Der magische Papyrus von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 2: Faksimile -------------------- Am nächsten Morgen das gleiche Lied wie immer: ich kam kaum aus dem Bett hoch, fühlte mich zerschlagen und nicht recht bei mir. Musste aber hoch, um den Tag irgendwie zu beginnen. Ich zählte die Stunden bis zum Mittag, dann die bis zum Feierabend, sah mich dann einem Haufen an Arbeit gegenüber – und mein Magen begann verrückt zu spielen. Aber ich musste ja erscheinen. Erscheinen Pflicht! Erst am späten Nachmittag hatte ich die Möglichkeit, mich erstmals wieder mit der Frage nach dem Antiquariat zu befassen, schickte nochmals eine Suchanfrage los, die wieder nichts ergab, hatte dann einen meiner wenigen Geistesblitze und suchte mir eine Liste aller Antiquariate des Viertels heraus. Denn es konnte doch nicht angehen, dass ich gestern Abend in einem Antiquariat war, ohne genau zu wissen, wo es sich befand. Aber ehe ich nun Sturm im Wasserglas machen wollte, zwang ich mich zur Ruhe. Überdies hatte ich noch immer viel zu tun. Da war die neue Konferenz, die vorbereitet werden musste. Die Teilnehmer wollten schon jetzt bespaßt und in ihrer Eitelkeit, manchmal aber auch in ihrer Tollpatschigkeit unterstützt werden. Es war keine Freude, ständig Emails beantworten zu müssen, in denen es hieß: „Wie sieht das Frühstück in Hotel XY aus?“ Und: „Bekomme ich auch ja ein Zimmer in ruhiger Lage?“ Oder: „Könnten Sie mir meinen Aufenthalt bis zum Montag verlängern?“ … Solche Emails waren der Horror und mir kams so vor, als hätte ich es nicht mit erwachsenen Leuten zu tun, sondern mit Kindern. Und ehrlich, Kinder waren da erträglicher … Das Beste war eine Anfrage von einem Mann, der wissen wollte, wie denn so das Nachtleben in der Stadt ausschauen würde und ob ich ihm da nicht helfen könne …!!! So kam es, dass ich den Gedanken an dieses seltsame Antiquariat oder eher meinen gestrigen Aussetzer immer wieder verdrängte, denn es stand für mich außerfrage, dass ich am gestrigen Abend einfach zu müde gewesen war, um zu realisieren, wohin es mich verschlagen hatte. Dass ich den Weg dennoch nach Hause gefunden hatte, war wohl dem Umstand geschuldet, dass ich nicht sehr weit vom Weg abgekommen war. Nur, wohin war ich gegangen? Welche Straße hatte ich benutzt. Und warum überhaupt? Nun tut man ja im Zustand geistiger Umnachtung sehr viele Dinge einfach so und ganz bestimmt gehört dazu auch das Erlaufen neuer Wege, aber dass ich mich so gar nicht daran erinnern konnte, ließ mich doch etwas nachdenklich sein. Meines Erachtens nach war ich immer auf der Hauptstraße geblieben und geradewegs nach Haus gegangen. Wie dem auch sei. An diesem Abend nun nahm ich mir vor, ganz bewusst durch die Straßen zu gehen – auch wenn mich die Müdigkeit wieder drückte und ich im Grunde nur eines wollte: nach Haus und in mein Bett. Aber es ging doch einfach nicht an, dass … … doch, es ging an, denn um es kurz zu machen: weder an diesem, noch an den folgenden Tagen fand ich meine Route und somit dieses Antiquariat wieder. Ich war durch alle Straßen im Umkreis gegangen, hatte wieder und wieder die Suchmaschinen des Internets bemüht und sogar einige Freunde befragt, ob sie nichts wüssten. Sie wussten nichts. Wie auch? Da war nichts. Rein gar nichts. Wohin also war ich gegangen? Wohin hatte ich mich verstiegen? Ich war ratlos und fühlte mich schlecht, denn solcher Art von Aussetzer hatte ich noch nie gehabt, jedenfalls nicht in dieser