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Inaba

von

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Prolog

Endlich Freiheit.
 

Eigentlich hatte ich mir Fliegen immer aufregend vorgestellt, mit einem Platz am Fenster, einem Blick auf die kleine Welt... aber in der Mitte des Flugzeugs über einem bewölkten Himmel sah die Realität leider anders aus.

Und mit Schlafen war da auch nicht viel... aber immerhin ging es endlich wieder raus, auf japanischen Grund! Ich machte mir ein bisschen Sorgen, ob meine Sprachkenntnisse ausreichen würden... und verfluchte kurz mein vergangenes Ich, das das Lernen immer aufgeschoben hat.

Aber wer hätte auch damit rechnen sollen, dass ich so früh nach Japan würde reisen können? Ich habe nie Glück in Gewinnspielen gehabt, bis auf dieses eine Mal - eine Reise nach Inaba! Nach all den Jahren habe ich Persona 4 zwar immer noch nicht fertig spielen können, aber das tat ja nichts zur Sache. Und für enen Abstecher nach Tokyo war sicher auch Zeit, Ikebukuro sehen, nach Akihabara pilgern...
 

Oh, aber jetzt war es Zeit, erstmal ins Hotelzimmer zu kommen. Zum Glück bekam ich alles Gepäck - was in einer großen Resetasche und dem zugehörigen Rucksack sicher untergebracht war - wieder zurück, also war meine größte Sorge erledigt... und damit war alles gut.

Sollte es jedenfalls sein.

Wie aus dem Nichts war der Flughafen auf einmal in Nebel getaucht. Ich mochte Nebel zwar, aber nicht, wenn ich noch ein gutes Stück bis zur Haltestelle hatte... heute früh war ich glücklich damit gewesen, wie meine Haare gelegen haben, aber na ja. Im Hotelzimmer würde ich sie ja waschen können.
 

Aber in welche Richtung musste ich jetzt überhaupt? Goddammit, der Nebel war so dicht geworden, ich konnte überhaupt nichts erkennen. Und nass und kalt war es auch noch.

Mein Gepäch hinter mir her ziehend wie der allerletzte Tourist versuchte ich, eine andere Person zu finden, oder wenigstens eine Wand, an der ich mich entlangtasten konnte, bis ich an ein Schild kommen würde, was mir weiterhelfen könnte.

Ich lief ein bisschen schneller, so langsam war es mir unangenehm. So weit draußen konnte ich doch nicht sein! Ich steckte mir, so unhöflich es sein mochte, erstmal einen Kopfhörer ins Ohr, ich musste mich erstmal ein bisschen beruhigen.

Oh! Lichtete sich der Nebel nicht schon ein bisschen? Und endlich konnte ich auch wieder eine Wand ausmachen - eine Steinmauer mit Spuren von Moos darauf. Durch die Berührung wurde mir kalt. Wo war ich? War ich in die völlig falsche Richtung gelaufen? Ich hätte mir den Flughafen doch vorher mal online anschauen sollen! Von wegen, "Das wird schon"!

Aber war das möglich? War ich überhaupt noch auf dem Flughafen? Aber wo sollte ich sonst sein?

Ich tastete mich ein Stück an der Wand entlang, bis ich an eine Ecke gelangte. Sollte ich ihr folgen? Einerseits war das keine gute Idee, da ich doch keine Ahnung hatte, wo ich war... aber irgendetwas sagte mir, dass ich meinen Weg nicht finden würde, wenn ich nicht dieser Wand folgte. Sie war etwas... ein fester Gegenstand, wo ansonsten nur Nebel war.

Ich warf hastig einen Blick auf mein Smartphone, aber natürlich hatte ich keinen Empfang. Oh, und niedrig war der Akku auch noch. Hastig schloss ich alle Programme, die ich noch am Laufen hatte und hielt es fest. Ich wollte es nicht wieder in die Tasche packen, ich musste es einfach hier haben. Jeden Moment könnte mein Empfang ja wieder da sein.
 

"N-Nee-san!"
 

Ich erschrak und hielt kurz inne, ehe ich weiter der Wand folgte. Das hörte sich an wie ein Kind... hatte es mich gerufen? Hatte es sich hier verlaufen? Okay, vielleicht würde mein Japanisch ausreichen, um es zu verstehen... schneller Blick aufs Handy, kein Internet, kein Online-Wörterbuch. Goddammit.
 

"Nii-chan!"
 

Ich sah mich schnell um, und da sah ich das Kind. Ein kleiner Junge, der am Boden kniete und sich Tränen aus den Augen rieb.

"A-Ano, Shounen..."

Wenn es nur nicht alles so fremd wäre hier. Unter etwas anderen Umständen hätte ich mich gefreut, mein Japanisch mal anwenden und vielleicht sogar jemandem helfen zu können, aber jetzt war mein Kopf komplett leer.

Dann aber fiel mir was ein, was ich hätte sagen können, zumindest Worte. Eltern wo? Alleine? Angst?

Aber in genau diesem Moment hörte der Junge plötzlich auf zu Weinen und sah zu mir. Das war noch unheimlicher, als alles um mich herum... wusste er vielleicht, wo wir waren?
 

"Mutter hat noch mehr geplant"

Was? Hatte er gerade mit mir gesprochen? Und daus auf einmal auf Deutsch? Oder hatte ich ihn verstanden? So oder so... ich verstand ihn. Ohne weiter nachzudenken, antwortete ich ihm.
 

"Mutter? Sind deine Eltern in der Nähe?"

Wie aus dem Nichts rannte der Junge urplötzlich auf mich zu - wollte er mich umwerfen? Jeder andere wäre wahrscheinlich ausgewichen, aber ich hob nur die Arme schützend, es ging mir einfach alles zu schnell. Noch dazu in der fremden Umgebung.

Allerdings spürte ich keinen Aufprall - dafür eine Art Windstoß, der mich fast von den Füßen riss. Moment, konnte das Wind gewesen sein? So fühlt sich das doch nicht an...

"Wir können sie aufhalten."

Was? Was!? Wo kam das jetzt her? Der Junge war verschwunden, aber seine Stimme hatte ich doch gerade noch gehört... in meinem Kopf?

Was zum-

...

wieso konnte ich auf einen Schlag die Augen gar nicht mehr offen halten... oh, das erklärte es... das erklärte alles... ich war bestimmt doch im Flugzeug eingeschlafen... und jeden Moment würde es landen... gleich... einen Moment konnte ich noch...
 

...

Irgendwas bewegte sich... Ah, das musste das Flugzeug sein. Aber wieso hatte ich mein Gepäck? Ich öffnete meine Augen wieder und setzte mich wieder richtig auf, irgendwie musste ich beim Schlafen komplett zusammengesackt sein.

Tatsache, ich hatte mein Gepäck umklammert, und mein Handy in der anderen Hand.

Moment, Handy?

Mein gutes Nokia? Hä? Wo kam das denn her?

Das hatte ich doch zuletzt... wann war das, 2011?

Ich blickte auf und stellte fest, dass ich definitiv nicht mehr in einem Flugzeug war. Eine kleine LED-Anzeige zeigte in Kanji etwas. Ich konnte nur zwei davon lesen, aber konnte mir zusammenreimen, was sie heißen sollten:

"Nächster Halt: Inaba"

Mehr, als der Tourist zu träumen wagte

Meine Augen klebten regelrecht am Boden fest, als ich versuchte, mir einen Reim auf meine Situation zu machen. Ich war in Inaba - aber wie war ich hierhergekommen und wo kam mein Nokia her?

Eigentlich gab es nur eine Erklärung...

Es war ein Traum.

Nein, das konnte nicht sein. Es fühlte sich alles zu echt an.

Aber echt das konnte das auch nicht sein, oder? Ein Knick in der Dimension?

Eine Durchsage riss mich aus meinen Gedanken und informierte mich, dass ich in wenigen Minuten am Bahnhof eintreffen würde. Okay, Sitzen bleiben war gar keine Option, also solle ich mich lieber zum Aussteigen bereit machen.

Außerdem schwoll ein klein bisschen Stolz in mir über die Tatsache an, dass ich diese Durchsage perfekt hatte verstehen können. Hihi.

Ich blickte kurz durch den Zug, aber nicht viele Leute außer mir befanden sich hier drin und alle waren tief in etwaige Lektüre oder ein Spiel an ihrer PSP vertieft. Und ich wollte keinen von ihnen ansprechen, ich würde sowieso gleich den Bahnhof erreichen.

Dabei sah ich auch nach oben zu der Gepäckablage und stellte fest, dass sich da auch mein Gepäck befand. Schnell stand ich auf und nahm sie zu mur, vorsichtig und dicht am Sitz, damit ich nicht stürzen würde. Die Tasche war ja doch ganz schön schwer geraten.

Nachdem der Zug hielt, stellte ich doppelt sicher, dass ich weder Kleingeld, noch Handy, noch Bonbonpapier auf meinem Sitz zurückgelassen hatte, dann hastete ich nach draußen und stolperte fast, als ich auf den Boden auftrat.

"Inaba", stand auf dem Schild. Hm. Kaum ein Mensch außer mir verließ den Zug...

...

Was jetzt?

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und verließ die Station und hier war ich, ohne Internet auf dem Handy und ohne Plan, wo ich nun eigentlich hingehen wollte. Eigentlich hatte ich mich drauf verlassen, das dann vor Ort mithilfe meines Handys schon finden zu können.

Hm... der Bahnhof war zwar klein, aber immer noch groß genug, dass sich hier bestimmt ein Taxifahrer fand, oder wenigstens rufen ließ, die waren doch immer ortskundig. Ich griff in meine Tasche und suchte nach etwas Kleingeld - und wurde ein bisschen panisch, als ich lediglich 1280 Yen darin finden konnte. Kein bisschen mehr, meine Bankkarte war weg - verdammt nochmal, irgendjemand musste mich beklaut haben, als ich im Zug geschlafen hab. Wie konnte derjenige nur so dicht rangekommen sein?

Ich fluchte kurz vor mich hin - nur, weil der Bahnhof mittlerweile schön leer war - aber es half ja nichts. Vielleicht gab es wenigstens einen Bahnhofsaufseher, der mir die Richtung in die Stadt weisen konnte. Schnell schmierte ich mit einem Kugelschreiber einen Telefonhörer auf meinen Handrücken - ich musste sofort die Bank anrufen, wenn ich Zugang zu einem Telefon und Internet haben würde.

Schnell war ein guter Mann gefunden, und ich fragte ihn, in welcher Richtung ich am schnellsten ein Hotel erreichen würde.

Er blickte mich überrascht an - entweder war mein Japanisch besser, als ich gedacht hatte, oder das komplette Gegenteil - aber dann erklärte er mir, in welcher Richtung ich die Innenstadt finden könnte, in der sich die Einkaufsmeile befand und wo ich auch einen Ort zum Übernachten finden würde - Das Amagi Inn.

"Oh, Sie sind auch ein Fan?", fragte ich, halb im Scherz, schließlich war das Inn nicht echt.

"Jeder hier im Ort kennt das Amagi Inn, es hat schließlich Tradition."

Ich blickte ihn kurz an, um zu sehen, ob er mich verarschen wollte oder nicht, aber er blinzelte nur und wandte dann den Kopf ab, als es ihm zu unangenehm erschien, von mir angestarrt zu werden.

"N-naja, danke für Ihre Hilfe", beendete ich das unbeholfen gewordene Gespräch, schnappte mein Gepäck und lief in die angedeutete Richtung. Zum Glück musste ich bloß einer gerade Straße folgen, sich darauf zu verlaufen war ausgeschlossen.

Als ich mich allerdings nchmal kurz umdrehte, um zu sehen, ob nicht vielleicht doch noch jemand am Bahnhof wartete, durchzog mich das komische Gefühl von Déja vu - ich wusste, dass ich hier unmöglich schon mal gewesen sein konnte, aber trotzdem erkannte ich den Ort irgendwoher.

Hm. Vielleicht sah der Bahnhof im Spiel so ähnlich aus, dass ich mich unterbewusst daran erinnerte? Schwer zu sagen...

Allerdings war es erstmal ein Stück zu laufen, wengstens vier Kilometer. Immerhin sah das Wetter gut aus und es war nicht windig, meine Tasche war nicht zu schwer bepackt...

Außerdem musste ich mir immer noch überlegen, von welchem Geld ich die Nacht im Amagi Inn verbringen sollte - und vor allem, was ich danach machen könnte. Ich seufzte leise, aber verdrängte den Gedanken sofort wieder, jetzt Angst zu bekommen, würde mir nicht helfen und auf meinem 40-Minuten-Marsch nach Inaba hatte ich eh keine Gelegenheit, etwas zu tun, außer vielleicht, nach Kleingeld am Boden zu schauen.

Oh, fünf Yen!
 

Gerade, als ich den letzten Tic Tac aus meiner Dose schüttelte, sah ich endlich die Umrisse von Inaba in greifbarer Nähe - und somit auch die Einkaufsmeile! In einem größeren Café schien gerade nicht viel Betrieb zu sein, also setzte ich mich schnell an einen kleinen Tisch, um mein Gepäck abzulegen und kurz verschnaufen zu können.

Aus Höflichkeit bestellte ich mir einen kleinen Kaffee für 320 Yen... eigentlich keine so gute Idee, aber ich konnte nicht anders. Ich fing mir eh schon den ein oder anderen Blick ein, weil ich so offensichtlich Ausländerin war. Schnell sammelte ich meine Sachen zusammen und begab mich in Richtung des Amagi Inns, aber ein Blick auf die Preise war schnell desillusionierend - Eine Nacht 4000 Yen und mehr, keine Chance.

Ich wandte mich zum Gehen, als mir etwas auffiel - ein Mädchen in einem roten Pullover, mit langen schwarzen Haaren und einem roten Haarband - Yukiko Amagi. Niemand lief in Japan mit einem Cosplay öffentlich rum, und wenn ich sie so ansah... das war keine Cosplayerin, das war eindeutig Yukiko. Ich wich intuitiv ein paar Schritte zurück, aber sie schien mich nicht zu bemerken.

...ein Gedanke machte sich in meinem Kopf breit. Es war nicht möglich, aber... war ich vielleicht irgendwie doch... im echten Inaba gelandet? Ich meine, ich hatte mir als Kind öfter vorgestellt, dass sowas mal passieren würde, ich wachte auf und war dann woanders... aber das war ein Konzept, das ich jetzt so nicht akzeptieren konnte. Wenn auch, weil es mir so undenkbar schien. Außerdem hatte ich mir nie groß Gedanken darüber gemacht, was ich tun würde, sollte es passieren. Die Vorstellung, in der Welt eines Spiels oder Animes zu sein, hatte mir wohl so schon gereicht.

Schnell schüttelte ich den Kopf und ging weiter. Ich brauchte zuerst eine Möglichkeit, meine Bank zu kontaktieren... und irgendwie Geld hierher zu bekommen. Ich achtete gar nicht weiter darauf, wo ich hinlief, aber dann fiel mir der Tempel auf. Ganz Recht, der Tempel, an dem ein Fuchs mit Halstuch zu finden sein sollte... Aber er war nicht da. Niemand war da, um genau zu sein - also der perfekte Ort für eine Inspektion meiner Tasche. Mein Handy hatte sich verändert und es musste einen Grund dafür geben, auch dafür, dass ich jetzt in Inaba war. Und Yukiko gesehen hatte.

War das möglich? War ich im Spiel? Mir schossen eine ganze Menge gemischte Gefühle durch den Kopf, aber Verwirrung war das präsenteste, gefolgt von Aufregung, Hoffnung... ich atmete erstmal kurz durch. Jetzt war es wichtig, dass ich mich zusammen hielt.

In er Tache fanden sich ein paar Kleidungsstücke von mir fanden sich drin, meine Zahnbürste, mein Plüsch-Korosensei... dann eine kleine Tasche, die mir nicht bekannt vorkam. Zögerlich zog ich ihren Reißverschluss auf und zog langsam heraus, was sich offenbarte:

Ein Schlüerausweis mit einem Foto von mir darauf - ein japanischer, der allerdings darauf verwies, dass ich Deutsche war. Gerade noch bekam ich die Kanji für "Yasogami" zusammen - denn das war die Schule, auf die ich laut ihm gehen sollte. Für 2011 allerdings - aber mein Geburtsjahr hatte sich nicht geändert. 2011? Die Geschichte von Persona 4 spielt doch - ich schüttelte wieder kurz den Kopf und konzentrierte mich lieber auf das, was jetzt vor mir lag.

Ein tieferer Griff in die Tasche offenbarte außerdem eine sehr vertraut aussehende Schuluniform - das schicke Karomuster der Yasogami High. In meiner Größe!

Ich musste an ihr als Schüler eingeschrieben sein... aber wie? Ein brauner Umschlag, der aus der Uniform herausfiel, gab mir sehr willkommen eine Antwort auf meine vielen Fragen. Dankenswerterweise war er in Hiragana geschrieben.

"Hallo!

Wir freuen uns, dass du für ein Auslandsjahr in unserem Haus leben möchtest und teilen dir hiermit freudig mit, dass du das ab dem 11 April kannst!"

Ich packte ihn beiseite und entschied, ihn später zu lesen, als ich feststellte, dass sich noch ein weiterer Brief in dem Umschlag befand. Dieser war eine ganze Spur formeller gehalten und detaillierte trocken - und mit vielen komplizierten Kanji, aber das Gröbste verstand ich - dass ich ab dem 12. April die Yasogami High gehen würde und entprechend auch schon alles geregelt wäre. Auf dem Umschlag fand sich auch der Name meiner Gastgeberfamilie - Shinui, einmal in Kanji und einmal in Hiragana. Am Bahnhof war aber niemand gewesen... oder hätte ich da bloß warten brauchen? Aber woher?

