Freak von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 5: ----------- Ein Schleier aus Dunkelheit legte sich über Victors Sichtfeld. Er fühlte, wie etwas an seinen Armen entlangstreifte, zunächst sanft, dann jedoch packte ihn etwas oder jemand an den Handgelenken und hielt ihn fest. Eisige Finger, die sich in seine Haut krallten, ihn in ihre Richtung zogen… Es war nicht Alva, der das tat. Alva war nicht hier, nicht in diesem unendlichen Meer, in das sein Verstand ihn hatte versinken lassen, Alva war da draußen, was für den Augenblick gleichbedeutend war mit „am anderen Ende der Welt“. Die Berührung, die er hier spürte, mochte kalt sein, unnatürlich kalt, aber sie war nicht unangenehm, und das war ungewöhnlich. Er mochte Berührungen grundsätzlich nicht, hatte das noch nie getan, doch diese war in Ordnung. Vielleicht einfach, weil sie nicht real war, lediglich in seinem Kopf existierte. Aber das tat das Wasser auch, und das machte es kein Stück besser… „Du musst zurück!“ Die Stimme, die durch den betäubenden Schleier um ihn hindurch drang, klang seltsam verzerrt und dumpf. Gleichzeitig verstärkte sich der Griff um Victors Handgelenke, nicht schmerzhaft, sondern viel mehr warnend, während die Dunkelheit um ihn herum sich langsam lichtete… Er erkannte die Person, die vor ihm in der Schwerelosigkeit des Wassers zu schweben schien, sofort. Starrte sie an, sekundenlang unfähig, irgendetwas zu tun, musterte die blasse Haut, die blaugrünen Augen, die wiederum ihn betrachteten, das lange, dunkelbraune Haar, dessen Strähnen unbeeindruckt jeder Schwerkraft in seichten Bewegungen umherwogten. „Mom?“, flüsterte er. Mom lächelte ein trauriges Lächeln. Eine ihrer Hände löste sich von Victors Arm, strich ihm nun vorsichtig über seine zerschnittene Wange. Als sie antwortete, war ihre Stimme klarer als zuvor, und dennoch gleichzeitig paradox weit entfernt, gradezu irreal anmutend: „Du musst aufwachen, Liebling. Du musst dich wehren!“ „Das KANN ich nicht!“ Victor war selbst erschrocken darüber, dass er geschrien hatte. Seine Worte hallten durch das Wasser, wurden von irgendetwas zurückgeworfen wie von blanken Felswänden, während eine Welle der Panik ihn erfasste und ihm erneut die Luft wegblieb. Sein Herz begann zu rasen, der Schleier der Taubheit wich zurück, aber das war nicht gut, nein, das war ganz und gar nicht gut, nun war er selbst hier hysterisch, in seiner eigenen, abgeschirmten Gedankenwelt… Er merkte, wie Mom ihre Arme um ihn legte. Als Kind hatte er es gehasst, wenn sie ihn umarmt hatte; er hatte es gehasst, wenn irgendjemand ihn angefasst hatte, aber hier und jetzt war das okay, mehr noch, es war beruhigend. Sorgte dafür, dass er zumindest wieder Luft bekam, wenn die Panik auch noch immer da war. Trotz der Tatsache, dass alles um ihn herum voll Wasser war, konnte Victor fühlen, wie ihm Tränen übers Gesicht liefen. Er fühlte sich grauenhaft, hatte keine Ahnung, was er tun sollte, er war einfach bloß verwirrt… „Ich kann nicht…“, wiederholte er, diesmal weitaus leiser. Mom betrachtete ihn nachdenklich, strich ihm mit einer Hand durchs Haar. Dann, schließlich, schien sie sich für eine Antwort entschieden zu haben, und sie klang nicht direkt streng dabei, aber doch so, als würde sie keinerlei Widerspruch dulden: „Doch, das kannst du. Das MUSST du!“ „Aber…“ Er wusste nicht, was er sagen sollte, denn es stimmte - er konnte nicht einfach hier verharren, denn das bedeutete, dass er da draußen, in der realen Welt, einfach bloß dalag während Alva was auch immer tun mochte. Das wusste Mom, oder viel mehr sein Unterbewusstsein, und dennoch war da diese Panik, diese unbeschreibliche Angst, die ihn lähmte, und die in ihrer Intensität ein vollkommen neues Gefühl für ihn war… „Aber ich hab Angst!“, beendete er seinen zuvor begonnenen Satz. Diese Tatsache auszusprechen war erleichternd und entmutigend zugleich. In diesem Moment war er sich sicher, dass seine Mutter ihn entweder zurechtweisen, oder ihn auslachen würde, ihm sagen, dass er aufhören sollte, sich wie ein kleines Kind zu benehmen, dass Furcht nur etwas für Babys war… nicht, dass sie so etwas jemals zu ihm gesagt hätte. Doch das war ja auch nicht Mom, nicht wirklich… Doch nichts davon geschah. Mom betrachtete ihn einfach, wieder mit diesem traurigen Lächeln, aber kein Argwohn oder Spott lag in ihrem Blick. Auch kein Mitleid. Da war nichts als pures Verständnis. „Aber das ist in Ordnung.