Soft Spot von WeißeWölfinLarka ================================================================================ Kapitel 5: Wenn du lächelst, wenn dir jemand schreibt, bist du gefickt ---------------------------------------------------------------------- Boris starrte an die Decke und versuchte zu eruieren, welches Geräusch ihn geweckt hatte. Er wollte zwar früh aufstehen, aber der gestrige Abend war mit Training spät geworden und sein Gehirn zu starten fiel ihm ungeheuer schwer. Sein Blick glitt zu seinem Wecker, dessen leuchtendes Ziffernblatt ihm irgendeine Zeit zwischen sechs und sieben Uhr sagte. Schlaftrunken lauschte er noch einmal, bevor er sich umdrehte und erneut die Augen schloss. Nur um sie rot gerädert und wütend wieder aufzureißen. Die hohe, leicht kratzige Stimme ihrer Nachbarin drang an sein Ohr, die ihn nicht länger schlafen ließ. Es war nicht Frau Irma von nebenan, sondern die plauderwillige Frau von gegenüber. Wie häufig unterhielt sie sich schon in dieser Herrgottsfrühe mit, wie er vermutete, der befreundeten Zeitungsausträgerin. Boris zog die Decke über den Kopf. Er hatte nicht einmal eines seiner Fenster auf Kipp stehen, aber der krähenhafte Ton ließ sich weder von Doppelverglasung noch von Mauerwerk, geschweige denn seiner Bettdecke aufhalten. Frustriert richtete er sich auf. Die Frau konnte ja nichts für ihre Stimme, und es war gemein, sie deshalb zu verurteilen – aber ganz ehrlich, dieses schrille Gelaber trieb ihn in den Wahnsinn. Als er keine Viertelstunde später seine Wohnungstür zuzog und mit einem Finger als Schuhlöffel in seine Laufschuhe schlüpfte, öffnete sich gleichzeitig Yuriys Zimmertür. Sie wechselten einen Blick. „Warum so zeitig?“ „Konnte nicht länger schlafen…“ Anscheinend war auch Yuriy durch das Geschnatter aus Morpheus‘ Reich getrieben worden und hatte dieselbe Idee wie Boris gehabt. „Joggen wir zusammen?“ Boris stimmte mit einem Nicken zu. Sie hatten ein unterschiedliches Pacing, weil Yuriy ein geübter Läufer war. Erst neulich hatte er beim Halbmarathon in Bonn eine beachtliche Zeit hingelegt. Boris war mächtig stolz auf ihn. Was Yuriy ihm in Kondition voraushatte, glich Boris in Muskelkraft aus. Dennoch brauchte er auch Ausdauer, wenn er im Ring bestehen wollte. „Wann ist dein Kampf?“, fragte Yuriy auch prompt, als könnte er Gedanken lesen. „In zehn Tagen.“ Yuriy machte ein Geräusch, das andeutete, dass seine nächsten Worte ihn umzustimmen versuchen würden. „Yura, bitte. Ich finde diese Lösung eigentlich sogar sehr pragmatisch! Und es ist ja jetzt nicht so, dass es illegal wäre.“ Das waren die Kämpfe wirklich nicht. Gut, die Wetten waren mitunter nicht ganz koscher. Boris wollte nur nicht, dass Galina davon erfuhr, weil sie ihn aus echten Kämpfen heraushalten wollte. Sparring mit Partnern war ok, und Boxsacktraining auch, aber keine Kämpfe, in denen er rücksichtslos werden könnte. Davor hatte sie Angst, weil es schon zweimal vorgefallen war. Aber nur wegen Yuriy. Immer wegen Yuriy. Um ihn zu beschützen, wurde er hemmungslos und vergaß Gott und Grenzen. Vielleicht war er mit Blick auf die Gewalttätigkeit nicht besser als Yuriys Samenspender, aber er setzte seine Fäuste wenigstens aus den richtigen Gründen ein. Zumindest meinte er das. „Das heißt, wenn Vanja seinen Geburtstag am 12. feiert, sitzt du wieder da, sippst durch einen Strohhalm am Wasser und hast dir wieder dein eigenes Hühnchen und Reis mitgebracht, wegen deiner Boxerdiät?“ „Er feiert?“ „Ja?! Hast du etwa seinen Geburtstag vergessen? Stand doch in der Gruppe.“ „Fuck.“ Ivan machte immer sehr geile Marinaden, wenn er zum Geburtstagsgrillen einlud und meistens hatte er diesen leckeren Schlangenschnaps ausgegraben, woher auch immer er ihn bezog. „Tja, dann muss ich wohl seinen Geburtstag aussetzen. Du kannst ja für mich die Sau raus lassen.“ Sie bogen für ihre kleine Runde auf den Waldweg ein. „Nimmst du diesen… wie hieß er noch… schon mit?“ „Kai. Und nein. Oder doch? Ich weiß noch nicht.“ „Von uns aus hätte niemand was dagegen.“ „Weiß ich. Ich weiß noch nicht, ob es schon der richtige Zeitpunkt ist.