort?“
 

„Hier ist Michael Rosentau.“
 

„Wer?“, krächzte ich.
 

„Ja, erfreut, von mir zu hören?“
 

In dem Moment, da ich ihn das fragen hörte, kam es über mich und mir wurde bewusst, was hier lief. Ich war nicht verrückt! Ich nicht! Mein Herz raste, ich holte tief Luft und brüllte in den Hörer: „Ich weiß ja nicht, warum Sie dieses Spiel mit mir spielen … Herr Rosensau …“
 

Ja, ich war geladen und ja, ich verunglimpfte seinen Namen ganz bewusst, um …
 

„Rosentau“, verbesserte er mich ganz ruhig, so als amüsierte ihn all das.
 

„Wie?“, kotzte ich fast in den Hörer?
 

„Rosentau“, wiederholte er und es hörte sich fast wie Rosenschau an. Nuschelte er? Ich wusste es nicht. Aber eines war klar, das hier musste sofort und ein für alle Mal aufhören.
 

„Herr Rosentau“, rief ich deswegen, bemüht, meine Stimme nicht überschlagen zu lassen. „Ich möchte, dass Sie das lassen. Dass Sie mich nie, nie wieder anrufen. Spielen Sie Ihre Spielchen mit jemand anderem oder besser, lassen Sie sich in die Klapsmühle einweisen. Ich jedenfalls bin die Falsche dafür. Verstanden?“
 

„Aber warum denn so unfreundlich? Ist es der frühe Morgen? Ich wollte Ihnen doch nur wie versprochen mitteilen, dass ich etwas Besonderes reinbekommen habe, was ich Ihnen unbedingt zeigen möchte.“
 

„Reinbekommen?“, ächzte ich.
 

„Ja, reinbekommen. Gerade eben.“
 

„Herr Rosen … “
 

„Rosentau“, fuhr er mir ins Wort. Und wieder hörte es sich wie Rosenschau an.
 

„Reinbekommen? In Ihren Laden etwa?“
 

„Ja.“
 

„… den Sie schon eine ganze Zeit lang haben.“
 

„Soviel ich weiß seit sieben Jahren. Ja.“
 

In diesem Moment, da ich ihn das sagen hörte, musste ich mit mir kämpfen, das Gespräch nicht einfach zu beenden. Doch ich besann mich, stützte mich am Tisch ab und sagte: „Wie kann das möglich sein, wenn Sie Ihren Laden erst in 14 Tagen eröffnen? Wie können Sie da davon sprechen, dass Sie diesen Laden bereits haben?“
 

Schweigen am anderen Ende der Leitung.
 

„Herr Rosentau, ich glaube, dass Sie nicht ganz richtig ticken. Und sollten Sie mich noch einmal, ein einziges Mal anrufen oder anderweitig belästigen, dann schalte ich die Polizei ein. Haben wir uns verstanden?“
 

„Ja, aber wollen Sie denn nicht wissen, was ich für Sie habe?“
 

„Nein! Und ich hoffe, wir haben uns verstanden, Herr …“
 

„Rosenschau.“
 

Dass ich nach diesem Telefonat nicht sonderlich gut gestimmt war, ist wohl verständlich. Zwar wusste ich nun, dass nicht ich verrückt war, sondern dieser Rosentau … schau … stau … Wie auch immer. Aber das machte es keineswegs besser. Was, wenn er mich weiterhin anrufen würde? Und dass ich meinem Display keine Nummer entnehmen konnte, sondern nur unbekannter Teilnehmer, machte es nicht besser. Aber ich nahm mir ein Herz, und wählte die Nummer, die auf der Visitenkarte stand. Und wenn dieser Kerl rangehen würde, dann würde ich ihn einfach noch einmal zur Sau machen. So einfach. Es tutete einmal, zweimal, dreimal … ich ließ es tuten, aber niemand ging heran. Und ich fragte mich, warum, denn es bestand ja kein Zweifel, dass er in seinem Laden war, ehe mir einfiel, dass ihm doch klar sein musste, dass ich es war. Da stand dieser Arsch nun wahrscheinlich neben dem Telefon und lachte sich eins. Für ihn musste es so aussehen, als spielte ich sein Spiel mit.

Wal, Schwan, Kater ... und ein Arsch in der Ecke

Zu allem Überfluss lief ich an diesem Morgen auch noch meinem Chef in die Arme, der mich so ansah, als sei ich ein unliebsamer Pickel auf seiner Nase. „Wo kommen Sie denn jetzt erst her?“
 

„Ähm, es ist gestern Abend später geworden.“
 

„So? Später?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Und das gibt Ihnen das Recht, mich hier allein auftreten zu lassen?“
 

Ich holte nur tief Luft und dachte: „Kathi, schluck es runter. Schluck alles, alles runter. Es kommen auch wieder bessere Zeiten.“
 

„Wenn ich 8 Uhr sage, dann haben Sie auch um 8 Uhr hier zu sein, ist das klar?“
 

Ich nickte nur.
 

„Denn wenn ich mich nicht auf Sie verlassen kann …“
 

Tja, das war mein Chef! Sofort holte er die Pistole heraus und drohte einem. Und das, obwohl ich mir selten etwas zu Schulden kommen ließ. Das letzte Mal, als ich mich verspätete, war ich krank: Mandelentzündung. Doch ich kam trotzdem an die Arbeit. Damals noch, weil es mir Spaß machte und ich gedacht hatte, dass … Heute … Ach, was sollten diese Gedanken. Ich war ja selbst schuld daran. Aber, wenn ich hier in den Sack hauen würde, was blieb mir dann? Einen neuen Job auf gleichem Niveau würde ich nicht finden. Nicht in meinem Bereich. Die Stellen wurden doch alle unter der Hand vergeben – wenn überhaupt einmal etwas frei war … Und außerdem besaß mein Chef ziemlich viel Einfluss und den wüsste er zu nutzen, wenn ich ihm „Adieu“ sagen würden. Ja, dessen konnte ich mir sicher sein. Also, was würde da noch auf mich warten? Klar, irgendeinen Job würde ich immer finden. Aber genau das war’s: ich wollte nicht irgendetwas tun, ich wollte das hier machen: forschen, meine Dissertation schreiben, Lehrveranstaltungen abhalten und wenn ich dafür ab und an in den Hintern meines Chefs kriechen musste … Und wenn schon.
 

„Und wie war es gestern nun eigentlich? Erzählen Sie kurz“, forderte er mich auf und sah sich hastig um.
 

„Na ja …“, begann ich.
 

„Verlief alles zu seiner Zufriedenheit?“
 

„Ich denke schon.“
 

„Sie denken oder sie wissen es?“ Er sah mich fordernd an. Genau so einen Blick setzte er auch immer in mündlichen Prüfungen auf, wenn er wusste, dass die Prüflinge nicht weiterkamen, dass es irgendwo hackte. Dann verwandelte er sich in die Schlange, die das Kaninchen anstarrte. Die zu Schlitzen verengten Augen, die schmalen, zusammengepressten Lippen. Wenn er so dreinblickte, konnte der Prüfling davon ausgehen, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte, denn gleich, ganz gleich ginge die Schlange zum Angriff über. Manch böse Zunge nannte ihn auch die bitterböse Apophisschlange, den Feind des Sonnengottes Re, den Vernichter der Welt, das absolut Böse. Und auch wenn ich diesen Vergleich am Anfang für weithergeholt glaubte, so war ich doch zunehmend davon überzeugt, dass mein Chef zwar nicht das absolut Böse verkörperte, jedoch einen ordentlichen Schwabs mitbekommen hatte. Und wie er mich jetzt so ansah, konnte ich nur wieder tief durchatmen und erwidern: „Ja, Herr Prof. Dr. Hanfnuss war zufrieden.“
 

„Mit dem Essen?“
 

Ich nickte.
 

