Soft Spot von WeißeWölfinLarka ================================================================================ Prolog: Morgenstund‘ hat Gras im Mund ------------------------------------- Das Erste, was er schmeckte an diesem Morgen, war Gras. Echtes, aus unterschiedlich langen Halmen bestehendes Gras. Boris schmatzte und spuckte die Halme aus. Als er sich umdrehte und die Augen öffnete, stöhnte er geblendet von der Sonne auf. Was zur Hölle… Wo war er? Er richtete sich auf, kratzte sich über die nackte Brust und sah sich um. Dabei rutschte eine beige-braune Decke von seinem Oberkörper. Huh. Wo waren seine Klamotten? Wie gestochen warf er die Decke von seinen Beinen. Zu seiner Erleichterung hatte er seine heißgeliebten, ausgelatschten Arbeiterstiefel noch an den Füßen. Mit unsicheren, schlaksigen Bewegungen stand er auf. In seinem Kopf drehte es ordentlich, als er sich nach der Decke bückte und sie um sich wickelt. Obwohl es Ende Mai und schon recht sommerlich war, war es doch ein wenig zu frisch, um nackt durch die Gärten nach Hause zu stromern. Nun, zumindest bei Tageslicht. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte er nun, wo er sich befand. Es war der Nachbargarten seiner Wohnung. Wenn er sich recht erinnerte, wohnte hier eine ältere Frau. Er sollte machen, dass er hier wegkam, bevor sie wegen seiner Anwesenheit noch einen Herzinfarkt bekam. Während Boris über den kleinen Gartenzaun kletterte, um zu seinem Gebäudekomplex zu gelangen, wollte er einem seiner Freunde schreiben, ob sie von dem Aufenthaltsort seiner Klamotten wüssten. Doch er hatte nur ein Problem: Er hatte keine Taschen. Mitten im Lauf blieb er stehen. „Fuck…“ Keine Taschen. Kein Handy. Keine Schlüssel. Genervt kratzte er seinen kurzgeschorenen Hinterkopf. Nach vorne zum Klingeln wollte er nicht gehen. Nicht, dass es ihm was ausgemacht hätte, nackt gesehen zu werden. Aber die Nachbarn machten dann immer so einen Aufriss. Und er konnte Yuriy ihm schon wieder ein Ohr abkauen hören… War er eigentlich gestern mit ihm Feiern gewesen? Wohin war er überhaupt los gewesen? Er betrachte die Rückseite ihres Hauses. Es war ein Mehrfamilienhaus mit verschiedentlich aufgeteilten Wohnungen. Er hatte ein Ein-Zimmer-Appartement, direkt neben seinem besten Freund Yuriy, der sich eine Zwei-Zimmer-Wohnung ausgesucht hatte. Gemeinsam mit ihren Kindheitsfreunden Sergei und Ivan bewohnten sie die erste und zweite Etage des dreistöckigen Hochhauses. Nach der Schule war ziemlich schnell klar, dass sie nicht in eine WG ziehen wollten – aber auch nicht allzu weit voneinander entfernt. Dieses Gebäude war ein Glücksgriff gewesen. Und die Miete war wirklich lächerlich niedrig für einen so hübschen Neubau. Boris wartete nur darauf, dass ihnen so viel Glück um die Ohren flog und sie auf der Straße landeten… Aber die Vermieter waren geradezu ekelhaft nett – sahen aus wie Hipsterlullis, auf der Mission, der Menschheit etwas zurückzugeben… Wenn das bedeutete, dass er mit seinem Bufdi-Taschengeld und drei Schichten Kellnern in der Woche die Miete allein bezahlen konnte, konnten ihm die Sperenzchen der Vermieter egal sein. Sie durften ja sogar den Garten als Gemeinschaftsgrund benutzen. Sehr geil für sommerliche Grillabende, sie hätten es einfach nicht besser treffen können in dieser spießigen Wohngegend. Boris‘ Blick fiel auf das Regenrohr. Er überlegte, ob es wohl sein Gewicht tragen würde. Sein Blick glitt weiter zu Yuriys Balkon. Wenn er am Rohr nach oben kletterte, schaffte er es vielleicht bis dorthin, und wenn Yuriy nicht zuhause war, könnte er sich von dort nach oben ziehen. Sergeis Balkon lag genau oben drüber, er hatte die größte Wohnung von allen. Und er hatte nette Gartenstühle und eine überdachte Hollywoodschaukel, der Angeber. Wenn niemand von ihnen zuhause wäre, könnte Boris zumindest dort verweilen, bis das Schicksal sich erbarmte und ihn in