Leuchten von NaokoSato ================================================================================ Kapitel 4: Aufleuchten ---------------------- „Hier.“ Tarek nahm die Tasse, die Einar ihm reichte, mit der rechten Hand entgegen, seine linke drückte eine Kühlkompresse auf sein geschwollenes Auge. Er saß an die Heizung gelehnt auf dem Bett und starrte in seinen Kaffee. „Magst du reden?“, wollte Einar leise wissen. Er setzte sich ebenfalls aufs Bett und lehnte sich an die kurze Wand des Erkers. „Ich... keine Ahnung“, murmelte Tarek. „Wer war es?“ Einar fragte nur leise und sah Tarek vorsichtig an. Etwas an Tareks Verhalten sorgte dafür, dass selbst er Angst vor der Antwort hatte. Und auch wenn er nicht wirklich daran glaubte, wusste er doch, dass sein Ex ebenfalls als Täter in Frage kam. „Mein Vater.“ Tarek sah langsam auf und blickte in ein vollkommen überraschtes Gesicht. Es schien, als wäre die Antwort noch nicht bei Einar angekommen, wohl aber ihre Bedeutung. Nach ein paar Sekunden senkte Tarek den Blick wieder und trank von seinem Kaffee, dann atmete tief durch. „Als ich nach Hause kam, wartete er schon auf mich. Er gab mir eine Ohrfeige, ohne ein Wort zu sagen, dann fing er an zu schimpfen, dass ich krank sei, pervers, ein Monster. Ich wollte mich so gerne wehren, aber ich wusste nicht mal, wovon er redete. Also fragte ich ihn, was er wollte, wovon er sprach. Dann rückte er damit raus. Er hatte in der Nähe des Parks einen Auftrag und ist dann durch den Park gegangen, um sich ein Eis zu holen. Er hat gesehen, wie ich dich geküsst habe. Und er habe einen Mann aus mir gemacht, keine Schwuchtel. Dann hat er mich wieder geschlagen, mehr und mehr, fester und fester. Ich sei nicht mehr sein Sohn, hat er geschrien und als ich auf dem Boden lag, hat er mich getreten. Ich glaube, meine Mutter wollte mir helfen, aber plötzlich sah ich sie weinend auf dem Boden sitzen. Schließlich kamen meine Schwester und unser Nachbar, die meinen Vater von mir weggezogen haben und mir nur zugerufen haben, ich soll rennen. Ich weiß nicht einmal genau, wie ich hergekommen bin, ich stand einfach plötzlich vor deinem Haus. Er hätte mich wahrscheinlich gern umgebracht.“ Einar schaffte es nicht, seine Gedanken zu ordnen. Von „Ich glaub das nicht“ über „Warum tut ein Mensch, ein Vater, so was?“ bis hin zu „Den mach ich fertig!“ war so ziemlich alles dabei, und alles flog in seinem Kopf wild durcheinander. Er schüttelte den Kopf, sah verloren zu Tarek und raufte sich die Haare. „Ich spüre nicht, ob mein Auge weh tut“, gab Tarek zu. „Ich habe blaue Flecken überall und ich fühle sie nicht. Da ist Schmerz, ja, aber er kommt nicht von den Schlägen und Tritten.“ „Was brauchst du?“, fragte Einar leise nach einer längeren Pause. „Alles“, flüsterte Tarek. „Ich kann nicht mehr zurück.“ „Dann bleib hier. Wir besorgen noch eine Matratze für den Anfang, der Platz ist ja da. Und alles andere besorgen wir dir auch. Mach dir erstmal keine Gedanken darüber, wo du schläfst oder was du isst, darum kümmere ich mich.