Der magische Papyrus von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 6: ... und der Boden tut sich auf ----------------------------------------- „Weil wir gerade bei der Ägyptologie sind, vielleicht haben Sie mich tatsächlich schon einmal gesehen?“, fuhr er fort und kratzte sich am Hinterkopf. „Wo soll das gewesen sein?“ „Auf einer Konferenz vielleicht?“ „Hmm“, machte ich, „aber dort wären Sie mir sicher aufgefallen.“ Er schmunzelte. „Vielleicht bin ich das auch und Sie haben es nur wieder vergessen? Oder Sie haben mich nicht bewusst wahrgenommen?“ „Wie das?“ „Na ja, indem wir aneinander vorbeigegangen sind und Sie Ihren Blick haben schweifen lassen – vielleicht, um jemanden zu suchen … Ihren Chef beispielsweise. Und da befand ich mich eben auch einen Moment lang in Ihrem Blickfeld, ohne, dass Sie mich tatsächlich wahrgenommen hätten.“ „Hmmm. Meinen Sie, dass es so etwas gibt? Dass man …“ Er nickte und nahm noch einen Schluck Tee. „Das glaube ich nicht nur, das weiß ich.“ „Und wie … ich meine, wie wollen Sie das beweisen?“ „Beweisen?“, seufzte er und setzte seine Brille ab, um sich die Augen zu reiben. Doch noch ehe ich herausfinden konnte, wie groß seine Augen nun tatsächlich waren, hatte er sie schon wieder aufgesetzt und blinzelte mich an. „Beweisen kann ich Ihnen das nicht. Aber wie erklären Sie sich zum Beispiel die Gesichter, die man manchmal vor seinem geistigen Auge sieht, beispielsweise kurz bevor man einschläft?“ Ich antwortete nicht sofort darauf, nahm lieber selbst noch einen Schluck Tee. Ich hatte mich etwas beruhigt, fühlte mich aber noch immer nicht gut. Vor allem knabberte die Müdigkeit an mir. Und unwillkürlich musste ich gähnen. „Also, wie?“, fuhr er fort. „Wäre es nicht denkbar, dass es Gesichter sind, die wir nicht bewusst wahrnehmen, die wir jedoch trotzdem in unserem Gehirn abspeichern und die dann irgendwann wieder an die Oberfläche treten?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Möglich, dass Sie eines dieser Gesichter sind.“ Wieder schmunzelte er und dann bemerkte ich, dass er seine Nase leicht kraus zog, so als wolle er sagen: „Ganz bestimmt verhält es sich so.“ „Aber“, wandte ich ein – und dieser Gedanke war im Grunde daran schuld, dass ich mich nicht entspannen konnte, „wenn all das stimmt, dann erklärt das noch lange nicht, wieso ich Ihren Laden hatte besuchen können und wieso Sie mich ganz offensichtlich angerufen haben.“ Einen Moment lang schwieg er, dann legte er seine Hand wieder auf meine und sagte: „Vielleicht, und das ist jetzt reine Spekulation und es hört sich wohl auch ziemlich weithergeholt, aber vielleicht sind Sie ein kleinwenig hellsichtig?“ „Hellsichtig? Ich?“ Er nickte. „Ja, könnte doch möglich sein?“ „Also dann meinen Sie, dass ich mit Ihrem Ich aus der Zukunft Kontakt hatte, dem meine Telefonnummer gegeben habe und es mich jetzt anruft, um mir mitzuteilen, dass es etwas für mich hätte?“ Er gluckste leise, nahm wieder einen Schluck Tee und zuckte mit den Schultern. „Möglich?“ „Aber dann habe ich Ihr Ich in sieben Jahren erwischt, denn Sie sprachen am Telefon davon, dass Sie den Laden bereits so lange hätten …“ „Oh ja, das deuteten Sie an“, entgegnete er. „Ehrlich? Wenn ich diesen Laden auch nur ein oder zwei Jahre halten kann, wäre ich froh. Sieben Jahre klingen da wie … wie …“ „Ebenso unglaublich, wie diese ganze Geschichte“, sagte ich, entzog ihm meine Hand und sah ihm in die Augen, die so groß und eulenhaft wirkten. „Sie haben Recht, unglaublich, allerdings könnte es doch sein, dass …“, erwiderte er. „Hören Sie auf“, fuhr ich ihm ins Wort. „Wie man es dreht und wendet. Die einfachste Lösung ist und bleibt, dass Sie sich einen Scherz mit mir erlaubt haben. Und das macht mir Angst.