Freak von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Die blutverschmierten Finger umfassten Victors Unterkiefer, drehten seinen Kopf ein Stück nach links, und nun war Alvas Gesicht noch näher und der beißende Geruch seines Atems vollkommen unerträglich. In schnellen, hektischen Bewegungen leckte Alva sich über die Lippen, und endlich ließ er Victors Arm los, der kraftlos zu Boden fiel und dabei mit dem Daumengelenk an irgendetwas hartes schlug. Vielleicht tat es weh, vielleicht blutete es auch. Victor bemerkte es nicht. Obgleich Alva ihm nun derart nah war schien seine Stimme aus weiterer Entfernung denn je zu kommen, sie wurde immer leiser bis sie am Ende nichts weiter war als ein unbedeutendes Rauschen, ein leiser Windhauch. „Ja, jetzt bist du still… wärst du das mal früher gewesen… aber vielleicht lernst du es ja doch noch. Vielleicht, wenn du so weitermachst…“ Er sprach weiter, daran bestand nicht der Hauch eines Zweifels. Victor konnte sehen, wie sich Alvas Lippen bewegten, er konnte seinen Atem spüren und er konnte ihn riechen, aber kein Laut drang mehr durch den Schleier aus Taubheit, der sich über ihn gelegt und ihn derart handlungsunfähig gemacht hatte, dass er nicht einmal mehr in der Lage war zu blinzeln. Als nächstes verschwamm sein Blick, ließ den Anblick von Alvas Gesicht undeutlich werden, bis es nicht mehr war als ein matschiger, unbedeutender Fleck. Der beißende Geruch blieb, doch er wurde zumindest schwächer, und einige Sekunden lang glaubte Victor, dass alles gut werden würde, dass er würde ertragen können was immer Alva auch vorhaben mochte, dass er es einfach ausblenden und über sich ergehen lassen würde weil ihm ja ohnehin nichts anderes übrigblieb… Diese Hoffnung - sofern man derart grausame Gedanken überhaupt als Hoffnung bezeichnen konnte - schwand in dem Augenblick, in dem Victor die Berührung von Alvas Lippen spürte. Das Zucken, das seinen gesamten Körper durchfuhr, besaß die Intensität eines Elektroschlages. Es war, als entlade sich all die Spannung, die Unfähigkeit, sich zu bewegen, innerhalb dieses einen Sekundenbruchteils; eine Reaktion, die möglicherweise sogar Erfolg gehabt und Alva derart irritiert hätte, dass er seinen Griff zumindest gelockert hätte, wäre Alva nicht derart zugedröhnt gewesen. So jedoch reagierte Alva überhaupt nicht. Zwar hatte er sich wieder ein kleines Stück aufgerichtet, doch das war wohl eher der Tatsache geschuldet, dass sein Atem schwer und keuchend ging als habe er grade eine weite Strecke laufend hinter sich gebracht, und unwillkürlich blitzte in Victors Kopf die Frage auf, wie lange es gedauert hatte, bis er zusammengezuckt war, wie lange Alva ihn… Doch nun war er wieder klarer im Kopf. Noch nicht wieder vollkommen handlungsfähig, aber der Schleier aus Taubheit war zurückgewichen - ob das nun gut oder schlecht war hing ganz davon ab, wie die nächsten Sekunden verlaufen würden. Ob Victor es irgendwie schaffen würde, Alva von sich wegzubekommen. „Na siehst du. Es ist doch… gar nicht so schlimm…“ Alleine der erneute Klang von Alvas Stimme, nun atemlos und heiser, hätte um ein Haar dafür gesorgt, dass Victor erneut erstarrt wäre. Aber das durfte er nicht, er hatte nun diese Chance, und eine weitere würde Alva ihm wahrscheinlich nicht geben, zumindest konnte er sich nicht darauf verlassen, also musste er sich nun in sekundenbruchteilen irgendetwas überlegen. Das war schwierig. Grade zu unmöglich. Ja, er konnte sich wieder bewegen, aber was brachte das schon, wenn sein Angreifer ihm körperlich derart überlegen war, seinen Kopf immer noch fest umklammert hielt und bereits wieder im Begriff war, näher zu kommen, begleitet von diesem widerlichen Alkohol- und Medizingeruch… „Das ist keine Medizin, das ist irgendeine Droge!