“ Sie schwiegen nun, um Atem zu sparen. Es ging auf eine leichte Anhöhe zu, die steiler war als man es im sonst so platten Münsterland vermuten würde. Boris schloss hinter Yuriy auf, da der breite Waldweg sich nun zu einem Trampelpfad verengte. Vier Kilometer liefen sie in einträchtiger Stille, bis der Weg wieder breiter wurde. Boris spürte schon das Brennen in seiner Lunge. Gott, er hatte einfach keine Kondition! Yuriy dagegen könnte mit Sicherheit noch eine Stunde in dem Tempo weiterlaufen. Um sich von seinem Verräter von Atmungsorgan abzulenken, machte er sich über sein anstehendes Boxevent Gedanken. Er musste dringend seine Ernährung umstellen, um seine Muskeln aufzubauen und in seiner Gewichtsklasse zu bleiben. Sicher könnte er noch mal mit Rick trainieren, aber vor allem musste er sich passende Sparringspartner suchen. Er hatte etwas abgenommen, bei seiner Größe von fast 1,90 m wog er nach dem letzten Messen 84 Kilogramm. Damit gehörte er momentan bei Vollkontakt gerade noch so zum Cruisergewicht, er musste aber eine Klasse aufsteigen, damit er sich in der Schwergewichtsklasse verdient machen konnte. Allerdings sollte das bei guter Diät und regelmäßigem Kraft- und Zirkeltraining kein Problem sein. Lai wollte ihn unterstützen. Er kannte jemand neuen, namens Garland, der wohl schon einige Titel geholt hatte. Vielleicht konnte er mit Lais Hilfe auch eine gute Wette platzieren, um seinen Gewinn zu erhöhen. Vielleicht könnte er auch Wowa von der Arbeit in der „Villa Winkel“ darum bitten, und sie machten halbe-halbe, damit es nicht ganz so blöd aussah, wenn er auf sich selbst wettete. „Du hattest doch schon mal Sex, oder?“ Die Frage traf ihn völlig aus dem Nichts. Boris blinzelte, musste erst realisieren, dass Yuriy ihn mit ausgerechnet dieser Frage überfiel. Sie hatten sich nie explizit über das Thema unterhalten; als sie Teenies waren, wenn Boris von seinen Bonern für dieses oder jenes Mädchen in ihrer Klasse geschwärmt hatte, hatte Yuriy ihm zwar geduldig zugehört, aber hatte nie selbst eigenes Interesse gezeigt. Boris hatte das immer einfach so hingenommen und nicht hinterfragt. Jetzt allerdings machte es Sinn für ihn, dass Yuriy mit Mädchen auf diese Weise damals nichts anfangen konnte. Er nickte und fürchtete sich ein ganz klein wenig davor, was jetzt folgen würde. „Ich habe aus… offensichtlichen Gründen… ein bisschen recherchiert und… darf ich dich was Komisches fragen?“ „Ja, schieß los.“ „… Stimmt das, dass es rausläuft?“ Boris stolperte beinahe im Laufen. „Was läuft wo raus?“ Yuriys Blick war starr geradeaus gerichtet; aber seine Ohren dunkelten so sehr ab, dass sie mit dem gründlich verschwitzten Undercut verschmolzen, während sein Pferdeschwanz aller Befangenheit zum Trotz freudig bei jedem Schritt wippte. „Na… da unten so!“ Er machte eine vage Geste in den Bereich seines Schritts. „Du meinst, ob das Sperma aus der Vagina läuft, nachdem du abgespritzt hast?“ Boris amüsierte sich insgeheim auf die liebe Art über die schlimme Verlegenheit seines Bruders. Yuriy hatte auch noch nie wirklich viele sexuelle Erfahrungen gesammelt und auch, wenn er nie darüber nachgedacht hatte, wäre es für Boris nicht verwunderlich, wenn Yuriy wirklich noch ein unbeschriebenes Blatt wäre. „Ja, das passiert“, erklärte er, während er versuchte, sich Yuriys Geschwindigkeit anzupassen, der das Tempo, vermutlich angetrieben durch seine Scham, deutlich angezogen hatte. „Zumindest, wenn du kein Kondom benutzt.“ Eine Weile joggten sie schweigend nebeneinander her. „Ich hab nicht viel Erfahrung mit Anal, Yura, aber ich kann dir sagen, dass alles, was irgendwie in den Körper kommt, auch wieder raus will, und sei es Luft.“ Yuriy stoppte fast abrupt und schlug sich die Hände vors Gesicht. Boris lief zunächst ein paar Schritte voraus, ehe er bemerkte, dass Yuriy stehen geblieben war. Er trabte zurück. „Ihr habt also noch nicht miteinander geschlafen“, stellte Boris überflüssigerweise fest. „Was hast du dann mit meinen gutgemeinten Kondomen gemacht?!“ „Oral…“, murmelte der Rotschopf beschämt und Boris konnte mittlerweile nicht mal mehr seine Sommersprossen zählen, so sehr angelaufen war Yuriys Birne. Zu seiner Ehrenrettung musste man erwähnen, dass sie auch schon eine sehr lange Zeit rannten. Boris nickte bedächtig. Schließlich stieß er ihm in die Seite. „Ich kenn jemanden aus der LGBT+-Gruppe** im Jugendzentrum, wo ich arbeite. Soll ich euch mal bekannt machen … oder dir seine Nummer geben?