seine eigenen vier Wände ließ. Und unter dem Sonnenschirm der Schaukel würde er sich nicht den Arsch in der Sonne verbrennen, die erbarmungslos die Balkonseite noch bis zum Abend aufheizte. Boris warf sich die Decke über die Schulter, rüttelte etwas an der Halterung und als er sicher war, dass das Regenrohr nicht sofort beim ersten Hochziehen aus der Wand brach, versuchte er sein Glück. Es war nicht einfach, das Material sehr rutschig, die Steine waren bereits gut aufgewärmt. In Gedanken beglückwünschte er sich dafür, dass er wenigstens seine Schuhe noch hatte, die ihm einen guten Halt boten. Als er endlich Yuriys Balkon erreicht hatte, überlegte er ernsthaft, ob er mit Parkour anfangen sollte; das könnte für zukünftige Saufeskapaden ja nicht ganz unnütz sein. Jetzt atmete er erstmal durch und rieb sich die aufgeschürften Handflächen. Sein Zeigefinger blutete, er war an eine Steinkante geratscht. Von Yuriys Balkon aus konnte er auf sein eigenes Erkerfenster schauen. Es stand offen. Das ließ seine Hoffnung steigen: Vielleicht konnte er auch durch das gekippte Fenster auf seine Lesebank und endlich in seine Wohnung… Ein Räuspern ließ ihn zusammenfahren. Yuriy stand hinter seiner Fensterscheibe und er starrte Boris ausdruckslos an. Entschuldigend hob Boris die Arme. Sein bester Freund stand nicht so drauf, wenn Boris mal wieder seine Grenzen in Sachen Alkohol meilenweit überschritt. „Lässt du mich rein?“ Yuriy starrte ihn erbarmungslos an, bis Boris den Blick senkte und sich doch, ein ganz kleines bisschen beschämt, die Decke umwickelte. Kurz darauf klickte die Balkontür und Yuriy ließ ihn eintreten. „Danke.“ Der Rothaarige strafte ihn mit Schweigen. „Krieg ich einen Kaffee?“ Schweigen. „War ich gestern mit dir los?“ Wieder Schweigen. Boris biss sich auf die Unterlippe und kaute auf ihr herum. Das war kein gutes Zeichen. Aber er hatte ihn noch nicht rausgeworfen, darum schöpfte er noch Hoffnung. „Okay, ja, ich hab es vielleicht ein bisschen übertrie-“ „Dreiundzwanzig. Sieben. Neun“, schnitt Yuriy ihm das Wort ab. „Ich… was?“ Mit ruhiger, aber schneidender Stimme fuhr er fort: „Dreiundzwanzig Anrufe in Abwesenheit hab ich von dir gestern Nacht bekommen. Sieben Mal hab ich dich versucht zurückzurufen. Neun Stunden lag ich wach und hab mir Sorgen gemacht. Dass jede Minute ein Anruf kommt aus dem Krankenhaus oder von der Polizei.“ Letzteres war gar nicht so abwegig – da war Boris tatsächlich schon einmal gelandet, das wusste Yuriy nur nicht. Normalerweise war Yuriy nicht so gluckenhaft, aber es war Klausurenphase und er stand unter erheblichen Druck. Da trugen Boris‘ nächtliche Eskapaden nicht gerade zu einer Minderung des Stresspegels bei. „Landest du jemals in der Ausnüchterungszelle, wirst du da schmoren. Ich werde dich nicht abholen! Und Krankenhausbesuche werde ich auch nicht machen!“, stellte Yuriy abschließend nüchtern fest. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und sah Boris abwartend an. Just in dem Moment klingelte es an der Tür. Boris sah ihn fragend und Yuriy lieferte sich mit ihm noch ein kurzes Blickduell, ehe er zur Tür schritt. Er konnte Ivans Stimme hören, der etwas von „vergessen“ und „abgeholt“ murmelte. Kurz darauf kam Yuriy mit einem Arm voll Wäsche zurück in die Küche. Wortlos drückte er Boris den Kleiderhaufen in die Hand. Wie er feststellte, thronte sein Handy ganz obenauf. Es war tot. „Ich geh dann mal rüber in meine Bude“, meinte er schließlich. Yuriys erneutes Schweigen sprach Bände. Vielleicht sollte er mit dem Alkohol etwas abstinenter umgehen – zumindest bis Yuriys Prüfungszeit vorbei war. „Du kannst mir ja schreiben, wenn ich dich abfragen soll“, schlug er noch ein letztes Mal versöhnlich vor. Als er die Zweizimmerwohnung verließ, sah er, wie Yuriy auf seinem Handy tippte. Grinsend schloss er die Tür hinter sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)