“ Dieser Gedanke sorgte dafür, dass Victor ein Schauer über den Rücken lief – nicht, dass ihn diese Vorstellung überraschte, oder sie ihm irgendwo in seinem Unterbewusstsein nicht bereits längst gekommen wäre, doch diese Vorstellung derart klar auszuformulieren, brachte ein Gefühl noch stärkerer Machtlosigkeit mit sich. Eine weitere Variabel der Unberechenbarkeit seines Gegenübers. Alkohol alleine wäre schlimm genug gewesen, hätte wohl vollkommen ausgereicht, um Alva zu unverhältnismäßigen und letztlich undurchdachten Handlungen wie dieser hier zu verleiten. Aber dazu die Wirkung von weiteren Drogen war nicht einmal zu berechnen. Im nächsten Moment berührte Victors rechte Hand, mit der er in den Sekunden, nachdem seine Starre sich gelöst hatte, blind auf dem Boden herumgetastet hatte, gegen etwas Raues. Kurz durchflutete ihn Hoffnung – es war Holz, was er da ertastete; glattes, kühles Holz, so wie auch der Griff von Alvas Messer aus Holz gewesen war, wenn er sich recht zu erinnern vermochte… Aus dem Chaos, das seine Gedanken bildeten, löste sich eine Stimme, klar und deutlich klingend, als käme sie aus der Realität statt aus seinem Gehirn: „Dann stich es ihm in den Magen und lass ihn verbluten! Am Besten du stichst so oft zu, wie du kannst!“ Die Intensität, von der diese Vorstellung begleitet wurde, erschreckte Victor, wenn auch nicht sehr. Er wusste nicht, ob er dazu wirklich in der Lage wäre, doch er bezweifelte es auch nicht wirklich. Alles wirkte wirr und surreal, wahrscheinlich war sein verstand noch immer dabei, das alles abzublocken; die schmerzen, die Schläge, die Schnitte, Alvas Berührungen, die Tatsache, dass er Victor geküsst hatte, dass er sich an all dem aufzugeilen schien. Wenn Victor sich all das vor Augen führte, dann war er sich sogar relativ sicher, dass er dazu fähig wäre, Alva ernsthaft zu verletzen, ihm fiel auch nicht wirklich etwas anderes ein, was ihm übrig blieb, wenn er von ihm wegkommen wollte. Vielleicht müsste er ihn nicht unbedingt schwer verletzen, schon gar nicht abstechen, wie es die kalte stimme in seinem Hirn soeben zur Debatte gestellt hatte. Aber vielleicht… Als Victor nun seine Finger um den Gegenstand legte, den er soeben noch so Hoffnungsvoll für Alvas Messer gehalten hatte, schwand eben diese Hoffnung auf der Stelle. Es war nicht das Messer. Es war lediglich ein dämlicher, dünner Stock. Am liebsten hätte Victor gelacht. Nicht, dass an dieser Situation irgendetwas komisch gewesen wäre, oder amüsant oder irgendetwas anderes als absolut entmutigend. Und trotzdem musste er sich zusammenreißen, um nicht zu grinsen. Wer wusste schon, wie Alva das interpretieren würde. Ein verdammter Stock. Aber anscheinend musste er doch gelächelt haben, ein wenig zumindest, und offensichtlich las Alva aus diesem Ausdruck keinerlei Verzweiflung heraus. Irritiert runzelte er die Stirn, seine Mine verfinsterte sich, doch zumindest richtete er sich wieder ein Stück auf… Zeit, darüber Erleichterung zu empfinden, blieb Victor jedoch nicht. „Was ist?