Freak von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Dass es regnete war eine Tatsache, über die Victor an diesem Tag außerordentlich glücklich war. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise hasste er es, wenn es regnete; zumindest, wenn er währenddessen draußen war und den Niederschlag nicht bloß aus Distanz durch eine Glasscheibe betrachten konnte. Die herabfallenden Regentropfen, ganz gleich, in welcher Intensität, lösten in ihm stets das Gefühl aus nach unten gerissen zu werden, in eine ungewisse Tiefe, in der er unfähig war, zu atmen - als würde er ertrinken. Das war albern, das wusste er selbst, doch konnte er nichts dagegen tun, und darum vermied er es auch normalerweise nach draußen zu gehen, sobald auch bloß die Vermutung nahlag, dass es anfangen könnte, zu regnen. Eine anstrengende Angewohnheit, durchaus. Doch Ängste waren eben selten rational. Auch jetzt verspürte er diese Anspannung durchaus, doch sie war dumpf, irgendwo tief in seinem Bewusstsein vergraben, und vollkommen nebensächlich in diesem Augenblick. Dieses Mal hatte der Regen etwas Gutes. Er wusch das Blut weg. Victor betrachtete die rötlich verfärbten Wasserpfützen, die sich auf dem Asphalt sammelten und dann zu größeren Pfützen zusammenflossen, klarer wurden, und schließlich nichts mehr von dem Blut darin erkennen ließen. Er fröstelte. Wie lange er hier bereits lag, konnte er nicht sagen, doch als er heute morgen das Haus verlassen hatte hatte es nach einem schönen Sommertag ausgesehen, und so hatte er sich lediglich eine dünne Strickjacke übergezogen, die mittlerweile vollkommen durchnässt war. Durchnässt, und an mehreren Stellen zerrissen, bedeckt mit Flecken von Dreck und Blut. Er wäre gerne aufgestanden um sich endlich irgendwo unterzustellen, vorzugsweise zuhause, auch wenn er bis dahin eine gute Meile Fußweg würde zurücklegen müssen, aber dort könnte er sich wenigstens umziehen, raus aus diesen nassen, zerfetzten Klamotten… Doch es war müßig, darüber nachzudenken, was er gerne tun wollte. Fest stand, dass Alva Atkinson nicht zulassen würde, dass er aufstand, geschweige denn irgendwo hinging. Momentan stand Alva etwa einen Meter von ihm entfernt, was für Victors Geschmack immer noch viel zu nah war, aber zumindest ein Fortschritt. Seine ausdruckslosen, kalten Augen waren zusammengekniffen und fixierten ihn, wie wohl auch eine Katze ihr ahnungsloses Opfer fixierte, bevor sie sich in einer Mischung aus Verspieltheit und Mordlust daraufstürzte. Nur wirkte Alva nicht wirklich verspielt, wenn auch durchaus ein wenig amüsiert. Und Victor war alles andere als ahnungslos. Er war ahnungslos gewesen, als er nach Schulschluss aus dem Gebäude der Middleschool getreten war und sich auf den Heimweg gemacht hatte, und er war auch noch ahnungslos gewesen, als er die Pumpkin Street entlanggelaufen war, vorbei am Duma Park und in Richtung der Crystal Lane, während die ersten Regentropfen des Tages vom Himmel gefallen waren. Wäre er nicht so abgelenkt von dem Aufsatz gewesen, den Mrs. Cline ihm in der letzten Stunde mit vorwurfsvollem Blick und einem dicken roten F darauf ausgehändigt hatte, dann hätte Victor vielleicht mehr auf seine Umgebung geachtet, so, wie er es normalerweise tat. Für gewöhnlich blickte er sich immer ungefähr alle fünfzig Meter um, einfach aus Gewohnheit, und aus dieser Paranoia heraus, die er sein ganzes Leben bereits irgendwie an sich gehabt hatte. Doch an diesem Tag war er zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen, die um Mrs. Clines Aussage vom letzten Elterngespräch kreisten, in dem sie seinem Vater mitgeteilt hatte, dass Victor nahezu unfähig war, einen zusammenhängenden Text zu formulieren und so im Laufe der Schulzeit ziemliche Schwierigkeiten haben würde, sollte sich diesbezüglich nichts verändern. Als wäre Englisch das einzige Fach, das von Relevanz war. Er war mit gesenktem Kopf die Straße entlanggelaufen, ohne dabei aufzublicken, und war derart in seinen wirren Gedanken aus Wut und Enttäuschung versunken gewesen, dass er Alva einfach nicht bemerkt hatte. Alva, der ihm gefolgt war, seit er das Schulgebäude verlassen hatte - in gebührendem Abstand, darauf bedacht, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen, und dabei den Abstand zwischen ihnen langsam immer weiter verringernd. Hätte Victor sich irgendwann einmal umgeblickt, dann