„Und sonst so?“
 

„Was, sonst so?“
 

Wollte der jetzt auch noch hören, dass mich dieses Monstrum von Mensch angefasst hatte, dass er meine Hand gehalten und … und … tja, was war dann eigentlich geschehen? Nun, selbst, wenn ich es meinem Chef hätte sagen wollen, was ihn ja nun absolut nichts anging, hätte ich ihm darüber absolut keine Antwort geben können, einfach, weil ich einen Filmriss hatte. Ich wusste in der Tat nicht, wie ich von diesem Kollos losgekommen war und was sich davor ereignet hatte. Machte mir das Angst? Nein. Aber es hinterließ ein komisches Gefühl in mir und lockerte nicht gerade meine Stimmung, denn schon wieder hatte ich den Eindruck ein wenig Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Zuerst das mit diesem Rosenstau, dann das mit diesem Fett-Mampf, der mir, hätte ich ihn gelassen … Ach, ich wollte mir das nicht ausdenken.
 

„Nun?“, drängte mich mein Chef.
 

„Herr Prof. Dr. Hanfnuss ist ein netter Gesprächspartner. Witzig, intelligent“, erwiderte ich.
 

„Ach so, ja, gut, dann haben Sie sich also amüsiert?“
 

Einen Moment lang sah ich ihm ins schlangengleiche Antlitz, dann presste ich die Lippen fest aufeinander, denn augenblicklich wurde mir klar, worauf er hinauswollte. „Über die Zuwendung für das Institut hat er nicht gesprochen.“
 

„Oh“, machte mein Chef und bekam dazu große Augen. „Das wird sich schon finden. Hauptsache, es war ein netter Abend.“
 

„Ja“, nickte ich und fühlte mich doch ein wenig wie Frischfleisch, das einem Nimmersatt vorgeworfen werden sollte. Nur gut, dass die ersten Konferenzteilnehmer gerade die Räumlichkeiten zu stürmen begannen und ich mich endlich abwenden konnte. Aber mit ihnen kamen auch die Buchhändler. Und unwillkürlich sah ich in die Ecke, in der sich gestern der Tisch dieses … dieses Rosenstraußes … befunden hatte. Noch war er nicht da. Aber wenn ich den jetzt und hier erwischen würde, dann … Da würde mich auch keine Müdigkeit lähmen, ich würde ihn ... aber so was von!
 

Allerdings erschien er nicht. Jedenfalls war er nicht vor der ersten Sektion da, die bis einschließlich 10h30 Uhr gehen würde. Ein ziemlich hartes Programm – noch härter für mich, da mein Chef nun auch zu seinem Vortrag schreiten würde. Und wer sollte ihn ankündigen? Und wer kannte zwar alle Lebensdaten des Holden auswendig, hatte sich aber, da die Nacht ein einziges Chaos gewesen war, nicht darauf vorbereitet, dass der Chef nun hofiert werden wollte? Wer hatte sich lieber ins Totenbuch verstiegen anstatt Prioritäten zu setzen? Wer hatte einen Anruf von einem Spinner entgegengenommen, der wohl Scary Movie zu oft gesehen hatte? Gott lob musste ich nur die Fragen stellen, die Antworten überließ ich der Rhetorik. Und außerdem war ich plötzlich wieder müde und meinte gegen eine unsichtbare Wand zu laufen. Dann erschien auch noch dieser Hanfnuss und platzierte sich ausgerechnet neben mich – so elegant, dass ich ihn, wenn ich hinauswollte, bitten musste, sich zu erheben.
 

„Na, wie ist es Ihnen ergangen?“, fragte er mich und lächelte dazu wie ein Stückchen Buttercreme-Torte. Ich wollte gerade antworten, als mein Chef neben uns erschien. „Guten Morgen Herr Prof. Dr. Hanfnuss. Ich hoffe, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit.“
 

„Na aber natürlich, jetzt, da ich mein Plätzchen gefunden habe …“ Und er grinste ganz komisch und mir wurde flau im Magen, denn an einer Wiederholung des letzten Abends war ich nicht interessiert. Aber Hanfnuss schien das im Sinn zu haben, denn er legte seine Hand ganz ungeniert auf meine. Und mein Chef lächelte dazu. Diese Schei …
 

Nicht nur einmal jagte mir durch den Kopf, dass hier etwas komplett schieflief und dass ich das Weite suchen sollte, solange ich noch Zeit dazu hatte. Aber dann nahte der Vortrag meines Chefs und ich war dran – wie im Grunde den ganzen Vormittag über auch. Gott sei Dank konnte ich mich auf meiner Vorarbeit verlassen. Gestern noch hatte ich die Karteikarten mit den Daten der Redner wohlweißlich in einem Fach am Rednerpult platziert, sodass ich nur zuzugreifen und meinen Text abzulesen hatte. Und das tat ich, abgesehen von einigen Schlingern, recht gut, bis, ja bis … ich konnte es nicht fassen … dieser Ulrich Hensel an der Reihe war, und das noch vor meinem Chef. Stolz wie ein Schwan erhob er sich aus seiner Reihe und glitt empor zum Rednerpult – ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Ich holte einmal, zweimal tief Luft und begann dann meinen Text abzulesen. Ein wenig taumelig fühlte ich mich dabei. Dieser Ulrich Hensel, gleichwohl so einen ältlichen Namen tragend, war im gleichen Alter wie ich und interessierte sich auch für ähnliche Dinge wie ich: Tod und Jenseitsglauben der alten Ägypter. Er hatte zu den Sargtexten des Mittleren Reiches gearbeitet, ich zum Totenbuch, das erst im Neuen Reich aufgekommen war. Im Grunde hätten wir uns schon längst einmal unterhalten sollen, aber wer tat das denn gerne mit so einem … aufgeblasenen, wichtigtuenden – ja, genau, wichtigtuenden Hempfling. Gut, für den Hempfling konnte er nichts, aber ansonsten … ansonsten … Kaum hatte ich mit der Vorstellung seiner Person geendet, schnappte er sich das Wort und fegte mich somit von der Rednerbühne. Doch kaum hatte ich mich setzen können, was ja durch Hanfnuss’ äußerst einnehmende Präsenz als nicht ganz so leicht herausstellte, ja, aber kaum hatte ich es geschafft und Hanfnuss wieder Platz genommen, sah Hensel recht hilflos in die Runde: der Videobeamer hatte seinen Geist aufgegeben und da ich auch für die Technik zuständig war … trallalla … musste ich wieder raus. Wer konnte denn auch ahnen, dass so etwas geschah? Hanfnuss wuchtete sich also wieder hoch, was an sich schon eine gefühlte halbe Stunde dauerte. Im Saal wurde es bereits unruhig und ich fing einen verärgerten Blick meines Chefs auf, der nun schon mit den Hufen scharrte, weil er um seine eigene Redezeit bangte. Ja, aber was sollte ich tun, wenn sich Hanfnuss wie ein Walfisch an Land fortbewegte …? Ich konnte ihn ja schlecht schubsen. Hätte im Übrigen auch nichts gebracht.
 