Vehemenz. Gut, Wortfindungsstörungen kannte jeder, auch, dass man nicht wusste, ob man den Herd nun ausgemacht hatte oder nicht. Aber das hier, das spürte ich, war etwas Anderes, etwas vollkommen Anderes. Und wenn man mich fragte: es machte mir Angst. Und ich sollte Recht behalten. Wie erwartet, hörte ich nichts von diesem seltsamen Antiquar, sodass ich davon ausging, dass er mich entweder nur foppen wollte oder tatsächlich nichts Interessantes hereinbekommen hatte. Oder er hatte mich einfach vergessen. Nur leider konnte ich ihn nicht vergessen, ihn in seinem Laden, der zwar, wie ich im Nachhinein fand, gemütlich wirkte – er zwischen all seinen Büchern am Thresen über einer Zeitung lehnend –, allerdings gleichzeitig auch so unscheinbar, fade. Im Grunde hatte er absolut nichts Außergewöhnliches zu bieten. Und vielleicht war es dem Antiquar auch bewusstgeworden, dass er mich als Ägyptologin nicht begeistern würde können, wenn er mir ein Bilderbuch über Mumien oder das was weiß ich nicht wievielte Werk über die Erbauung der Pyramiden vorlegen würde. Vielleicht. Ganz sicher. Kurzum, ich ging davon aus, ihn, wenn es der Zufall nicht anders wollte, nie wiedersehen würde. Aber es kam anders. Ganz anders und dieses Ganz anders erschütterte mich in Mark und Bein. Die Konferenz, die ich eingangs erwähnt hatte, rückte näher und näher und meine Aufregung stieg und stieg, da ich – die rechte Hand meines Chefs, der gleichzeitig Professor des Instituts war – mich für alles verantwortlich zeigen musste. Er übernahm einzig den Part, die Leute vorzustellen – und auch nur jene, die er für wichtig erachtete, die anderen überließ er mir. Jedenfalls bestürmten mich die Leute, die sich bereits per Mail als Kindergartenkinder vorgestellt hatten nun in einer Vehemenz, jetzt, da sie mich persönlich vor sich hatten, und ließen ihre kleinen, dummen Fragen an mir ab. Und ich durfte mich nie auch nur einen Millimeter wegbewegen, denn ich hatte für deren Wohl zu sorgen. Dass dies wichtig war, sah ich ein, ging es doch hier nicht um irgendein kleines Kolloquium, sondern um eine Konferenz, an der an die 50 Leute teilnahmen. Und im Grunde hätte mein Chef für mehr Personal sorgen müssen – darauf aufmerksam gemacht hatte ich ihn nur allzu oft. Doch er hatte jedes Mal abgewunken. „Das schaffen Sie doch allein, Frau Schappach. Oder sehen Sie sich dem nicht gewachsen?“ Was hatte ich darauf antworten sollen, außer, dass ich es selbstverständlich schaffen würde. Und so stand ich nun da auf dem Flur vor dem Konferenzsaal, natürlich dauermüde und auf wackligen Beinen, hielt mich am Türrahmen fest und ließ eine Kanonade von knottrigen Bemerkungen über die Qualität des Frühstücks über mich ergehen und dann auch die Frage, warum man denn Herrn Prof. Hanfnuss in einem anderen, viel, viel besseren Hotel untergebracht hätte. Wo da die Gerechtigkeit sei. Tja …, die gab’s nicht, oder anders: sie definierte sich als Produkt aus dem Grad der Bekanntheit einer Person und der Einschätzung meines Chefs, inwieweit er dem Institut nützen könnte. Nützen – und das meine ich vollkommen ernst. Denn wie so viele andere Institute litt auch das Unsrige unter den Einsparungen und Kürzungen, die die Universität über die kleinen, sogenannten Lotusfächer verhängt hatte. Man sehe ihren Nutzen für die Universität an sich nicht, sie lieferten nichts, was die Welt bewegen würde. Und dass die Ägypter nun die Schrift – ungefähr zeitgleich mit den Sumerern – erfunden hätten, tja, nun, das