Der magische Papyrus von Encheduanna ================================================================================ Kapitel 1: Novemberabend ------------------------ Es war ein nasskalter Novemberabend, als ich diese Buchhandlung zum ersten Mal betrat. Ich war müde und wollte im Grunde nur nach Hause. Seit Monaten schon lief ich einem ziemlichen Schlafdefizit hinterher. Schuld war die Arbeit, die mich zu ständigen Überstunden trieb. Jeder kennt das: da muss ein Projekt bis zu einem gewissen Datum fertig gestellt werden. Im Grunde kein Problem, aber wenn dann noch eines und noch eines hinzukommen und dann zig Präsentationen … Und so kam es, dass ich eben auch die Nächte durchzumachen begann. Eine Zeit lang ging das gut, doch irgendwann war ich am Tag zu nichts mehr zu gebrauchen und manchmal drohte ich sogar einzunicken, trotz unzähliger Becher Kaffees. Gott sei Dank hatte ich ein Büro für mich allein … Hinzukamen diese Stimmungsschwankungen, die seit Jahren immer dann einsetzten, wenn sich die Sonne bereits um 18, dann um 17 und 16 Uhr anschickte, unterzugehen und sich am nächsten Morgen erst gegen 8 Uhr blicken ließ. Wenn sie es denn tat. An jenem Novembertag, an dem ich meine Geschichte beginnen lasse, hatte sie sich kein einziges Mal gezeigt. Und das ganz ohne Entschuldigung. Hätte sie in unserem Institut gearbeitet … hui, dann wäre sie aber ganz schnell gegangen worden. So aber. Nun ja, sie war die Sonne. Sie konnte sich das leisten. Ebenso wie ich mir diesen Abend ganz für mich allein leisten wollte, um mit einem guten Buch auf der Couch zu sitzen und dann auch früh ins Bett zu gehen. Mit diesen Gedanken im Kopf stöckelte ich an jenem Abend unter meinem Regenschirm dahin, immer in hab Acht, keinen anderen Passanten mit meiner Mistkrücke aufzuspießen und mich gleichzeitig unter ihr zu schützen, während es der Nieselregen doch irgendwie schaffte, mir die bestrumpfhosten Beine hochzukriechen und mich das Frösteln zu lehren. Dass ich nun diesen Buchladen betrat – und ich sollte hinzufügen, dass ich erst später erkannte, dass es sich um ein Antiquariat handelte –, also, dass ich nun diesen Laden betrat, war dem puren Zufall geschuldet, denn als ich einem anderen Passanten ausweichen wollte, geriet ich, da der Bürgersteig sehr schmal war, unweigerlich auf die Fahrbahn und dort geschah das Unglück. Ein heranrasendes Auto erwischte eine Pfütze, die sich natürlich genau auf meiner Höhe befand, und spritzte mich von oben bis unten voll. Einen Moment lang meinte ich, im falschen Film zu sein und starrte den sich rasch entfernenden Rücklichtern nach, ehe ich begriff, dass ich mich auf der Straße befand und Gefahr lief, eine neuerliche Brackwasser-Dusche abzubekommen. Rasch hupfte ich mit meinen Stöckeln zurück auf den Bürgersteig, schloss in dem Moment meinen Schirm, spürte den Regen, der sich nun in dicken Tropfen auf mich ergoss, und dann sah ich mich auch schon eine Klinke drücken und hörte gleich darauf das Klingen von kleinen Glöckchen. Dann stand ich einer schmalen Gasse aus zwei übermannshohen Regalwänden gegenüber, die über und über mit Büchern bestückt waren. Und mein erster Gedanke war: Oh mein Gott, wenn die mal nicht auf mich einstürzen. Es sei erwähnt, dass ich ein seltenes Talent habe, das Unglück anzuziehen. Betrat ich einen leeren Konferenzraum, suchte ich mir garantiert jenen Stuhl aus, der entweder