Mein Gott war ich froh, als das Ding wie durch Zauberhand wieder ging und Hensel seine Bilder über den Schirm jagen lassen konnte. Mein Gott – und dann flimmerte das Ding plötzlich wieder, just in dem Moment, da mein Chef loslegen wollte. Im normalen Zustand, gut, was hieß normal?, wäre ich deswegen schon fast zusammengeklappt, so aber … Und dass mein Chef, in technischen Dingen eine absolute Niete, nun wie ein getretener Kater neben mir stand, machte es nicht besser. Ich konnte ja auch nicht hexen. Jedenfalls nicht bewusst. Was sollte ich denn tun? Noch dazu sah er mich so an, als würde nur ich die Lösung kennen und sie böswilligerweise geheim halten. Sollte ich …? Einen Moment lang überlegte ich, dann wandte ich mich an ihn. „Sollen wir nicht die Pause vorziehen und ich besorge einen neuen Beamer? Und dann …“, flüsterte ich ihm direkt ins Ohr.
 

„Gut“, schnaufte er. „Gut!“
 

Gesagt, getan, die Pause war vorverschoben und ich befand mich wieder auf dem Flur vor dem Konferenzsaal und mit einem Blick wusste ich ihn, diesen Rosen … bla …, in seiner Ecke. Wieder lehnte er über seiner Zeitung, gerade so, als könne er gar nicht anders. Oder, als sei er die Coolness in personam. Und dabei … dabei … Leider hatte ich keine Zeit, zu ihm zu gehen, aber mir zog’s den Hals fast zu, als ich ihn dort in seiner Ecke sah. Dieser Arsch! Traute der sich tatsächlich noch einmal her!

Verrückt

Ich sah diesen Kerl, diesen Rosentau, mit zu Schlitzen verengten Augen an – und kam mir dabei schon fast wie mein Chef vor. Doch das störte mich im Moment nicht im Mindesten. Der sollte spüren, dass ich es nicht duldete, mich von ihm belästigen zu lassen. Die Konferenz war für diesen Tag beendet, endlich! und ich war totmüde, aber ich wollte diesen Typen nicht ungeschoren davonkommen lassen.
 

„Sie gehen also tatsächlich davon aus, dass ich Sie heute Morgen angerufen habe?“
 

„Ja“, erwiderte ich und stützte mich auf seinem Auslagentisch ab. „Ja! Und ich fordere Sie an dieser Stelle noch einmal auf, das zu unterlassen. Ein für alle Mal.“
 

„Davon einmal abgesehen, dass ich meine Kunden nicht um 8 Uhr morgens anzurufen pflege, habe ich doch Ihre Nummer überhaupt nicht.“
 

„Pfff“, machte ich nur, richtete mich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie haben mich angerufen und mir gesagt, dass Sie Ihren Laden bereits 7 Jahre hätten. 7 Jahre …“
 

„Aber das stimmt nicht. Ich bin gerade dabei, ihn einzurichten.“
 

„Wohl auch heute Morgen, wie? Und da fiel Ihnen nichts Besseres ein, als …“
 

„Aber ich war heute Morgen nicht im Laden.“
 

„Dann haben Sie mich also von daheim aus angerufen?“
 

„Aber ich habe Ihre Nummer doch gar nicht“, versetzte er und stützte sich nun seinerseits auf den Warentisch. „Lassen Sie sich versichert sein, dass ich es nicht gewesen bin. Vielleicht spielt Ihnen jemand einen Streich, aber ich bin es nicht. Welche Veranlassung soll ich denn dazu haben? Ich kenne Sie ja gar nicht, Frau …“
 

„Schappach“, stieß ich hervor. „Und diese Anrufe müssen ein Ende haben!“
 

„Ganz sicher müssen Sie das, aber ich bin der Falsche.“
 

„So, und wenn ich Ihnen sage, dass der Anruf aus Ihrem Laden kam? Ich das ganz genau weiß?“
 

Ich pokerte und er schien zu stutzen, ehe er ebenfalls die Arme vor der Brust verschränkte und bemerkte: „Das ist vollkommen unmöglich, der Anschluss ist ja noch gar nicht freigeschaltet.“
 

„Ich glaube Ihnen nicht!“, beharrte ich, obwohl ich mir langsam ziemlich dämlich vorkam, denn ich kam an diesen Kerl einfach nicht heran. Ich konnte ihn nicht knacken. Zudem ging mir auch die Kraft aus.
 

„Hören Sie“, sagte er da, „das alles hat doch keinen Sinn. Vielleicht begleiten Sie mich nachher einfach und überzeugen sich selbst?“
 

„Was?“, fauchte ich.
 

„Ja“, erwiderte er schulterzuckend. „Wenn Sie sich meinen Laden einmal ansehen, dann werden Sie mir vielleicht glauben, dass ich Sie nicht angerufen habe.“
 

„Das könnte Ihnen so passen“, schnaubte ich und versuchte mich noch intensiver am Schlangenblick meines Chefs.
 

„Dann weiß ich nicht weiter“, entgegnete er und hob die Hände. „Entweder begleiten Sie mich, oder …“
 

„Oder was?“, blaffte ich.
 

Er schwieg, sah mich nur verwirrt an und ich stellte mir die Frage, ob ein Mensch tatsächlich so gut lügen konnte. Vielleicht kein normaler, aber ein Schauspieler schon und vor allem auch ein Psychopath …
 

Ich weiß nicht, wie alles gekommen wäre, wenn nicht plötzlich mein Chef erschienen wäre – im Schlepptau diesen Hanfnuss, der, als er mich erblickte, wieder wie eine Käse-Sahne-Schnitte grinste. Und als ich mich plötzlich zwischen diesen drei Männern wusste, ja, als ich registrierte, dass mich mein Chef auf seine bisweilen umständliche Art zu einem Essen mit Hanfnuss überreden wollte, da schnappte ich in Erinnerung an die letzte Nacht nach Luft und sagte prompt: „Vielen Dank, aber heute Abend geht es leider nicht.“
 

„So?“, fragte mein Chef und Hanfnuss, der wie menschgewordener Berg neben ihm stand, zog die Mundwinkel hinab.
 

„Ja, ich bin schon verabredet. Leider“, stieß ich hervor und spürte, wie es in mir tobte. Mein Herz raste und ich hatte Mühe, nicht zu zittern.
 

„Schade, schade, ich hatte mich so sehr auf Ihre Begleitung gefreut, Frau Schappach“, entgegnete Hanfnuss und reichte mir seine prankenartige Hand, die ich nur widerwillig nahm. Mein Chef zuckte indes mit den Schultern und sagte: „Tja, dann …“
 

„Sie hätten mit Ihrem Chef und seinem Anhang mitgehen sollen“, bemerkte Rosentau, als die beiden gegangen waren.
 

Ich zuckte ebenfalls mit den Schultern. Zwar wusste ich um meinen Fehler, doch ich war im Augenblick nicht fähig, ihn vollkommen zu registrieren. Lag’s an meiner Müdigkeit oder der Tatsache, dass ich mich gerade sehr aufgeregt hatte. Jedenfalls wandte ich mich Rosentau zu, der mich anlächelte. „Und nun wollen Sie doch mit mir kommen?“, fragte er.
 

„Wie kommen Sie darauf?“
 

„Nun ja, Sie sagten eben, dass Sie bereits eine Verabredung hätten?“
 

„Damit meinte ich ja wohl nicht Sie!“
 

„Wen denn?“
 

Hierauf schwieg ich, denn ich begriff, welche Taktik dieser Kerl zu schieben versuchte: mich einlullen, mich vom Thema ablenken.
 