“ Da ich es aussprach, wurde mir wieder bewusst, in welcher Situation ich mich befand. Am liebsten wäre ich sofort aufgestanden und gegangen, doch ich blieb sitzen, sah ihn an. Wieder rieb er sich die Augen. Diesmal aber setzte er seine Brille nicht extra ab. Dann blinzelte er wieder und sagte ganz ruhig: „Ich glaube Ihnen, dass Sie Angst haben. Und um ehrlich zu sein, macht es mir auch Angst. Davon einmal abgesehen, dass Sie hellsichtig sein könnten und eventuell Dinge sehen, die meine Person betreffen, die unschön sind …“ „Welche sollen das sein?“, stieß ich hervor und sofort begann mein Herz zu rasen. „Nun ja, vielleicht sehen Sie ja, wann und wie ich sterbe …“ Er zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie sieben Jahre in die Zukunft blicken können …“ „Hören Sie auf“, schnappte ich, denn das klang mir gar zu fremd, zu abgehoben, zu … Augenblicklich fröstelte mich und ich packte meine Tasse. Sie war rote. Einfarbig rot. „Gut, gehen wir davon aus, dass Sie nicht hellsichtig sind, dann …“ Er unterbrach sich und sah mich einen Moment lang nur an. Und ich wollte schon fragen, was dann sei, doch er holte tief Luft und fuhr fort: „Wie kann ich sicher sein, dass Sie nicht doch verrückt sind und sich all das, was Sie mir jetzt erzählt haben …“ „Halten Sie den Mund“, entfuhr es mir und ich ballte meine Hand zur Faust. „Ich bin nicht verrückt!“ „Selbst, wenn ich Ihnen das glauben würde …“ „Sie … Sie glauben mir nicht?“ „Glauben Sie denn mir?“ Wir sahen uns wieder an. Ich fuhr mir mit der Hand über den Mund, spürte Unruhe in mir. Und ganz plötzlich war mir richtig kalt. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Mit diesen Worten erhob ich mich. Auch er stand auf. „Bitte zeigen Sie mir den Weg nach draußen“, sagte ich noch. „Natürlich“, erwiderte er, nickte, presste die Lippen aufeinander und ging dann an mir vorbei. Ich folgte ihm, ohne mich umzusehen, denn ich wollte dieses Geschäft so schnell wie möglich verlassen. Doch als wir uns dann an der Tür gegenüberstanden – er bereits die Klinke in der Hand, ein „Also dann“, auf den Lippen, zwang ich mich ihm noch einmal in die Augen zu sehen. „Bitte sagen Sie es mir hier und jetzt noch einmal ins Gesicht, dass Sie mich nicht angerufen haben.“ „Ich habe Sie nicht angerufen“, erwiderte er mit leicht belegter Stimme. „Und bitte sagen Sie mir, dass ich keine Verrückte vor mir habe.“ Ich holte tief Luft. „Herr Rosentau, soviel ich weiß, bin ich nicht verrückt. Aber …“ Und dann gab ich mir einen Ruck. „Aber ausschließen kann ich es nicht … Doch lassen Sie sich versichert sein, dass ich Sie gestern nicht zum ersten Mal gesehen habe.“ „Ich weiß“, erwiderte er leise und dann spürte ich plötzlich den leichten Druck seiner Hand auf meiner Schulter. „Ich weiß und vielleicht habe ich Sie ja auch schon einmal gesehen, ohne, dass es mir bewusst ist.“ Wir sehen uns in die Augen. „Gute Nacht, Frau ...“ „Und, wenn ich wieder einen Anruf erhalte?“, unterbrach ich ihn. Er neigte sich zu mir hinab. „Dann versuchen Sie den Anruf mitzuschneiden“, erwiderte er sacht. „Ja, klar …“, stammelte ich. „Die einfachste Lösung …“ „… fällt einem erst gar nicht ein.“ Er schmunzelte. „Bis morgen, Frau Schappach.“ „Ja … vielleicht … vielleicht habe ich Sie ja auch in einer parallelen Wirklichkeit gesehen?“, stieß ich hervor, sah ihn erwartungsvoll an, doch er schwieg. „Ich meine, darüber schon einmal gelesen zu haben … dass die Zeit nur eine Illusion ist und dass wir im Grunde …“ „Wir werden dieses Problem heute Abend nicht lösen können“, bemerkte er. „Aber denken Sie daran, wenn wieder ein Anruf kommt, ihn aufzunehmen.