“ Tarek sah ihn an, die Tasse in seiner Hand fing an zu zittern und er ließ die Kühlkompresse sinken. Gerade noch rechtzeitig stellte er die Tasse aufs Fensterbrett, bevor er anfing zu weinen. Diesmal ließ er es allerdings zu, dass Einar ihn in den Arm nahm. Es war frustrierend für Einar, dass er nicht mehr für Tarek tun konnte, dass er ihm seinen Schmerz nicht einfach abnehmen konnte. Nach der Sache mit seinem Ex war er einfach nur froh gewesen, endlich aus dieser Beziehung raus zu sein, diesen Menschen nicht mehr in seinem Leben zu haben. Für ihn war dieser entscheidende Moment seines Lebens eines der bestes Dinge, die ihm je passiert sind, und er bezahlte gern mit einer Narbe dafür. Er konnte sich gar nicht vorstellen, was ein Bruch mit einer geliebten Familie bedeutete. Tareks Worte hallten in seinem Kopf wieder. „Am Ende sind sie diejenigen, die du hast. Freundschaften können zerbrechen, manche sehr schnell, aber Familie bleibt. Ich stimme nicht mit allem überein, was meine Eltern oder Yasmin tun und denken und sagen, aber ich liebe sie trotzdem.“ Diese Worte und Tareks Tränen trieben ihm selbst Tränen in die Augen, auch wenn er versuchte, sie zurückzuhalten. „Warum heulst du denn jetzt?“, fragte Tareks brüchige Stimme. „Keine Ahnung“, presse Einar hervor. Tarek seufzte. „Wenn uns einer sehen könnte... Zwei erwachsene Männer, die sich heulend in den Armen liegen...“ „Also ich sehe so was schon ab und zu... Jedes Mal wenn ich zufällig was von einem Fußballspiel mitbekomme.“ Sie sahen sich an, sahen sich fest in die verheulten Augen, doch nach wenigen Sekunden konnten sie nicht mehr und lachten einfach. Und dieses Lachen war der Befreiungsschlag, der ihre Tränen stoppte. „Hör auf zu lachen“, murrte Tarek schließlich grinsend und stupste Einars Nase. Einar lachte nur noch mehr und ließ sich nach hinten fallen, als ob Tareks Stupsen die Kraft gehabt hätte, ihn umzuwerfen. Seinem guten Beispiel folgend, ließ Tarek sich neben ihn fallen und sie lehnten ihre Beine aus Platzgründen senkrecht an die Heizung. „Danke“, flüsterte Tarek nachdem sie sich beruhigt hatten. „Nichts zu danken“, antwortete Einar ebenso leise. „Als ich bei dir geklingelt habe, dachte ich, alles wäre vorbei. Jetzt habe ich gelacht und denke, ich kann es vielleicht doch schaffen.“ „Natürlich wirst du es schaffen. Wir werden es zusammen schaffen“, sagte Einar und nahm Tareks Hand. „Zusammen?“, wunderte der andere sich. „Als du bei mir geklingelt hast, dachte ich, er hätte meine Adresse rausgefunden. Ich konnte mir keinen anderen vorstellen, der um diese Uhrzeit bei mir klingelt. Als du angerufen hast, lag ich unter der Decke zusammengerollt im Bett und machte mich auf das schlimmste gefasst.“ Tarek drückte Einars Hand und lächelte ihn an. „Zusammen.“ Den gesamten rechtlichen Tag verbrachten sie fast ununterbrochen auf dem Bett und hörten wieder Musik. Beiden war nicht nach reden, aber sie schafften es immer, sich irgendwie zu berühren. Mal waren es ihre Füße, mal lag Tareks Hand auf Einars Schulter, oder Einar schlief halb auf Tareks Arm liegend ein. Tarek weckte ihn erst, als sein Arm lange eingeschlafen und die Platte, die sie gehört hatten, lange zu Ende war. Am späten Abend beschlossen sie, wirklich schlafen zu gehen und fingen doch wieder an zu reden. „Ich glaube, ich brauche doch ein paar Sachen“, murmelte Tarek als sie im Bett lagen. „Wir können morgen einkaufen gehen“, schlug Einar vor. „Yasmin hat mir geschrieben. Sie scheint sich Sorgen zu machen und hat gefragt, was ich von meinen Sachen brauche, sie könnte sie mir bringen.