„Wie anders soll ich Ihnen beweisen können, dass ich Sie nicht belästigt habe und es auch nie tun werde, als dass Sie mich in meinen Laden begleiten?“, hörte ich ihn erneut fragen und wandte mich unwillkürlich zu ihm um. Wieder bemerkte ich seine überaus großen Augen hinter der Brille. „Wie? Sagen Sie es mir.“
 

Ich weiß nicht, was es war, vielleicht seine ruhige Art und sein zugegeben netter Blick, die mich schließlich dazu veranlassten, ein: „Ok“, hervorzubringen, auch wenn ich mich dabei total unwohl fühlte. Aber ich, so redete ich mir ein, musste ja nicht mit in den Laden gehen, sondern ihn nur von außen sehen, dann würde ich … ja, was eigentlich? Nun, das wollte ich mir im Moment nicht ausmalen.
 

Da die Konferenz auch morgen noch stattfinden würde, räumte Rosentau seine Bücher rasch in eine Kiste, die er, ebenso wie die anderen Händler auch, in einen kleinen, abschließbaren Raum brachte. Dann verließen wir beide das Konferenzgebäude. Und mir war gar nicht gut dabei. Ja, ich spürte, dass mein Blutdruck verrückt zu spielen begann. Ich selbst begann zu tänzeln.
 

Rosentau schien meine Nervosität zu spüren, denn er wandte sich plötzlich an mich und fragte: „Oder wollen wir nur etwas essen gehen?“
 

„Nein, nein“, erwiderte ich leise, vergrub meine Hände ganz tief in meinen Manteltaschen und zog die Schultern hoch. Mir war kalt, überdies war ich müde.
 

„Ich muss dann nach Hause.“
 

„Wann wollen Sie eigentlich das erste Mal in meinen Laden gekommen sein?“, fragte er mich dann ganz unverhofft und blieb sogar mitten auf dem Bürgersteig stehen. Ich fragte mich noch, warum er das tat, doch just in diesem Moment wurde es mir klar: wir befanden uns genau vor seinem Laden.
 

„Das …“, brachte ich nur heraus und sah, dass der Laden noch gar kein Laden war … Da hing noch kein Schild über der Tür, die Öffnungszeiten befanden sich auch noch nicht im Schaufenster. Nichts deutete darauf hin, dass hier in zwei Wochen ein Antiquariat eröffnen sollte.
 

„Sie sehen, ich habe noch viel zu tun“, hörte ich ihn sagen und in diesem Moment schien etwas in mir zu zerreißen. Mein Herz raste und Tränen traten mir in die Augen.
 

„Was“, stammelte ich nur, denn nun konnte ich mich der Konsequenz all dessen nicht mehr erwehren. Ich schluchzte, schniefte und meinte jeden Moment, den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Ich war genau hier“, hörte ich mich wie von Ferne sagen. „Hier …“
 

Er schwieg.
 

„Und ich bin hier reingegangen und dann war da diese schmale Gasse aus meterhohen Regalen, die über und über mit Büchern bestückt waren …“ Ich sah ihn an. „Dann bin ich es also, die verrückt ist?“
 

Einen Moment lang tat er nichts, doch dann sagte er: „Kommen Sie mal her.“ Und das ganz ruhig.
 

„Was?“, keuchte ich und spürte, wie ich zu zittern begann.
 

„Kommen Sie!“, wiederholte er und kam mir selbst näher. Es bestand kein Zweifel, was das bedeutete. „Einen Moment nur“, flüsterte er und legte seine Arme um mich. „Es wird Ihnen guttun. Glauben Sie mir.“
 

Ich hatte so etwas noch nie zuvor zugelassen. Dass mich ein vollkommen Fremder berührte. Und ich weiß auch nicht, was mich jetzt dazu brachte. Meine Verzweiflung? Dass jetzt eh alles egal war? Dass ich am Ende war? Als ich meinen Kopf an seine Brust lehnte und seine Wärme spürte, da konnte ich nicht anders, als meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Und gleichzeitig begann er mir sacht über den Rücken zu streichen. „Beruhigen Sie sich“, flüsterte er und immer wieder: „Ganz ruhig.“
 

Ich weiß nicht, wann ich wieder fähig war, aufzusehen. Doch als sich unsere Blicke trafen, erkannte ich trotz des schummrigen Lichtes, das die Straßenlaterne zur Erde sandte, ein kleines Lächeln in seinem Gesicht. „Geht es wieder?“, fragte er.
 

„Mir ist kalt“, erwiderte ich. „Sehr kalt.“
 

„Möchten Sie einen Augenblick hereinkommen? Ich könnte Ihnen einen Tee machen.“
 

„Tee“, wiederholte ich. Zu mehr war ich nicht in der Lage.
 

Wenig später saßen wir uns gegenüber an einem Tisch in einer winzigen Küche. Ich wusste nicht, wie wir hiergekommen waren, wollte es auch gar nicht wissen, sondern mich nur auf den Tee konzentrieren. Warm war er und schmeckte nach Kräutern. Ich war noch immer nicht ganz bei mir. Mein Herz raste und ich hatte Mühe, das Zittern in meinen Händen zu unterdrücken.
 

„Bin ich verrückt?“, hörte ich mich schließlich fragen und sah ihm in die Augen.
 

Er schwieg einen Moment, nahm einen Schluck Tee, dann legte er seine Hand auf meine und wieder spürte ich seine Wärme. „Das kann ich Ihnen nicht sagen“, begannn er. „Auf jeden Fall scheinen Sie mich schon etwas länger zu kennen als ich Sie.“
 

„Hmmm … “, machte ich nur, unterdrückte ein Frösteln, das mich augenblicklich gepackt hatte, und nahm auch einen Schluck Tee. „Ich bin in Ihren Laden gekommen und …und Sie haben mir einen Katalog über eine Tut-Anch-Amun-Ausstellung angeboten.“
 

„Was für einen Katalog?“
 

„Einen ganz einfachen aus den 80ziger Jahren.“
 

„Den mit schwarz-weißen Bildern?“
 

Ich nickte. „Sie haben ihn mir für 20 Euro angeboten.“
 

„Was?“ Er gluckste leise. „Diesen Katalog würde ich niemals für 20 Euro anbieten. Nicht einmal für 10 … Ja, den hätte ich gar nicht in meinem Sortiment! Was ich mir dabei gedacht habe … unverzeihlich. Niemand würde mir den für 20 Euro abkaufen. Bücher haben ja heutzutage sowieso keinen Wert mehr. Sie werden überall verramscht. Selbst wertvolle.“
 

„Haben Sie mir deswegen das Faksimile für 100 Euro verkauft?“
 

Er zuckte mit den Schultern und nickte zugleich. Dann lächelte er. „Natürlich. Ich bin ja froh, dass ich überhaupt Abnehmer finde.“
 

„Und warum machen Sie dann in diesen schlechten Zeiten ein Antiquariat auf?“
 

„Weil ich weiß, dass es noch Menschen gibt, die den Wert eines Buches zu schätzen wissen und den Geruch eines Buches und das Knistern, das die Seiten beim Umblättern verursachen, lieben.“
 

„Aber allein davon wird sich Ihr Laden nicht mit Leuten füllen …“, erwiderte ich.
 

„Wieso? Sie sind doch schon da.“ Er lächelte mich wieder an.
 