“ „… Das wäre nett, ja“, murmelte Yuriy dankbar. Er war wahnsinnig geworden bei den ganzen Infos, die er im Internet hatte finden können. Vielleicht konnte ihn der Bekannte von Boris besser informieren und ja, auch beruhigen. „Aber denk immer dran, mach nichts, womit du nicht einverstanden bist oder dich nicht wohlfühlst. Selbiges gilt für deinen Partner.“ Yuriy bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick: „Das ist ja wohl selbstverständlich?!!“ „Oh, du wunderst dich manchmal…“ Sie waren wieder in ihrer Straße angekommen und verfielen in einen lockeren Trab, den sie kurz vor ihrem Haus in einen schnellen Laufschritt mäßigten. Boris stützte sich hechelnd auf seinen Knien ab, bis Yuriy ihm einen Klaps vor den Po gab. Er wies ihn an, weiter zu gehen und sich zu strecken, sonst würde er noch Seitenstechen bekommen. Sie halfen sich gegenseitig beim Dehnen im Vorgarten. Die Schnatterhexe war zum Glück verschwunden, aber beide hätten jetzt ohnehin nicht zurück in die Kissen krabbeln können. Yuriy hatte gleich ein Seminar und Boris musste auch zur Arbeit, sobald er etwas gegessen hatte. Denn sein Magen grollte. Mit Widerwillen dachte er an seine Müsliwürfel in der Geschmacksrichtung Apfel-Kokos, die als gesundes Frühstück auf ihn warteten, aber absolut nicht sein Fall waren. Nebenan trat Irma von Landsberg vor ihre Haustür, reckte ihr Kinn in die freundliche Morgensonne und winkte gut gelaunt zu Boris herüber. Boris erwiderte den morgendlichen Gruß. Er beobachtete, wie hinter Frau Irma deren Enkelin geschäftig auftauchte und ihre Großmutter voran trieb; anscheinend hatte sie es eilig. Hiromi sah auf, um zu erfahren, wen ihre Großmutter grüßte, und sie runzelte die Stirn. Sehr merklich glitt ihr Blick über Boris in seiner Laufaufmachung, die sich deutlich von seiner „Gärtneruniform“, in der sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, unterschied. „Wer starrt, kann auch grüßen!“, erklärte Frau Irma ihrer Enkeltochter Manieren, so laut, dass Boris und Yuriy es hörten. Ertappt zuckte Hiromi zusammen und errötete kaum merklich. Sie nickte in die Richtung der beiden jungen Männer und stieg dann hurtig in ihr Auto ein. Beim Rückwärtsausparken aus der Einfahrt winkte Frau Irma ihnen dann noch einmal sehr fröhlich zu und sie konnten nur erahnen, dass der schimpfende Gesichtsausdruck und viel Gestik von Hiromi wohl der Anweisung geschuldet war, dass sie sich doch bitte jetzt anschnallen sollte. Boris schüttelte den Kopf. „Verstehst du jetzt, was ich mit ‚furchtbar‘ meinte? Die ist bestimmt irgendwo n ganz hohes Tier oder so, was ihr sichtlich zu Kopf steigt. Pfff.“ Yuriy zuckte mit den Schultern: „Nicht jeder steht auf deine muskelbepackten Oberarme, Borja, sieh’s einfach ein.“   „Kannst du mir mal verraten, was das sollte?!“ Oma Irma verschränkte die Arme vor ihrer Brust und sah ihre Enkelin tadelnd auf deren Frage hin an. „In einer Nachbarschaft grüßt man sich. Ich verstehe nicht, warum du so einen Aufstand machst.“ „Du kennst diesen Mann nicht, er könnte dich in der Luft zerreißen!“ „Ach Gottchen, Kind! Du nimmst viel zu viel von der Arbeit mit nach Hause!“ „Und du bist nicht vorsichtig genug! Weißt du, ob er nicht ein verurteilter Schwerverbrecher ist, mit seinen ganzen Tattoos und allem?!“ Absurder Weise prustete Hiromis Großmutter los, ehe sie sich im Beifahrersitz halbwegs zu ihr umdrehte. „Erstens ist das ein ziemliches Vorurteil, das gerade du in deiner Position als Anwältin nicht haben solltest!“ Hiromi schnaubte und wollte etwas erwidern, wurde aber von einem mahnenden Zeigefinger davon abgehalten. „Zweitens musst du dich von diesem Yakuza-Aberglauben lösen, den du scheinbar aus Kyoto mitgebracht hast. Und drittens…“ Irma kramte in den Untiefen ihrer Handtasche und förderte ihr Portemonnaie zu Tage, in dem sie ein Foto ihres verstorbenen Mannes mit sich trug. „Drittens hatte dein Großvater – Gott hab ihn selig – beide Arme über und über tätowiert. Als alter Seebär war das obligatorisch. Du hast ihn nicht mehr kennen gelernt, er ist gestorben, da warst du noch sehr klein. Aber neben den ganzen Seefahrermotiven, die er mit Stolz trug, hat er sich sogar mit knapp 50 Jahren noch extra eine Kompassrose mit deinem Namen und dem deiner Geburtsstadt stechen lassen, als du geboren wurdest.“ Hiromis Griff um das Lenkrad wurde fester, beschämt über ihr wertendes Verhalten. „… Das wusste ich gar nicht.“ „Wenn du in den nächsten Tagen Zeit hast, zeige ich dir gerne ein paar Fotos und erzähle dir Geschichten.