hätte in jedem anderen Landstrich auch geschehen können. Das mache diese Fächer noch lange nicht zu einem wertvollen Mitglied der hiesigen Unilandschaft, denn das Geld, wo bleibt das Geld? Diese Konferenz, die nun mein Chef und ich ausrichteten, wandte sich genau diesen Fragen zu: Sind diese kleinen Fächer, die sich mit der kulturellen Evolution der Menschheit auseinandersetzen, nicht gerade deswegen von großer Bedeutung, weil sie einerseits darauf verweisen, wo unsere Wurzeln liegen, und andererseits dies auch weitertragen und das vor allem an interessierte Laien. Und einer dieser Laien war ein gewisser Herr Prof. Dr. mult. Dr. h.c. Karol Hanfnuss, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, gerade diesen kleinen Fächern wieder auf die Beine zu helfen. Welches seine Motive waren, darüber lässt sich streiten. Aber vielleicht dachte er, dass er so viel Geld hätte, was er in die Wirtschaft investieren würde, da könne er auch ruhig uns, die ganz Kleinen, unterstützen. Unnötig zu betonen, dass dieser Prof. Dr. mult Dr. h.c. Hanfnuss nun eine gesonderte, bevorzugte Behandlung erfuhr. Er war wichtig – zumindest im Kampf ums Geld. Und da hatte ein dürres Kerlchen namens Ulrich Hensel, der gerade seinen Doktor gemacht hatte, nichts zu melden. Nur konnte ich ihm das nicht so sagen. Ja, in meiner müden Verzweiflung konnte ich ihm überhaupt nichts sagen und ließ mich, ich konnte es minutiös beobachten, nicht nur an die Wand reden, sondern auch an diese quetschen. Wie ich dem Redeschwall des durchaus nicht schlecht aussehenden Hensel entgehen konnte, weiß ich nicht mehr. Plötzlich allerdings stand ich allein da und holte tief Luft, die, da sie schon von so vielen Menschen geatmet, ziemlich schlecht war. Unwillkürlich ging ich deswegen zu einem der Fenster, öffnete es und holte noch einmal tief Luft. Und wie gut das tut, weiß wohl nur einer, der … Ach, das wissen alle. Frische Luft wirkt Wunder, wahre Wunder und kann sogar die Nebelschleier der immerwährenden Müdigkeit ein wenig lüften. Und dann schoss mir durch den Kopf, dass dieser Hensel im Grunde ja noch harmlos war. Er war ein Youngster – ebenso wie ich. Hätte ich es mit Hanfnuss zu tun, ja, würde der auf mich zukommen und sich beschweren … Na, hola die Waldfee. Einmal davon abgesehen, dass er der Geldgeber in spe war und damit das Ansehen der Ägyptologie an der hiesigen Universität retten würde, war er leider als ein gar zu selbstverliebter Pascha bekannt. Und lief ihm was quer, dann konnte er lospoltern. Und wie! Niemand, nicht einmal mein Chef hielt es dann in seiner Nähe aus. Man nennt dies wohl eine narzisstische Persönlichkeit, die es – und das schoss mir gerade durch den Kopf – nötig hatte, dass ihr die Allerkleinsten huldigten, weil sie ihnen aus lauter Güte mehrere 10.000 Euro im Jahr zukommen ließ. Auf Anfrage auch mehr. Er, der Hanfnuss, wie er sich selbst gern bezeichnete, käme nicht ungeschmückt. Und bei all diesen Gedanken, die so durch meinen Kopf kullerten, lehnte ich mich mit dem Rücken ans Fenster, versuchte die Kühle zu genießen und begann mich auf dem Flur, vor dem Konferenzsaal umzusehen. Es befanden sich hier die von den jeweiligen Verlagen delegierten Verkäufer, die ihr Sortiment anbieten, auf Neuheiten hinweisen und Antiquarisches unterm Ladentisch hüteten. Mit denen befanden sich nur noch wenige Teilnehmer der Konferenz auf dem Flur. Warum? Klar, der nächste Vortragsmarathon würde gleich starten. Und vielleicht war das