„Ja, aber ich werde heute Abend nichts kaufen.“
 

„Heute Abend nicht, nein, aber …“
 

„Aber?“
 

„Vielleicht trauen Sie sich ja wieder in meinen Laden, wenn er eröffnet ist?“
 

„Damit Sie mir den Katalog mit diesen schwarz-weißen Bildern zeigen können?“
 

Er schüttelte den Kopf. „So etwas werde ich nicht anbieten. Mein Spektrum beginnt eher bei diesem Faksimile des Totenbuches, das ich Ihnen gestern verkaufte.“
 

„Beginnt?“, fragte ich und er nickte. „Ich bin nicht nur Idealist, sondern habe mich auf Sammlerstücke spezialisiert.“
 

„Und das hier?“
 

Wieder nickte er. „Warum denn nicht hier?“
 

„Und wie … ich meine … wie kommen Sie an Ihre Ware?“
 

Er schnaubte leise, dann senkte er den Blick und fuhr mit den Fingerkuppen über den Rand seiner Tasse. Ganz sacht tat er das. „Wenn ich Ihnen das verrate, kennen Sie mein Geschäftsgeheimnis.“
 

Er sah auf und zog eine Augenbraue hoch.
 

„Und warum haben Sie sich ausgerechnet auf Ägypten … ich nehme doch an, dass Sie sich auf Ägypten spezialisiert haben.“
 

„Nun, warum nicht? Saß ich doch selbst Jahre lang im Vorlesungssaal …“ Er sah mich noch immer an. In seine Augen hatte sich ein kleiner Schalk geschlichen und mich durchfuhr es. „Sie sind auch …“ Er nickte. „Wie sonst sollte ich wissen, was von Wert ist und was nicht?“

... und der Boden tut sich auf

„Weil wir gerade bei der Ägyptologie sind, vielleicht haben Sie mich tatsächlich schon einmal gesehen?“, fuhr er fort und kratzte sich am Hinterkopf.
 

„Wo soll das gewesen sein?“
 

„Auf einer Konferenz vielleicht?“
 

„Hmm“, machte ich, „aber dort wären Sie mir sicher aufgefallen.“
 

Er schmunzelte. „Vielleicht bin ich das auch und Sie haben es nur wieder vergessen? Oder Sie haben mich nicht bewusst wahrgenommen?“
 

„Wie das?“
 

„Na ja, indem wir aneinander vorbeigegangen sind und Sie Ihren Blick haben schweifen lassen – vielleicht, um jemanden zu suchen … Ihren Chef beispielsweise. Und da befand ich mich eben auch einen Moment lang in Ihrem Blickfeld, ohne, dass Sie mich tatsächlich wahrgenommen hätten.“
 

„Hmmm. Meinen Sie, dass es so etwas gibt? Dass man …“
 

Er nickte und nahm noch einen Schluck Tee. „Das glaube ich nicht nur, das weiß ich.“
 

„Und wie … ich meine, wie wollen Sie das beweisen?“
 

„Beweisen?“, seufzte er und setzte seine Brille ab, um sich die Augen zu reiben. Doch noch ehe ich herausfinden konnte, wie groß seine Augen nun tatsächlich waren, hatte er sie schon wieder aufgesetzt und blinzelte mich an. „Beweisen kann ich Ihnen das nicht. Aber wie erklären Sie sich zum Beispiel die Gesichter, die man manchmal vor seinem geistigen Auge sieht, beispielsweise kurz bevor man einschläft?“
 

Ich antwortete nicht sofort darauf, nahm lieber selbst noch einen Schluck Tee. Ich hatte mich etwas beruhigt, fühlte mich aber noch immer nicht gut. Vor allem knabberte die Müdigkeit an mir. Und unwillkürlich musste ich gähnen.
 

„Also, wie?“, fuhr er fort. „Wäre es nicht denkbar, dass es Gesichter sind, die wir nicht bewusst wahrnehmen, die wir jedoch trotzdem in unserem Gehirn abspeichern und die dann irgendwann wieder an die Oberfläche treten?“
 

Ich zuckte mit den Schultern. „Möglich, dass Sie eines dieser Gesichter sind.“
 

Wieder schmunzelte er und dann bemerkte ich, dass er seine Nase leicht kraus zog, so als wolle er sagen: „Ganz bestimmt verhält es sich so.“
 

„Aber“, wandte ich ein – und dieser Gedanke war im Grunde daran schuld, dass ich mich nicht entspannen konnte, „wenn all das stimmt, dann erklärt das noch lange nicht, wieso ich Ihren Laden hatte besuchen können und wieso Sie mich ganz offensichtlich angerufen haben.“
 

Einen Moment lang schwieg er, dann legte er seine Hand wieder auf meine und sagte: „Vielleicht, und das ist jetzt reine Spekulation und es hört sich wohl auch ziemlich weithergeholt, aber vielleicht sind Sie ein kleinwenig hellsichtig?“
 

„Hellsichtig? Ich?“
 

Er nickte. „Ja, könnte doch möglich sein?“
 

„Also dann meinen Sie, dass ich mit Ihrem Ich aus der Zukunft Kontakt hatte, dem meine Telefonnummer gegeben habe und es mich jetzt anruft, um mir mitzuteilen, dass es etwas für mich hätte?“
 

Er gluckste leise, nahm wieder einen Schluck Tee und zuckte mit den Schultern. „Möglich?“
 

„Aber dann habe ich Ihr Ich in sieben Jahren erwischt, denn Sie sprachen am Telefon davon, dass Sie den Laden bereits so lange hätten …“
 

„Oh ja, das deuteten Sie an“, entgegnete er. „Ehrlich? Wenn ich diesen Laden auch nur ein oder zwei Jahre halten kann, wäre ich froh. Sieben Jahre klingen da wie … wie …“
 

„Ebenso unglaublich, wie diese ganze Geschichte“, sagte ich, entzog ihm meine Hand und sah ihm in die Augen, die so groß und eulenhaft wirkten.
 

„Sie haben Recht, unglaublich, allerdings könnte es doch sein, dass …“, erwiderte er.
 

„Hören Sie auf“, fuhr ich ihm ins Wort. „Wie man es dreht und wendet. Die einfachste Lösung ist und bleibt, dass Sie sich einen Scherz mit mir erlaubt haben. Und das macht mir Angst.“
 

Da ich es aussprach, wurde mir wieder bewusst, in welcher Situation ich mich befand. Am liebsten wäre ich sofort aufgestanden und gegangen, doch ich blieb sitzen, sah ihn an. Wieder rieb er sich die Augen. Diesmal aber setzte er seine Brille nicht extra ab. Dann blinzelte er wieder und sagte ganz ruhig: „Ich glaube Ihnen, dass Sie Angst haben. Und um ehrlich zu sein, macht es mir auch Angst. Davon einmal abgesehen, dass Sie hellsichtig sein könnten und eventuell Dinge sehen, die meine Person betreffen, die unschön sind …“
 

„Welche sollen das sein?“, stieß ich hervor und sofort begann mein Herz zu rasen.
 

„Nun ja, vielleicht sehen Sie ja, wann und wie ich sterbe …“ Er zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie sieben Jahre in die Zukunft blicken können …“
 

„Hören Sie auf“, schnappte ich, denn das klang mir gar zu fremd, zu abgehoben, zu … Augenblicklich fröstelte mich und ich packte meine Tasse. Sie war rote. Einfarbig rot.
 