“ Für einen kurzen Moment löste Hiromi den Blick von der Fahrbahn und lächelte ihre Oma an. „Ja. Das wäre schön.“     ~*~     Mit lautem Karacho stürmte Boris Yuriys Wohnung. „Was ist los?! Wen soll ich verprügeln?!“ Er hatte von seinem Bruder eine SMS nur mit „SOS!!!“ erhalten und war dem Ruf sofort gefolgt. Ein anklagender Leidenslaut kam aus dem Bad. „Borja! Es ist schlimm! SCHLIMM!“ Boris riss die Badezimmertür auf. Yuriy stand vor dem Spiegel, seine Hände fummelten an seiner Nase. Er drehte sich zu ihm um. Seine Nase strahlte in einem flammenden Wutrot. „… Bist du gegen eine Wand gelaufen?“ „NEIN! Mach dich nicht lustig! Ich rufe den Krisennotstand aus!“ „Welche Stufe?“ Boris‘ aufgeregte Atmung beruhigte sich langsam, als er erkannte, dass es Yuriy gut ging. „Fünf!“ „Also höchste Alarmstufe?“ „Ja, verdammt noch mal, bin ich ein Papagei?“ „Nein, du siehst eher wie ein bestimmtes Rentier aus.“ „Arschloch!“, fauchte Yuriy hitzig. Er wirbelte wieder zum Spiegel herum und fing erneut an, seine Nase zu malträtieren. „Ich hab ein verfluchtes, fieses, riesiges Furunkel mitten auf der Nase, und es ist nicht mal symmetrisch!“ Ein frustrierter Laut und ein schmerzhaftes Zischen entfleuchte seinen Lippen. Boris setzte sich auf den Badewannenrand und beobachtete ihn dabei. „Ernsthaft, du schiebst ne Platte wegen nem Pickel?“ „Wegen einES PickelS!“, korrigierte Yuriy automatisch seine Grammatik, woraufhin Boris die Augen verdrehte. „Und warum ist das ein Krisennotstand wert?“ „Habe ich seine Asymmetrie erwähnt?“ „Oh, ja, da bekommt jeder die Krise, hast Recht.“ „Und er tut schweineweh! Und lässt sich nicht ausdrücken!“ Verzweifelt warf er seine Hände in die Höhe und starrte wild in sein Spiegelbild. Seine Atmung ging jetzt heftiger als die von Boris eben. „Gut, das ist nervig, aber ich sehe nicht, warum…“ „Ich hab ein DATE!“ Yuriy sah Boris an, als wäre der von einem anderen Stern. Nicht nur, dass seine Nase pochte und leuchtend glänzte, auch die Asymmetrie machte ihn schier wahnsinnig. Warum verstand Boris nicht, dass das ein Problem war?! „Lass mal sehen.“ Immerhin bot Boris jetzt seine Hilfe an. Er packte Yuriys Kinn, drehte seinen Kopf nach links und rechts und begutachtete sein Gesicht. „Sei froh, dass du keinen Pickel im Intimbereich hast. DAS sind Schmerzen.“ Mit einem Blatt Toilettenpapier tupfte er etwas Gewebeflüssigkeit ab und drückte vorsichtig mit zwei Fingern auf die Haut um die eitrige Pustel. Yuriy quittierte das mit einem gepeinigten Zischen. „Du könntest versuchen, ihn als Schönheitsfleck zu bezeichnen.“ „Bist du irre?“ „Hast du es schon mit Teebaumöl probiert?“ „Das hilft nicht so schnell! Und dank dir wird das jetzt auch sicher brennen wie Sau!“ „Johanniskrautölsalbe?“ „Seh ich wie ein Scheiß-Apotheker aus?“ Boris hielt Yuriys Kinn fest und zwang ihn, ihn anzusehen. „Ich hau dir die Nase platt, dann ist der Pickel dein kleinstes Problem.“ Aber Boris wusste, wie unangenehm ein entzündeter Mitesser an der falschen Stelle war; besonders im Gesicht waren diese Mistviecher wie Gift für das Selbstbewusstsein. Seine Drohung ließ Yuriy kurz verstummen, doch plötzlich erhellte sich sein Gesicht. „Das ist es! Ich könnte behaupten, du hättest mich geschlagen!“ „Na danke, und wenn Galina davon hört, krieg ich den Arsch versohlt.“ Boris ließ Yuriys Kinn los und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Hör auf, dran herum zu drücken. Ich glaub ich hab noch etwas Heilerde, das könnte die Entzündung beruhigen. Wann ist dein Date?“ „Morgen.“ „Siehst du. Noch genug Zeit. Außerdem glaube ich, dieser Kai mag dich auch mit Pickel auf der Nase.“ Sein Bruder verzog unwillig das Gesicht. „Laber doch nicht so schwules Zeug.“ „Zur Not kannst du auch immer noch ein Pflaster drauf kleben und… ja, du darfst dann behaupten, ich hätte dir eins drauf gegeben.“ „Manchmal liebe ich dich, weißt du das?“ Boris grinste Yuriy an und kniff in seine Nase. Mit lautem, schmerzverzerrtem Wutgeheul wurde er aus der Wohnung geworfen. Mit dem Nachruf, nicht ohne „dieses Heiledings“ zurückzukehren.       