Ich griff nochmal nach meinem Nokia, das jetzt anzeigte, dass es mit dem japanischen Netz verbunden war. Ein schneller Blick auf die SIM-Karte verriet mir, dass es damit jetzt auch eine andere Nummer haben würde. Unter Shinui war aber leider niemand abgespeichert - das ganze Telefonbuch war leer.

Ich seufzte leise, dann packte ich meine Tasche wieder zusammen. Nicht enfach, mit der vielen Kleidung, die ich rausgenommen hatte... Hrm, das hatte doch davor auch alle bequem reingepasst...

Nachdem ich alles doch noch irgendwie reingestopft bekommen hatte, nahm ich wieder den Brief hervor und las ihn noch einmal langsam und sorgfältig.

"Unser Haus ist nicht groß, aber wir hoffen, dass du dich trotzdem wohl fühlen wirst. Wenn dir was fehlt, sag es uns!"

Außerdem hatte sie dem Umschlag eine Visitenkarte beigelegt, mit ihrer Adresse darauf... Okay, immerhin schon mal eine Basis zum Herumfragen. Ich schulterte meine Tsche wieder und verließ den Tempel - nächste Station, das Haus der Shinuis... hoffentlich.
 

"Entschuldigung, kennen Sie diese Adresse?"

"Nein, tut mir Leid, ich hab es eilig!"
 

"Können Sie mir sagen, wie ich zu dieser Adresse finden kann?"

"Oh, bist du Amerikanerin? Wie toll! Mein Sohn ist der Klassenbeste in Englisch und..."
 

"Weißt du, wo ich das Haus hier finde?"

"Deine Haare sind komisch!"
 

Okay, das hatte ich mr eindeutig einfacher vorgestellt. Gerade hatte ich jede einzelne Mutter in diesem Park gefragt, sie tuschelten schon ein bisschen, aber niemand konnte - oder wollte - mir weiterhelfen. Auf einer hölzernen Parkbank legte ich kurz meine Tasche ab, ehe ich mich daneben setzte. Immerhin hatte zu einer Erkenntnis geführt.... ich kann Japanisch. Sprechen und Verstehen zumindest. Irgendwie... ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass das hier wirklich das Inaba sein sollte, aber ich hatte keine bessere Erklärung für das, was passierte. Ich kannte zwar die Adresse nicht, aber ich hatte Yukiko gesehen und fand mich in der Umgebung um das Einkaufsviertel herum super zurecht. Leise seufzte ich, ehe ich zu Boden blickte und erst jetzt die vielen Tauben bemerkte, die sich gurrend um die Bank scharrten.

"Ich hab nichts für euch", bemerkte ich trocken, und fügte in Gedanken dazu "für mich hab ich ja auch gerade nichts."

"Hast du dich verlaufen?", fragte mich auf einmal eine Stimme - ein älterer Mann in einem bleichen Hemd, Hosenträgern und mit einem Hut, bestimmt schon 60, der neben mir saß und die Tauben fütterte.

"Nicht direkt... aber ich bin auf der Suche nach dieser Adresse, aber niemand kann mir weiterhelfen."

Der Mann nahm vorsichtig die Visitenkarte und betrachtete sie prüfend.

"Das ist ein Stückchen außerhalb. Heutzutage verlassen sich die jungen Leute viel zu sehr auf ihre Technik... niemand kennt mehr den eigenen Ort und die Leute darin."

Er seufzte melancholisch auf.

"Weißt du, in welcher Richtung du den Bahnhof findest? Hinter der Tankstelle, ja? Danach ist es gar nicht mehr weit, bloß nach einer Bäckerei mit den Namen Furukawa Ausschau halten, von da aus müsstest du einen Blumenladen sehen und ab da ist es einfach zu finden."

Ich mochte miserabel mit Karten sein, aber mit einer so bildlichen Beschreibung konnte ich was anfangen. Auch, wenn es bedeutete, dass ich das ganze Stück zum Bahnhof wieder würde zurücklaufen müssen. Na ja. Immerhin würde ich zu meiner Familie finden!

"Vielen Dank!", bedankte ich mich etwas überschwänglich bei dem alten Mann und ging, ohne, ihn nach seinem Namen zu fragen. Das wäre ein wenig komisch gewesen - auch, wenn ich hoffte, ihn nochmal im Park zu sehen.
 

Mal sehen, hier war ein kleiner Süßigkeitenladen, dann war direkt vor mir... schon die Tankstelle. Sehr gut, dann war es nicht mehr weit... mein Wasser war lange alle und so langsam bekam ich ein bisschen Kopfschmerzen. Ein Stück war es nach dem Bahnhof ja noch, da konnte ich mir genausogut jetzt eine Flasche Wasser kaufen.

Ich betrat die Tankstelle - nur um dort meinen finalen und endgültigen Beweis dafür zu bekommen, dass ich wirklich im echten Inaba gelandet war - vor mir an der Kasse stand ganz eindeutig Dojima und ein Blick aus dem Fenster verriet, dass auch Nanako und Yuu (oder Souji? ) hier waren. Klar, der 11 April... Sein erster Tag.

Ich war in Inaba. Im echten. Ich konnte Japanisch sprechen und verstehen, wenn auch immer noch nicht groß Kanji lesen... und wurde ein bisschen nervös. Was bedeutete das für mich? Wenn ich in einem Spiel war, dann existierte außerhalb von Inaba nichts - und selbst wenn ich in einer Welt gelandet wäre, in der alle Geschehnisse von Persona real passieren, was bedeutete das für mich in Beziehung zu meiner Welt? Meinen Freunden, meinem Zuhause? Meiner Zukunft?

Aber diese ganzen Fragen würde ich mir unmöglich jetzt beantworten können. Leise kaufte ich eine Flasche Wasser und bemühte mich dabei, nicht zu Dojima oder aus dem Fenster zu starren, ehe ich die Tankstelle verlassen konnte um den Bahnhof und die Bäckerei zu finden.

Nur um sicherzugehen fragte ich auch die Bäckerin noch einmal, ob sie die Adresse oder den Blumenladen kannte, und zum Glück konnte sie mir weiterhelfen - und gab mir sogar ein bisschen Brot mit, das sie wohl neu ausprobierte. Ich packte es vorsichtig ein und garantierte ihr, nochmal vorbeizuschauen, und ihr zu sagen, was ich dachte. Immerhin, sollte das Haus hier in der Nähe sein sollte ich ja auch auf dem Weg zur Schule daran vorbeikommen.

"Entschuldigung, junge Frau aus Deutschland!"

Irgendjemand rief urplötzlich nach mir, ich konnte gar nicht anders, als die Tasche fallen zu lassen und mich schnell umzusehen.

Eine kleine, etwas dickliche Dame, vermutlich Ende 40 bewegte sich auf mich zu und wirkte richtig erleichtert.

"Kind, ich habe mich schon gefragt, wo du geblieben bist! Bist du mit meiner Beschreibung zurecht gekommen? Wieso hast du so lange gebraucht, um hierherzufinden? Ich dachte schon, du wärst in den falschen Zug gestiegen... Kind..!"

Sie wirkte doch ein bisschen aufgebrachter. Aber was sollte ich ihr sagen? Das musste Frau Shinui sein, niemand anders würde so reagieren.

Aber ich konnte ihr schlecht sagen, dass ich keine Ahnung hatte, was hier lief.

"Ah, Shinui-san, es tut mir Leid!"

Intuitiv verneigte ich mich ganz leicht, aber bestimmt nicht im richtigen Winkel.

"Ich... w-wollte mir nur mal schnell den Tempel in der Stadt anschauen... u-und für ein erfolgreiches Jahr beten."

Mist. Das hatte ich vergeigt.

"Aber... Kind."

Fast schon sah mich Frau Shinui ein bisschen mitleidig an.

"Wünsche an die Götter werden nur erhört, wenn sie von Shintoisten stammen... was du als Ausländerin nicht sein kannst!"

"A-Ach, ist das so..."

Natürlich wusste ich das, aber eine bessere Ausrede war mir auf die Schnelle nicht eingefallen. Außerdem würde ich ja noch genug andere Gelegenheiten bekommen, Frau Shinui zu beweisen, dass ich keineswegs eine ignorante Ausländerin war.

Allerdings musste ich mir dann schon mehr Müde geben.

"Oh, aber jetzt komm erst mal rein, die Tasche sieht schwer aus."

Meine Schultern stimmten ihr zu.

In einem kleinen, aber gemütlich Wohnzimmer nahmen wir an einem kleinen Teetisch Platz. Sie goss mir ein bisschen Tee auf und seufzte leise.

"War deine Reise anstrengend, ja? Du wirkst sehr müde. Aber morgen fängt die Schule an, da musst du dich heute ein bisschen anstrengen, wenn du noch alles schaffen möchtest. Du kannst nicht schon an deinem ersten Tag locker lassen!"

..da hatte sie wohl Recht.

"Aber... weißt du, es ist schön, jemanden da zu haben, jetzt, da Yuno so beschäftigt ist. Weißt du, sie ist ein liebes Mädchen und ich bin mir sicher, sie gibt ihr Bestes, sie ist ja nach Tokyo gekommen... und ich verstehe, dass sie nicht oft heimkommen kann, aber... du weißt sicher wie das ist, oder?"

Ich konnte das zwar nicht auf meine Mutter beziehen, aber ich nickte.

"Aber Yuno stellt dafür gern ihr Zimmer zur Verfügung. Du darfst alles benutzen, was drin steht. Keine Scheu!"

Wahrscheinlich hatte sie alle persönlichen Gegenstände im Keller verstaut oder sowas.

"Nur Jungen bleiben nicht über Nacht, einverstanden?"

"W-Was? Eh, klar..."

Mit so einer Bitte hatte ich gar nicht gerechnet, schließlich war ich zum Lernen hier, aber mit 21-

...

21? War das nicht ein bisschen alt für ein Austauschjahr?

Oder war ich wieder 16? Es war immerhin wieder 2011... moment, aber Frühling, dann müsste ich doch 15 sein... na ja, jetzt galt es eh erstmal, Frau Shinui aufmerksam zuzuhören. Sie hatte mir das mit Sicherheit schon mal alles erzählt, aber sie wirkte wie jemand, der gern redete, also machte es ihr wohl nichts aus, Dinge zu wiederholen, glücklicherweise.

"In der Golden Week kommt auch Takafumi nach Hause, dann lernst du ihn auch kennen!"

Einen anderen Sohn? Ah, nein, im Brief hatte sie nur ihre Tochter erwähnt.

"Er arbeitet hart... weißt du, ich finde es ja schön, dass die Leute in Junes alles bekommen können, aber die jungen Leute... sie haben einfach keine Geduld mehr für einen schönen Innentadtbummel. Und ein kleines Süßigkeitengeschäft? Hat sich einfach nicht gehalten..."

Hörte sichnach einem Ehepartner an.

"Shinui-san lebt nicht mehr hier?"

"Ja, aber das weißt du doch. Er hatte großes Glück, einen stabilen Job in der Baubranche zu bekommen, so als Quereinsteiger. Aber gut verdienen... na ja, das hat er hier auch nicht, aber es hat gereicht und er war immer Zuhause. Und jetzt... Brot wollen sie essen, die Kinder heutzutage."

Klang, als wären sie nicht gerade mit den Furukawas befreundet.

"Aber es ist nicht so, als würde das Junes nur Schlechtes bringen... sie hätten es nur woanders eröffnen können."

"Arbeiten Sie da, Shinui-san?"

"Ja, hatte ich dir ja auch gesagt."

Arme Frau...

"Teilzeit. Es reicht, aber wenn du Taschengeld möchtest, wirst du auch arbeiten müssen."

Hm, na zu einem Job in Junes würde ich nicht nein sagen... wenn auch nur, weil ich wusste, dass Yosuke da sein würde.

"Aber du musst nicht, auch wenn es den Kindern heute gut tun würde. Takafumi schickt mir, was er kann... und ein bisschen vom Staat gibt es auch noch. Schließlich öffnen wir unsere Tür gern für Ausländer, die Japan kennenlernen möchten!"

Während sie das sagte, wanderte ihr Blick durch das Zimmer und blieb an der Uhr hängen.

"Oh, spät ist es geworden... möchtest du was Bestimmtes essen?"

"Ah- ich nehme, was da ist."

Ich war nicht die erste Austauschschülerin hier, und die letzte würde ich auch nicht sein. Auch nicht schlecht, Gastmutter als Beruf.

"Okay, ich habe noch Onigiri übrig. Und ein paar Sachen im Kühlschrank, aber die wirst du morgen für dein Bento brauchen. Aber am besten..."

Jetzt fiel ihr Blick auf meine Tasche.

"Richte dich erstmal ein, danach kannst du was Essen, ja? Wer nicht arbeitet, der nicht isst!"

Keinen Teilzeitjob anzunehmen war keine Option, wenn ich mit Frau Shinui gut zurechtkommen wollen würde. Ich nickte, nahm dann meine Tasche auf und folgte der Beschreibung, die mir Frau Shinui noch hinterher rief - am Ende des Ganges links, recht sei ihr Schlafzimmer und sie würde es bevorzugen, wenn ich das nicht betreten würde. Langsam lief ich über den Parkettboden mit dem angenehm vertrauten Klang, ehe ich besagtes Zimmer mit einem bunten Holzschild an der Tür fand - Yuno stand darauf, mit Häschen - und öffnete vorsichtig die Tür, so als würde da drinnen bereits jemand warten.

Aber natürlich war das nicht der Fall.

Ich wuchtete die Tasche auf das Bett und eigentlich hätte ich mich gern hingelegt, aber das machte keinen Sinn, wenn ich mit dem Auspacken noch fertig werden wollte. Viel hatte ich nicht mitgenommen, schließlich war ich davon ausgegangen, dass ich hauptsächlich unterwegs sein und Platz für alles benötigen würde, was ich wieder mit nach Hause genommen hätte... aber jetzt war das fast ein Vorteil.

Die Schränke waren leer und boten genug Platz für die viele Kleidung und ein paar Kleiderbügel. Einen davon hängte ich für die Uniform raus.

In der Schublade am hölzernen Schreibtisch brachte ich meine Schreib- und Zeichensachen unter und bekam außerdem einen guten Blick auf die Umgebung dank den Fensters daran. Ich war eigentlich kein Freund der Farbe rosa, aber die in Pastellpink gehaltenen Tapeten der Wände rechts und links von der Fensterseite waren angenehm anzusehen. Mein Koro hatte schon Platz neben dem Kopfkissen gefunden - zum Glück auch für japanische Mädchen im Teenageralter nicht zu ungewöhnlich - nur einen Computer hatte ich nicht zur Verfügung. Ob sie einer Ausländerin in Junes wohl Ratenzahlungen anbieten würden?

Ich hörte die Stimme von Frau Shinui aus der Ferne also warf ich einen letzten Blick auf mein Handy und ging zum Abendessen.

Simpel, aber lecker, Onigiri als Abendessen waren durchaus okay.

Bento... das konnte ich morgen früh machen. Frau Shinui hatte mir ein Bad eingelassen, was ich gerne annahm. Die weiße Zimmerdecke im Blick dachte ich darüber nach, was heute passiert war. Ich war im echten Inaba gelandet, bevölkert mit den Leuten, die ich aus dem Spiel kannte... und da fingen die komplizierten Fragen an. Ich konnte die Geschichte verändern, oder? Konnte ich verhindern, dass die Morde stattfinden würden? Aber das würde auch bedeuten, dass ich mich in ziemliche Gefahr begeben würde, und ich wusste immer noch nicht, ob ich im Spiel war, oder in einer Welt, die ihm glich. Wie war das hier mit Schicksal? Würden die Dinge passieren, wie im Spiel, ganz gleich, was ich tat? War ich effektiv ein NPC?

Darüber hinaus, hatte ich eine Persona? War ich überhaupt in der Lage, mit der Truppe zu interagieren? Oder würde ich nur das Jahr hier verbringen dürfen und sie dabei sehen?

...

Okay, ich würde es nicht verstehen können. Irgendwann vielleicht, aber nicht jetzt. Zuallererst sollte ich in die Schule gehen, mal schauen, was passiert... außerdem war es ein wenig her, dass ich Persona gespielt hatte, ich hatte nicht alle Details bei mir, die ich brauchen würde. Und ich schätze mal, mit einem Walkthrough sah es auch eher schlecht aus.

Das plötzliche Klopfen an der Badezimmertür brachte mich aus meinen Gedanken, aber es war nicht so, dass sie mich an einen sinnvollen Ort geführt hätten.

"Kind, bitte werd' langsam fertig, ich muss morgen früh an die Arbeit."

Wann öffnete Junes nochmal? Na ja, so oder so, jetzt war es an der Zeit, zu schlafen. Unausgeruht wollte ich an meinem ersten Tag an der Yasogami wirklich nicht sein.

Begib' dich direkt auf 'Los'

Gott, wie schwer kann das sein, einzuschlafen. Ich hatte das Jetlag ganz außer Acht gelassen. Ich hatte ausprobiert, was mir einfiel, es blieb bloß noch dabei, zu warten, bis ich schlafen konnte....

...

Wo war mein MP3-Player wieder abgeblieben..?

..aber so langsam merkte ich, dass ich doch runterkam. Gut. Ein paar wertvolle Stunden zum Schlafen blieben mir noch.

Nicht auf die Uhr schauen.

...

..

Oh, ist das nicht die Arie der Seelen? Gerade richtig zum Wegdriften.

..wobei, vielleicht ein bisschen zu laut zum Einschlafen. Ich griff nach meinem MP3, um ihn ein wenig leiser zu stellen, bemerkte aber, dass sich der MP3-Player gar nicht in Reichweite befand.

Genau genommen hatte ich nicht mal Kopfhörer einstecken.

Ich blinzelte mich wieder ein bisschen wach, ehe ich feststellte, dass ich nicht mehr in Yunos - beziehungsweise temporär meinem Zimmer war, so sollte ich denken, auch wenn es sich so noch nicht so anfühlte - sondern stattdessen an einem Pult saß. War ich schon in die Schule gegangen und da eingeschlafen?