„Gut, gehen wir davon aus, dass Sie nicht hellsichtig sind, dann …“
 

Er unterbrach sich und sah mich einen Moment lang nur an. Und ich wollte schon fragen, was dann sei, doch er holte tief Luft und fuhr fort: „Wie kann ich sicher sein, dass Sie nicht doch verrückt sind und sich all das, was Sie mir jetzt erzählt haben …“
 

„Halten Sie den Mund“, entfuhr es mir und ich ballte meine Hand zur Faust. „Ich bin nicht verrückt!“
 

„Selbst, wenn ich Ihnen das glauben würde …“
 

„Sie … Sie glauben mir nicht?“
 

„Glauben Sie denn mir?“
 

Wir sahen uns wieder an. Ich fuhr mir mit der Hand über den Mund, spürte Unruhe in mir. Und ganz plötzlich war mir richtig kalt. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Mit diesen Worten erhob ich mich. Auch er stand auf. „Bitte zeigen Sie mir den Weg nach draußen“, sagte ich noch.
 

„Natürlich“, erwiderte er, nickte, presste die Lippen aufeinander und ging dann an mir vorbei. Ich folgte ihm, ohne mich umzusehen, denn ich wollte dieses Geschäft so schnell wie möglich verlassen. Doch als wir uns dann an der Tür gegenüberstanden – er bereits die Klinke in der Hand, ein „Also dann“, auf den Lippen, zwang ich mich ihm noch einmal in die Augen zu sehen. „Bitte sagen Sie es mir hier und jetzt noch einmal ins Gesicht, dass Sie mich nicht angerufen haben.“
 

„Ich habe Sie nicht angerufen“, erwiderte er mit leicht belegter Stimme. „Und bitte sagen Sie mir, dass ich keine Verrückte vor mir habe.“
 

Ich holte tief Luft. „Herr Rosentau, soviel ich weiß, bin ich nicht verrückt. Aber …“ Und dann gab ich mir einen Ruck. „Aber ausschließen kann ich es nicht … Doch lassen Sie sich versichert sein, dass ich Sie gestern nicht zum ersten Mal gesehen habe.“
 

„Ich weiß“, erwiderte er leise und dann spürte ich plötzlich den leichten Druck seiner Hand auf meiner Schulter. „Ich weiß und vielleicht habe ich Sie ja auch schon einmal gesehen, ohne, dass es mir bewusst ist.“ Wir sehen uns in die Augen. „Gute Nacht, Frau ...“
 

„Und, wenn ich wieder einen Anruf erhalte?“, unterbrach ich ihn.
 

Er neigte sich zu mir hinab. „Dann versuchen Sie den Anruf mitzuschneiden“, erwiderte er sacht.
 

„Ja, klar …“, stammelte ich. „Die einfachste Lösung …“
 

„… fällt einem erst gar nicht ein.“ Er schmunzelte. „Bis morgen, Frau Schappach.“
 

„Ja … vielleicht … vielleicht habe ich Sie ja auch in einer parallelen Wirklichkeit gesehen?“, stieß ich hervor, sah ihn erwartungsvoll an, doch er schwieg. „Ich meine, darüber schon einmal gelesen zu haben … dass die Zeit nur eine Illusion ist und dass wir im Grunde …“
 

„Wir werden dieses Problem heute Abend nicht lösen können“, bemerkte er. „Aber denken Sie daran, wenn wieder ein Anruf kommt, ihn aufzunehmen.“
 

Ich nickte seufzend und reichte ihm die Hand. „Gute Nacht, Herr Rosentau.“
 

„Ihnen auch!“
 

Kaum war ich daheim, zog ich den Telefonstecker. Doch die Gedanken kamen trotzdem und mit ihnen die Angst. Denn gerade weil mir mein Gefühl sagte, dass ich Rosentau glauben konnte, drängte sich mir die Frage auf, wer mich dann angerufen hatte. Wer? Dass ich unter Umständen hellsichtig war, klang ebenso unsinnig wie die Möglichkeit, dass ich in eine andere Realität gerutscht war. Also wer hatte mich angerufen?
 

Je mehr ich mich in diesen Gedanken verstrickte, desto schlechter fühlte ich mich. Und letztlich war an Schlaf auch in dieser Nacht kaum zu denken.
 

Der nächste Morgen begrüßte mich mit einem übelgelaunten Chef, der mich, kaum hatte ich meine Sachen abgelegt, mit sich in eine Ecke zog. „Wozu habe ich Sie eigentlich eingestellt?“
 

„Wie?“
 

„Wenn Sie sich überfordert fühlen, müssen Sie mir das sagen. Dann suche ich mir jemand anderes!“
 

Er sah mich mit seinem Schlangenblick an.
 

„Was? Was ist geschehen?“
 

„Was geschehen ist? Frau Prof. Dr. Steudel musste heute Morgen Ihr Hotel verlassen, das ist los!“, rief er und stemmte die Hände in die Seiten.
 

„Aber warum denn?“
 

„Warum? Das will ich von Ihnen wissen, Frau Schappach!“
 

„Aber …“, keuchte ich, wurde jedoch von ihm unterbrochen.
 

„Sie müssen mir nichts sagen. Ich weiß sowieso Bescheid. Wenn Sie nicht fähig sind, eine ordentliche Hotelbuchung hinzubekommen, dann … dann …“
 

„Aber ich habe doch …“
 

„Nur bis heute Morgen gebucht. Das geht doch nicht an!“
 

Ich starrte meinem Chef ins Gesicht, war fassungslos, denn ich war diese Buchungen der Vortragenden immer und immer wieder durchgegangen, natürlich in dem Wissen, dass mir kein Fehler unterlaufen dürfe. Und nun das? Unwillkürlich griff ich mir an die Stirn.
 

„Und wie sehen Sie überhaupt aus?“, fauchte mich mein Chef an.
 

„Was, wie?“
 

„Wie … na, ich sage nichts! Wohl die Nacht wieder durchgemacht? Was?“
 

„Ich? Nein …“
 

„Ich will es gar nicht wissen, was Sie in Ihrer Freizeit treiben, aber hier haben Sie korrekt zu erscheinen. Mein Gott, Frau Schappach, das hier ist eine Konferenz, die unser Institut repräsentieren soll. Und Sie kommen wie eine …“
 

Er unterbrach sich, presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte den Kopf.
 

„Ja …“, sagte ich kleinlaut, denn ich hatte an diesem Morgen keine Kraft, ihm etwas zu entgegen. Und überhaupt, es hätte ja auch nichts genützt. Mein Chef hatte immer das letzte Wort.
 

„Gehen Sie rasch aufs WC und richten sich ein wenig her“, forderte er mich schließlich auf. „Und dann gehen Sie zu Frau Steudel und bitten Sie um Verzeihung.“
 

„Ja, selbstverständlich …“
 

Als mein Chef sich abgewandt hatte, griff ich mir kurz an die Brust. Ich ahnte, was er meinte. Auch ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, wusste ich, dass sich unter meinen Augen dunkle Ränder befanden und ich obendrein blass war. Aber wie ich das vertuschen konnte, wusste ich nicht. Vielleicht genügte es, mein Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen? Vielleicht?
 

Ich fühlte mich an diesem Morgen schlecht, richtig schlecht. Wenn ich den Flur vor dem Konferenzraum querte, dann meinte ich, nicht geradeaus zu gehen und musste überdies ständig aufpassen, niemanden anzurempeln, ehe ich Frau Prof. Dr. Steudel zwischen all den anderen ausfindig machen konnte.
 