der Grund, warum Hensel schließlich von mir abgelassen hatte? Jedenfalls sah ich mich um und dann traf mich der Schlag, denn ich sah ihn, ihn, diesen Antiquar. Er lehnte da über einer Zeitung an einem Tisch sitzend, der sich ein wenig im Hintergrund befand und bot, wie ich aus der Ferne sehen konnte, tatsächlich Antiquarische Bücher an. Mein erster Gedanke: Wie kommt der hierher? Mein Zweiter: Warum hatte er mir nicht gesagt, dass er zu uns gehört? Mit zwei, drei, vier langen Schritten war ich bei ihm, baute mich rasenden Herzens vor ihm, presste ein „Hallo“ hervor und holte, als er aufsah, tief Luft. Gleich, ganz gleich, würde ich erfahren, wo er sich mit seinem Antiquariat versteckt hielt. Er sah auf: wieder dieser Eulenblick hinter der Brille. Braune Augen. Aber diesmal kein Lächeln. „Ja?“, fragte er und wirkte verwundert. „Ich bin‘s“, bestürmte ich ihn. „Die, die vor einigen Wochen bei ihnen war, total verdreckt, weil es geregnet hatte.“ „Was?“, machte er nur. „Bei mir?“ Und legte die Stirn in Falten. „Ja, erinnern Sie sich nicht mehr? Sie wollten sogar meine Telefonnummer haben, um mich anzurufen, wenn Sie etwas Gutes über Ägypten hineinbekämen …“ „Das kann nicht sein. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.“ „Aber Ihr Antiquariat …“ „Ich habe kein Antiquariat. Noch nicht.“ „Was?“, presste ich heraus und spürte, wie mir die Beine zu schlackern begannen. „Ja“, nickte er. „Sie verwechseln mich mit jemandem.“ „Nein, nein, gewiss nicht.“ Ich besah ihn mir genau. Ganz unmöglich, dass ich mich irrte: die gleiche Brille, die gleichen großen Augen dahinter, die gleiche gerade Nase, der gleiche schmale Mund, die gleichen kurzen grauen Haare. Und zu allererst, die gleiche lässige Körperhaltung beim Lesen der Zeitung. Unmöglich, dass ich mich täuschte. Also stellte ich die mir einzig sinnvoll erscheinende Frage: „Haben Sie vielleicht einen Zwillingsbruder?“ „Nein“, erwiderte er ganz ruhig. „Nicht einmal einen Bruder. Aber ich schätze, dass Sie mich wirklich verwechseln.“ „Ja“, brachte ich schließlich heraus und spürte, wie mir mein Herz eine Etage tiefer zu rutschen schien. „Ja.“ Wieder wandte er sich seiner Zeitung zu und wirkte gleichsam so, als ginge ihn all das nichts an. Und zur Hölle, es war ja auch so. Ich …, wenn er hier kein Spiel trieb … hatte plötzlich ein ziemlich großes Problem. Ich kannte diesen Mann, konnte mich an ihn erinnern, er sich aber nicht an mich, obwohl er mir sein Versprechen, mich anzurufen, ja geradezu aufgedrängt hatte. Und nun das? Das passte doch alles nicht. „Aber schauen Sie sich nur um“, forderte er mich da plötzlich auf und ein Lächeln umzuckte seinen Mund. „Nur zu, ich habe seltene Sachen.“ Dass das diesmal stimmte, davon konnte ich mich mit einem Blick überzeugen. Da gab es zum Beispiel ein bereits antiquarisches Faksimile der Erstausgabe des ägyptischen Totenbuches in mehreren Bänden, das ich schon immer hatte haben wollte. Und nun … Ich packte zu und schob ihm den 100-Euroschein zu. Ohne aufzusehen, nahm er das Geld entgegen und bemerkte: „Gefällt Ihnen das? Ist es gut? Ist es ein ordentlicher Preis?“ Natürlich nickte ich und als er aufsah, sich unsere Blicke trafen, da durchschoss es mich wie ein feuriger Blitz. „Wenn Sie an solchen Kostbarkeiten Interesse haben, gebe ich Ihnen gern meine Karte. In zwei Wochen eröffne ich mein Antiquariat auf der Hauptstraße. Ich würde Sie dort gerne willkommen heißen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)