"Willkommen..."

DIe Stimme kam mir sehr bekannt vor.

"Im Velvet Room."

Ich blickte mich kurz um und stellte fest, dass ich mich sehr wohl in einem Klassenzimmer befand - wenn auch ganz sicher nicht in einem Klassenzimmer der Yasogami. Die Fenster waren vernagelt und großzügig mit Seide umgeben, die sich über jede der angenehm kobaltblauen Wände erstreckte. Mein Pult war das einzige - von dem Lehrertisch abgesehen - an dem ich einen mir sehr bekannt vorkommenden kleinen Mann sitzen saß.

Igor.

Er ließ mir die Zeit, mich in diesem Raum in aller Ruhe umzusehen, ehe ich meine Aufmerksamkeit auf ihn richtete.

"Ein sehr aufmerksamer und unruhiger Gast scheint seinen Weg hierher gefunden zu haben", kommentierte er mein anfängliches Verhalten amüsiert.

"Und sie ist nicht allein. Ich kann mich nicht daran erinnern, zu einem anderen Zeitpunkt schon einmal zwei Gäste begrüßt haben zu dürfen. Welch angenehme Überraschung, nicht wahr?"

Eine Frau, die ich natürlich auch kannte - Margaret - trat an seine Seite.

"Ein Vertrag wird in ferner Zukunft geschlossen, einer ist es bereits."

..wieso hatten sie mich dann jetzt schon hierher gebracht?

"Oh, du missverstehst mich, Kind", nahm Igor meine Gedanken vorweg.

"Du bist nicht diejenige, die noch einen Vertrag zu schließen hat."

"Huh? Wann habe ich-?"

Ich unterbrach mich abrupt, um nicht ganz so viel von meiner Verwirrung durchhängen zu lassen... auch wenn ich genau wusste, dass es vollkommen sinnlos war und Igor mich genau durchschaute.

"Noch findet sich reichlich Nebel in deinem Verstand, aber fürchte nicht. Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Umstand, den du ebensowenig wie das Wetter zu kontrollieren vermagst. Natürlich steht es dir frei, uns Fragen zu stellen, die dir die Furcht vor dem Nebel nehmen."

"Fragen..."

Aber welche Fragen konnten mir Igor wohl beantworten? Hm... nun, Dinge vor ihm zu verstecken hatte an diesem Punkt wenig Sinn, aber das bedeutete auch nicht, dass ich alles ansprechen sollte, was mir einfiel.

"Wie bin ich hierhergekommen? Bis vor wenigen Tagen war ich noch... älter, lange aus der Schule raus, nicht in der Lage, diese Sprache zu verstehen und schon gar nicht... na ja... auf die Idee, den Velvet Room zu sehen, wäre ich noch weniger gekommen."

"Manchmal stellt man sich diese Fragen, aber die Suche nach der Antwort gleicht dem Abtasten eines Seiles, das sich aus vielen, kurzen Seilen zusammensetzt. Es ist dir im Moment nicht möglich, dessen Ursprung zu finden, und deine neue Energie lässt sich woanders besser nutzen."

Wenn das mal keine Igor-Antwort war. Natürlich machte er es mir nicht so leicht.

Aber eine andere interessante Information hatte er mir schon gegeben... dass ich nicht Soujis Platz in der Geschichte dieser Welt eingenommen hatte, sondern einen Pakt mit ihm geschlossen habe.

Das heißt... konnte ich davon ausgehen, dass ich eine Persona hatte? Und gemeinsam mit Souji und den anderen würde kämpfen können?

Ich... durfte mehr als ein NPC sein?

"Die Dämmerung ist nahe. Gibt es noch eine weitere Frage, die du mir stellen möchtest?"

"Igor-san, ich..."

Mir gingen viele Fragen durch den Kopf, aber es war schwer, daraus einen koherenten Strang zu formen und zu überlegen, welche die jetzt dringlichste ist.

"Die Zeit... f-fließt die Zeit in meiner... anderen Welt normal weiter, solange ich hier bin?"

Ein Blick ins Internet hätte meine Frage beantwortet, aber bisher war ich noch nicht dazu gekommen... und auch Leute zu kontaktieren, deren Nummern ich nicht in meinem alten Nokia-Handy eingespeichert hatte, stand außer Frage.

"Welten... nun, jede Welt verfügt über ihre eigenen Regeln und Gepflogenheiten. Ich bin mir sicher, du wirst bald verstehen. Sei dir dessen gewiss, dass du mehr gewinnst, als dass du verlierst... wie viel allerdings, das obliegt alleinig deiner Verantwortung."

In diesem Moment fielen einige Lichtstrahlen durch die schmalen Spalten, die sich zwischen den Nagebrettern boten. Ich musste ein wenig blinzeln, so grell trafen sie mich... bedeutete das, dass es schon dämmerte? Ah, Mist, das hatte Igor doch gesagt..!

"Wir werden uns wieder sehen. Furcht mag existieren, um dich zu beschützen, aber manchmal verfügst du über besseres Wissen als sie selbst, wann sie angemessen erscheint und wann nicht. Konfrontiere sie, wenn du dir nicht selbst im Weg stehen willst."

"Igor-san, moment, ich- ich-!"

Ich schlug die Augen auf und fuhr wie vor der Tarantel gestochen im Bett hoch. Mein Puls raste und der Blick auf die vollkommen fremde Umgebung half nicht. Erst ein Blick auf meine spärlich im Raum verteilten Besitztümer boten einen vertrauten Anblick, der es mir ein bisschen leichter machte und mir ermöglichte, mich zu beruhigen.

Unter normalen Umständen würde ich wohl davon ausgehen, dass das ein Traum war, aber... nein. So langsam aber sicher musste ich von der Vorstellung endgültig Abstand nehmen. Vorsichtig nahm ich Koro und setzte ihn an seinen Platz, ehe ich mein Bett machte und sich langsam ein lange verschwundenes Gefühl breit machte...

Zeit für die Schule.

"Guten Morgen!", begrüßte mich Frau Shinui.

Sie war bereits eifrig in der Küche am Schaffen - sicherlich bereitete sie sich ihr Frühstück für die Arbeit zu - was es mir schwer machte, mich einfach hinzusetzen und darauf zu warten, dass sie fertig werden würde. Irgendwie machte es mich unruhig.

"Wenn du möchtest, kannst du dir ein bisschen Omelette machen, ich habe zu viele Eier geschlagen!", erklärte sie freudig. "Es sind auch noch Onigiri von gestern übrig, und wenn die zu lange im Kühlschrank bleiben, ist das auch nicht so gut."

Das Angebot nahm ich gerne an. Ich hatte ja auch von Frau Furukawa noch ein bisschen Brot übrig, und ein einfaches Omelette war noch machbar vor der- oh, Mist, wie spät war es eigentlich? Hektisch sah ich mich nach einer Uhr um, die bestätigte, dass es kurz vor acht und somit in der Tat schon ganz schön spät war.

"Ah... Frau Shinui, ich frage das ja nicht gerne, aber... w-wann kommt mein Bus?"

"Ah, mach dir da mal keine Sorgen, ich denke doch an alles! Dein erster Schultag beginnt gegen 8:45 Uhr, und zufällig liegt die Schule fast auf meinem Weg zur Arbeit. Eine Viertelstunde zu laufen, macht dir doch nichts aus, oder?"

Ganz und gar nicht, ehrlich gesagt.

"Sehr gut! Ich arbeite zum Glück nicht ganz so früh, dafür aber jeden Wochentag. Weißt du, wie du vom Samegawa-Flussbett aus zur Schule kommst? Ah, selbst, wenn nicht, den anderen Schülern auf dem Weg zur Schule zu folgen dürfte eine Kleinigkeit sein."

Ja, das bekomme ich noch hin, ich konnte mich ja einfach unauffällig den anderen anschl-

Nein.

Nein, Moment. Das stimmt nicht. Ich durfte dabei eins nicht vergessen...

Unwillkürlich schwang mein Blick zum Fenster.

Grüne Augen mit einem grauen Stich und strohblonde Haare... ich sah alles andere als Japanisch aus und schon gar nicht wie jemand, der leicht untertauchen konnte. Mein Herzschlag beschleunigte sich leicht. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

...wobei, ich war ja immer noch in der gleichen Welt wie Yosuke mit seinen nussbraunen Haaren, Chie mit ihrem Fuchsbraun, sowie Naoto's blauem Bob. Darüber hatte sich ja auch niemand gewundert. Verlief das hier also nach dieser Art von Logik?

"Vergiss nicht dein Ei, Liebes!"

Der leichte Holzkohlegeruch, der sich nun verbreitete, war eine sehr willkommene Ablenkung und ein dringender Notfall beanspruchte all meine Aufmerksamkeit Sehr gut... es war eh sinnlos, sich auszumalen, was sein könnte.

...

Trotzdem wollte sich mein Herz einfach nicht wieder beruhigen.
 

"Da, siehst du die anderen Schüler, die die gleichen Uniformen tragen?", fragte mich Frau Shinui.

Ich fühlte mich ein klein wenig erstickt, aber tat mein Bestes, es mir nicht anmerken zu lassen und nickte.

"Vielen Dank", hörte ich mich sagen.

"Dann sehen wir uns heute Abend! Sei aufmerksam, schließlich nimmt die Yasogami nicht jeden... du wirst dich beweisen müssen, also streng dich an!"

Sie meinte es ja nur gut. Und immerhin... ein gewisses Vertrauen schien sie in mich zu setzen. Also verließ ich das Auto, stellte sicher, dass ich nichts verloren hatte und bedankte mich dann nochmals bei ihr, ehe sie weiterfuhr.

Gut, dass ich nicht den ganzen Weg laufen musste, mit dem Auto waren es sicher 10 Minuten oder mehr gewesen, das jeden Tag zwei Mal zu laufen- zwei Mal... stimmt, ich musste ja auch wieder zurück.

...

D-Darüber hatten wir überhaupt nicht gesprochen!

Mist, ohne Handy war es mit Sicherheit nicht leicht, zurückzufinden, und den Zettel mit der Adresse hatte ich auch nicht... und ich würde ihr sicher nicht gefallen, wenn ich wie ein kleines Kind später an der Schule stehen und warten-

...nein, jetzt nicht.

Erstmal war es jetzt wichtig, rechtzeitig zur Schule zu kommen. Ein paar der Schüler guckten im Vorbeigehen, aber niemand kam auf mich zu... da hatte ich mir wieder umsonst Sorgen gemacht.
 

"Ah, da sind Sie ja", wandte sich Frau Sofue mit ihrer Pharaonenkrone freudig an mich, "Pünktlich wie die Post, typisch Deutsch!"

Gut, dass sie nicht "pünktlich wie die Bahn" gesagt hat.

Sie lachte kurz auf, dann ließ sie ihren Blick über den Schreibtisch schweifen, bis sie gefunden zu haben schien, wonach sie gesucht hatte. Sie nahm eine Mappe vom Tisch und überreichte sie mir.

"Die Formalien, für Ihre Unterlagen", gab sie an.

"Ich muss ganz ehrlich sagen, ich wusste, dass Ihr Japanisch gut sein würde, aber es ist ja wirklich nahezu makellos. Damit sollten Sie kein Problem damit haben, dem Unterricht folgen zu können! Es freut mich immer wieder, junge Menschen zu sehen, die die Deutsch-Japanische Freundschaft pflegen wollen!

Also dann... der Unterricht beginnt in 20 Minuten. Am Besten kommen Sie gleich mit mir!"

Ich musste ja nicht erwähnen, dass ich in Souji's Schuhen zahllose Male durch die Schule gelaufen war. Natürlich war es aus der eigenen Perspektive etwas anderes als durch den Vogelblick, den mir das Spiel gewährte, aber generell...

... das Spiel, hm. Natürlich war es schwer, sich das vorzustellen, aber... für den Moment und bis auf Weiteres war es meine Realität, also musste ich von ihr auch als solche denken. Sonst würde ich Gefahr laufen, mich zu sehr auf das zu verlassen, was das Spiel bot. Dinge zurücksetzen. Einfache, offensichtliche Fragen zu haben, auf die es leichte Antworten gab.

...leichter gesagt als getan, aber schließlich war ich ja auch erst den ersten Tag hier. Nichts überstürzen, ich ließ meine Gedanken wieder zu sehr kreisen. Also erstmal auf das fokussieren, was jetzt vor mir lag... das Überstehen des ersten Schultages.

"Hergehört, Klasse!", erbat die Lehrerin die Aufmerksamkeit ihrer Klasse.

Die Schüler musterten mich, soweit ich das beurteilen konnte, neugierig, also bemühte ich mich, ein bisschen zu lächeln und es nicht mit dem Blickkontakt zu übertreiben.

"Das hier ist eure neue Mitschülerin aus Deutschland, die den Rest des Jahres Teil unseres Klassenverbands sein wird. Kommt miteinander aus, okay? In der Geschichte brachten Fremde oft Veränderung, und es liegt an dem Volk, also euch, sie ins Positive oder Negative zu wenden."

Sie drehte sich zu mir, nickte mir zu und überreichte mir feierlich ein Stückchen Kreide.

Ein bisschen steif drehte ich mich an die Tafel und bemühte mich, einen möglichst hohen Punkt zu erreichen, um das Schreiben anzusetzen. Katakana also... hoffentlich konnte man es lesen.

Mit vollendeter Tat drehte ich mich zu meinen neuen Klassenkameraden um - von denen ich niemanden kannte, aber es wäre ja auch zu schön gewesen, mit Souji, Yosuke, Yukiko und Chie in eine Klasse zu kommen.

Ein paar von ihnen kicherten ein bisschen - vermutlich ob meines Geschmieres - ein paar andere versuchten verschiedene Varianten, wie man meinen Namen aussprechen könnte, von denen einige sogar ziemlich nah dran waren. Wenigstens mein Vorname war ein bisschen kana-freundlich.

"So, und ohne weitere Umschweife kommen wir aber gleich zum Unterricht, okay? Ihr habt bald genug Pause, da könnt ihr sie alles fragen, was ihr möchtet, in Ordnung?"

Uff. So toll ich es mir vorgestellt hatte, als ich selbst wirklich noch 16 war - das japanische Schulsystem hatte es durchaus in sich. Wenigtens hatte ich durchaus daran gedacht, gestern Abend noch alle Materialien einzupacken, die ich brauchen könnte, also kam ich wenigstens in Bezug darauf nicht in Verlegenheit. Schulbücher hatte ich von Yuno übernehmen dürfen.

..obwohl es schon eine gute Gelegenheit gewesen wäre, zumindest eine erste flüchtige Bekanntschaft zu machen.

Immerhin war ich besser darin geworden, neue Leute kennenzulernen, als ich es mit 16 war.
 

"Hey, Doitsu-san!", hörte ich jemanden sagen, war aber weiter damit beschäftigt, das Tafelbild langsam abzuschreiben - damit es leserlich blieb.

Die richtigen Bewegungen für die Zeichen gelangen mir zwar, aber nicht besonders schnell. Die Schulglocke hatte sogar schon geläutet, aber was sollte ich machen.

"Hey, Hey Chi- Tsu- äh, Doitsu-san!"

Jetzt schob sich jemand vor mich - ein Junge mit einem aufgeweckten Blick, der mir im Unterricht vorher schon ein bisschen aufgefallen war. Er hatte kurze, leicht strubbelige hellbraune Haare, wache Augen und eine gewollt oder ungewollt schiefe Mütze auf dem Kopf. Außerdem glaube ich, ich habe bunte Anhänger an seiner Schultasche gesehen.

Ein bisschen irritiert blickte ich zu ihm auf, woraufhin er zu meiner Überraschung verlegen reagierte.

"Ah, entschuldige, aber dein Nachname, er ist ein bisschen... kompliziert. Und, äh, ich hab gehört, Amerikaner wären in der Hinsicht ein bisschen unkomplizierter, also..."

Doitsu-san - Frau Deutschland also. Okay.

Um es dem armen Jungen nicht noch schwerer zu machen, nickte ich einfach.

„Mein Name ist Ootori, Ootori Masao.“

„Freut mich.“

„Und… wie ist Deutschland so?“

„Wie es ist?“

„Na ja… ist es sehr anders als Japan?“

Jetzt, da die Pause angefangen hatte und sich die meisten Leute entschieden zu haben schienen, ob sie schon zu ihren Clubs gehen wollten oder heute nur den Heimgeh-Club besuchen wollen würden, kamen ein paar gleich zu mir.

„Na ja, wie ist es denn… eh, anders? Die Schule ist auf jeden Fall anders. Wir müssen früher kommen, können aber meistens auch früher gehen.“

„Vermisst du deine Freunde sehr? Seid ihr im Kontakt?“

Ja und Nein… was sollte ich denn sagen? Ich hätte mit der Frage rechnen müssen, aber ein bisschen hart war es schon. Es zwang mich schließlich, wieder die Realität zu akzeptieren, dass ich derzeit niemanden von ihnen erreichen konnte. Ich zwang mich zu einem leichten Lächeln.

„Na ja… wer würde das nicht? Aber ich bin ja eh gerade erst angekommen und muss mich noch an alles gewöhnen. Ich darf nicht zu viel dran denken.“

Ootori-kun gab mir einen vielsagenden Blick und nickte verständnisvoll. Vielleicht hatte er auch mal die Schule wechseln müssen, um herzukommen?

„Hey, Doitsu-san, kannst du mir sagen, ob-“

In dem Moment wurden wir abermals von einem Glockengeräusch unterbrochen. Hä? War die Pause wirklich so schnell vorbeigegangen?

„Liebe Schüler, bitte begebt euch ruhig und geordnet auf dem schnellsten Weg nach Hause! Clubaktivitäten entfallen heute mit sofortiger Wirkung.“

Ich erstarrte kurz ein bisschen, ehe mir wieder einfiel, was das bedeutete. Was gerade passiert war und welche Zeit wir hatten. Die Lausprecherdurchsage schien für einen Moment Unruhe im Klassenzimmer zu verbreiten, aber offenbar wussten die anderen Schüler gleich, was zu tun war.