“ Etwas skeptisch sah Einar ihn an. „Vertraust du ihr?“ „Ich habe mir überlegt, sie in der Stadt zu treffen. Im Moment will ich nicht, dass mein Vater irgendwie herausfinden kann, wo ich bin.“ „Hast du Angst, er könnte dir wieder weh tun?“ Tarek nickte. „Vor allem, wenn er erfährt, dass ich bei dir bin.“ „Triff dich mit ihr, rede mit ihr.“ „Sie und ich, wir sind in unserer Familie die Modernen. Vielleicht weil wir jünger und in einer moderneren Gesellschaft aufgewachsen sind, wer weiß. Auf jeden Fall waren wir beide positiv überrascht, als die Iren dafür gestimmt haben, dass Schwule und Lesben heiraten dürfen, und noch besser fanden wir es, als das in den USA beschlossen wurde. Nicht, weil es uns etwas gebracht hätte oder unseren Freunden, sondern weil wir beide daran glauben, dass alle die gleichen Rechte haben. Wir sind zwar religiös erzogen worden, aber was kümmert uns schon die Meinung von alten Männern, die mit der Realität nicht in Berührung zu kommen scheinen? Was nützt ein Gebot, dass mehrere tausend Jahre alt ist, wenn sich die Realität und die wahre Zusammensetzung der Dinge uns mehr und mehr offenbart? Wir hatten beide das Glück, Lehrer gehabt zu haben, die uns dahin geführt haben. Ja, Yasmin glaubt an Gott, aber sie ist der Meinung, dass jeder genau so ist, wie Gott es gewollt hat, egal, welche Orientierung er hat. Um es kurz zu sagen: Ja, ich vertraue ihr.“ „Dann solltest du sie erst recht treffen. Wenn du willst, komme ich mit.“ „Gerne“, flüsterte Tarek und legte seinen Kopf auf Einars Schulter. „Gute Nacht.“ „Gute Nacht“, murmelte Einar und schloss die Augen. Tarek schlief nicht. Er beobachtete, wie Einars Atem immer gleichmäßiger wurde, wie der andere sich an ihn kuschelte. Ein bisschen zweifelte er noch an seinem Glück, doch dieser Zweifel wurde immer kleiner. In seinem Leben hatte er noch nie einen Menschen getroffen, dem er so schnell so sehr vertraute wie Einar. Es machte ihm offen gestanden ein wenig Angst, dass so etwas möglich war. Natürlich war er schon verliebt gewesen oder hatte sich schnell mit jemandem angefreundet, aber dieses Gefühl von Sicherheit hatte er bei niemandem finden können, weder in seinen Beziehungen noch in seinen Freundschaften. Er dachte die halbe Nacht darüber nach, was das genau zu bedeuten hatte. Die andere Hälfte der Nacht verbrachte er mit dem Gedanken, dass es schön wäre, Einar nochmal zu küssen. Kurz nach Sonnenaufgang wachte Einar auf, nur um festzustellen, dass er seine eigenen Arme fest um Tarek geschlungen hatte. Tarek schien das nichts auszumachen, er sah lächelnd ins Nichts und bemerkte Einar nicht. „Morgen“, murmelte Einar, seine Stimme schlief offenbar noch. Tarek sah ihn an und etwas in seinen Augen leuchtete auf. „Morgen“, flüsterte er. „Gut geschlafen?“ „Mh“, kam es nur statt eines Ja von Einar, der sich schon wieder mit geschlossenen Augen an ihn kuschelte. „Und noch nicht fertig damit“, grinste Tarek und kraulte Einars Kopf. Schon die ganze Nacht hatte es ihn gereizt, das zu tun, er hatte nur Angst, Einar damit zu wecken. „Lass das“, murrte der Gekraulte plötzlich. „Doch wach?