wackelte oder unter mir den Geist aufgab – und zwar dann, wenn ich mich für eine Frage an den Referenten erhoben hatte, um mich nun wieder zu setzen und vor aller Augen krachend auf dem Boden Platz zu nehmen. Oder … damals, als ich herzhaft in mein Frühstücksbrötchen gebissen hatte und dabei einen meiner Zähne einbüßte. Der Grund war ein eingebackener Stein gewesen. Oder … Ach, ich will nicht ausholen. Das langweilt ja nur und bringt mich noch im Nachhinein in schlechte Stimmung. Jedenfalls sah ich mich dieser Büchergasse gegenüber und wusste zuerst nicht, was ich hier wollte. Mir ein gutes Buch für den Abend kaufen? Derer gab es hier sicher recht viele. Aber … Ich ging einfach weiter, entlang der schmalen Gasse, hinein zu einem schummrigen Licht, das sich, als sich der Raum plötzlich öffnete, als Thekenlämpchen entpuppte. Und neben ihr lehnte ein Mann über einer Zeitung und sah kaum auf. Doch unsere Blicke trafen sich dennoch für den Hauch einer Sekunde. Wir nickten einander zu. Ich ließ auch ein kleines „Hallo“ heraus, dann sah ich an mir herab. „Schiet-Wetter“, ließ sich der Mann vernehmen und seine Stimme klang ruhig, fast unbeteiligt. Wieder nickte ich und meinte in ihm den Besitzer des Ladens oder zumindest den Verkäufer zu erkennen. „Und nun?“, fragte er. Das galt ganz offensichtlich mir und meiner Ambitionen in seinem Laden. Da ich, wie ich leider zugeben musste, wie ein Ferkel aussah, wagte ich es nicht, etwas zu erwidern, wandte mich um und wollte den Laden wieder verlassen, doch er hielt mich zurück. „Darf ich Ihnen helfen?“ Ich drehte mich um. „Wieso?“ Er zuckte mit den Schultern, erhob sich halb von seiner Zeitung und rückte sich die Brille zurecht. „Wieso?“ Er blinzelte und ich erkannte zwei riesengroße Augen hinter dieser Brille. Sie waren braun und … Mein Gott, der Mann war weitsichtig! Weiter nichts! Aber es wirkte so, als starre mich eine Eule an. Und unwillkürlich fragte ich mich, wie klein sich seine Augen ausnehmen würden, wenn er die Brille absetzte. Solche Gedanken eierten durch meinen müden Kopf, während er mich betrachtete und ganz offensichtlich eine Antwort erwartete. „Ich bin … nur so … ich meine draußen regnete es …“, begann ich – ganz entgegen meiner sonstigen Art – zu stottern und erntete dafür ein winziges Lächeln. „Das ist wohl wahr. Draußen regnet es.“ Und mit diesen Worten wandte sich der Mann wieder seiner Lektüre zu. „Darf ich mich dennoch umsehen?“ „Ich wüsste nicht, was der Regen für einen Einfluss auf diese Entscheidung hat, aber ja, sehen Sie sich nur um.“ Einen Moment überlegte ich, ihm zu erklären, dass ich nicht den Regen, sondern mein Erscheinungsbild gemeint hatte, unterließ es aber. „Wenn Sie Belletristik suchen, die finden Sie vorne“, meinte er mit einem Kopfnicken. „Hm, ja, danke, aber davon hab ich selbst genug. Wo befinden sich die Kunstbücher?“ „Die befinden sich hinten.“ Und er deutete in die linke hintere Ecke. „Danke.“ „Wir schließen aber in 10 Minuten.“ „Ach so … ja …“ „Wollen Sie sie trotzdem sehen? Die Kunstbücher?“ Ohne recht zu wissen, nickte ich. „Was haben Sie denn?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ägypten, Mesopotamien, Griechenland …Ich bin berühmt für meine Kunstbücher.“ „So?“, stieß ich für meine Verhältnisse recht unüberlegt hervor. „Ich bin Ägyptologin.“ „Was Sie nicht sagen, dann wird Ihnen vielleicht das eine oder andere Werk meiner Sammlung gefallen?