“ Ich nickte seufzend und reichte ihm die Hand. „Gute Nacht, Herr Rosentau.“ „Ihnen auch!“ Kaum war ich daheim, zog ich den Telefonstecker. Doch die Gedanken kamen trotzdem und mit ihnen die Angst. Denn gerade weil mir mein Gefühl sagte, dass ich Rosentau glauben konnte, drängte sich mir die Frage auf, wer mich dann angerufen hatte. Wer? Dass ich unter Umständen hellsichtig war, klang ebenso unsinnig wie die Möglichkeit, dass ich in eine andere Realität gerutscht war. Also wer hatte mich angerufen? Je mehr ich mich in diesen Gedanken verstrickte, desto schlechter fühlte ich mich. Und letztlich war an Schlaf auch in dieser Nacht kaum zu denken. Der nächste Morgen begrüßte mich mit einem übelgelaunten Chef, der mich, kaum hatte ich meine Sachen abgelegt, mit sich in eine Ecke zog. „Wozu habe ich Sie eigentlich eingestellt?“ „Wie?“ „Wenn Sie sich überfordert fühlen, müssen Sie mir das sagen. Dann suche ich mir jemand anderes!“ Er sah mich mit seinem Schlangenblick an. „Was? Was ist geschehen?“ „Was geschehen ist? Frau Prof. Dr. Steudel musste heute Morgen Ihr Hotel verlassen, das ist los!“, rief er und stemmte die Hände in die Seiten. „Aber warum denn?“ „Warum? Das will ich von Ihnen wissen, Frau Schappach!“ „Aber …“, keuchte ich, wurde jedoch von ihm unterbrochen. „Sie müssen mir nichts sagen. Ich weiß sowieso Bescheid. Wenn Sie nicht fähig sind, eine ordentliche Hotelbuchung hinzubekommen, dann … dann …“ „Aber ich habe doch …“ „Nur bis heute Morgen gebucht. Das geht doch nicht an!“ Ich starrte meinem Chef ins Gesicht, war fassungslos, denn ich war diese Buchungen der Vortragenden immer und immer wieder durchgegangen, natürlich in dem Wissen, dass mir kein Fehler unterlaufen dürfe. Und nun das? Unwillkürlich griff ich mir an die Stirn. „Und wie sehen Sie überhaupt aus?“, fauchte mich mein Chef an. „Was, wie?“ „Wie … na, ich sage nichts! Wohl die Nacht wieder durchgemacht? Was?“ „Ich? Nein …“ „Ich will es gar nicht wissen, was Sie in Ihrer Freizeit treiben, aber hier haben Sie korrekt zu erscheinen. Mein Gott, Frau Schappach, das hier ist eine Konferenz, die unser Institut repräsentieren soll. Und Sie kommen wie eine …“ Er unterbrach sich, presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte den Kopf. „Ja …“, sagte ich kleinlaut, denn ich hatte an diesem Morgen keine Kraft, ihm etwas zu entgegen. Und überhaupt, es hätte ja auch nichts genützt. Mein Chef hatte immer das letzte Wort. „Gehen Sie rasch aufs WC und richten sich ein wenig her“, forderte er mich schließlich auf. „Und dann gehen Sie zu Frau Steudel und bitten Sie um Verzeihung.“ „Ja, selbstverständlich …“ Als mein Chef sich abgewandt hatte, griff ich mir kurz an die Brust. Ich ahnte, was er meinte. Auch ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, wusste ich, dass sich unter meinen Augen dunkle Ränder befanden und ich obendrein blass war. Aber wie ich das vertuschen konnte, wusste ich nicht. Vielleicht genügte es, mein Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen? Vielleicht? Ich fühlte mich an diesem Morgen schlecht, richtig schlecht. Wenn ich den Flur vor dem Konferenzraum querte, dann meinte ich, nicht geradeaus zu gehen und musste überdies ständig aufpassen, niemanden anzurempeln, ehe ich Frau Prof. Dr. Steudel zwischen all den anderen ausfindig machen konnte. „Es tut mir entsetzlich leid“, begann ich – und das entsprach sogar der Wirklichkeit, auch wenn ich im Moment zu keinem Gefühl fähig war. Und auch die erwartete Schimpfkanonade würde an mir vorbeigehen. Doch statt dieser empfing mich ein Lächeln. „Ach, was“, ließ sich die ältere Dame vernehmen, „das ist doch nicht schlimm. Das habe ich Ihrem Chef auch schon gesagt. Ich fahre dann heute schon ab.