Yuriy saß unter seinem Sonnenschirm auf dem Balkon und versuchte, für seine letzte Prüfung zu lernen. Auf seiner Nase spürte er die getrocknete Masse dieser Heilerde, die Boris ihm angedreht hatte. Anfangs hatte es gebrannt, aber die Entzündung war tatsächlich zurückgegangen und er verspürte durchaus Linderung. So konnte er sich heute Abend erleichterter mit Kai treffen. Allerdings war seine Eiterfuchtel nicht der Grund, weshalb er sich nicht konzentrieren konnte. Die Lärmbeschallung durch seine Umgebung war enorm: rechts sägten die Nachbarn sehr lange und penetrant irgendeine Art von Holz, in seinem Rücken drang der Baggerlärm an seine Ohren. Scheinbar wollten die Nachbarn von drüben einen Teich ausheben. Er hatte Ohrstöpsel und dann Kopfhörer mit Musik ausprobiert, aber sein wippendes Knie zeigte eindeutig, dass nichts davon half und er sich bei diesem Lärm nicht konzentrieren konnte. Nur in der Mittagszeit war es still und er nutzte die wohltuende Ruhe, um seine Mitschriften aus der Vorlesung auf neue Karteikarten zu skizzieren. Als aber kurz nach der Mittagsruhe der sägende Nachbar noch den Drechsler anschmiss, hatte Yuriy genug.     13:16 Yuriy Ivanov: Hey, ist es ruhig bei dir?   Kai H.: Immer.   Yuriy Ivanov: Kann ich schon früher zum Lernen vorbeikommen? Hier ist die Hölle los; ich kann meine eigenen Gedanken nicht hören. D:<   Kai H.: Auch immer. ;) Ich setz schon mal nen Cold Brew auf. Wann willst du vorbeikommen?   13:20 Yuriy Ivanov: Könnte gegen halb drei / drei bei dir aufschlagen. Ich mach mir was Schnelles zu essen und würd bei dem schönen Wetter mit dem Rad zu dir.   Kai H.: Alles klar. Ich mach schon mal das Laminiergerät heiß. ;P     Schmunzelnd steckte Yuriy sein Handy in die Hosentasche. Kai kannte ihn schon recht gut, ihn und seine kleinen Marotten. Bei Kai war es um einiges ruhiger, seine Nachbarn waren nicht so emsig dabei, ihre Gärten zu verschönern. Außerdem konnten sie sich beide beherrschen, ihre Finger bei sich zu lassen, wenn von vornherein klar war, dass sie lernen würden. Zwar war Bryan immer noch das größere Arschloch der etwas bessere Abfrager, aber es hatte auch etwas für sich, in Kais Schoß zu liegen und ihm beim Vorlesen der Erläuterungen zuzuschauen, wenn er mit dem kleinen Finger den Nasensteg seiner Brille hochschob… Yuriy räusperte sich und riss sich aus seinem Tagtraum, schnappte sich einen Joghurt, den er auf dem Balkon aß und mit neugierigem Blick in den Garten seiner linken Nachbarin herübersah. Jetzt erinnerte er sich auch wieder, warum ihm die Decke, die Boris neulich nach einer durchzechten Nacht heimgebracht hatte, bekannt vorgekommen war. Sie hing bei Irma von Landsberg auf der Wäscheleine. So schloss sich der Kreis… Bevor er hinunter zum Fahrradschuppen lief, machte Yuriy noch einen Abstecher ins Bad, um die Heilerde abzuwaschen und ein wenig getönte Tagescreme aufzutragen. Er konnte mittlerweile behaupten, er hätte sich einen kleinen Sonnenbrand geholt. Als er schließlich sein Rad aus der Garage holte, fiel ihm als erstes sein Platten auf. Genervt rollte er mit den Augen und nahm die Luftpumpe von der Wand. Wie Boris ihm gezeigt hatte, hörte er bei vier Bar auf zu pumpen. Zufrieden machte er sich auf den Weg. Sein Wohlbehagen hielt nicht lange an. Frustriert drehte er nach 500 Metern wieder um, schiebend. Ein weiteres Mal pumpte er den reifen auf, merkte aber schon bald, dass er wieder Luft verlor. Ein verärgerte Laut verließ seine Lippen. Er sah auf die Uhr. Besser, er sagte Kai Bescheid.     14:22 [Bild eines platten Reifens, ein Mittelfinger zum Vorderrad zeigend] Yuriy Ivanov: Dieser kleine Ficker hält mich auf. Komme etwas später.     In ihrer Jugend hatte Boris gelernt, wie man kleinere Löcher in Fahrradschläuchen flickte. Dieses Wissen hatte er mit Yuriy geteilt, da er der Meinung war, nichts ginge über das praktische Wissen hinaus, sich selbst zu helfen. Yuriy war gerade sehr froh, dass er einen Bruder wie Boris hatte, der geschickt mit seinen Händen war. Nachdem er aus seiner Wohnung das Reparaturset geholt hatte, machte er sich mit einigen überflüssigen Handgriffen daran, das Vorderrad mithilfe eines Konusschlüssels auszubauen, indem er die Radmuttern losschraubte. Danach löste er die Ventil- und Befestigungsmutter, um das Ventilrohr nach oben zu drücken. Mit beiden Daumen griff er unter den Reifenmantel, drückte ihn ins Tiefbett und hob ihn über den Felgenrand. Als er den Reifenrand gelöst hatte, zog er den Schlauch vorsichtig zwischen Felde und Reifen heraus, bis er ganz frei war. Er suchte aus dem Fahrradschuppen eine kleine Schüssel, füllte sie mit Wasser aus der Regentonne und stellte sie neben