Mein Herzschlag beschleunigte für einen Moment ein bisschen, aber ich zwang mich, mich zu beruhigen.

„Tja, du hast sie gehört. Bis morgen!“, verabschiedete sich Ootori-kun von mir, ehe ich irgendwas sagen konnte. Entweder war er unhöflich oder schüchtern, oder…

oder ich hatte etwas verkehrte Prioritäten.

...und jetzt? Ich hatte vergessen, mir die Nummer von Frau Shinui geben zu lassen und immer noch keine Informationen darüber, wann und wie ich heimkommen sollte. Oder eine reale Möglichkeit, mich zu orientieren.

Hm, vielleicht würde es zumindest helfen, erstmal an den Bahnhof zu kommen.

Ich schnappte schnell meine mittlerweile zusammengepackten Sachen und navigierte mich zielsicher zum Schulhof.

Draußen angekommen sah ich niemanden… jedenfalls niemanden, den ich kannte. Alle schienen mehr oder minder mit sich selbst beschäftigt, manche hatten offenbar bereits ihre Eltern angerufen und wurden von ihnen abgeholt, oder gingen mit zu Freunden Nachhause.

Hm…

Langsam bewegte ich mich aufs Schultor zu, wo ich auf sichere Distanz doch einen bekannten Haarschopf bemerkte.

Yukiko Amagi stand da, ihr gegenüber ein bekanntes Gesicht.

Fischauge, wie ich ihn immer liebevoll-abwertend bezeichnet hatte.

Ich stand zu weit weg, um zu hören, was sie sagten, aber ich wusste ja, um was es ging.

Hatte ich was zu verlieren?

Nein.

„H-Hey, Yukiko-san!“

Überzeugend. Okay, aber jetzt war keine Zeit dafür, mich wieder niederzumachen. Und sie hatte mich nicht gehört.

Also nochmal.

„Amagi-san! Ich müsste dich da noch was fragen-“

Ah.

Ah.

Okay, ich hatte es getan. Jetzt schlug mein Herz doch wie wild. Einerseits hatte ich es die ganze Zeit tun wollen, andererseits hatte ich auch Angst vor der Reaktion… aber jetzt sehen wir ja, was passierte.

Ich hatte die Ichform „Boku“ benutzt.

Oh Junge.

Yukiko sah kurz zögerlich in meine Richtung, ehe sie sich kurz bei Fischauge entschuldigte, um zu mir zu kommen. Für einen Moment sah er ihr nach, dann gab er es offenbar auf und verließ ebenfalls das Schulgelände.

„Entschuldigung, kennen wir- ah!“

Sie sah mich verwundert an.

„Du bist ein Mädchen?“

Augenscheinlich.

„Aber warum würdest du… war das Absicht?“

Na ja, als Ausländer war es wohl nicht zu ungewöhnlich, dass man eine für Mädchen eher ungewöhnliche, gar als unhöflich angesehene Ichform benutzt. Aber ich wollte es, das wusste ich eigentlich schon die ganze Zeit.

„J-ja, war es.“

Für einen Moment herrschte unangenehme Stille zwischen uns, aber dann schien Yukiko ein bisschen aufzulockern.

„Ah, ist nicht schlimm. Vielleicht solltest du es nicht vor den Lehrern machen, aber ich glaube, den meisten anderen hier ist das egal.

Und als Ausländerin kannst du eh nicht wirklich untergehen.“

Wenn, dann richtig. Aber Moment, hörte ich da etwas von Yukiko? Ihr Unterton…

„Aber nicht so wichtig“, unterbrach sie sich selbst.

Wenigstens die Tatsache, dass ich ihren Namen bereits kannte, schien sie nicht zu sehr zu verwundern.

„Was wolltest du von mir wissen?“

„Ich weiß nicht, wie ich Nachhause komme. Äh, ich weiß, das hört sich blöd an, aber ich bin gestern erst hier angekommen und habe vergessen, meine Gastmutter zu fragen, wie ich wieder zurück finde.“

„Hast du eine Adresse?“

„Ja. Auf der Visitenkarte, die sie mir gegeben hat. Die Zuhause in meinem Koffer liegt.“

Yukiko kicherte kurz auf.

„Hehe, entschuldige, ich weiß es nicht witzig.“

„Hey, ich hab kein Problem damit“, beschwichtigte ich sie.“

„Aber die Art, wie du das gerade gesagt hast, das...“

„Yukiko!“

Genau in diesem Moment rief ein Mädchen nach uns, winkte und stürmte dann auf sie zu.

„Hast du dich Durchsage nicht gehört? Wir sollen schnell heim!“

„Ja, ich weiß dich, ich habe nur noch gewartet, bis ich den Austauschschüler treffen kann-“

„Austauschschüler?“

Chie sah mich aufgeregt an.

„Du also?“

„Jap.“

„Aaah, du kommst aus Deutschland, oder? Ist ja cool! Amerikaner kann jeder sein, aber Deutschland ist was ganz anderes! Mein Opa hat gesagt, er kannte früher viele Deutsche. Wie ist Deutschland denn? Es hat noch mehr Natur als hier, oder?“

„K-Kommt drauf an, wo man wohnt, wie hier auch.“

„Ist da nicht noch alles voller alter Schlösser und sowas?“

„Nicht wirklich, es ist eher… na ja, es gibt ein paar, aber die sind weit verteilt. Und darin wohnen kann man ja auch nicht.“

„Kannst du mal was für mich auf Deutsch sagen? Bitte!“

Oh Gott, ihre Aufregung war richtig ansteckend, aber auf eine positive Art. Sie brachte mich dazu, einfach zu reden und nicht zu viel zu überlegen.

„Ähm… ‚Ich bin ein Berliner‘.“

„Aaah!“

Sie schien sich sehr zu freuen.

„Und was heißt das?“

„Ich komme aus Berlin.“

„Und tust du das?“

„Nee, ich wohne weiter unten. Ich war aber schon Mal da.“

„Kannst du noch was sagen? Irgendwas!“

„Hey, Chie, Yukiko. Habt ihr die Durchsage nicht gehört?“

Aah, da war er ja! Jetzt ergänzte meine eigene Aufregung die von Chie verursachte.

Yosuke Hanamura, mein Lieblingscharakter…. Auch wenn ich von ihm nicht so denken darf. Gut, dass ich meinen Laptop nicht hier hatte, das wäre merkwürdig geworden.

„Du bist die Austauschschülerin, oder? Freut mich! Hanamura Yosuke mein Name.“

„Yosuke, du störst!“

Chie schob ihn ein kleines Stück weg.

„H-Hey, Chie!“

Erst jetzt fiel mir auf, dass Souji auch bei uns stand, neben Yosuke.

„Hm? Stimmt ja, Seita-kun. Aber das bedeutet ja, dass es zwei Austauschschüler gibt.“

Ich sah kurz zu Souji und nickte ihm zu.

„F-Freut mich.“

Er nickte zurück, ohne ein Wort zu sagen. Wir waren ja nicht einmal in derselben Klasse!

„Yosuke-kun hat aber Recht“, gab Yukiko jetzt zu bedenken, „Wir sollten Nachhause gehen. Ah, wo wohntest du nun?“

Sie hatte sich an mich gewandt, aber die Antwort musste ich ihr etwas hilflos schuldig bleiben.

„Ganz bei mir in der Nähe“, meinte Yosuke. „Eigentlich bin ich hier, um dich abzuholen. Äh…“

„Shou geht okay“, gab ich an.

„Ich zwar nicht mein Name, aber… seien wir ehrlich, mein Name ist für euch eher schwer auszusprechen.“

Und auf Spitznamen-Territorium wollte ich noch nicht gehen. Das wäre viel zu aufdringlich gewesen… und so gerne ich mit den anderen befreundet sein wollte, ich durfte es nicht überstürzen und vermasseln. Also einfach ruhig bleiben.

E i n f a c h.

„Und Shouko wäre in etwa das japanische Äquivalent, wenn man den Namen übersetzen würde“, erklärte ich weiter.

Yukiko sah mich ein bisschen besorgt an, aber mit meinem Nachnamen war es ja nicht besser.

„Äh, und nach der gleichen Logik könnt ihr auch Matsuda sagen.“

„Matsuda Shouko?“, fragte Yukiko noch einmal.

Es war ein bisschen peinlich, wenn sie mich dabei so fragend ansah, aber ich nickte.

„Okay, und jetzt, wo das geklärt ist“, mischte sich Yosuke wieder ein, „sollten wir wirklich gehen. Es dämmert ja schon so langsam und meine Mutter hatte mich gebeten, Shouko-san sicher Nachhause zu bringen.“

Oh Junge. Mein Herz machte einen kleinen Satz. So von ihm genannt zu werden, hatte schon was.

„Oh, s-sehr nett. Allerdings weiß ich leider nicht, wie meine Adresse heißt, also kann ich nicht verlangen-“

„Ich aber“, mischte er sich ein.

„Frau Shinui ist eine gute Freundin von meiner Mutter. Eh, ein bisschen schrill, aber ganz okay. Und wir wohnen da ganz in der Nähe. Deswegen nehme ich dich einfach mit, wenn das okay ist. Ah, wenn dir das zu viel wird, kommt Chie bestimmt auch mit.“

Zum Glück wurde er nicht verlegen. Es hatte Vorteile. Nicht wirklich wie ein Mädchen zu wirken.

„Entscheide das nicht einfach!“, beschwerte Chie sich.

Ich fühlte mich fast ein bisschen angegriffen, aber ich wusste ja, dass es nicht wegen mir war.

„Aber du wohnst doch eh da in der Nähe!“, schimpfte Yosuke.

Die Routine zwischen den Beiden also.

„Aber trotzdem! Wer sagt, dass ich mit dir Nachhause gehen will! Vielleicht hab ich schon was vor!“

„Die Lehrer, die uns befohlen haben, sofort Nachhause zu gehen, sagen das! Und da könnten wir auch schon eine halbe Stunde lang sein!“

„Wir, äh, gehen dann auch“, meinte Yukiko verlegen und entfernte sich, woraufhin Souji gleich nachzog.“

„Dude!“, beschwerte sich Yosuke, als ob er sich vom einzigen anderen Mann im Bunde Unterstützung erhofft hatte.

„Möchtest du, das ich mitkomme?“, wandte sich Chie erstmal an mich.

„Äh, aber nur, wenn es keine Umstände macht.“

„Sag doch einfach ja! Der Rest liegt ja dann bei mir.“

Sie nickte.

Tatsächlich fing es schon an, zu dämmern, und ich wusste, dass Chie uns würde verteidigen können, wenn jemand auf uns zukam.

Außerdem mochte ich sie.
 

Der Heimweg war zum Glück deutlich kürzer, als ich befürchtet hatte. Wir mussten lediglich zum Bahnhof und von da aus zwei Stationen fahren, ehe wir aussteigen konnten und in der Nähe der vertrauten Furukawa-Bäckerei herauskamen. Eine Karte für den Nahverkehr hatte ich zum Glück schon von Frau Sofue überreicht bekommen.

„Findest du dich von hier aus zurecht?“, fragte Yosuke.

„Ich wohne nur die Straße da runter, dann das weiße Haus. Steht Hanamura außen dran. Wenn du was brauchst, äh, dann kannst du vorbeikommen, okay? Wir sehen uns sicher eh nochmal wegen meiner Mutter.“

Da hatte er Recht. Hehe.

„Einen Schlüssel hat dir Frau Shinui aber gegeben, oder?“

Ich griff in meine Tasche und konnte zum Glück einen finden.

„Ich wohne weiter da hinten, direkt am Sportplatz“, erklärte Chie.

„Bevor du zu Yosuke gehst, kannst du auch zu mir kommen. Oh, und wenn du dir jemals einen Film ausleihen willst, dann sage Bescheid!“

Das würde ich auf jeden Fall in Anspruch nehmen. Heh… wer hätte gedacht, dass ich so früh schon die Chance bekomme, mal mit allen zu reden? Zumindest mit allen, die ich auch jetzt schon kenne.

wobei natürlich auch nichts dagegen spricht, Naoto, Kanji oder Rise anzusprechen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

„Dann bis morgen!“, verabschiedete sich Chie, auch Yosuke winkte kurz und ging dann weiter.
 

Im Hausinneren angekommen warf ich als Erstes meine Tasche aufs Sofa, da wir zum Glück noch keine Hausaufgaben bekommen hatten – das kommt erst ab morgen auf mich zu – und zu großen Hunger hatte ich dank meines Omelettes zum Mittag auch nicht.

Wobei ich mir schon unterwegs was zu Essen hätte holen können...wenigstens von den Furukawas.

….Furukawas, und sie haben eine Bäckerei? Ahaha.

Als ich allerdings die Küche betrat, um mir wenigstens ein Ei in die Pfanne zu hauen, durfte ich feststellen, dass es tatsächlich nicht mehr nötig war, sich noch was zu kochen – das hatte tatsächlich Frau Shinui für mich übernommen!

Es hab Misosuppe, leicht angebratenes Tofu und dazu ein bisschen grünen Tee, auch wenn der schon ein bisschen abgekühlt war.

Ein beiliegender Zettel verriet:
 

„Hallo!

Ich hatte zwischen meinen Schichten heute ausreichend Zeit, dir was zu Essen zu machen. So liebend gerne ich es jeden Tag tun würde, gewöhn‘ dich am besten nicht dran – aber ich hoffe trotzdem, dir schmeckt, was es heute gibt. Ich bin leider nicht so vertraut mit westlicher Küche. Im Gegenzug wäre es allerdings sehr lieb, wenn die Küche sauber und aufgeräumt ist, wenn ich zurückkehre. Es wird spät werden, also bleib‘ nicht lange auf und geh bald ins Bett. Hast du dich schon an die Zeitumstellung gewöhnt?

-Shinui“

Gut, ich wusste, was das hieß – ich würde das Geschirr auf alle Fälle machen müssen, wenn ich morgen kein unangenehmes Erwachen wollte. Aber es war immer noch deutlich weniger Arbeit, als mir was zu Kochen und das dafür benötigte Küchenwerkzeug noch mit abzuwaschen.

Also war alles gut.
 

Nach dem Duschen merkte ich erst einmal, wie erschöpft ich eigentlich war. Kaum, dass ich mich aufs Bett gesetzt hatte, fühlten sich meine Glieder schwer an und fast automatisch legte ich mich hin.

Dabei fiel mein Blick auf den Fernseher, den ich bisher nicht beachtet hatte. Heute war ich definitiv zu müde, um noch Fernzusehen, aber… im Frühling 2011… lief da nicht Steins;Gate in Japan? Gab es in dieser Welt überhaupt Fernsehen, wie ich es kannte?

Hoffentlich hatte dieser Fernseher einen Rekorder angeschlossen.

Jetlag kann ich mir nicht erlauben

Ugh… Jetlag…
 

Ich war in dieser Nacht mindestens vier Mal aufgewacht, und nach dem letzten Mal gegen 4:00 Uhr nicht nochmal eingeschlafen.

Jetzt saß ich am Frühstückstisch, genoss den Fisch mit Reis, den Frau Shinui gemacht hatte und litt Mühe, nicht in der Kaffeetasse zu versinken, die sie mir aufmerksamerweise hingestellt hatte. Sogar ein Bento hatte sie mir gemacht. Ich entschied aber, erst in der Schule mal reinzuschauen.

Diese Schuluniform war allerdings etwas, an was ich mich erst würde gewöhnen müssen. So sehr ich mir gedacht hatte, dass ich ja auch einfach eine Jungsuniform anziehen könnte, so schwierig und potenziell blöd war die Idee jetzt, dass ich wider Erwarten doch in die Position gekommen war. Also würde es das fürs Erste tun müssen. Ich wollte nicht so früh schon potenziell in Ungnade fallen.

„Oh je, Liebes“, sprach Frau Shinui jetzt besorgt, „Ich hoffe, du hast nicht mehr so lange mit dem Schlaf zu kämpfen. Vielleicht magst du ja nach der Schule im Junes vorbeischauen? Ich kann dir leider kein anderes Kissen als das anbieten, was du bereits in deinem Zimmer hast, aber vielleicht haben sie ja dort eine Auswahl. Oh, dann kannst du dich gleich erkundigen, ob sie dir einen Teilzeitjob anbieten können, falls du das möchtest.“
 

Sie redete sehr schnell, aber irgendwie konnte ich sie trotzdem verstehen. Nur ihren Worten zu folgen dauerte ein wenig länger.
 

„Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass es am Kissen liegt, Frau Shinui… es ist eher der Jetlag.“

Und ein paar andere kleine Probleme, die mich nachts wach hielten. Vielleicht würde mich ja auch Igor wieder in den Velvet Room rufen?

„Hmm… aber nicht, dass du dich in diesem Zustand noch verläufst und zu spät zur Schule kommst. Das wäre doch sicher unangenehm.“

„Hmm...“

Ich dachte kurz nach. Mein übermüdeter Körper war natürlich begeistert von der Idee, im Auto noch ein bisschen Schlaf nachholen zu können, aber ich wusste genau, dass es danach nur noch schwerer werden würde. Und ich hatte noch ein gutes Zeitpolster, ehe die erste Stunde beginnen würde.

„Vielen Dank für das freundliche Angebot, Frau Shinui, aber ich glaube, ein bisschen frische Luft wird mir helfen, wach zu werden. Einige Mitschüler leben ja auch hier in der Nähe.“

Heh. Vielleicht konnte ich ja Yosuke treffen und mit ihm zur Schule gehen?

Hm… nur würde mich das tatsächlich entspannen, oder ehe noch mehr stressen?

Schließlich ist es erst einen Tag her, dass ich meinen Lieblingsch- den echten Yosuke kennengelernt hatte. Ich wäre bestimmt sehr darauf aus, dass er mich mochte… und das war auch nicht gesund.