hätte er Alva höchstwahrscheinlich bemerkt, spätestens dann, als er lediglich noch zwei Meter von ihm entfernt gewesen war, und dann wäre es ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelungen, vor ihm wegzurennen. Doch er sah nicht auf, und er hörte auch die Schritte nicht, da er seine Kopfhörer trug und Musik hörte. Ja, er war ahnungslos gewesen, wie eine Maus, die nicht wusste, dass sie von einem zum Sprung bereiten Katze beobachtet wurde. Seine Ahnungslosigkeit war in exakt dem Augenblick verschwunden, in dem er die alte Eiche passiert hatte, die am Rande des Duma Parks emporragte und deren Stamm über und über mit Schnitzereien aus verschiedenen Generationen von Liebespaaren bedeckt war. Auch dort hatte Victor nicht aufgeblickt, aber er hatte etwas gespürt - eher eine Art Lufthauch als eine wirkliche Empfindung, doch sie hatte ausgereicht, dass er seine Musik leiser gestellt hatte und grade im Begriff gewesen war, den Kopf zu heben… Alva hatte ihn gepackt, bevor Victor ihn hatte sehen können. Seine Finger hatten sich in seine Schultern gekrallt, und Victor hatte schreien wollen – vielleicht hatte er das auch getan, doch er konnte sich nicht mit Sicherheit erinnern – doch dann war ihm die Luft weggeblieben, als Alva seinen Arm um seinen Hals gelegt und ihr zurück gezerrt hatte, ins Gebüsch, wo die dichten Sträucher, die den Duma Park umgaben, die neugierigen Blicke potenzieller Passanten fernhalten würden. Victor hatte versucht, sich loszureißen, doch ohne Erfolg; zu fest war der Griff seines Angreifers gewesen, von dem er zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit gewusst hatte, wer es eigentlich war. Alva war die naheliegendste Person gewesen, obgleich auch Neil oder Dan wohl definitiv einer derartigen Aktion nicht abgeneigt gewesen wären. Aber Alva war der Schlimmste dieser Gruppe, und so war Victor nicht überrascht gewesen, als sein Angreifer ihn schließlich zu sich herumriss und ihm so die Möglichkeit gegeben hatte, ihm ins Gesicht zu blicken. „Na, Freak?“, hatte Alva gezischt, mit diesem bitteren und zugleich sadistischen Grinsen auf dem Gesicht, das er häufig zur Schau trug und das Schülern und Lehrern gleichermaßen Schauer über den Rücken laufen ließ. Dann hatte er das erste Mal zugeschlagen. Seine Faust hatte Victor im Gesicht getroffen – zu weit oben um seinen Kiefer zu brechen und zu weit unten für das Jochbein, doch der Schmerz, der ihn durchzuckt hatte, war dennoch beachtlich gewesen. Victor wäre gestürzt, hätte Alva ihn nicht noch immer festgehalten, doch so hatte seine Schulter ein unangenehmes Knacken von sich gegeben, als Alva seinen Arm in die dem Schlag entgegengesetzte Richtung gezerrt hatte. Es hatte nicht direkt wehgetan, zumindest nicht sofort. Aber es hatte sich ausgesprochen unangenehm angefühlt. Alvas nächster Schlag – diesmal mit der flachen Hand ausgeführt – hatte ihn nun wirklich aufschreien lassen, was wiederum dazu geführt hatte, dass Alva eine Hand auf seine Kehle gelegt und ihn mit festem, kaltem Blick fixiert hatte. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern gewesen, doch genau das hatte seine Worte wohl so eindrucksvoll klingen lassen: „Du bist besser still, Freak! Zumindest, wenn du hier lebend rauskommen willst! Hast du mich verstanden?“ Bei jedem anderen hätte diese Drohung wohl übertrieben gewirkt, womöglich gradezu albern, nicht jedoch bei Alva Atkinson. Alva war bekannt dafür, dass er regelmäßig Probleme machte, von Diebstahl über Tierquälerei bis hin zu Prügeleien, in die er nicht bloß verwickelt war, sondern die er regelmäßig anzettelte. Und er hatte die letzten vier Monate in einer „Besserungsanstalt für schwer erziehbare Jugendliche“ verbracht, nachdem er in betrunkenem Zustand einen Obdachlosen ins Koma geprügelt hatte. Victor hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass er seine Drohung ernst meinte. Nicht bei der Art und Weise, wie seine Augen funkelten. Nicht bei dem Klang seiner Stimme. Und nicht in Anbetracht der Tatsache, dass Victors Zeugenaussage der Grund dafür gewesen war, dass Alva in dieser Anstalt gelandet war. „Er saß wegen dir im Gefängnis. Du hättest damit rechnen müssen, dass er dir das heimzahlt“, hatte Victor gedacht, und dann hatte ihn Alvas dritter Schlag getroffen und ihn zu Boden stürzen lassen. Er hatte wieder geschrien, ohne es zu wollen, und