sich. Anschließend pumpte er den Schlauch prall auf und schloss das Ventil wieder. Nun tauchte er, wie Boris es ihm damals beigebracht hatte, den Schlauch abschnittweise ins bereitgestellte Wasserbecken. Dabei zog er den jeweiligen Bereich, der unter Wasser war, leicht auseinander, damit er auch noch allerfeinste Löcher feststellen konnte. Tatsächlich fand er ein Loch bereits nach dem dritten Eintauchen. Er nahm den Schlauch heraus, markierte die Stelle mit einem Filzstift. Zur Sicherheit prüfte er aber den gesamten Schlauch durch, da er Boris‘ Stimme in seinem Kopf spuken hörte, der ihn auslachte, wenn Yuriy den Reifen gänzlich wieder eingebaut hätte – und er trotzdem einen Platten hatte, weil er mehrere Löcher im Schlauch hatte.     15:07 Kai H.: Oh, so ein Mist! D: Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid.     Yuriy trocknete den Schlauch und seine Hände, dann legte er sich alle Gerätschaften, die er brauchte, zurecht. Mit einem kleinen Aufraublech raute er die markierte Stelle auf dem zuvor luftentleerten Schlauch auf und entfernte den letzten Staub. Den Gummikleber verteilte er großzügig um das Loch und wartete, bis es nicht mehr feucht war. Mühevoll pulte Yuriy das Schutzpapier vom Flicken und presste ihn mit der Klebeseite so fest auf den Schlauch, dass ihm die Finger schmerzten. Zum Schluss klopfte er ihn mit den Handballen an. Zufrieden mit sich und seinem Tun ließ er den Flicken etwas in der Sonne trocknen, bevor er den Schlauch erneut mit Luft befüllte und ihn erneut unter Wasser teste. Mit Stolz stellte er fest, dass keine Luftblasen zu sehen waren. Erfreut über seinen Erfolg machte er sich daran, den Schlauch und den Reifen wieder auf die Felge zu ziehen.     16:02 Kai H.: Na du Meisterreparateur B) Alles gut gegangen? Bist du schon unterwegs?     Nach mehreren angestrengten Versuchen hatte Yuriy es geschafft, den Schlauch unter den Mantel zu quetschen, nachdem ihm eingefallen war, dass es vielleicht sinnig wäre, etwas Luft aus dem Schlauch zu lassen. Das Ventil war schnell wieder an richtigem Ort. Dann drückte er die Reifenkante über den Felgenrand zurück in die Felge, das Reifenstück am Ventil machte er zum Schluss. Sorgsam prüfte er, ob er den Schlauch auch nirgends eingeklemmt hatte. Er ruckelte hier und da am Reifen und klopfte und walkte von beiden Seiten, bis der ganze Mantel in der Felge eingerastet war. Leicht erschöpft wischte Yuriy sich über die Stirn, freute sich aber über seine Leistung. Er zog alle Muttern am Ventilrohr wieder fest an und begann erst dann, sein repariertes Werk prall aufzupumpen. „Was hatte Borja noch mal gesagt… Um zu prüfen, ob es dicht ist, muss man drauf spucken?“, murmelte er nachdenklich vor sich hin. Er nahm seine vor Öl und Dreck schwarzen Zeige- und Mittelfinger, lüllte etwas Speichel darauf und verteilte diesen auf dem Ventil. Er hörte es zischen, stutzte und drehte die Ventilrohrmutter noch ein bisschen fester. Aber selbst jetzt konnte er – auch ohne Spuckeprobe – hören, wie die Luft aus dem Reifen entwich. „Was zum Fick?! Ich hab doch alles richtig gemacht!?“     16:28 Kai H.: Yuriy, ist alles in Ordnung? Schreib mir, wenn du losfährst, okay?     Ungeduldig hatte Yuriy den Reifen mehrmals aufgepumpt, mit dem gleichen Ergebnis. Er drehte am Ventil – denn die Luft entwich eindeutig über das Ventilrohr – konnte sich aber keinen Reim darauf machen, was er noch verbessern könnte. Verdrießlich stampfte er mit dem Fuß auf und fluchte derb. „Wieso siehst du aus wie ein Erdferkel?!“ Yuriys geknickte Haltung richtete sich bei der bekannten Stimme auf und er seufzte klagend. „Borjaaaaaa! Bitte hilf mir! Mein Reifen ist platt!“ „Und? Ich hab dir schon tausendmal gezeigt, wie das geht.“ Boris stellte sein eigenes Rad in den Fahrradschuppen und schulterte seine Sporttasche. Er gähnte und streckte sich ausgiebig, bevor er einen Schritt an Yuriys traurige Entschuldigung von Vorderrad herantrat. „Ich hab doch schon alles ganz genau so gemacht, wie du mir das beigebracht hast!“, protestierte Yuriy und zeigte anklagend auf sein Fahrrad. „Aber ich hab es einfach nicht hingekriegt! Ich hatte das Rad sogar ausgebaut! Alles hat funktioniert, das Loch war gestopft, die Luft hielt auch – und dann hab ich das Fahrrad wieder umgedreht und zack – Vorderreifen platt!