“ „Fast.“ „Soll ich uns schon Mal Kaffee machen?“ „Okay“, murmelte Einar, ließ Tarek aber nicht los. „Das funktioniert so nicht“, stellte Tarek trocken fest. „Doch.“ Tarek seufzte und versuchte vorsichtig, Einar von sich zu lösen, was ihm nach ein paar Minuten und viel gutem Zureden auch gelang. Einen Moment beobachtete er noch, wie Einar sich in sein Kissen kuschelte und den Lockenkopf dadurch noch stärker verwuschelte, dann ging er in die Küche. Während die Kaffeemaschine ihre Arbeit tat, schrieb Tarek seiner Schwester, die sofort antwortete. Sie habe schon seinen großen Koffer und seine Sporttasche mit Klamotten gefüllt. Einige Dinge, von denen sie wusste, dass sie ihm wichtig waren, seien auch dabei. Seine Filmsammlung dürfte schwieriger werden, da sie nicht wusste, wie sie sie transportieren sollte. Die Werkstatt habe aber angerufen, er könne sein Auto abholen. Er schlug ihr als Treffpunkt ein Café in der Innenstadt vor, in dem sie sich am Nachmittag treffen könnten. Dort, so sein Gedanke, würde ihr Vater sie definitiv nicht sehen, da er um solche Cafés einen großen Bogen machte, viel zu modern. „Du hast echt Glück, dass ich frei habe. Bis dann. Ich hab dich lieb.“ Tarek las ihre letzte Nachricht und lächelte leicht. Er war so froh, sie zu haben. Sie und Einar. „Kaffee?“, fragte plötzlich jemand und ein verwuschelter Lockenkopf schob sich in Tareks Blickfeld. Tarek sah von seinem Handy auf und lächelte. „Müsste fertig sein.“ Er stand auf und holte Tassen aus dem Schrank. „Hast du jetzt ausgeschlafen?“ Einar kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ja, schon.“ „Sehr gut“, sagte Tarek während er den Kaffee eingoss. „Was hast du gemacht?“ „Mit Yasmin geschrieben. Wir treffen uns heute Nachmittag. Und danach kann ich mein Auto aus der Werkstatt holen.“ Mit einem Lächeln nahm Einar seine Tasse entgegen und sog den Duft in sich auf. Beim Trinken verzog er allerdings das Gesicht. „Zu stark?“, lächelte Tarek. „Bisschen“, murrte Einar und holte Milch und Zucker. „Wie kann man so was trinken?“ „Ganz einfach“, lachte Tarek und trank. Einar schüttelte den Kopf und kippte Milch und Zucker in seine Tasse. Tarek beobachtete ihn amüsiert. „Ich dachte, du trinkst ihn schwarz?“ „Nur wenn ich ihn nicht kauen kann.“ „Komm, so schlimm kann es nicht sein. Ich habe ihn extra nicht so stark wie sonst gemacht.“ Einar sah ihn entgeistert an. „Was machst du sonst? Die Tasse mit Kaffeepulver füllen und einen Schluck Wasser drauf gießen?“ Tarek konnte nur noch lachen. „Das ist etwas, bei dem wir uns nie werden einigen können, was?“, stellte Einar schließlich fest und trank seinen endlich genießbaren Kaffee. Ein paar Stunden und etwas zu Essen später saßen sie in der hintersten Ecke des Cafés und beobachteten, wie Yasmin mit dem angekündigten Gepäck rein kam. Sobald sie vor ihm stand, ließ sie alles fallen und umarmte Tarek fest. „Mein armer Kleiner“, murmelte sie. Tarek war gut einen Kopf größer als sie und sieben Jahre älter. Anstatt aber wie sonst diese Anrede mit einem missbilligendem Blick zu strafen, drückte er sie nur fest an sich. Als sie sich schließlich gesetzt hatten, sah sie ihren Bruder besorgt an. „Wie geht es dir?