„Es tut mir entsetzlich leid“, begann ich – und das entsprach sogar der Wirklichkeit, auch wenn ich im Moment zu keinem Gefühl fähig war. Und auch die erwartete Schimpfkanonade würde an mir vorbeigehen. Doch statt dieser empfing mich ein Lächeln. „Ach, was“, ließ sich die ältere Dame vernehmen, „das ist doch nicht schlimm. Das habe ich Ihrem Chef auch schon gesagt. Ich fahre dann heute schon ab.“
 

„Wie?“
 

„Ja … alles kein Problem.“
 

„Aber …“, begann ich und sie sah mich durch ihre Eulenbrille an. „Nicht schlimm. Machen Sie sich keine Gedanken, Mädchen.“
 

„Hmmm …“
 

Wieder sahen wir uns in die Augen.
 

„Ihr Chef spinnt!“, sagte sie da plötzlich.
 

„Wie?“
 

„Ja“, nickte sie, „der spinnt! Und das nicht erst seit heute.“
 

„Was?“, brachte ich hervor; sie packte mich am Arm und neigte sich zu mir. „Ich darf das sagen, weil ich diesen Kerl seit seinen ersten Schritten an der Universität kenne.“
 

„Wie?“ In meinem Kopf begann es zu rauschen. Was erzählte mir die alte Professorin da?
 

„Ein Spinner?“, nuschelte ich und sie nickte. „Und wenn ich Sie wäre, würde ich machen, dass ich von dem wegkomme. Der macht alle in seiner Umgebung krank.“ Das sagte sie mir so einfach und lächelte dazu. „Schauen Sie sich an. Sie verplempern bei diesem Kerl nur Ihre Zeit.“
 

Ich kann nicht sagen, dass mich das Gespräch in dem Moment, da ich es führte, in irgendeiner Weise berührte hätte. Zu müde war ich und zu überrumpelt.
 

„Ich kenne diesen Spinner schon so lange. Leider war er immer einer der Besten, sodass ich ihn nicht einfach hinten runterfallen lassen konnte.“
 

„Dann … war er Ihr Student?“
 

Sie nickte. „Ja, und ich frage den Herrgott noch heute, warum dieser Kelch nicht an mir vorübergegangen ist. Und das eigentlich Bittere ist, dass er mich zu lieben scheint …“
 

Sie zwinkerte mir zu.
 

„Wie?“ – Langsam kam ich mir richtig, richtig dumm vor, ständig „Wie?“ und „Was?“ zu fragen, doch das schien Frau Prof. Dr. Steudel gar nicht zu stören, denn sagte: „Na nicht so, wie Sie denken. Dazu bin ich ja nun zu alt. Aber der dachte Zeit seines Studentenlebens, dass ich ihn bevorzugen würde und fortan war ich mir seiner Sympathie sicher und ich durfte Mutterersatz spielen.“
 

„Oha …“
 

„Na, was sollte ich denn machen, wenn er mir als Einziger erklären konnte, was es mit der passiven sḏmw-Form auf sich hat …“
 

„Das kann niemand“, entgegnete ich.
 

„Außer ihm“, sagte sie und ich nickte. Kannte ich doch meinen Chef als Sprachcrack. „Zumindest zimmerte er damals schon eine Theorie zusammen, die er ja letztlich zur seiner Dissertation ausbaute und die ich das Glück oder Unglück hatte, betreuen zu dürfen.“
 

Sie unterbrach sich, drückte meine Hand. „Wie dem auch sei: Lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen und wenn sich etwas Anderes findet, verschwinden Sie hier. Das hier ist kein guter Ort. Zumal, wenn sich dieser Hanfnuss wirklich einkaufen sollte …“
 

„Ja“, brachte ich nur heraus, dann war unser Gespräch beendet, da sie sich einem anderen zuwandte, der sie freudig begrüßte. „Danke“, rief ich noch und sie nickte kurz, dann war sie in der Menge verschwunden und ich hatte Stoff zum Nachdenken – oder hätte ihn gehabt, wenn ich nicht hätte arbeiten müssen.
 

Der Tag war lang, sehr lang und nicht nur einmal meinte ich, mich plötzlich nicht mehr richtig bewegen zu können. Auch dachte ich, dass ich zu lallen beginnen würde. Mein Herz raste die ganze Zeit über, mein Kopf dröhnte und als ich dann auch noch bemerkte, dass Hanfnuss in einer der Pausen auf mich zugewalzte kam, wusste ich mir nicht anders zu helfen, als mich zu Rosentaus Tisch zu flüchten. Und da stand ich dann. Wir sahen uns an. Und hinter mir wusste ich dieses Monstrum von Mensch. Kaum brachte ich ein „Hallo“ hervor, da zog sich in mir alles zusammen. Ich begann zu schwitzen und mein Herz raste. Dann war da nur noch eine Leere in meinem Kopf. „K … kö … kökö …“, stammelte ich.
 

„Wie bitte?“, hörte ich Rosentau wie aus weiter Ferne fragen.
 

„… mich in die Arme neh … men … ich ...“
 

Und in diesem Moment spürte ich, wie sich der Boden unter mir auftat.

Krank

Erst, als ich bei meiner Mutter war, begann ich langsam wieder, klar zu denken. Ihre Katzen, Maunzi und Pieps, sprangen über mein Bett. Ich sah ihnen dabei zu, rief sie auch, doch sie hörten nicht und jagten einander, so als gäbe es nichts Schöneres auf dieser Welt.
 

Es war früh am Morgen und ich wusste, dass Weihnachten vor der Tür stand. In ein, zwei Tagen … Aber im Grunde war mir das egal … wie alles um mich her, wenn es eben nicht gerade die Katzen waren, die über mein Bett hinwegsprangen oder sich des nachts neben mich legten, leise schnurrend. Dann kuschelten wir drei uns aneinander und ich genoss ihre Wärme.
 

Nur manchmal stand ich auf, um zur Toilette zu gehen, mich zu waschen oder, um etwas zu essen. Die meiste Zeit über aber lag ich. Ich wollte es nicht anders.
 

Der Arzt meiner Mutter hatte von einem Überlastungssyndrom gesprochen und mir eine leichte depressive Verstimmung bescheinigt. Die Konsequenz dessen war, dass ich nun hier, im Gästezimmer meiner Mutter weilte – mit einem Attest und dem gut gemeinten Rat des Arztes, mich einmal richtig auszuschlafen und nicht an die Arbeit zu denken. Nun, von dem Rest hatte ich ihm nicht erzählt und würde es auch nicht tun, denn irgendetwas sagte mir, dass das nicht gut wäre und es die Diagnose dahingehend beeinflussen könnte, dass ich den Platz im hiesigen Bett mit dem in einer Anstalt würde tauschen müssen. Oder? Zumindest aber würde ich Pillen schlucken müssen. Und das wollte ich nicht. Ich behielt all das also für mich. Auch meiner Mutter erzählte ich nur, dass ich mich durch meine Arbeit zuweilen überfordert fühlte, na ja, zumindest von meinem Chef.
 

Zum Glück war meine Mutter eine ruhige Frau, die sich nicht so leicht aufregte, doch gelassen, das sah ich ihr an, nahm sie meinen Zustand auch nicht hin. Aber was sollte ich tun? Ihr etwas vorspielen? Wenn ich nicht fröhlich sein wollte, dann war ich es eben auch nicht. Ich hatte in letzter Zeit genug lachen müssen. Jetzt wollte ich ernst sein und wenn, dann überhaupt nur, mit den Katzen spielen.
 