“ Boris musterte seinen Bruder von oben bis unten. Er hatte Ölflecken auf seinem guten Hemd, sein Gesicht wies Dreck auf und auch seine Hände sahen nach Arbeit aus. „Ich hab sogar diesen widerlichen Spucketest gemacht!“ Daraufhin musste Boris kurz lachen. „Ist ja schon gut. Warum brauchst du dein Fahrrad denn so dringend?“ Er ließ seine Sporttasche zu Boden gleiten und ging in die Hocke, um die Sache aus der Nähe zu betrachten. „Ich wollte mich zum Lernen mit Kai treffen.“ „Sag bloß, der ganze Terz gestern war für ein Lerndate“, brummte Boris fassungslos. Er war wieder aufgestanden, starrte Yuriys Nase direkt an.     16:59 Kai H.: Jetzt machst du mich definitiv nervös. Ich komm rum.     „Siehst ja zum Glück gar nicht mehr wie Rudolf aus“, bemerkte er die deutlich zurückgegangene Rötung. Yuriy schenkte ihm den Finger. „Eigentlich waren wir erst für heute Abend verabredet, aber ich konnte wegen der lauten Nachbarn nicht lernen. Du weißt doch, wie das ist.“ Boris verschränkte die Arme vor der Brust. „Mhm. Wenn du schon so groß bist, um Rendezvous zu haben, musst du auch dein Fahrrad selber flicken können.“ „Mensch! Ich bin nicht so gut mit den Händen! Du kannst das besser“! „Na, ich bring mir das auch nur durch YouTube-Videos und Nachlesen bei?“ „Du bist ja auch n krasser Autodidakt, merkst das nur nicht.“ „Nur weil du mit schlauen Wörtern um dich schmeißt, mein mal nicht, dass ich mich geschmeichelt fühl!“ Aber Boris fühlte sich geschmeichelt und Dinge zu reparieren, mit seinen eigenen Händen, war nicht umsonst eines seiner liebsten Freizeitbeschäftigungen. Er kniete sich neben Yuriys Vorderrad und ließ sich von diesem noch einmal erklären, was er gemacht hatte. Nach ein paar prüfenden Handgriffen, unter anderem, ob das Ventilrohr genau senkrecht stand, hatte er den Übeltäter gefunden: Es war das Ventil selbst, bzw. genauer: das Ventilgummi. Er zog das Ventil aus dem Ventilrohr und zeigte es Yuriy. „Siehst du das? Der Gummischlauch vom Ventil ist gerissen. Deswegen kommt da Luft raus.“ Er drückte es Yuriy in die Hand und stand auf. „Warte hier. Ich glaube, ich hab noch irgendwo eins. Bin gleich wieder da.“ Boris verschwand im Haus. Zurück blieb Yuriy mit zunehmender Enttäuschung, dass er mit seinen eigenen zwei Händen dieses Problem nicht hatte lösen können. Plötzlich traf es ihn wie ein Schlag. „Oh FUCK! Kai!!“ Den hatte er in der ganzen Aufregung ja völlig vergessen! „Zur Stelle!“, hörte er es atemlos hinter ihm keuchen. Er wandte sich um. Dort kam Kai mit einer etwas stärkeren Bremsung als notwendig zum Stehen. „Was machst du hier?!“, platzte Yuriy heraus, mehr vor Schreck. „Na ja, wir hatten eh heut ein Date… und du hast dich nicht mehr gemeldet. Also hab ich mir Sorgen gemacht, weil du nicht geantwortet hast, da bin ich gleich vorbeigefahren.“ „Es tut mir so leid!“, rief Yuriy und lief auf ihn zu. „Ich sehe ja, du bist noch mitten drin…“, lachte Kai und strich dem Rotschopf mit dem Daumen etwas Schmierfett von der Wange. Dann stieg er von seinem Rad ab und lehnte es an die Hauswand, weil er keinen funktionierenden Ständer hatte. „Woran liegt’s denn?“ „Am Ventilgummi“, gab Yuriy sachkundig Auskunft und das warme Gefühl von Stolz breitete sich in seiner Brust aus, als Kai ihn verblüfft über seinen Sachverstand ansah. „Wenn du dich schon mit fremden Federn schmückst, Yura, dann sieh jetzt besser zu und lerne, damit du das beim nächsten Mal selbst reparieren kannst!“ Und schon war der stolze Moment verpufft. Boris stapfte zu ihnen herüber. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er einen sehr filigranen Gummischlauch. „Das ist ein Ventilgummi. Man muss es anlecken…“ Er nahm es zwischen seine Lippen, um es zu befeuchten. „… und dann über das Ventil stecken.“ Damit es leichter flutschte, leckte er das Gummi ein weiteres Mal an, wie eine Näherin den Faden für die Nadel. Auch das Ventil selbst benetzte er mit seiner Zunge. Gebannt sahen sowohl Yuriy als auch Kai ihn bei seinem Tun zu. „Aber ich denke, ihr wisst, wie das mit dem Lecken richtig geht…“ „Boris Borislaw Kusznetsov!“, fauchte Yuriy und stieß ihm seinen spitzen Ellenbogen in die Seite. Kai schlackerten die Ohren; seine Wangen konkurrierten farblich beinahe mit Yuriys Haarpracht. Schallend lachte Boris auf, während er von Yuriys Schlag unbeeindruckt das Ventil mit dem funktionierenden Gummi in das Ventilrohr einsetzte. „Na dann pump mal!