“ „Viele blaue Flecken, ein blaues Auge und ziemlich düstere Gedanken. Aber gegen letzteres habe ich Einar.“ Erst jetzt schien Yasmin ihn wirklich zu sehen. „Bist du Tareks Freund?“ Einar sah sie fragend an. „Kommt darauf an, wie du Freund in diesem Zusammenhang definierst. Wir sind Freunde, ja, aber ein Freund im Sinne von Liebhaber bin ich nicht. Und um deine nächste Frage zu beantworten: Ja, ich war es mit dem euer Vater Tarek im Park gesehen hat.“ „Und nein, er redet nicht immer so geschwollen daher“, ergänzte Tarek. „Ach nein? Wie schade.“ Sie lächelte Einar an. „Ich kann verstehen, dass du angespannt bist, aber ich werde ihm nichts sagen. Und ich kann gut Geheimnisse bewahren. Unsere Eltern wissen bis heute nichts von meinem Freund.“ Tarek legte seinen Arm um seine kleine Schwester und lächelte stolz. „Ist sie nicht toll?“ Einar betrachtete die Geschwister und stellte fest, dass sie sich tatsächlich ähnlich sahen, ihr Nasen und Augen hatten Ähnlichkeit, Haare und Augen die gleiche Farben, schwarz und dunkelbraun. Und beide sahen gut aus. „Ja, aber ich müsste sie besser kennen, um das genau beurteilen zu können. Eine Einschätzung meinerseits bedarf daher noch einiger Treffen.“ „Hey! Ich hab gerade gesagt, dass du nicht immer so redest!“ Einar nickte. „Und Yasmin findet das Schade, also tue ich ihr einen kleinen Gefallen indem ich weiter so rede. Oder hast du etwas dagegen?“ Die letzten Worte waren an sie gerichtet und sie beantwortete sie mit einem Grinsen und einem Kopfschütteln. Tarek seufzte nur. Sie blieben über eine Stunde im Café und überlegten sich, wie es mit Tarek weitergehen sollte. Alle waren sich einig, dass er vorerst bei Einar am besten aufgehoben war. Yasmin, weil sie ihn sicher wusste, Einar, weil er ihn vermissen würde. Auch dass eine Begegnung mit ihrem Vater möglichst zu vermeiden war, stand außer Frage. Das Problem stellte Tareks Job dar. Sobald sein Urlaub vorbei war, konnte er sich nicht so einfach verstecken. Doch das wollte Tarek erst einmal auf sich zukommen lassen. „Lasst mich bitte erst das hier verdauen bevor ich auch noch die letzte Konstante meines Lebens verliere“, bat er die anderen beiden. „Ich habe nur Angst um dich“, murmelte Yasmin entschuldigend. „Ich weiß, aber ich muss erstmal mit der jetzigen Situation klar kommen, bevor ich mir ein neues Problem schaffe. Ich... Ich weiß doch auch nicht weiter...“, gab er zu und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. „Und wir helfen dir“, sagte Einar und strich ihm durch die Haare. Tarek sah zu ihm auf, dann zu seiner Schwester. „Danke“, murmelte er. Nachdem sie sich von Yasmin verabschiedet hatten, brachten sie Tareks Sachen zu Einar und holten Tareks Auto aus der Werkstatt. „Kannst du mich bitte am ZOB absetzen?“, bat Einar unvermittelt als sie ins Auto stiegen. „Willst du wegfahren?“ „Noch nicht. Aber wenn, würdest du mitkommen?“ „Solange ich mal aus dieser Stadt komme, wäre mir sogar das Ziel egal“, gab Tarek zu. Einar nickte. „Okay.“ Sie fuhren schweigend zum ZOB, wo Einar Tarek seinen Wohnungsschlüssel mit folgenden Worten überreichte: „Hier, fahr schon mal vor, bei mir dauert es vielleicht eine Stunde, ich muss noch einkaufen.