“ „Wie?“ „Ja … alles kein Problem.“ „Aber …“, begann ich und sie sah mich durch ihre Eulenbrille an. „Nicht schlimm. Machen Sie sich keine Gedanken, Mädchen.“ „Hmmm …“ Wieder sahen wir uns in die Augen. „Ihr Chef spinnt!“, sagte sie da plötzlich. „Wie?“ „Ja“, nickte sie, „der spinnt! Und das nicht erst seit heute.“ „Was?“, brachte ich hervor; sie packte mich am Arm und neigte sich zu mir. „Ich darf das sagen, weil ich diesen Kerl seit seinen ersten Schritten an der Universität kenne.“ „Wie?“ In meinem Kopf begann es zu rauschen. Was erzählte mir die alte Professorin da? „Ein Spinner?“, nuschelte ich und sie nickte. „Und wenn ich Sie wäre, würde ich machen, dass ich von dem wegkomme. Der macht alle in seiner Umgebung krank.“ Das sagte sie mir so einfach und lächelte dazu. „Schauen Sie sich an. Sie verplempern bei diesem Kerl nur Ihre Zeit.“ Ich kann nicht sagen, dass mich das Gespräch in dem Moment, da ich es führte, in irgendeiner Weise berührte hätte. Zu müde war ich und zu überrumpelt. „Ich kenne diesen Spinner schon so lange. Leider war er immer einer der Besten, sodass ich ihn nicht einfach hinten runterfallen lassen konnte.“ „Dann … war er Ihr Student?“ Sie nickte. „Ja, und ich frage den Herrgott noch heute, warum dieser Kelch nicht an mir vorübergegangen ist. Und das eigentlich Bittere ist, dass er mich zu lieben scheint …“ Sie zwinkerte mir zu. „Wie?“ – Langsam kam ich mir richtig, richtig dumm vor, ständig „Wie?“ und „Was?“ zu fragen, doch das schien Frau Prof. Dr. Steudel gar nicht zu stören, denn sagte: „Na nicht so, wie Sie denken. Dazu bin ich ja nun zu alt. Aber der dachte Zeit seines Studentenlebens, dass ich ihn bevorzugen würde und fortan war ich mir seiner Sympathie sicher und ich durfte Mutterersatz spielen.“ „Oha …“ „Na, was sollte ich denn machen, wenn er mir als Einziger erklären konnte, was es mit der passiven sḏmw-Form auf sich hat …“ „Das kann niemand“, entgegnete ich. „Außer ihm“, sagte sie und ich nickte. Kannte ich doch meinen Chef als Sprachcrack. „Zumindest zimmerte er damals schon eine Theorie zusammen, die er ja letztlich zur seiner Dissertation ausbaute und die ich das Glück oder Unglück hatte, betreuen zu dürfen.“ Sie unterbrach sich, drückte meine Hand. „Wie dem auch sei: Lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen und wenn sich etwas Anderes findet, verschwinden Sie hier. Das hier ist kein guter Ort. Zumal, wenn sich dieser Hanfnuss wirklich einkaufen sollte …“ „Ja“, brachte ich nur heraus, dann war unser Gespräch beendet, da sie sich einem anderen zuwandte, der sie freudig begrüßte. „Danke“, rief ich noch und sie nickte kurz, dann war sie in der Menge verschwunden und ich hatte Stoff zum Nachdenken – oder hätte ihn gehabt, wenn ich nicht hätte arbeiten müssen. Der Tag war lang, sehr lang und nicht nur einmal meinte ich, mich plötzlich nicht mehr richtig bewegen zu können. Auch dachte ich, dass ich zu lallen beginnen würde. Mein Herz raste die ganze Zeit über, mein Kopf dröhnte und als ich dann auch noch bemerkte, dass Hanfnuss in einer der Pausen auf mich zugewalzte kam, wusste ich mir nicht anders zu helfen, als mich zu Rosentaus Tisch zu flüchten. Und da stand ich dann. Wir sahen uns an. Und hinter mir wusste ich dieses Monstrum von Mensch. Kaum brachte ich ein „Hallo“ hervor, da zog sich in mir alles zusammen. Ich begann zu schwitzen und mein Herz raste. Dann war da nur noch eine Leere in meinem Kopf. „K … kö … kökö …“, stammelte ich. „Wie bitte?“, hörte ich Rosentau wie aus weiter Ferne fragen. „… mich in die Arme neh … men … ich ...“ Und in diesem Moment spürte ich, wie sich der Boden unter mir auftat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)