als Alva ihm einen Tritt in die Rippen verpasst hatte war ihm die Luft weggeblieben und er hatte sich keuchend zusammengekrümmt, eine Hand auf seine nun doch schmerzende und eindeutig ausgerenkte Schulter gepresst. Blut war ihm übers Gesicht gelaufen, ohne, dass er hätte sagen können, wo genau er sich verletzt hatte; er hatte sich in diesem Moment so benommen gefühlt, dass er noch nicht einmal hätte aufstehen können, wenn er es gewollt hätte. Aber das wäre ohnehin ausgesprochen dumm gewesen. Er hatte das Gefühl gehabt, dass es ewig dauerte, bis er endlich wieder Luft bekam, und kaum, dass es so weit gewesen war, hatte Alva sich über ihn gebeugt und seine Finger in den Stoff am Kragen von Victors Jacke gekrallt. Er hatte ihn hochgezerrt und ihm dabei wieder die Luft abgedrückt, und seine Augen hatten dabei einen derart irren Ausdruck angenommen, dass Victor sich in diesem Moment sicher war, dass es vollkommen gleichgültig war, was er tat. Dass Alva ihn auf jeden Fall umbringen würde. Nun, das hatte er nicht getan. Bisher zumindest noch nicht. Stattdessen hatte Alva ein weiteres Mal zugeschlagen, doch mittlerweile waren seine Schläge ungenau, weniger kraftvoll, was nicht bedeutete, dass sie in irgendeiner Weise harmlos gewesen wären. Wieder war Victor zu Boden gestürzt, es war ihm grade noch gelungen, sich so zu drehen, dass er nicht noch einmal auf seiner angeschlagenen Schulter gelandet war. Und hier lag er nun. Ihm selbst kam es so vor, als wären Stunden vergangen, seit Alva ihn angegriffen hatte, auch, weil der leichte Regen innerhalb von Sekunden zu einem heftigen Schauer übergegangen war und beide Anwesenden vollkommen durchnässt hatte. In Wahrheit konnten es kaum mehr als fünf Minuten gewesen sein, wenn überhaupt. Und nun stand Alva da, wenige Schritte von Victor entfernt, und betrachtete ihn mit einer Faszination, die an ein Kind vor einem Terrarium erinnerte. Ein reichlich sadistischen Kind. Er schien sich nicht wirklich im Klaren darüber zu sein, wie er weiter vorgehen wollte, anscheinend hatte er nicht weiter gedacht, als bis hier her. Das war keinesfalls etwas, was Victor beruhigte. Eher im Gegenteil. Es bedeutete, dass Alva keine Ahnung hatte, was er eigentlich wollte. Und bei jemandem wie ihm konnte das ausgesprochen gefährlich werden. Einen Augenblick dachte Victor darüber nach, ob er es nicht doch schaffen konnte, aufzustehen und wegzurennen. Zumindest bis zur Straße, und dort würde ihn dann hoffentlich irgendjemand sehen, und ihm helfen, bevor Alva ihn einholen konnte… Aber dieser Gedanke war unsinnig. Alleine bis er sich aufgerappelt hätte wäre Alva schon bei ihm gewesen, und selbst, wenn er zu verblüfft gewesen wäre um sofort zu reagieren, so bezweifelte Victor doch, dass er schnell genug würde laufen können. Also blieb er liegen. Beobachtete Alva, dessen Blick ein wenig verklärt zu werden schien, als schweiften seine Gedanken ab… und auch das war wohl nicht als etwas Positives zu betrachten. Dass Alva wahnsinnig war, daran zweifelte kaum jemand, der ihn kannte. Dass er Tiere quälte war weitreichend bekannt, und dass er scheinbar niemals Reue oder Empathie empfand ebenso. „Er ist wahrscheinlich mal gegen ‚ne Wand gelaufen, und seitdem ist sein Hirn Matsch!“, so hatte Leon Hanscom es einmal spöttisch ausgedrückt, und auch wenn das Problem in Wahrheit wohl um einiges komplexer war, war an dieser kindlichen Aussage wahrscheinlich etwas dran. Und in diesem Moment kam Victor sich vor, als wäre er irgendein kleines Tier, auf das Alva im nächsten Moment mit einem Hammer einschlagen würde, wie er es laut einigen Gerückten mit dem Cocker-Spaniel seiner Nachbarn getan hatte. Was Alva schließlich aus seiner Tasche hervorholte, nachdem er noch einige Sekunden lang mit diesem verklärten Blick ins Nichts gestarrt hatte, war kein Hammer gewesen. Es glänzte leicht im matten Licht, und kurz hielt Victor es für das Metallineal, mit dem Alva in der Schule häufig nach seinen Mitschülern schlug. Dieser Eindruck schwand jedoch, sobald Alva sich über ihn kniete, sich mit einer Hand auf Victors angeschlagener Schulter abstützend, in der anderen den länglichen Gegenstand haltend. Aus dieser kurzen Distanz war eindeutig zu erkennen, dass es sich keinesfalls um ein Lineal oder dergleichen handelte. Es war ein Messer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)