“ „Wir können doch auch zusammen einkaufen, dann musst du nicht alles allein schleppen“, schlug Tarek vor. „Das ist lieb, aber ich brauche nur ein paar Sachen von Rossmann und neuen Tee. Das schaffe ich schon allein“, lächelte Einar. „Du kannst ja schon mal auspacken.“ „Na gut“, meinte Tarek nur, immer noch irritiert. Dann fuhr er zu Einar und stand neben seinem offenen Koffer vorm Schrank. Er schaute rein und stellte fest, mit welcher Präzision Einars Klamotten geordnet waren. Oder besser, wie sie nicht geordnet waren. Wahrscheinlich hängte Einar seine Sachen einfach dahin, wo Platz war. Dieses Chaos sorgte allerdings dafür, dass für Tareks Sachen kein Platz war, auch nicht in der Kommode. Seufzend schuf Tarek also nur Ordnung in seinem Koffer und seiner Reisetasche, brachte sein Rasierzeug ins Bad und legte die paar Erinnerungsstücke, die Yasmin mitgebracht hatte, auf dem Schreibtisch ab. Als er fertig war, betrachtete er, was von seinem Leben übrig geblieben war. Ein paar Klamotten, ein paar Fotos und seine Lieblingstasse. Er hätte heulen können, legte aber stattdessen Musik auf und tanzte. „Sieht gut aus“, riss Einar ihn plötzlich aus seiner kleinen Welt. Tarek stoppte. „Du bist wieder da, hey.“ „Hab doch gesagt, dass ich nur eine Stunde brauche“, lächelte Einar. „Und ich sehe, du hast nicht ausgepackt.“ „Ich habe keinen Platz in deinem Schrank gefunden.“ Einar lachte. „Dann finden wir zusammen welchen“, meinte er und öffnete schwungvoll die Schranktüren. Gemeinsam räumten sie den Schrank auf und Tareks Klamotten rein. Später entdeckte Einar auch die Tasse und ohne ein Wort zu sagen, brachte er sie in die Küche und stellte sie dort zu seinen eigenen. An diesem Abend, nachdem sie einen Film geschaut hatten, den Einar im Supermarkt gesehen und spontan gekauft hatte, fing Einar an, wieder Sachen aus dem Schrank zu holen und zu stapeln. „Was tust du?“, fragte Tarek verwundert. „Packen“, grinste Einar nur. „Und wofür?“, hakte Tarek nach. „Wir fahren weg“, verkündete Einar. „Ich habe schon eine Weile geplant, wegzufahren und vorhin habe ich nur den Mietwagen abgeholt. Ich habe von unterwegs im Hotel angerufen und das mit dem Frühstück geklärt, wir müssen uns also nicht eine Portion teilen.“ „Wohin willst du denn?“ „Das ist eine Überraschung“, grinste Einar nur und zeigte auf Tareks Koffer. „Wir werden sieben Nächte weg sein.“ Am nächsten Morgen stiegen sie in ein Oldtimer-Cabrio und fuhren aus der Stadt raus. Tarek saß auf dem Beifahrersitz und genoss mit geschlossenen Augen den Fahrtwind in der sonst schon wieder heißen Luft. Einar schielte ab und an zu ihm rüber und lächelte. Er fuhr den relativ großen Wagen als würde er das jeden Tag tun. Jedes Jahr mietete er für ein paar Tage im Sommer so ein Auto und flüchtete aus der Stadt, vor der Trennung mit seinem Ex, seitdem wieder allein. Dieses Jahr lag das Ziel etwas weiter weg, weshalb sie schon kurz vor neun aufgebrochen waren. Tarek schlief einen Großteil der Fahrt und war schon allein deswegen ein besserer Beifahrer für Einar als seine Mutter oder sein Ex. Gegen 17 Uhr kamen sie an und Einar ließ Tarek vor einem kleinen Schloss aussteigen. „Wo sind wir hier?