Manchmal stand ich auch auf, um das Fenster zu öffnen und die frische, gute Luft hereinzulassen. Klare, reine Winterluft, die ich so sehr mochte. Seit der Scheidung von meinem Vater lebte meine Mutter in einem kleinen westthüringischen Dorf. Sie hatte es irgendwie geschafft, eines der wenigen Häuser, die der Gemeinde gehörten, zu mieten, für sich und ihre Katzen. Maunzi und Pieps waren nur zwei von insgesamt sechs. Aber außer den beiden kam keine Katze in die Wohnung. Nur, wenn es ganz kalt war, kamen sie in den Flur, ansonsten trieben sie sich immer draußen herum.
 

Das Haus meiner Mutter befand sich gleich neben der Kirche, sodass wir die Glocken jede Viertelstunde – und zur Nacht jede halbe Stunde – hörten. Ich empfand das als sehr beruhigend. Denn, wenn ich nachts erwachte und Pieps und Maunzi nicht bei mir wusste, fühlte ich mich allein. Doch wenn dann die Glocke ging, war das schön, angenehm und ich konnte wieder einschlafen. Ebenso schön war es, wenn ich von Ferne Hunde bellen hörte. Dann wurde diese dörfliche Stille von Leben durchflattert.
 

Manchmal setzte sich meine Mutter am Nachmittag nach ihrer Arbeit an mein Bett und fragte mich, ob wir reden wollten. Doch meist war mir nicht danach. Dann blieb sie entweder noch ein Weilchen und erzählte mir irgendetwas von den Leuten aus dem Dorf oder sie ging wieder. Ich mochte auch das. Sie war wirklich nicht aufdringlich. Doch ich wusste, dass sie für mich da wäre, wenn ich sie bräuchte.
 

Manchmal lag ich einfach nur so da – stundenlang – und sah an die Decke, die weiß gestrichen war. Ich wusste, dass meine Mutter dafür Hilmer hatte kommen lassen, ihren Kumpel aus dem Dorf. Hilmer hatte sie, anders als viele andere aus dem Dorf, sofort angenommen und war ihr fortan auch nicht mehr von der Seite gewichen. Sie nannte ihn heimlich, ihren kleinen Hund. Wenn sie das tat, bemühte ich mich zu lächeln. Ich kannte Hilmer nur flüchtig, konnte aber bestätigen, dass er hündische Allüren an den Tag legte. Kurzum: er liebte meine Mutter, wohl dafür, dass es endlich jemanden gab, der ihn nicht abwies. Ja, Hilmer hatte keinen guten Stand im Dorf, gleichwohl hier geboren. Was der Grund dafür war, wusste auch meine Mutter nicht. Und Hilmer selbst mochte sie nicht fragen. So blieb es vorerst bei der rein äußerlichen Betrachtung des Umstandes, dass Hilmer immer Gewehr bei Fuß stand, wenn ihn meine Mutter rief. Oft tat sie es nicht – und wenn doch, dann dankte sie es ihm, mit einer warmen Mahlzeit, die sie ihm kochte. Denn seit dem Tod seiner Eltern schien er gerade das zu vermissen. Er würde auch am Weihnachtsheiligabend zu uns kommen. Ob ich etwas dagegen hätte, wollte meine Mutter wissen. Ich schüttelte den Kopf. Warum sollte ich auch? Wenn es mir zu viel werden würde, könnte ich mich ja zurückziehen.
 

Hilmer hatte jedenfalls gute Arbeit geleistet. Die Decke war weiß, blütenweiß. Ich mochte diesen Farbton. Er strahlte Reinheit und vor allem Ruhe aus. Da gab es nichts, was mich hätte aufregen können. Nichts. Kein Rot oder Blau. Nur weiß. Die ganze Decke war so, gleichmäßig weiß gestrichen. Und wenn ich die Augen schloss, versuchte ich sie mir weiterhin vorzustellen. Einfach nur sie und sonst nichts. Und wenn mir das gelang, spürte ich so etwas wie Zufriedenheit in mir. Ruhe, Zufriedenheit – davon hatte auch der Arzt gesprochen. Und auch davon, dass mich nichts und niemand davon würde abhalten können, einmal nicht an die Arbeit zu denken. Und seltsamerweise fiel es mir auch gar nicht schwer. Am Anfang, als ich noch fast den ganzen Tag geschlafen hatte, durchzuckte mich nur ab und an ein Gedanke an sie, an meinen Chef, an all das, was auf meinen Schreibtisch lag und sich vielleicht auch stapelte. Doch jetzt, da ich diese, von Hilmer so wunderbar weißgestrichene Decke mehr und mehr in mein Leben ließ, verschwammen diese Gedanken so als stellte jemand ein Teleobjektiv unscharf.
 

Aber dann geschah etwas, das mich augenblicklich aus dieser Ruhe, diesem Gleichmut riss. Es war ein Brief von der Universität, aus meinem Institut. Ich erkannte die Schrift. Es war die unserer Sekretärin. Meine Mutter war gerade nicht da und hatte den Brief in die Ablage im Flur getan. Ob sie ihn mir später würde zeigen wollen? Ich zögerte jedenfalls und spürte plötzlich wieder eine Leere in meinem Kopf. Ich dachte, ich würde gleich in Ohnmacht fallen. Doch im nächsten Moment fing ich mich, streckte meine Hand nach diesem Brief aus, der doch recht dick war. Mein Herz raste, während ich auf den Institutsstempel starrte. Was, wenn mir mein Chef mitteilte, dass er mich nach Neujahr nicht wiedersehen wolle? Augenblicklich zog sich mein Magen zusammen und meine Hände begannen zu zittern. Mein Arzt hatte gesagt, dass ich jegliche Aufregung vermeiden sollte, doch nun stand ich hier und wusste nicht weiter. Sollte ich den Brief einfach wieder in die Ablage tun und so tun, als wäre nichts? Doch könnte ich das? Jetzt, da ich hier stand und am ganzen Leib zitterte und mit mir kämpfen musste, nicht wieder diese Leere in meinem Kopf aufkommen zu lassen. Unwillkürlich taumelte ich zum nächsten Stuhl, ließ mich auf ihm nieder, den Brief noch immer in den Händen. Der Brief war nicht ganz leicht. Und klein war er auch nicht. Vielleicht, nein, ganz sicher hatte mein Chef unserer Sekretärin befohlen, mir die Post nachzuschicken … Ja, wahrscheinlich war’s nur das. Denn auch wenn ich arbeitsunfähig war, musste ich ja meine Post lesen können. Und im Grunde hätte ich auch schon längst einmal in meine Emails schauen müssen … Hätte, hätte, hätte … Ungestüm riss ich den Umschlag auf und heraus fiel ein Brief, mir direkt vor die Füße. Rasch bückte ich mich, riss auch ihn auf und entnahm ihm einen Bogen.
 

Liebe Kathi – ich darf Sie doch ‚Kathi‘ nennen?,
 

stand da in sauberer, fast kalligraphischer Schrift. Ich stutzte. Was, was hatte das zu bedeuten?
 

bitte verzeihen Sie mir, dass ich mir die Freiheit nehme, Ihnen dieses Büchlein mit Anekdoten rund um die Ägyptologie zu schicken, verbunden mit der Hoffnung, dass Sie es noch nicht besitzen. Meines Wissens ist es seit Jahren vergriffen, aber erst neulich fiel mir ein Exemplar in die Hände und da dachte ich sofort an Sie. Mir hat dieses Büchlein durch mein Studium und letztlich auch durch die Zeit der Promotion geholfen. Sehr empfehlenswert sind die Abdrucke der Rezensionen aus dem frühen 20. Jahrhundert, die Art, wie sich die Wissenschaftler gegenseitig angingen … Lesen Sie es!
 

Ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest und hoffe, dass Sie recht bald genesen.



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