„Oh, das ist ja wundervoll! Mit seinen Mitschülern zu sozialisieren ist wichtig für einen jungen Menschen wie dich“, riss sie mich – dankenswerterweise, wenn ich so darüber nachdachte – aus meinen Gedanken.

„Heutzutage gibt es zu viele Leute, die nur an sich selbst und selbstverliebten Hobbies interessiert sind. Weißt du? Diese Otaku. Die immer nur Trickfilme schauen.“

Ich verschwieg wohl besser, dass ich auch zu „diesen“ gehörte und nickte stattdessen mit einer Aussage, die ich auch nicht ablehnen würde.

„Es ist schade, ja. Wenn man wirklich nur das eine hat...“

Damit trank ich meinen Kaffee aus und nahm mein Geschirr zum Abspülen in die Küche mit.

„Ah, es ist in Ordnung, wenn du das Geschirr zunächst stehen lässt!“, ermutigte Frau Shinui mich, „Ich habe heute erst eine etwas spätere Schicht. Mach du dich nur in Ruhe auf den Weg zur Schule!“

O-Oh, alles klar! Vielen Dank!

„Ah, und ehe ich es vergesse, gib mir doch bitte vorher deine Handynummer und Mail-Adresse. Ich gebe dir dann meine, damit du dich melden kannst, solltest du dich doch verlaufen oder etwas anderes brauchen.“

Das war doch mal eine sinnvolle Idee.

Wenigstens hatte ich genug Voraussicht besessen, gestern schon alles einzupacken, was ich brauchte, also musste ich nur noch meine Tasche greifen und das Haus verlassen.

„Bis heute Abend!“, rief mir Frau Shinui noch hinterher, ehe ich um die Ecke bog, um die Furukawa-Bäckerei als ersten Orientierungspunkt anzusteuern.
 

Dort angekommen roch es natürlich schon sehr verlockend, und hätte ich nicht so gut gefrühstückt, wäre ich sicher verlockt gewesen, unvernünftig viel mitzunehmen, aber so reichte mir ein ganz einfaches Schokocroissant. Die Dame an der Kasse schien sich sehr zu freuen, mich wiederzusehen. Hehe, vielleicht würde ich ja Stammkunde.
 

„Oh, Doitsu-san, bist du das?“

Die Stimme kannte ich doch.

Gerade erst hatte ich die Bäckerei verlassen, schon hörte ich wieder diesen komischen Spitznamen.

Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und sah dort gleich einen bekannten braunen Haarschopf. Das war jemand aus meiner Klasse… ah, äh…

„Ootori-kun?“, fragte ich zögerlich.

„Ja!“, nickte er freudig, „Du erinnerst dich!“

Na ja, du hattest gestern als erstes Interesse wegen meiner Nationalität gezeigt, also… bin ich nur froh, dass ich mich richtig erinnert hab.

„So sehr falle ich ja nicht auf, also… bin ich fast froh.“

Froh? Wegen was denn?

„Ah, hast du gehört, Doitsu-san?“

„M-Matsuda.“

„Bitte?“

„Matsuda ist auch okay. So würde ich heißen, wenn man meine Namen übersetzen würde.“

„Aber das klingt so gewöhnlich“, beschwerte Ootori sich.

Das war ja auch der Sinn dahinter! Das hörte sich wenigstens wie ein Name an!

„Ich hätte gern einen so coolen Spitznamen. Ootori-kun, Ootori-kun… ein bisschen öde, oder?“

„Ich finde ihn nicht cool“, murmelte ich.

„Ah, aber Doitsu-san, hast du gehört?“

„Ootori-kun!“, schimpfte ich.

„Was denn?“

So langsam dachte ich mir, dass allein zur Schule zu gehen eventuell die bessere Entscheidung gewesen wäre. Aber das letzte, was ich wollte, war als einsamer Wolf zu gelten… also ergab ich mich für‘s Erste meinem Schicksal. Vielleicht hörte er damit ja irgendwann auf, wenn es ihm langweilig würde.

„Hast du gestern Abend Nachrichten geschaut?“, fragte er jetzt, wenig elegant die Situation entschärfend.

„Nee, ich war ehrlich gesagt ein bisschen müde nach der Schule. Ich hab gelernt.“

„Dann weißt du es ja gar nicht! Wir wurden gestern ja früher heimgeschickt, oder? Das ist, weil es einen Mord gegeben hat!“

...Mord!?

Ich blieb unvermittelt stehen und sah ihn schockiert an. In einem dunklen Winkel meines Gedächtnisses erinnerte ich mich zwar, was genau er meinte, aber das hatte ich zwischen allem anderen, was so passiert ist, komplett vergessen.

„E-Einen Mord..?“

„Ja! Ist doch krass, oder?“

Er wirkte fast, als würde er von einer spannenden Serie erzählen. Als wäre das nicht gerade die Realität… Das war fast ein bisschen daneben.

Auch wenn ich genau weiß, dass es Yosuke damals ähnlich ging…

„Es ist schon ewig her“, fuhr Ootori unbeirrt fort, „Dass sowas Aufregendes in Inaba passiert ist. Vielleicht ist es sogar das Aufregendste! Eine Frau ist an einer Antenne aufgehangen gefunden worden. Ich frage mich, ob das jemand von der Schule war? Vielleicht Frau Sofue!“

„Wieso findest du das so aufregend!“, schimpfte ich.

Er wirkte fast ein bisschen erschrocken, aber das war mir egal. Ich wollte die ganzen Details überhaupt nicht wissen,

„Aber das ist doch viel cooler, als es nur im Fernsehen zu sehen!“

„Aber das bedeutet, dass sich in Inaba jemand herumtreibt, der in der Lage ist, andere umzubringen! Das ist nicht aufregend oder cool!“

Erst wirkte er ein bisschen genervt, aber dann seufzte er leise und ging nur einige Schritte mit mir zusammen, ehe er leise meinte: „Entschuldige.“

Ich sah vorsichtig zu ihm rüber und merkte ihm an, dass er wirklich ein bisschen zerknirscht war. Das stimmte mich gleich ein kleines bisschen versöhnlicher.

„Ich hätte dran denken sollen, dass das für Mädchen vielleicht ein bisschen unheimlich ist.“

„Wieso, das hat doch damit wirklich nichts zu tun. Ich mag es ja auch, wenn es nur im Fernsehen passiert, aber so in der Realität…“

„Du benutzt ja ‚Boku‘“, stellte er fest.

„Ja… A-Amagi-san meinte gestern, das sei okay.

„Hmm… bisschen schräg, aber wenn du mich fragst, ganz cool.“

Wer ist hier ein bisschen schräg?!

„Magst du dann vielleicht auch einem Sportclub beitreten? Wir im Basketballteam könnten immer Unterstützung gebrauchen!“

„Du bist also im Basketballteam, Ootori-kun?“

„Huh? Ja. Einen Mangaclub gibt es an der Schule nicht. Und Literaturclub klingt irgendwie so… trocken.“

Für mich wäre da eher die Frage, ob ich mit meinem begrenzten Kanjiverständnis überhaupt mithalten könnte.

Ein paar Jungen mit unserer Schuluniform liefen ans uns vorbei und winkten Ootori zu, ehe sie einen Zahn zulegten. Vielleicht waren die ja aus anderen Sportclubs, die vor der Schule schon Training hatten.

„Was gibt es denn ansonsten noch für Clubs?“

„Hm… mal sehen… da ist der Shogiclub, der jetzt mit dem Chemieclub zusammengelegt wurde, weil beiden Mitglieder gefehlt haben...“

An was erinnerte mich das bloß…

„Dann gibt es Fußball, Basketball, Musik, Literatur…. Öh… mehr weiß ich gar nicht. Vielleicht gibts noch Hauswirtschaft.“

„Wen kann ich denn fragen?“

„Oh, die Klassensprecher haben alle eine Liste mit allen Clubs. Ich kann mit dir zusammen später fragen, wenn du möchtest.“

War er hilfsbereit, oder mochte er mich nur, weil ich eine Austauschschülerin war?

„Nett, dass du mir so beistehst“, murmelte ich zögerlich.

„Hm? Ach was!“

„Nein, das ist wirklich nicht selbstverständlich. Ich war zwar vorher erst einmal an einem Schüleraustausch beteiligt, aber da gab es auch niemanden, der uns herumgeführt hätte. Hm…“

Mir fiel zwar ein möglicher Grund ein, aber wie fragte ich das am besten, ohne ihm auf die Füße zu treten…. Ah!

„Hast du mit deiner Familie schon immer in Inaba gewohnt?“

„Nee, wir sind erst vor zwei Jahren hergezogen.“

Volltreffer.

„Mein Vater ist wohl hier aufgewachsen, und meine Schwester hat eine anfällige Lunge, deswegen haben meine Eltern entschieden, dass wir hierher zurück ziehen, ihrer Gesundheit zuliebe. Heutzutage ist es ja auch nicht mehr so schwer, mit Freunden von anderen Schulen im Kontakt zu bleiben.“

Die Art, wie er den Riemen seiner Tasche ein wenig fester umklammerte, verriet mir, dass die Ruhe in seiner Stimme nicht ganz seinen Gefühlen entsprach.

„Aber!“, wechselte er das Thema, „Das ist alles Schnee von gestern. Was ist mit dir? Wie geht‘s deiner Familie Zuhause damit, dass du nach Japan gekommen bist?“

Ugh. Über die wollte ich nun wirklich nicht reden. Das konnte er nicht wissen, deswegen wollte ich nicht zu harsch zu ihm sein, aber...

„Nicht für ungut, aber… darüber will ich nicht reden.“

„Oh, wirklich nicht? Vertraust du mir nicht?“

„Ootori-kun!“

Langsam machte er mich wirklich sauer. Es ging ihm doch bestimmt nicht mal um mich, es klang eher, als ob er sich eine spannende Geschichte erhoffte.

Scheinbar merkte er aber gleich, wo der Fehler lag und senkte den Kopf.

„Oh… t-tut mir Leid. Ich mache nur Probleme, oder?“

Dieser Junge war anstrengend.

„Ich geh schon mal vor“, verkündete ich jetzt, „Ich muss vor der Schule noch was mit Frau Sofue besprechen. Wir sehen uns in der Klasse, Ootori-kun!“

So, damit war das gegessen. Dieser Situation wollte ich mich nicht länger aussetzen. Wir waren außerdem schon in Sichtweite der Schule, es wirkte also nicht mal zu gekünstelt, wenn ich mich hier von ihm trennte.
 

„Hast du das mitbekommen? Ein Mord!“

„Wahnsinn, oder? In unserer Stadt!“

Mit einem leisen Seufzen ließ ich mich auf meinen Platz fallen, hängte meine Schultasche an meinen Tisch, lehnte mich auf meinen Platz und versuchte, nicht zu sehr zuzuhören.

Ich hatte wirklich keine Lust, zu hart über die Implikationen nachzudenken.

„Auf einer Antenne! Auf einer Fernsehantenne war sie aufgehängt! Stell dir mal vor, du willst deine Serie schauen, der Empfang ist schlecht, du gehst nachsehen wieso und findest eine Leiche! Und das auch noch von unserem Schulidol!“

Oh, shit. Stimmt ja. Yosuke… ich sank tiefer in meine Position. Der arme Kerl… aber so sehr ich es wollte, konnte ich überhaupt etwas für ihn tun? Ich hatte den Mord nicht mehr auf dem Schirm gehabt… hätte ich ihn vielleicht sogar verhindern können?

wem machen wir hier was vor. Natürlich hätten sie einem Ausländer, der auf einmal was von Mord faselt und viel zu viele Details weiß, keine Beachtung geschenkt. Schlimmstenfalls hätte es sogar Ärger gegeben.

Ja, rede dir das nur ein. Das macht die eigene Inaktivität erträglicher, oder?

Ich hatte außerdem immer noch nicht herausgefunden, ob diese Welt nun wie das Spiel war und Dinge wie vorgesehen passieren würden, oder ob sie real geworden war. Ob ich einen Unterschied machen konnte.

Ganz schön viel, wenn man darüber nachdachte.

Aber gegen Shadows zu kämpfen ist gefährlich. Du könntest dich dabei ernsthaft verletzen. Du willst das doch gar nicht. Du willst einfach nur mit wenig Aufwand Freundschaft mit Yosuke und den anderen schließen.

„Man“, knurrte ich leise, was aber zum Glück niemand um mich herum mitbekam, da die Klasse unruhig genug war.
 

„Liebe Schüler, bitte begebt euch jetzt zu euren Plätzen und haltet inne! Es ist Zeit für Japanisch, und zwar widmen wir uns heute einem besonders bedeutungsvollen Stück Nachkriegsliteratur. Das wird außerdem eine keineswegs geringe Rolle im Test spielen, wenn ihr also keinen Nachhilfeunterricht wollt, hört jetzt besser besonders gut zu!“

Es war klar, dass Frau Sofue das Thema ignorieren würde. Gab es dazu nicht später eine Schulkonferenz? In jedem Fall hatte sie Recht, dem Unterricht zu folgen würde mir gut tun. Mich jetzt auf etwas zu konzentrieren würde meine Gedanken hoffentlich von Blödsinn abhalten.

„Glaubt ihr, das war jemand aus der Schule? Hat sie nicht erst letzte Woche jemanden zurückgewiesen?“

„Jaa, aber das macht sie doch andauernd. Da wäre ja die halbe Schule auf der Liste der Verdächtigen.“

„Die halbe Schule ist aber auch Mädchen!“

„Ihr haben auch Mädchen die Liebe gestanden, hab ich gehört.“

„Angeblich war ihr Körper total zugerichtet, so richtig verdreht und ausgemergelt...“

Ich holte tief Luft. Es war normal, dass Teenager von sowas fasziniert waren… ich meine, hey, ich war ja schließlich jetzt auch wieder einer.

Trotzdem. Es war nicht hilfreich.

Einatmen, ausatmen…
 

Nein, es war hoffnungslos. Ich dachte die ganze Zeit wieder an den Mord zurück.

Du bist selber schuld. Du hattest einfach zu viel Spaß an deinen Ideen. Ist doch echt einfacher, mit jemandem Freundschaft zu knüpfen, wenn du vorher schon weißt, dass sie nette Leute sind, denen man vertrauen kann, oder? Der arme Yosuke.

Ugh.

Der arme Yosuke. Wer weiß, mit mehr Zeit hätte das Mädchen vielleicht seine Meinung über ihn geändert? Vielleicht wären sie zusammen gekommen oder sowas?

Du hättest den Mord verhindern können.

„Matsuda-san?“

„Hö? Was!“

Erschrocken blickte ich auf und sah, dass mich Frau Sofue aus der ersten Reihe besorgt ansah. Ein paar Leute aus der Klasse kicherten zwar, aber das war nur fair. Es sah wohl so aus, als wäre ich während des Unterrichts einfach eingeschlafen.

„Hast du vielleicht nicht genug Schlaf bekommen? Möchtest du ins Krankenzimmer gehen und dich ausruhen? Du bist ganz blass.“

„D-Das ist schon okay, Frau Sofue, ehrlich. Das Schuljahr hat gerade angefangen, ich kann nicht jetzt schon Unterricht verpassen. Ich bekomme das irgendwie in den Griff.“

Irgendwie.

„Oh! Eine gute Einstellung. Nun denn, würdest du uns dann freundlicherweise den Text auf Seite 43 vorlesen?“

Oh. Oh nein. So viele Kanji…

Aber ich konnte unmöglich vor der ganzen Klasse offenbaren, dass ich nicht mal das Leseverständnis eines durchschnittlichen japanischen Grundschülers hatte.

„Oh, äh, wenn Sie gestatten, ich lese auch gern vor!“, mischte sich auf einmal Ootori wieder ein.

Ein Glück.

Frau Sofue wirkte zwar ein wenig verwundert, aber sie sah wohl auch keinen Grund, abzulehnen.

„Nun gut, dann, bitte, Ootori-san.“
 

Endlich Mittagspause… der Drang, einfach eine Stunde auf meinem Tisch zu schlafen war zwar vergleichsweise absolut überwältigend, aber das konnte ich nicht machen. Ich musste ja nur irgendwie über den Tag kommen.

Also packte ich stattdessen das Bento aus, dass Frau Inui für mich gemacht hatte…. Oh mein Gott, waren das Okotopuswürstchen?

Die liebevoll angerichtete Box erinnerte sehr an eine Unterwasserlandschaft. Kleine Reisbällchen waren wie Fische geformt, einzelne Nori-Streifen sahen aus wie Seegras und ein paar gebratene Stücke Lachs rundeten das ganze ab. Aber woher wusste sie, dass ich Fisch mochte? War das Intuition?

„Oh, hübsches Bento!“

Ootori-kun.

„Danke, das hat meine Gastmutter für mich gemacht.“

„Oh, hast du aber Glück! Ich mach die immer selber.“

„Aber du hast gar kein Bento dabei.“

„Hehe…. Ja, heute habe ich eins gekauft. Gestern war einfach zu viel los.“

Zugegebenermaßen, Ootori war ein kleines bisschen nervig, aber mit ihm zusammen zu essen war gar nicht mal so schlecht.

Und zum Glück sah er auch davon ab, beim Essen noch mehr über Leichen zu reden… er war offenbar auch großer Wrestling-Fan, und auch, wenn ich davon nicht allzu viel verstand, tat es doch gut, ihm bei etwas zuzuhören, was ihm offenbar wichtig war.
 

Am Nachmittag war zwar noch eine längere Stunde Japanisch dran, aber das bot mir eine ganz gute Gelegenheit, meine Kanji zu wiederholen. Der Lehrer redete offenbar lieber über Samurai, also verpasste ich auch keinen Unterricht deswegen. Es war zum Glück etwas leichter, als ich es in Erinnerung hatte.
 