“, erwiderte sie, und für den Moment vergaß Victor, dass sie nichts weiter war als eine Projektion seines Unterbewusstseins. Nun fühlte er sich wirklich wie ein Kind, doch nicht auf eine negative Art; es war einfach genau wie damals, wenn er es beim Spielen wieder einmal geschafft hatte, sich stark blutende Verletzungen oder Prellungen oder was auch immer zuzuziehen, und Mom ihm jedes Mal wieder gesagt hatte, dass es in Ordnung war. Sie hatte sich vielleicht immer furchtbare Sorgen um ihn gemacht, und sie hatte nie verstanden dass er es nicht mochte umarmt zu werden oder mit anderen Kindern zu spielen. Aber es war trotzdem immer in Ordnung gewesen. Das hatte sie ihm jedes Mal aufs Neue gesagt. Aber Mom war noch nicht fertig, und ihre Worte rissen Victor aus seiner Erinnerung heraus, zurück in diese seltsame Welt, die seine Psyche ihm aus Rückzugsort vor Alva zur Verfügung gestellt hatte. „Natürlich hast du Angst. Es wäre schlimm, wenn du keine hättest. Aber Alva hat keine Angst, weil er nicht denkt, dass du ihm irgendetwas tun kannst.“ Moms Lächeln hatte etwas von seiner Traurigkeit verloren, wirkte nun eher ermutigend, und während sie weitersprach löste sie ihre Umarmung und ergriff wieder Victors Handgelenk. „Er unterschätzt dich. Und das ist ein großer Fehler. Das weißt du doch selbst, oder?“ Victor starrte sie an. Wusste nicht, was er sagen sollte, zu wirr waren seine Gedanken, zumindest oberflächlich… Dass Mom begonnen hatte, ihn hinter sich her nach oben zu ziehen, bemerkte er erst, als er unscharfe Silhouetten durch die Wasseroberfläche hindurch erkennen konnte. „Nein, nein warte!“ Er hörte selbst, dass er sich schrill und ängstlich anhörte, obgleich seine Panik fast gänzlich verschwunden war, hektisch griff er nach Moms Hand, doch seine Finger glitten einfach durch ihren Arm hindurch. Einen Augenblick lang starrte er fassungslos auf sein Handgelenk. Mom hielt ihn noch immer fest, er konnte ihre Berührung spüren, aber da war nichts mehr zu sehen, und als er seinen Blick wieder hob war auch der Rest ihres Körpers beinahe vollkommen verblasst… Er wollte schreien, sie anbrüllen, doch alles, was er zustande brachte, war ein heiseres Flüstern. „Bitte geh nicht! Ich… ich wollte…“ Dann brach seine Stimme weg. Sein Blick wurde unscharf, und die Fraktale kehrten zurück, breiteten ihre Verästelungen aus und umschlossen alles mit ihrer Symmetrie… Flackernde Dunkelheit, immer wieder durchbrochen von rötlichen Blitzen. Dann, einen Augenblick lang, Nichts. Absolut Nichts, nicht einmal Schwärze. Wieder das Gefühl, zu fallen, doch dieses Mal nach oben, ein Gefühl, das vollkommen surreal war… In dem Moment, in dem Victor auf dem Boden aufschlug - so fühlte es sich zumindest an - hörte er die Stimme seiner Mutter zum letzten Mal. Weit entfernt, und dennoch vollkommen klar: „Er unterschätzt dich. Du musst ihm zeigen, dass man das nicht tun sollte.“ Dann war sämtliche Taubheit verschwunden, und mit ihr die Dunkelheit und die Fraktale. Nun spürte er wieder den Regen, Tropfen, die ihm übers Gesicht liefen, gemeinsam mit Blut… Alva war nicht zu sehen, er musste sich wieder aufgerichtet haben, aber sein Gewicht war noch immer zu spüren, wenn auch nicht so schwer wie zuvor. Was immer er auch grade tat, im Zweifel war es sicherlich nichts Gutes. Als Victor den Kopf bewegte, einfach bloß, um zu sehen, ob seine Muskeln ihm wieder gehorchten, schoss ein dumpfer Schmerz durch seinen Schädel. Alvas letzter Schlag war heftig gewesen, aber zumindest war der Schmerz nicht so stark, dass er erneut das Bewusstsein verlor, es war zu ertragen. Was wohl nicht zuletzt dem Umstand geschuldet war, dass Victors Schmerzempfinden nie sonderlich ausgeprägt gewesen war. Er unterschätzt dich. Du musst ihm zeigen, dass man das nicht tun sollte. Moms letzte Worte hallten in seinen Gedanken wieder, so deutlich, dass sie sich beinahe wie eine echte Stimme anhörten, und kurz hatte Victor die Hoffnung, dass sie vielleicht doch noch da war. Hier irgendwo stand und ihn beobachtete, ihm helfen würde, wenn die Panik ihn doch wieder überwältigte… Eine unsinnige Hoffnung. Das hier war nicht mehr die Welt in seinem Kopf, das hier war die Realität, und wenn er hier nun anfing, Dinge zu sehen, die nicht da waren, dann hätte er wahrscheinlich größeren Schaden davongetragen, als er bisher geglaubt hatte. Also konnte Mom nicht hier sein. Mom war seit vielen, vielen Jahren tot. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)