“, beorderte er Yuriy, der trotz aller Befangenheit der Aufforderung Folge leistete. Der Reifen und das Ventil hielten Boris‘ abschießender Prüfung stand. „So“, begann Boris. Die drei standen etwas konsterniert um Yuriys Fahrrad herum. „Meine Arbeit ist getan. Rechnung kommt.“ Boris streckte sich, bis alle Wirbel in seinem Nacken einmal geknackt hatten. „Du könntest eine Proberunde fahren.“ Er sah Kai und dann dessen Drahtesel an. „Du solltest dein Rad da nicht anlehnen, das gibt Ärger mit der Hausverwaltung.“ Sein erfahrener Blick streifte den Metallrahmen und blieb an dem spitzen Aluminiumgestell haften. „Oder was ist damit?“ „Mein Ständer ist kaputt… ich bin noch nicht dazu gekommen, das zu richten“, erklärte Kai mit einem Achselzucken. Boris lag ein dummer, sehr dummer Spruch auf den Lippen, aber Yuriy trat ihm auf den Fuß. Also unterdrückte er sein Gegacker und begnügte sich mit einem vielsagenden Grinsen. „Ich kann mich drum kümmern, wenn du willst. Dann könnt ihr so lange lernen.“ Er betonte das letzte Verb besonders, so dass Yuriy einem Schlaganfall zu Boris‘ Ungunsten nahe war. Aber er riss sich gerade so zusammen. „Gute Idee. Ich könnte mich in der Zeit frisch machen und umziehen.“     Von dem guten Vorsatz, am Nachmittag mit Kai gemeinsam für die Prüfung zu lernen, wurde nichts mehr. Dafür hatten Kai und Yuriy eine wichtige Lektion fürs Leben gelernt: nämlich, dass Boris ein ganz besonderes Talent dafür hatte, unschuldige Worte jeglicher Art anzüglich klingen zu lassen und das seiner schier unermesslichen Kreativität dabei keine Grenzen gesetzt waren. Kai hatte auch gelernt, wie man mit einem Ringschlüssel Schrauben und Muttern lösen konnte. Sie hatten den angebrochenen Abend dann zu dritt ausklingen lassen; im Hinterhof ihres Mehrfamilienhauses, mit einem Kaminvideo auf Kais Handy, weil sie kein Feuer machen wollten, und ein paar Bier, die Boris spendierte, und Musik, für die allein Yuriy verantwortlich war. „Nun, das war’s dann wohl mit dem Lernen“, meinte Kai überflüssigerweise. Aber es war auch schon spät geworden und damit sein Zeichen, das Sit-in zu verlassen. Er sammelte sein Handy auf, um es an der Vorrichtung an seinem Lenker zu verstauen, damit es ihm als Leuchtmittel diente. „Ich fasse es nicht, was ist das mit euch Stadtkindern und keinen vernünftigen und damit meine ich fahrtüchtigen Fahrrädern?!“, klagte Boris, als er das sah. Er stieß einen derben russischen Fluch aus, für den Galina ihn definitiv gerügt hätte, und schüttelte den Kopf. Kai sah ihn kurz belustigt an. „Schreibst du mir, wenn du angekommen bist?“, fragte Yuriy leise. „Nur, wenn ich eine Antwort von dir bekomme“, meinte Kai verschmitzt. Dann musste er Boris von seiner Handyhalterung abwehren. Während zwischen den beiden eine kleine, hitzige Diskussion entbrannte, tippte Yuriy etwas auf die Schnelle in sein Handy. Nach Boris‘ Fauxpas hatte er etwas dazu gelernt.     22:51 Yuriy Ivanov: I think you should kiss me goodbye or you might regret it for the rest of your life.     Kai sah auf sein aufleuchtendes Display. Ein liebevolles Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, nachdem er die Nachricht gelesen hatte. Er ließ Boris stehen, und damit zurechtkommen, dass er aus Gewohnheit das Rad nicht auf den Ständer gestellt hatte. Der Kickboxer musste sehen, dass er das Fahrrad auffing, bevor es auf den Boden krachte. Kai trat an Yuriy heran, strich mit einer Hand durch die rote Mähne; ließ seine Hand warm und sicher in Yuriys Nacken verweilen. „We have to live a life with no regrets“, wisperte er ihm entgegen, so weich, dass Yuriy seinen warmen Atem auf seinen Lippen spürte. Die Luft vibrierte zwischen ihnen und Yuriy biss sich auf die Unterlippe. Als hätte Kai dieses Signal gebraucht, krachten ihre Lippen aufeinander. Yuriy ließ sich gegen Kai sinken. Er griff in dessen Shirt und in seine Schulter. Wenn Kai ihn küsste, wurden ihm regelmäßig die Knie schwach. Boris, der es endlich geschafft hatte, Kais Drahtesel mit dem dafür vorgesehenen Gerät zum Stehen zu bringen, rollte mit den Augen bei dieser Schmonzette, derer Zeuge er notgedrungen war. „Oi, Yura. Nehmt euch ein Zimmer. Und spätestens jetzt ist fix, dass er mit auf Vanjas Geburtstag kommt. Serjoscha und er recken nämlich schon vom Balkon die Hälse, wen du hier abschlabberst wie n Softeis.“     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)