„Ähm… h-hallo, Austauschschülerin...“

Fast hätte ich sie gar nicht gehört, die zarte Stimme die auf einmal direkt hinter mir ertönte. Ich war gerade fertig damit geworden, meine Tasche zu packen, Ootori-kun zum Basketball-Club zu „verabschieden“ und hatte gerade den Klassenraum verlassen, als mein Herz angesichts der Realisation, dass jemand hinter mir war, einen Hüpfer machte.

Ich drehte mich um und… jap, das war sie. Ayane. Ich erinnere mich… Schließlich war ich in Persona 4 mit ihr zusammen gewesen. Komisches Gefühl, aber nun gut…

„Oh, äh, hallo… kennen wir uns?“

„W-Wir sind für das kommende Jahr Klassenkameradinnen, also…“

Oh Mist. Das war absolut ich.

Sie ließ sich davon aber gar nicht weiter beirren, sondern blickte kurz auf den Boden, ehe sie sich gefasst hatte und mir enthusiastisch entgegen warf: „Tritt doch bitte dem Musikclub bei!“

Für einen Moment war ich ein bisschen verdutzt, ehe ihr einzufallen schien, dass sie mir ja noch ein bisschen Hintergrund geben konnte.

„Ich habe nicht gelauscht, aber ich habe vorhin mitbekommen, dass du mit Ootori-kun darüber geredet hast, dass du vielleicht einem Club beitreten willst.“

„Oh, äh, ja, das stimmt. Ich weiß nur noch nicht, was es alles für Clubs gibt.“

„Der Musikclub ist komplett offen, auch für Leute, die noch kein Instrument spielen können! Es macht echt Spaß, die Leute sind nett und…. Und...“

Wir hatten fast gleichzeitig geredet, also lief sie jetzt rot an, als ob sie sich schämte, mich unterbrochen zu haben…. Obwohl es nicht mal Absicht war.

„Oh, e-entschuldige bitte, das war aufdringlich, oder?“

„Ist schon okay.“

Ich überlegte kurz.

„Welche Instrumente werden denn alles im Musikclub gebraucht?“

Ayanes Augen leuchteten sofort auf.

„Oh, alle möglichen Bläserinstrumente, da hast du wirklich freie Auswahl!
 

Das könnte eine schön Gelegenheit für mich bieten… ich wollte ohnehin schon immer ein Instrument lernen. Sein wir ehrlich; Ein Sportclub wäre für mich eh nicht das Richtige, und als ich selbst noch Persona 4 gespielt hab, hatte ich als Souji ja auch noch locker genug Zeit für alles andere, und für Ausflüge in die Fernsehwelt.

Es sollte also aus keiner Perspektive ein Problem darstellen. Und wer weiß, vielleicht war Souji in dieser Version von Inaba ja auch im Musikclub?

Ayane wurde neben mir schon ganz zappelig, also entschied ich, die Spannung aus der Luft zu nehmen.

„Ich… würde gern versuchen, ein Instrument zu erlernen.“

„W-Wirklich! Heißt das, du trittst dem Musikclub bei?“

„Einmal vorbeizuschauen kann ja nicht schaden-“

„Oh, klasse! Vielen, lieben Dank! Du wirst es bestimmt nicht bereuen!“

Ich glaube, sie hatte da etwas falsch verstanden… aber dann wiederum, ich hatte mich ja quasi ohnehin schon entschieden, mich dem Musikclub anzuschließen, also war das schon okay.
 

Ich verabschiedete mich von der enthusiastischen Ayane – die mir versicherte, sie würde mich einfach nach dem Unterricht mitnehmen, sobald der nächste Probetag für den Musikclub feststand – und überlegte. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass ich noch den gesamten Nachmittag zu meiner freien Verfügung hatte. Die Müdigkeit war einigermaßen verflogen, und ich wusste ja selbst, dass jetzt zurückzugehen und sich hinzulegen auch nicht dazu beitragen würde, dass ich heute Abend besser schlafen konnte. Also war es besser ich hielt mich irgendwie beschäftigt. Hm… ah, richtig, die Innenstadt von Inaba! Die könnte ich mir ja anschauen. Am besten alleine. Ich meine, es wäre zwar nett, jemand vertrauten dabei zu haben, aber im Moment gerade wusste ich weder, wo alle ihre Zeit verbrachten, noch wollte ich zu anhänglich wirken. Da kam mir das Zeichnen einer gedanklichen Karte gerade recht!
 

Meine Tasche war auch nicht besonders schwer. Hm… wo könnte ich als erstes hingehen… Rise würde ich im Tofugeschäft nicht antreffen, aber ich könnte trotzdem welchen fürs Abendbrot einkaufen… oh, und das Textilgeschäft! Vielleicht könnte ich ja Kanji treffen. Das wäre schon ziemlich klasse. Zwar war Prä-Persona-Kanji vielleicht ein bisschen einschüchternd, aber ich wusste ja, dass er mir nichts tun würde… vielleicht könnte ich das überwinden. Also, dann mal los!
 

Je länger ich durch die Innenstadt streifte, desto deprimierender wurden die vielen geschlossenen Geschäfte für mich.

So praktisch ein Geschäft wie Junes war, es nahm den Leuten das Bedürfnis, nochmal in die Innenstadt zu gehen, wenn sie doch dort auch schon alles bekommen konnten, was das Herz begehrte. Bei mir in der Vorstadt war es ja ähnlich gewesen. Und so ein Innenstadtbummel ist wirklich schöner als ein Einkaufszentrum.

„Oh, na so was! Bist du eine Austauschschülerin aus der Gegend?“

Ich hob meinen Kopf, da mich mittlerweile so viele Leute mit diesem Wort angesprochen hatten, dass es sich fast schon wie ein richtiger Name anfühlte.

Eine freundliche Dame stand im Eingang zu einem Geschäft und blickte zu mir. Ah, das war doch ein Buchladen, oder?

Ich blieb kurz unbeholfen stehen, ehe ich langsam zu ihr rüber ging.

„Ich… mag Innenstadtbummeln“, erklärte ich vorsichtig und erntete mir sofort ein enthusiastisches, zustimmendes Nicken von der Dame. Sie hatte ihre Haare zu einem Knoten hochgesteckt, der lustig mitwippte.

„So muss das sein! Die jungen Leute aus Deutschland haben eben noch einen Sinn für Tradition.“

Hatte das jetzt schon die Runde gemacht, wo ich herkam?

Eine blonde Haarsträhne, die mir wieder ins Blickfeld fiel, wies mich auf eine andere, wesentliche direktere Möglichkeit hin.

„Wenn du möchtest, kannst du dir ein Buch aussuchen und mitnehmen. Nur zu!“

Das war aber ein sehr freundliches und zuvorkommendes Angebot der Händlerin.

„Ich…. Ich fürchte, ich kann das nicht annehmen“, nuschelte ich leise.

„Hm… wenn nicht, dann nimm doch wenigstens ein Shounen Jump von der letzten Woche mit! Ich war eh gerade dabei, die alten zurückzuschicken, und das hier mag rein zufällig nicht mehr in den Karton passen.“

Na, da sagte ich nicht nein. 2011 lief doch bestimmt auch Hunter X Hunter noch aktiv, oder? Oh, der Anime hatte ja auch in diesem Jahr angefangen!

Ich nahm das Mangaheft im Telefonbuchformat schüchtern an mich, ehe ich dann aber doch aus Obligation ein bisschen durch das Geschäft streifte. Schließlich gab es hier bestimmt- bingo! Ein Buch über Kanji! Ich musste jetzt echt ein bisschen klotzen, um mit den anderen in der Schule mithalten zu können, da kam das Shounen-Jump, das alle seine Kanji in wesentlich leichter zu lesende Hiragana übersetzte zusammen mit einem richtigen Buch darüber sehr gelegen.

„Das hier bitte!“, bat ich sie und zückte meine Geldbörse.

Oh... So langsam wurde es aber wirklich Zeit für mich, mir eine Verdienstquelle zu suchen. Damit war es entschieden! Ich könnte einfach Yosuke das nächste Mal, das ich ihn sehe, fragen. Zwei Fliegen mit einer Klappe.

Dann hätte ich auch ein bisschen Geld, mir Originalsouvenirs aus Inaba mitzunehmen…

Oh.

Für einen Moment wurden meine Gedanken komplett entgleist. Konnte ich überhaupt irgendwas davon mit Nachhause nehmen? Oder war das wie einer dieser Träume, in denen ich etwas bekam, was ich schon immer wollte, nur um aufzuwachen und vergeblich danach zu suchen?

Aber die Frage würde ich mir sowieso nicht beantworten können. Für den Moment war das hier meine Realität, und etwas anderes zu denken würde mir bestimmt nicht helfen. Also blätterte ich kurz durch das Jump, um meine Gedanken auf etwas anderes umzuschwenken.

Ah hier, die Kanji für… Fischereiministerium. Das würde mir bestimmt irgendwann nützen.
 

Ich bedankte mich nochmals bei der Händlerin, ehe ich den Laden verließ, um mir auf der Hauptstraße wieder einen Überblick zu machen. Ich hatte entschieden – ich wollte das Textilgeschäft sehen und vielleicht Kanji treffen.

Die Wegbeschreibung, die ich mir vorsorglich von der Händlerin hatte geben lassen, wies ebenfalls darauf hin, dass es nicht weit sein sollte.

Aber wie sollte ich ihn ansprechen? Ich meine, vielleicht würde sich ja eine Gelegenheit ergeben, aber gleichzeitig war mir bewusst, dass diese Version von Kanji noch sehr in der Defensive war.

Na ja, ein Versuch würde schon nicht schaden.
 

Im Textilgeschäft angekommen fiel mir erst ein, dass ich eigentlich gar keinen Anlass hatte, hier Geld auszugeben. Ich konnte nicht nähen. Obwohl… das kommt irgendwann auch mal im Haushaltsunterricht, oder? Bringt man dafür selbstgekauften Stoff mit?

Aaargh, selbst, wenn nicht, ich suchte mir jetzt einfach ein Muster aus.

Boah, dieser Rock nervte mich… vielleicht konnte ich ja einfach die Bluse mit einer Hose kombinieren? Nicht, dass die Kleidervorschriften an dieser Schule jemals besonders strickt schienen…

„Ah, hallo! Bist du hier für den Haushaltsunterricht?“, fragte mich auf einmal eine freundliche Frauenstimme.

Ich blickte auf und sah sie, eine ältere Dame, vielleicht Ende 40. Ah, das war bestimmt Kanjis Mutter!

„Äh, ja, sozusagen. Aber der Unterricht findet noch nicht statt. Ich… gucke also erstmal nur, könnte man sagen.“

Sie nickte verständnisvoll.

„Hey, bin Zuhause!“, ertönte auf einmal eine tiefe Männerstimme.

Ich drehte ihn um, und da sah ich ihn; den Blondschopf.

Kanji Tatsumi, Original und in Farbe.

„Oh, äh, hey Kan- T-Tatsumi-kun.“

Er sah mich irritiert an.

„Hä? Wer bist du?“

„Kanji! Sei nicht so grob zu unserer Kundschaft!“

„Oh, äh… sorry. Ich, äh… habe über dich gefragt, weil, äh, ich dachte, es gäbe vielleicht noch andere Austauschschüler an der Schule.“

Blanke Lüge, aber er schien es zu glauben. Auch wenn sein Blick regelrecht durchdringend war.

„Wie heißt du?“

„Ah, Matsuda ist okay, sogar meine Lehrerin nennt mich mittlerweile so.

Er starrte kurz auf mich, aber dann wandte er den Blick ab.

„Ich hoffe, du kommst mit der Schule klar.“

Und mit diesen Worten verschwand er im Geschäft, wahrscheinlich auf sein Zimmer.
 

„Oh, da bist du ja wieder!“, begrüßte mich Frau Shinui fröhlich, „Du hast dir ja Zeit mit dem Heimweg gelassen. Wie tapfer! Und, konntest du Inaba etwas kennenlernen?“

„Ja, hab mir die Innenstadt angeschaut. Eine sehr schöne Gegend.“

„Ja, nicht wahr? Ich hab vorhin Frau Tatsumi beim Einkaufen getroffen, sie hat dein Japanisch sehr gelobt.“

Es wusste also echt schon jede letzte Person im ganzen Ort über mich Bescheid?

„Hier, komm mal eben zu mir! Magst du mir beim Kochen helfen? Du kannst auch was davon morgen in dein Bento geben! Glaub mir, so ein gehaltvoller Kartoffelsalat zu Mittag ist genau das richtige, um den Nachmittag zu überstehen, ohne müde zu werden! Wärst du so lieb, die Kartoffeln zu schälen?“

Solange sie einen Schäler da hatte… es zählte jetzt nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, aber ich wollte ihr gegenüber nicht undankbar erscheinen. Außerdem hatte ich von Sushi abgesehen noch nie authentisch Japanisch gekocht. Es war also definitiv mal was Neues. Davon konnte ich also in jedem Fall was mit Nachhause nehmen!

„Ah, und trenne bitte das Ei für die Tamagoyaki schon mal nach Eigelb und Eiweiß, bitte! Oh, das machst du aber geschickt!
 

Nach dem Abendessen und dem Schon-Mal-abpacken von meinem Bento für morgen ging ich wieder in mein Zimmer und blätterte in Ruhe in dem Shounen-Jump. Es stellte sich als besonders gute Lernerfahrung raus. Die Sprache verstand ich jetzt ja, in der Ausgabe die ich hatte war zwar leider kein Hunter x Hunter drin, aber wenigstens SKET Dance, Kuroko und Bleach, auch wenn ich mir von Letzterem nur die Bilder anschaute.

Das stellte Korosensei ja fast schon als Paradox dar.

Ein Blick auf die Uhr verriet allerdings, dass ich mich langsam schon 23 Uhr annäherte. Oh, eigentlich wollte ich so lange nicht wach bleiben.

Aber vorher… es war doch auf jeden Fall eine Folge Steins;Gate noch drinnen!
 

Hah… einen Anime ohne Untertitel schauen zu können hatte schon was. Vielleicht könnte ich ja wenigstens meine magischen Japanisch-Kenntnisse hinterher mit Nachhause nehmen.

Ich legte mich aufs Bett, in der Hoffnung, mithilfe von Berieselung durch den Fernseher besser schlafen zu können, aber es half nicht wirklich. Ich döste nur so halb weg, bis…

bis…

Wann hatte es angefangen zu regnen?

Eigentlich half mir das immer beim Schlafen, aber heute wirkte das gar nicht. Nicht mal richtig müde wurde ich… wo war die ganze Schläfrigkeit von heute geblieben, jetzt, wo ich sie hätte gebrauchen können?

Ah… aber so war es ja immer. Egal. Ich musste es versuchen.

Also stand ich vom Bett auf, machte den Fernseher wieder aus und versuchte es einfach nochmal.

Ein Blick auf mein Nokia verriet; 5 Minuten noch bis Mitternacht. Ach Mensch…
 

Ein lautes Knacken gefolgt von einem Störgeräusch riss mich aus meinem leichten Halbschlaf, den ich erreicht hatte und ich brauchte einen Moment, ehe ich meine Brille gefunden hatte und sehen konnte, wo es herkam.

Der Fernseher! War der etwa von alleine angegangen?

Ah! Es regnete… und es war Mitternacht… Der Midnight Channel! Natürlich!

Ich sprang auf dem Bett und stand sofort vor dem Fernseher.

Rette sie...

Wen retten? Es war noch zu früh, für etwas, was im Spiel passieren könnte…. Aber halt, das hier war ja jetzt kein Spiel mehr.

Es war Realität.

Rette sie...

Wen denn?

Vorsichtig streckte ich meine Hand nach dem Bildschirm aus, ehe ich sie zurückzog.

Würde ich in der TV-Welt landen, wenn ich den Bildschirm berührte. War das ein Portal?

Ich starrte auf den Bildschirm, und- ich bildete mir das nicht ein?

Das… das war Yosuke, wie er sich die Ohren zuhielt! Und jetzt änderte es sich weiter, zu Chie. Zu Yukiko. Und schließlich zu Kanji.

Entweder wurden meine Augen wässrig, weil ich auf diesen komischen Bildschirm starrte, aber vielleicht war es auch etwas anderes… aber mehr konnte ich nicht erkennen.

würde mich der Bildschirm vielleicht zum Velvet Room bringen? Vielleicht mit ein paar mehr Antworten? Aber auf die würden wahrscheinlich auch nur noch mehr Fragen öffnen… das war eben Igor.

Aber es gab nur einen Weg das herauszufinden. Wer weiß, vielleicht machte ich mir auch einfach nur zu viele Gedanken, und den Bildschirm zu berühren würde gar nichts bewirken. Oder maximal einen kleinen statischen Schock abbekommen.

Also steckte ich langsam und zögerlich erst meine Finger, dann schließlich meine ganze Hand in den Bildschirm. Es kribbelte warm, es war aufregend!

Bis zu dem Moment, den ich meine Hand wieder herausziehen wollte.

Sie steckte fest, oder eher, jemand hielt sie.

„Argh, was zum- h-hilfe!“

Fast flüsterte ich diese Worte, um niemanden zu wecken, aber es war ja auch nicht so, als könnte Frau Shinui was hiergegen tun

Ich war vollkommen machtlos. Ich hielt mich fest, am Bett, am Schrank, aber es war umsonst. Etwas zog mich hinein, langsam, aber stetig. So langsam kamen mir die Tränen. Souji konnte doch beim ersten Mal auch seine Hand noch zurückziehen.

Und dann war es zu spät. Ich wurde mit einem festen Ruck hineingezogen und gerade noch geistesgegenwärtig den Kopf einziehen, um nicht am Fernseher anzustoßen..

Unbearable Fangirl

Um mich herum drehte sich alles. Es fühlte sich an wie ein extrem schwerer Fall von Schwindel – das hatte ich zwar auch schon mal, aber nie in dieser Intensität. War ich vielleicht vor dem Fernseher eingeschlafen?