“ Und mit diesen Worten kam er um die Theke herum und auf mich zu. „Wenn ich es Ihnen zeigen darf?“ „Na gut …“ Natürlich waren meine Erwartungen nicht allzu hoch, denn was man in normalen Läden über Ägypten finden konnte, beschränkte sich zumeist auf die Pyramiden oder Mumien, eben auf das, was die Leute interessierte und kauften. Kunstbände oder Ausstellungskataloge waren da schon seltener. Exquisite Erstpublikationen befanden sich vollkommen jenseits jeder nur denkbaren Grenze. Und ebenso verhielt es sich auch hier in diesem Laden. Der Mann präsentierte mir zwar einen kleinen Katalog über eine Tut-Anch-Amun-Ausstellung, doch erstens hatte ich den schon und zweitens hätte ich für diese schlechten Bilder in schwarz-weiß keine 20 Euro ausgegeben. Vielleicht sah mir der Mann meine Enttäuschung an, jedenfalls bemerkte er: „Ich hätte schwören können, dass ich noch etwas gehabt habe …“ „Na ja“, entgegnete ich nur und zuckte mit den Schultern. „Sind Sie denn auf der Suche nach etwas Speziellem?“, fragte er mich da. „Nein.“ „So, aha …“ „Ich werde dann mal“, fuhr ich fort. „Es ist schon spät und Sie schließen in wenigen Minuten.“ „Hmmm“, machte er, dann sah er mich an. „Sie sind Ägyptologin?“ Ich nickte, nun etwas irritiert ob der Frage. „Wissen Sie“, begann er wieder, „dann können Sie mir doch Ihre Telefonnummer geben und ich rufe Sie an, sobald ich etwas reinbekomme.“ „Was?“ „Oder Ihre Emailadresse. Wie gesagt, ich bin nicht immer so schlecht ausgestattet. Und wenn ich etwas Gutes reinbekommen sollte, dann …“ Ich schwieg. „… dann täte es mir leid, es an Leute zu verkaufen, die vielleicht nicht den Wert des Buches zu schätzen wissen“, fuhr er fort und ich zuckte schließlich mit den Schultern. Mir war zwar nicht klar, was das bringen sollte. Aber gut, ich gab ihm meine Telefonnummer – vielleicht auch ein wenig aus Mitleid, ob seiner Naivität. „Wenn ich etwas habe, rufe ich Sie an.“ „Na klar“, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen. „Ganz bestimmt tue ich es.“ „Auf Wiedersehen.“ „Auf Wiedersehen, Frau Schappach.“ Dass ich selbst weder den Namen des Mannes noch den seines Ladens kannte, fiel mir erst daheim auf. Seltsames Gefühl, fand ich, jemandem meine Nummer gegeben zu haben, von dem ich selbst gar nichts wusste – und auch, wenn er ein Antiquar war, wusste man ja nie. Also setzte ich mich an meinen heimischen Laptop und gab die Straße und das Stichwort Antiquariat in die Suchmaske ein, doch als Resultat erhielt ich nichts. Also gab ich Buchladen ein, aber es kam wieder nichts dabei heraus. Wie das? Ich stutzte. Besaß der Laden keine Internetpräsenz? Also bemühte ich google maps, gab wiederum die Straße ein, zoomte sie heran, fand alles, nur kein Antiquariat. Verdammt noch eins! Wie konnte das möglich sein? War ich schon so durchgedreht, dass ich mich in der Straße geirrt hatte? Wo nur war ich heute langgegangen? Etwa nicht meinen herkömmlichen Weg? All das, auch wenn es sich vollkommen bescheuert anhörte, ließ mich nicht los und verhinderte es natürlich auch, dass ich mich erstens mit meinem guten Buch aufs Sofa verzog und zweitens wenigstens diesmal rechtzeitig ins Bett ging. Zu aufgeregt war ich, dass ich diesen dämlichen Laden nicht finden konnte. Es schien gerade so, als gäbe es ihn gar nicht. Aber wo gab‘s denn das? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)