“, murmelte Alva, und auch auf seinem Gesicht breitete sich nun ein Lächeln aus - ein lauerndes, raubtierartiges Lächeln. Eine neue Welle von Übelkeit durchflutete Victors Körper. Er wollte seinen Kopf wegdrehen, und überraschenderweise gelang ihm das auch, denn Alva hatte seine Hand weggenommen, aber auch das war nicht wirklich etwas Positives. Seinen Blick nun auf den mit Laub bedeckten matschigen Boden des Waldes gerichtet spürte Victor eine Berührung auf seiner Hüfte, spürte, wie sich eine Hand unter seine Jacke und sein Shirt schob und über die Haut über seinen Rippen strich… Er schlug zu, ohne darüber nachzudenken. Es war ein Reflex, keine durchdachte Handlung, und das bereute er in dem Augenblick, in dem er Alva an der Schulter traf, mit derart wenig Kraft, dass der noch nicht einmal ins Schwanken kam. Dennoch riss Alva die Augen auf, glotzte wieder einen Augenblick lang wie ein Goldfisch im Glas, als könne er nicht fassen, was sein Opfer grade getan hatte. Victor umklammerte derweilen fester den Stock, doch er wusste, dass er damit nichts würde anfangen können. Hätte er besser gezielt, dann vielleicht. Hätte er… An diesem Punkt wurden seine vorwurfsvollen Gedanken unterbrochen. Im Gegensatz zu ihm schien Alva durchaus in der Lage, seine Schläge angemessen zu platzieren, und die Faust traf Victor mit solcher Kraft, dass ihm Schwarz vor Augen wurde. Was folgte, war ein seltsam taubes Gefühl von Nichts. Es war, als wäre alles um ihn herum verschwunden; der Waldboden, der Regen, Alvas Gewicht auf ihm. Irgendwo war da ein Murmeln, vielleicht auch ein Schreien, doch Victor war unfähig, etwas zu verstehen. Die Schwärze wurde durchzuckt von grellroten Blitzen, oder viel mehr Fraktalen, die sich flächig ausbreiteten und in ihren Verästelungen alles zu umschlingen schienen, obwohl da doch eigentlich nichts war, nichts als Dunkelheit und Taubheit… Dann passierten zwei Dinge gleichzeitig. Er fiel. Nein, wurde nach unten gezogen, von den geometrischen Mustern die sein Gehirn ihm vorgaukelte, oder von was auch immer. Und er konnte nicht atmen. Er versuchte es, zumindest glaubte er das, aber es war als wäre da kein Sauerstoff um ihn herum, lediglich ein Vakuum, zumindest für den Moment… und dann brachen die Schwärze und die Fraktale auf, und eisiges, dreckiges Wasser strömte durch das Trugbild vor seinen Augen. Victor versuchte, zu schreien. Er wusste, dass das eine bescheuerte Idee war; man konnte unter Wasser nicht schreien, zumindest nicht so, dass es irgendetwas brachte, aber er konnte nicht anders, und der einzige Effekt, den diese Aktion mit sich brachte, war, dass seine Lunge sich mit Wasser füllte. Es spielte keine Rolle, dass das nicht sein konnte. Es mochte nur ein Trugbild sein, aber es fühlte sich nicht so an, und mit jeder Sekunde wurde Victor panischer, hysterischer, versuchte, um sich zu schlagen doch war unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen… wieder erstarrt. Wieder wehrlos. Bloß diesmal gefangen in einer grausamen Erinnerung statt in Anbetracht der Realität, und falls seine Psyche sich so eine Fluchtsituation vorstellte, so leistete sie verdammt miese Arbeit. „Ich sterbe“, schoss es Victor durch den Kopf, und diese Worte hatten etwas vollkommen Endgültiges an sich. Das Was-Auch-Immer zog ihn weiter in die Tiefe, das Wasser um ihn herum verdunkelte sich immer mehr. Es war tief, so tief, tiefer als damals, als er in den See gestürzt war und beinahe ertrunken wäre. Ertrunken war, wenn man es genau nahm; wenn man wiederbelebt wurde war man schließlich tot gewesen. Nur war diesmal niemand hier, der ihm helfen würde. Niemand, der ihm nachspringen und ihn wieder nach oben zerren würde, und niemand, der ihn wiederbeleben würde, NIEMAND war hier - niemand außer Alva. Alva würde ihm nicht helfen, nein. Alva würde ihn höchstwahrscheinlich umbringen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)