Ein schmerzhafter Aufprall allerdings brachte mich von diesem Gedanken schnell wieder ab. Ich hatte das große Glück, nicht mit dem Gesicht zu landen, aber mit den Knien war auch nicht unbedingt besser.

Für einen Moment blieb ich komplett regungslos liegen, aber schnell beschlich mich das Gefühl, dass das nicht die beste Entscheidung war – der Boden war kalt und hart, so ein bisschen wie der sterile und abgenutzte Boden von Turnhallen. Ich richtete mich langsam auf, als mir so langsam wieder in den Sinn kam, was passiert sein könnte – war ich wirklich in der Fernsehwelt gelandet?

Langsam sah ich mich um, während ich die Arme dicht an meinem Körper hielt. Allerdings war im Moment nur Nebel zu sehen.

Nebel...

So langsam bekam ich ein bisschen Kopfschmerzen, ehe mir schlagartig wieder einfiel, was der Nebel zu bedeuten hatte. Wenn sich der Regen in der echten Welt lichtet, lichtet sich der Nebel hier und gibt allen Monstern den Blick auf jedes traurige Opfer frei, das sich hierhin verirrte. Oder besser, von einer gewissen Person hier reingeworfen wurde. Ich schüttelte den Kopf. Das alles war jetzt egal. Ich musste hier erstmal raus.
 

Um mich herum war weit und breit nur Nebel zu erkennen. Keine Wände halfen mir bei der Orientierung, keine Wege am Boden stellten sicher, dass ich gerade und in die gleiche Richtung weiterlief. Aber ich durfte mich jetzt nicht in meinen Gedanken verlieren. Ich musste einfach nur weiterlaufen. Vorankommen. Irgendeinen Orientierungspunkt würde ich bestimmt finden. Oder vielleicht war das ja alles nur ein Traum, dann würde ich eh irgendwann aufwachen. Allerdings fühlte es sich nicht so an...
 

Nur wenige Schritte später blieb mir das erste Mal mein Herz fast stehen – ich blickte direkt von dem Gipfel eines spitzen Hügels herab. Gerade noch so konnte ich mich beruhigen, ehe ich meine Balance verlieren und von diesem Gipfel stürzen konnte. Meine Knie fühlten sich so weich an, als hätten sich die Knochen darin gerade verflüssigt.

Ich hätte hier herunterfallen können. Das hätte sicher enorm weh getan. Vielleicht hätte ich mich auch am Fuß verletzt, und danach nicht mehr laufen können. Gerade so bin ich dem entgangen.
 

Langsam richtete ich mich wieder auf, um diese Gedanken abzuschütteln – ehe ich feststellte, dass ich ganz und gar nicht mehr auf einer Hügelspitze war. Der Nebel machte es immer noch nicht leichter, Dinge zu sehen, aber ich konnte immerhin meine Umgebung ein wenig erfassen.

Tatsächlich befand ich mich gerade in einer Art Gang, mit fast schon sterilen und ausgesprochen langweilig aussehenden cremefarbenen Wänden, an denen vereinzelt alte Kaugummis geklebt waren. Es gab sogar Fenster, auch wenn es unmöglich war, aus diesen rauszublicken, da sie von außen mit Vorhängen bedeckt waren. Aber wenigstens boten sie mir eine leichte Orientierung – bis ich schließlich an eine Treppe kam. Das machte doch Sinn, oder? Wenn ich irgendwo heruntergestürzt bin, dann würde mich eine Treppe doch wieder nach oben führen. Allerdings merkte ich gleich beim ersten Schritt darauf, dass die Treppe unfassbar rutschig war. Ein Schild an der Seite verriet das auch: "Gefährliche Treppe – vorsicht vor Fußverletzungen!"

Aber egal, wie gefährlich diese Treppe angeblich war – wenn ich sie nicht erklomm, dann würde sich der Nebel lichten. Es war ironisch. Je dichter der Nebel um mich herum schien, desto leichter schien es mir, meine Gedanken einigermaßen klar zu halten. Mit langsamen Schritten würde ich die Treppe schon meistern, auch wenn es kein Gelände zum Festhalten an der Seite gab.

Links, rechts, links, rechts – Stufe für Stufe. Eigentlich würde ich so eine Treppe mit ihren vielleicht 30 Stufen sofort hochspringen, aber in diesem Fall brauchte ich fast 10 Minuten.

Aber die Sicherheit war wichtig.

Wenn ich mich jetzt verletzte, war vielleicht alles vorbei.
 

Am Ende der Treppen angekommen erstreckte sich vor mir ein genauso langer Gang – schlimmer allerdings, denn dieser bot diverse Verwinklungen und Abzweigungen, um sich darin zu verlaufen. Es gab so viele mögliche Wege. Die Poster an den Wänden halfen mir auch nicht weiter bei der Orientierung – "Abschlussball beginnt bald!" "Hast du dir schon überlegt, wie es weitergehen soll?" "Ein gutes Auftreten, ein guter Job, ein gutes Leben – für mehr Infos Raum K 108".

War das hier eine Oberstufe? Es sah jedenfalls nicht aus wie die Highschool von Inaba, aber auch nicht im Ansatz wie eine andere der Schulen, die ich je besucht hatte.

Langsam blieb ich stehen und sah mich um. Ein bisschen überwältigend waren die vielen Gänge ja schon – damn, warum konnte nicht eines dieser Poster wenigstens einen versteckten Hinweis enthalten? Oder einen Pfeil oder sowas? Woher sollte ich wissen, wie ich hier rauskommen könnte?

...

Okay... ganz ruhig. Wer sagt denn, dass es nur einen Weg zum nächsten Stockwerk gibt. Außerdem konnte ich mich gut an das Layout der Dungeons der anderen erinnern – da gab es zwar Verwinklungen, aber es war immer genug Zeit, den richtigen Weg zu finden, solange man nicht stehen blieb und sich von Shadows fangen l- AAAAH!

Shadows! Es war mir gar nicht aufgefallen, aber aus den dunklen Gängen funkelten mir unschätzbar viele glühende Augenpaare entgegen. War es schon so spät!?

...

Aber nein, noch war es hier neblig. Und... war ich... vielleicht...

es traf mich ganz plötzlich, wie ein Blitz.

Bin ich vielleicht in meinem eigenen Herzen? Zwar ruhten die Augen der Shadows auf mir, und so sehr das meine Nerven annagte – noch hatte mich keiner von ihnen anzugreifen versucht. Ich schluckte im Angesicht der Gefahr, aber ich musste es logisch angehen – sie könnten mich problemlos überwältigen, wenn sie es nur wollten. Dass sie das bisher nicht getan hatten, konnte nur bedeuten, dass sie es auch weiter nicht tun würden – zumindest fürs Erste. Ich konnte mir nicht unendlich viel Zeit lassen, aber ich konnte mich in ihre Nähe begeben.

Ich atmete noch einmal tief ein, ehe ich mich daran machte, den ersten Gang zu erkunden.
 

Die Gänge wirkten zwar auf den ersten Blick sehr unübersichtlich, und ich hatte an Erkunden ggedacht, allerdings war die Struktur relativ schnell nachzuvollziehen; Drei Abzweigungen, von denen nur zwei in eine Sackgasse mündeten. Und die waren an den verschiedenen Postern auch immer recht einfach zu identifizieren – die mit den Postern angedeuteten Gänge waren immer Sackgassen. Ich schaute zwar jedes Mal nach, um wirklich sicher zu gehen, aber ich hörte auf, mich nach Schaltern oder ähnlichen Hebeln umzusehen. Ich kam tatsächlich in so etwas wie einen Ryhthmus rein. Mein Knie hatte lange aufgehört zu schmerzen, und ich gewöhnte mich sogar langsam daran, dass ich beobachtet wurde. Gelegentlich zuckte ich zwar ein wenig zusammen, wenn ich wieder das Funkeln eines Shadow-Augenpaares nur aus dem Augenwinkel wahrnehmen konnte, aber ich hatte weitestgehend aufgehört, sie als Gefahr zu empfinden.
 

Im Laufe der nächsten halben Stunde fand ich noch zwei weitere "gefährliche Treppen, aber jede war leichter zu passieren als die davor, und noch dazu kürzer. Zwar sah ich nach und nach mehr Shadows, allerdings auch enger werdende Gänge. Das gab mir ein Gefühl von Fortschritt – ich näherte mich sicherlich dem Ende des Dungeons. Das machte ja fast Spaß! Vielleicht war es ja wirklich nur ein Traum. Und vielleicht würde ich ja jemanden treffen? Vielleicht wartete ja am Ende Yosuke auf mich, oder vielleicht Naoto, haha.
 

"Hey, was glaubst du eigentlich, wer du bist, hier so rumzuschleichen? Das ist kein Palast!"
 

Für einen Moment dachte ich, die Stimme käme von einem Bildschirm. Sie hörte sich verzerrt an, und nicht wie ein Mensch – was Sinn ergab, wenn ich, wie vermutet, in der Fernsehwelt gelandet war. Ich sah mich um, aber von meinem eigenen Spiegelbild mal abgesehen war da nichts weiter. Dafür stellte ich fest, dass ich wohl bis in die Tiefen des Dungeons vorgedrungen war – und das überraschend widerstandslos.
 

"Glaubst du, wenn du mich weiter ignorierst verschwinde ich einfach?"
 

Ich schaute mich weiter um, auch wenn sich keine weitere Treppe finden ließ. Aber gleichzeitig war ich sicher, dass ich den richtigen Weg genommen hatte. Diese Gewissheit war auf der einen Seite beruhigend, aber auf der anderen Seite bedeutete das, dass ich hier einen anderen Ausweg finden musste. Es musste also ein Rätsel sein... und ich durfte mich nicht überwältigen lassen. Das hier war die Fernsehwelt. Ganz bestimmt. Jetzt war ich mir sicher. Die Frage war nur...
 

"Ich bin immer noch da! Und an deiner Stelle würde ich nicht so viel Zeit verschwenden... schließlich weißt du, was passiert, wenn es in Inaba zu regnen aufhört. Mir wäre das ja egal, aber... ich bin schließlich du."
 

Dieser Satz war es. Dieser Satz, der mit einem Schlag einen ganzen Turm an Ideen zum Einsturz brachte, mir den Boden unter den Füßen wegriss und jede Illusion (und Hoffnung), dass das hier nur ein harmloser, leicht aufregender Traum war und mir mit metaphorischem Scheppern klar machte, wo ich hier war, und was passiert sein musste:
 

Ich war in meinem eigenen Dungeon. Die Stimme, die ich seit Tagen immer wieder wahrnehmen, aber nicht hören konnte, so als würde sie aus meinem Inneren kommen... das war mein Shadow. Das heißt... jetzt kam der Teil, an dem ich nur meinen Shadow konfrontieren und meine Schwächen akzeptieren müsste-
 

"Das ist genauso wie im Spiel, das ist ja einfach und total sicher. Und wenn es nicht klappt, dann versuchen wir es halt nochmal, nicht wahr? Du hast das alles raus?"
 

Ich starrte nur schräg an meinem Shadow vorbei, während ich ihm zuhörte – und gab dabei alles, was ich hatte, ruhig zu bleiben. Ich konnte das schaffen. Ich hatte schon ganz anderen Provokationen widerstanden, und das hier war nichts anderes.
 

"Du hast doch schon gemerkt, dass das hier was ganz anderes ist, oder? Die Shadows haben dich vielleicht nicht angegriffen, aber du hast gemerkt, wie sie die ganze Zeit da waren. Dich nicht aus den Augen gelassen haben. Niemand sagt, dass sie sich nicht nach einem einfachen Husten auf dich gestürzt hätten."
 

Atmen. Auf gar keinen Fall nachgeben... auch wenn mir natürlich vollkommen bewusst war, dass mein Shadow vollkommen recht hatte.
 

"Ha! Ich spüre doch, dass du genau weißt, was Sache ist."
 

Du darfst nicht nachgeben. Du machst das gut, Shouko. Egal was du machst, gib nicht nach.
 

"Du gehörst nicht hier her. Du bist ein gewöhnlicher Mensch, du hast keine Persona. Du kannst dich ja nicht mal selber verteidigen."
 

Meine zur Faust geballten Hand begann, zu zittern. Und auch wenn ich alles gab, konnte ich am herablassenden und zugleich genießerischen Gesichtsausdruck meines Shadows ganz genau erkennen, dass ich vor ihm nichts verbergen konnte. Er wusste, dass er mich dranbekam. Aber ich hatte es bis hier her auch geschafft. Ich konnte das.
 

Gib nicht auf! Du machst das sehr gut! Hier kannst du alles das zeigen, was du über die Jahre gelernt hast!
 

"Ah und wo wir schon beim Thema sind... du denkst wohl, wenn du eine Persona hättest, dann könntest du was ausrichten. Oder sogar die Geschichte verändern, was? Ha! Als ob du das überhaupt wolltest. Dir wäre doch eine Fahrt mit der Draisine am liebsten. Oder mit der Bummelbahn? Auf einer Schiene, gerade, minimale Gefahr und unterwegs springen auch noch deine Freunde aus dem Spiel mit rein. Ha, niedlich. Und widerlich. Ich weiß was du denkst, ich bin du. Vor mir kannst du nichts verbergen. Egal, wie sehr du es versuchen willst."
 

Ich holte tief Luft, aber langsam konnte ich mein Herz nicht mehr ruhig halten. Wut. Verzweiflung. Angst. Noch war alles okay, aber es war wie ein Donnergrollen, das von der Ankunft eines Gewitters berichtete.
 

Ich konnte die Emotionen, die wüten wollten am Horizont sehen. Und ich tat mein Bestes, mein kleines Häuschen zu schützen.
 

"Wenn ich nur eine Persona hätte, dann könnte ich den anderen helfen, sie im Kampf unterstützen. Und mit ihnen zusammen den Mörder finden.", imitierte er meine Stimme auf eine wirklich nervige und spöttische Art.

"Ha. Du findest ja nicht mal dein Herz, weil du zu beschäftigt bist, es zu verstecken. Träum weiter. Wie willst du die Wahrheit über diesen Fall finden, wenn du nicht mal deine eigene Wahrheit findest? Geschweige denn es überhaupt versuchst?"
 

Ich weiß, es war nicht das Richtige. Ich weiß, ich würde mich damit nur tiefer in die Probleme reiten. Aber ich hielt es langsam nicht mehr aus.
 

"Was weißt du schon", versuchte ich, mit meinem Shadow zu argumentieren, "Du bist nur meine Angst und alle meine negativen Emotionen in eins gerollt. Ich weiß, dass du immer da bist. Aber du hast lange nicht immer Recht. Schließlich hab ich schon einiges geschafft-"
 

"Süß, wie du versuchst, mit dem Teil von dir zu argumentieren, den du immer in den dunklen Schrank einsperrst. Aber es wird dir nichts bringen. Unsere Gefühle sind dir gleich – genauso wie die Gefühle von allen anderen, mal so am Rande."
 

Ich konnte das Donnergrollen hören.
 

Gib nicht auf! Du hast es fast geschafft! Du weißt, dass du Recht hast!
 

"Du bist doch nichts weiter als ein Fangirl. Du bist aufgeregt, dass du deine allerbesten Lieblingsfreunde auf einmal in Echt treffen kannst. Du willst dich doch nur an sie dranhängen. Und das weißt du."
 

Ich schluckter. Aber ich hatte dem nicht wirklich was entgegenzusetzen. Aber... das war doch nicht alles, was an dieser Situation dran war!
 

"Du willst, dass sie dich mögen, dir bestätigen, dass ihr die besten Freunde wärt. Du willst dir einbilden, dass Yosuke dich mögen würde. Heh. Dir ist egal, wer von ihnen leiden muss. Ich meine, nehmen wir doch mal Ootori. Wir wissen beide, dass das auch nur ein kleiner Fanboy ist, der sich freut, mal mit einem Ausländer reden zu können. Der passt viel besser zu dir."
 

"Ootori... ist nett zu mir. Er zeigt mir Sympathie. Er... ist nicht immer der beste im Kommunizieren, aber hey, das bin ich auch nicht. Es ist okay, ihm zu sagen, wann er zu weit geht, aber-"
 

"Bullshit!", donnert mir mein Shadow entgegen, was meine Gedanken komplett durcheinander wirft.
 

"Du bist nett zu ihm, weil du als nett wahrgenommen werden willst. Dabei ist er so nervig!"
 

Stop.
 

"Er ist total langweilig. Er hat ne langweilige Frisur, langweilige Hobbies."
 

Hör auf, hör auf!
 

"Ich meine, er kommt ja nicht mal im Spiel vor. Er ist einfach nur ein anderer NPC ohne Gesicht."
 

"..hör auf damit", hörte ich mich sagen.
 

"Unwichtige Leute werden alles sein, was dir hier bleibt."
 

Mein gottverdammter Shadow liebte es wirklich, mich zu quälen. Es war sinnlos. Ich konnte meine Zweifel nicht verstecken, aber... ich weiß... er muss doch auch wissen, dass die ganze Situation kein Schwarz-und-Weiß-Ding ist. Nein. Das wusste er auf jeden Fall. Das ließ nur einen Schluss zu.
 

"Unwichtig!", schrie mein Shadow.
 

Gib nicht auf! Du hast so lange durchgehalten! Du hast es fast geschafft! Gib deinem Shadow nicht nach!
 

"Aber das passt doch, seine Präsenz in dieser Welt wird genauso bedeutungslos sein wie deine."
 

"H-Hör endlich auf!", schrie ich meinem Shadow jetzt entgegen. Das stimmte doch gar nicht! Vielleicht... hatte ich mich ja getäuscht. Vielleicht war das nicht mein Shadow. Denn sowas... habe ich doch nie gedacht.
 

"Hmm? Willst du damit etwa behaupten, wir würden das nicht fühlen?"
 

"Hör auf... mit dem wir. Ich kann das Gelaber nicht mehr hören."
 

Tu es nicht!
 

Aber ich konnte es nicht mehr aufhalten.
 

"Ich bin ich, du bist du! Du bist nur ein bösartiges, dunkles Etwas, das mich zur Weißglut bringen will!"
 

Ich holte tief Luft.
 

"Du bist nicht ICH!"
 

In diesem Moment war es, als verpuffte meine ganze angestaute Wut augenblicklich, und ich realisierte, was ich getan hatte. In dem Moment, wie ich es am liebsten wieder zurücknehmen wollte, war es zu spät.
 

Augenblicklich, als hätte er nur darauf gewartet, strömten dunkle Wolken, wie Gewitter aus den Armen meines Shadows, und schlossen ihn tief in sich ein. Erst streckte ich intuitiv meinen Arm aus, so als wollte ich ihn aus den Wolken ziehen, konnte dann aber gerade noch rechtzeitig zurückspringen, unmittelbar bevor ein Blitz vor mir am Boden einschlug. Ich sah mich kurzerhand um, und hoffte irgendetwas finden zu könne, was ich vielleicht als Waffe würde verwenden können, aber leider gab es nicht mal einen Stuhl.
 

Ich versuchte, unter dem Donnergrollen nach der Stimme zu hören, die vorhin noch da war, aber die hatte mich wohl auch verlassen.
 

Aber wie das so war, wenn die Angst zu schlimm wurde – mein Kopf wurde von Sekunde zu Sekunde klarer. Es war, als ob mein Shadow die Gewitterwolken direkt von mir genommen hätte.

Ich bewegte mich langsam rückwärts, und ließ den Wolkenturm nicht einen Moment aus dem Blick. Es ging ums Überleben. Und wenn es wirklich, wirklich darauf ankam – dann konnte ich handeln.
 

"ES IST ZU NICHTS NUTZE GEWESEN."
 

Langsam wichen die Wolken von dem Körper der sich neu formenden Gestalt, und begannen stattdessen, sich dort zu sammeln, wo sich ansonsten die Decke befinden würde.
 

Das Erste, was ich sehen konnte, war das grimmige Gesicht eines Tigers, auf dessen Kopf eine Krone thronte. Lange, säbelartige Fangzähne die mindestens so lang wie mein kompletter Arm waren ließen mir zwar einen Schauer den Rücken runterlaufen, aber an dem Punkt wäre ein echter Tiger bestimmt gefährlicher. Denn der würde sich nicht von einer Persona beeindrucken lassen.
 

Die Wolken wichen weiter, während ich mich langsam rückwärts bewegte, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Langsam trat der Tiger aus den Wolken hervor. Mit ihm schlich ein schweres Gewand, wie das eines Gelehrten mit sich, aber darin gehüllt befand sich entgegen meiner ersten Annahme kein Körper, sondern blanke Dunkelheit. Von seinen Armen baumelten Ketten mit Knochen, menschlichen und tierischen. Seine Pranken waren durch die langen Ärmel des Gewandes nicht gut zu erkennen, dafür aber die langen Krallen, die sich nicht darin verstecken konnten. Und da die Krone auf seinem Haupt im Licht golden schimmerte, fiel mir auch diese auf – beziehungsweise das Blut an deren vielen, vielen Zacken.
 

"WIR HABEN ES IM GUTEN VERSUCHT!", dröhnte die mächtige Stimme des Shadows, "ABER ES GIBT KEINE HOFFNUNG. KEIN LICHT. UND WENN ES KEIN LICHT MEHR GIBT, GIBT ES AUCH KEIN NEUES LEBEN UND KEINE NEUEN CHANCEN. DANN BRINGEN WIR ES HIER UND JETZT ZUENDE!"
 

Gut. Gut. Auch im Angesicht der größten Herausforderung gibst du nicht auf.
 

Da war sie wieder, die warme Stimme von vorhin. Der Shadow richtete erneut seine Pranke auf mich, woraufhin Blitze aus den Gewitterwolken schossen, aber ich war weit genug weg.
 

"AKZEPTIERE DIE VERZWEIFLUNG", kündigte mein Shadow an, aber diesmal war ich bereit.
 

Ergreif sie... die Kraft, zurückzuschlagen, sie befindet sich direkt vor dir!
 

In diesem Moment war es, als würde die Zeit um mich herum stillstehen. Der gesamte Raum erschien so weit weg, als wäre er nur Teil eines Alptraums, aus dem ich gerade aufwachte, und vor mir schwebte eine Karte, wie ich sie schon so oft gesehen hatte. Gerade so erkannte ich auch das Zeichen darauf – den Narren.

Augenblicklich griff ich nach ihr, und zu meiner Überraschung schnappte ich die Karte nicht, sondern sie zersprang mit einem kühlen, erfrischenden Gefühl, und aus ihr strömte weiß-blaues Licht, das an die Wärme des Mondlichts in einer klaren Nacht erinnerte.
 

Sofort merkte ich eine Präsenz direkt hinter mir, aber spürte gleichzeitig, dass es eine verlässliche, schützende war. Das musste es sein. Das war meine... meine eigene Persona! Und so, als ob sie immer da gewiesen wäre – was sie gewissermaßen ja vielleicht auch war! - wusste ich sofort, wie ich sie rufen musste.
 

"Tsukuyomi!"
 

Es war, als würde der ganze Raum auf einmal nicht nur in Mond- sondern auch in Sternenlicht gehüllt. War das der Narr? Oder doch die Mond-Arcana?

In jedem Fall erlaubte es mir, endlich zu kämpfen.
 

"TSK, DU DENKST DOCH NICHT, DU WÄRST ALS EINZIGES MIT UNTERSTÜTZUNG!"
 

Und als ob sie die ganze Zeit in seinem Gewand gewartet hätten, strömten vier Shadows hervor, allerdings keine zu bedrohlichen angesichts meiner riesigen Persona – lediglich zwei kleine Pixies sowie zwei Jack Frosts, die mit einem "hee-hoo!" sehr überzeugt von sich schienen.

Noch kam mir nicht von alleine, welche Magie Tsukuyomi vielleicht beherrschen würde, aber bei diesen Kerlchen war das ja vielleicht gar nicht notwendig. Und als ob er meine Gedanken lesen konnte, bewegte sich Tsukuyomi wie von alleine und beorderte eine Art Strahl aus purem Licht, der bereits einen Jack Frost sowie eine Pixie regelrecht pulverisierte.
 

"B-Bilde dir bloß nichts ein!", krisch die andere Pixie und schoss durch die Luft wie eine kleine Mücke, aber mit der Persona an meiner Seite fühlte ich keine Bedrohung. Zwar konnte ich nicht so schnell reagieren, wie ich mir das gewünscht hätte und wie ich gerne behauptet hätte, dass ich es konnte, aber auch die leicht verspätete Abwehrreaktion mit meinem Arm – die überraschend weh tat – stieß das kleine Monster zu Boden. Tsukuyomi war aber schneller wieder bei der Sache wie ich, und erledigte mit einem weiteren Lichtstrahl beide.
 

Mein Shadow stieß ein weiteres lautes Donnergrollen von sich, aber jetzt hatte ich kaum mehr Angst mehr davor. Er hörte sich weniger an wie ein Sturm am Nachmittag, sondern mehr wie ein laues Sommergewitter.
 

Mit Tsukuyomi an meiner Seite bestärkt – wenn auch immer noch leicht zitternd, das kann ich nicht abstreiten – trat ich meinem Shadow entgegen.
 

Und wie ich es mir fast dachte, hatte er aufgehört, mich anzugreifen. Er starrte mich nur ruhig an.
 

"Ich.... habe Angst. Ich bin in einer Situation, die für mich vollkommen neu und fremd ist. Und ich kann mit keinem meiner Freunde reden, um mich zu beruhigen oder um Rat zu fragen", sprach ich vor mich hin. Ich redete meinem Shadow zu, aber im Endeffekt war es mehr, als hätte ich etwas viel Wichtigeres verstanden.
 

"Und... klar, jeder hat mal davon geträumt, Teil eines Spiels zu sein, das er liebt. Und jeder hat sich vorgestellt, wie er sich mit diesen Leuten anfreundet. Aber... ich bin nicht im Spiel. Das ist hier und jetzt meine Realität. Und... natürlich ist es schwer, diese beiden Dinge auf einmal zu mischen. Natürlich ist es schwer, alle als normale Leute zu empfinden. Aber..."
 

Ich wich intuitiv ein Stückchen zurück, woraufhin mein Shadow seinen Blick wieder senkte, und mich dabei aber nicht aus den Augen ließ. Dabei stieß ich gegen Tsukuyomi, was mir dabei half meinen Mut wieder zu finden. Tsukuyomi ist bei mir. Ich war schon auf dem halben Weg zu dem Herz meines Shadows. Ich konnte seine bedrohlichen Klauen sehen, aber ich war so weit gekommen, ich war fast da. Also atmete ich einmal tief an, und wieder aus, ehe ich wieder zu ihm zurückfand.
 

"Aber alles, was ich tun kann, ist das Beste aus dem zu machen, was vor mir ist. Und darauf zu vertrauen, dass ich einen Weg schaffen oder finden werde. Ich... werde einen Weg finden, alle so kennenzulernen und zu akzeptieren wie sie sind. Und... und herausfinden, ob Ootori auch ein Freund werden könnte. Das hier ist für den Moment mein Leben... und alles andere hab ich bisher auch geschafft!"
 

Und als hätte er nur auf diese Worte gewartet, schloss mein Shadow seine Augen und begann zu leuchten. Funken lösten sich von ihm und schwebten zu Tsukuyomi – es war ein unglaublicher Anblick. Tsukuyomi im Gegenzug schien sich zu entspannen. Ich drehte mich zu ihm um, um ihn endlich mal genauer sehen zu können, aber genau in dem Moment verschwand er auch wieder.
 

"Tsukuyomi, warte!"
 

Vor meinen Augen erschien erneut die Karte, die ich vorhin berührt hatte, um die Kraft von Tsukuyomi das erste Mal freizusetzen... moment, das war doch nicht nur eine! Stattdessen wurden zwei Karten freigesetzt, und dieses Mal konnte ich sie auch ganz genau erkennen – es waren der Narr, wie ich vorhin richtig gesehen hatte, aber auch der Magician! Moment, aber das war doch auch Yosukes Arcana. Teilten wir uns die jetzt? Ich würde aber nicht seinen Platz in der Gruppe übernehmen, oder..? Aah, es brachte doch auch nichts darüber nachzudenken. Stattdessen sollte ich erstmal hier rauskommen, ehe es wirklich aufhörte zu regnen... ich schauderte, aber zu meiner Erleichterung merkte ich, dass sich der Spiegel, aus dem mein Shadow vorhin getreten war, in ein Portal verwandelt hatte, dass mir bestimmt helfen würde hier rauszukommen. Eine Welle von Erleichterung strömte über mich. Ich hatte es geschafft! Ich hatte meinen Shadow bezwungen!
 

Ich trat aus dem Portal, und erkannte zum Glück gleich, wo ich war – es war ein nur zu bekannter Schauplatz, und zwar der Eingang zur Fernsehwelt! Zwar sah ich niemanden hier – so ein bisschen hatte ich ja gehofft, ich würde hier jetzt auf Souji und die anderen treffen – aber ich war auch so glücklich, endlich mal wieder einen bekannten Ort zu sehen. Nur, äh... wie ging es denn jetzt weiter? Da war keine Tür, und auch der bekannte Fernsehstapel aus dem Spiel und dem Anime ließ sich nicht finden. Hmm... aber ich war nahe dran. Ich musste bloß ein bisschen genauer hinsehen. Ich war hier sicher schon so gut wie raus.
 

"Waaaaaaaaah!", hörte ich auf einmal eine laute, aber nicht verzerrt klingende helle Stimme neben mir. Schnell drehte ich mich um, ehe ich dessen Ursprung ausmachen konnte – es war Teddy!
 

"T-Teddy!", rief ich, ehe ich drüber nachdenken konnte, und fiel dem Bären-Maskottchen um den Hals. Ein Teil von mir wusste, dass das die Dinge vielleicht komplizierter machen würde, aber gleichzeitig war ich einfach erleichtert, den Dungeon bezwungen zu haben, endlich wieder einen vertrauten Ort und dann auch noch ein vertrautes Gesicht zu sehen. Ich hatte es geschafft. Und jetzt war tatsächlich jemand da, der mir helfen konnte.
 

"I-Ich fühle mich ja bär geschmeichelt", eröffnete er die Konversation gleich mit einem seiner berühmten Puns, "abär das ist nicht die Zeit!"

Er hielt aber kurz inne, als er wohl spürte, dass mir vor Erleichterung sogar ein paar Tränen übergelaufen sind.

"Teddy... ich bin so froh dich zu sehen...", sagte ich leise, und hoffte sofort, dass er mich nicht verstanden hatte.

"Ich kenne dich zwar nicht, aber ich glaube, ich mag dich!", beschloss er gleich.

"Oh! Abär uns bleibt keine Zeit! Du musst schnell wieder zurück! Ich habe vorhin schon gerochen, dass jemand hier rein gekommen ist, und ich habe versucht, dich zu finden. Und es sieht so aus, dass du es alleine geschafft hast – ein Glück! - abär länger kannst du nicht bleiben! Das ist viel zu gebährlich! Du musst schnell verschwinden!"
 

Teddy löste sich aus meiner Umarmung und schob mich liebevoll, aber bestimmt von sich, ehe er mit einem lauten "Kumaaa!" einen eher willkürlich wirkenden Haufen von Fernsehern erscheinen ließ.
 

"Wir sehen uns bärstimmt wieder, aber jetzt musst du erst mal hier raus! Ich kann dich nicht beschützen, wenn der Nebel verschwindet!"
 

Teddy nahm mich am Handgelenk und zog mich in die Richtung des Stapels, ehe er mich losließ, hinter mich lief und nun begann, mich zum Fernseher zu schieben.
 

"Schnell! Schnell! Such' dir einfach einen aus, du musst wieder zurück!"
 

Ein bisschen musste ich mich dazu zwingen, da ich gerne noch ein wenig mit Teddy geredet hätte, auch wenn er nie einer meiner Favoriten gewesen ist, aber ich wusste, dass er vollkommen Recht hatte. Es war wirklich gefährlich, hier zu bleiben. Und ich musste aufhören so zu denken...im Moment war es eher so, als wäre Teddy einer dieser Klassenkameraden, mit denen ich nie viel redete, die ich aber irgendwie mochte – und jetzt war ich nur froh, endlich ein vertrautes Gesicht zu sehen und jemanden zu finden, an dessen Seite ich mich wenigstens ein bisschen sicherer und weniger allein fühlen konnte. Ich wollte ihn überhaupt nicht gehen lassen. Wer sagte denn, dass ich nochmal eine Chance bekommen würde, diesen überraschend plüschigen, warmen Bären zu umarmen?
 

...aber wenn ich nicht bald los ließ, dann war es vielleicht wirklich umsonst. Erst jetzt merkte ich, dass er mich ein wenig hilflos von der Seite ansah, und langsam hibbelig wurde. Der Nebel hatte sich bereits merklich gelichtet. Es half ja nichts. Ich musste einfach darauf vertrauen, dass ich ihn wiedersehen konnte – spätestens bei der nächsten verregneten Mitternacht.
 

Außerdem merkte ich, dass ich sowieso ziemlich müde war – und war es nicht auch mitten in der Nacht? Der Schlaf würde mir definitiv noch helfen, nicht zuetzt da ich nach wie vor noch Kanji zu lernen hatte – oder träumte ich sowieso?
 

"Los jetzt, schnell!"
 

Teddys Flehen wurde dringlicher, sodass ich mich endlich dazu durchringen konnte, in einen der größer erscheinenden Fernseher zu treten.
 

"B-Bis bald!", brachte ich noch hervor, wusste aber nicht mal, ob er mich noch gehört hatte.
 

Mit einem dumpfen Aufprall kam ich zu mir, und fand mich auf einmal auf Teppichboden wieder. Einen Moment brauchte ich, um mich zu orientieren, ehe ich feststellte, dass ich mich wieder in meinem Gastzimmer befand. Im Fernsehen liefen irgendwelche schrottig aussehenden Anime, die eh keiner zu einer anderen Tageszeit ertragen könnte, und schnell schaltete ich ihn ab. Für einen Moment konnte ich mein Spiegelbild noch im Fernseher sehen, ehe mir etwas dämmerte – der Fernseher lief, und ich war auf dem Bett gefallen. War ich vielleicht.... eingeschlafen? Allerdings waren meine Erinnerungen an die Geschehnisse ungewöhnlich klar. Und obwohl ich keine Persona hervorrufen konnte – in der anderen Welt ging das wie von selbst – fühlte ich mich anders. Besser.
 

...
 

Aber war das vielleicht doch nur, weil im Traum alles gut gelaufen ist? Ich bemerkte auch keine körperlichen Verletzungen an mir, obwohl ich mir bei dem Sturz vorhin mit Sicherheit einen oder zwei blaue Flecke zugezogen hatte... oder mindestens eine Schramme. Allerdings war es auch ein bisschen frostig in meinem Zimmer geworden. Schnell kroch ich wieder ins Bett – das sich genauso kalt anfühlte. Entweder war ich also wirklich in der Fernsehwelt gewesen, hatte Teddy getroffen und meine Persona Tsukuyomi kennengelernt, oder aber ich war eingeschlafen und das schon vor längerer Zeit. Allerdings fühlte ich mich nicht durchgefroren.
 

Na ja, aber das Rätsel würde ich jetzt nicht lösen können. Laut meinem Nokia war es bereits 2 Uhr morgens, also musste ich versuchen, mich wieder ein bisschen von dem Adrenalinrausch zu beruhigen und noch zu schlafen soweit es ging. In dem Moment, in dem mein Kopf das Kissen berührte, merkte ich allerdings schon, wie mich die Müdigkeit überströmte, also würde ich das Rätsel vielleicht erst morgen lösen können... aber bestimmt... nein, ganz sicher hatte das, was gerade passiert war eine große Bedeutung.



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