“, fragte Tarek während er sich umsah. „Mecklenburger Seenplatte. Ich habe das Hotel im Netz gefunden. Weit weg von allem. Perfekt für eine Flucht also“, erklärte Einar. „Ist das nicht viel zu teuer?“, wunderte Tarek sich. „Nein, ist es sicher nicht. Und dass du mitkommst, ändert eigentlich nur etwas an den Kosten für das Essen. Du kannst es mir später zurückzahlen.“ „Mach ich“, versprach Tarek. „Und jetzt hilf mir bitte mal mit dem Gepäck.“ Sie checkten ein und gingen in ihr Zimmer, ein schlicht aber elegant eingerichteter Raum mit Blick auf den See, großem Doppelbett und einer Badewanne im Bad, von der aus man ebenfalls den See im Blick hatte. „Ich frage lieber nicht, was so was kostet, oder?“, meinte Tarek während er sich umsah. „Besser nicht, das stimmt. Allerdings habe ich auch Sonderkonditionen erwischt, weil ich länger als nur übers Wochenende bleibe. Ich plane so was jedes Jahr und habe schon ein ganz gutes Händchen dafür entwickelt.“ Tarek sah ihn skeptisch an. „Okay, ich glaube dir das jetzt einfach mal.“ „Lass uns auspacken und dann nochmal raus gehen“, schlug Einar nur lächelnd vor. Sie packten aus und verließen das Hotel über den Zugang zum Garten, der direkt am See lag. Tarek atmete tief durch und schloss kurz die Augen. Natürlich fuhr er gerade im Sommer aus der Stadt raus, vor allem zum Baden, aber so reine Luft konnte er selten genießen, hier war das nächste Industriegebiet einfach weiter weg als überall sonst. Und diese Reinheit, diese Ruhe hier wirkten schon im ersten Moment. Er spürte, dass jemand vorsichtig seine Hand nahm und sah zu Einar, der ihn anlächelte. „Komm“, flüsterte er und zog Tarek weiter. Über eine Stunde erkundeten sie das Gelände und doch merkten sie erst, als sie wieder am Hotel waren, dass ihre Hände sich noch immer hielten. Sie ließen sich los, grinsten sich an und betraten das Restaurant. Während des Essens, das drei Gänge und guten Wein beinhaltete, tauschten sie Geschichten aus der Kindheit aus. Sie lachten über strenge Lehrer, peinliche Missgeschicke und die eigenen, kindlichen Dummheiten. Erst am späten Abend waren sie wieder auf ihrem Zimmer und Tarek ging noch schnell duschen. Als er im Bademantel ins Zimmer kam, hatte Einar beschlossen, ebenfalls noch unter die Dusche zu springen. Tarek sah ihm kurz nach, dann löschte er da Licht und öffnete das Fenster. Die Nachtluft war angenehm kühl auf seinem Gesicht und er fühlte sich einfach wohl in diesem Moment. Ein bisschen Wasser aus seinen nassen Haaren lief ihm noch übers Gesicht, ein Gefühl, das er liebte, besonders im Sommer. Er hatte erwartet, in völlige Dunkelheit zu schauen, doch er sah mehr Sterne als je zuvor am Himmel und am Boden schwirrten einige Glühwürmchen durch den Garten. Die Luft war erfüllt von den Geräuschen einer Sommernacht. Irgendetwas ließ das Wasser im See plätschern, in der Ferne rief eine Eule, Grillen zirpten. Es war fast zu perfekt, um wahr zu sein. „Was siehst du da draußen?“, wollte Einar plötzlich neben ihm wissen, seine Brille hatte er offenbar im Bad gelassen. „Glühwürmchen und Sterne“, flüsterte Tarek. „Schön“, murmelte Einar und lehnte sich mit dem Rücken zum Fenster an die Fensterbank. Im Dunkeln konnte Tarek ausmachen, dass Einar ebenfalls einen Bademantel trug und nasse Haare hatte. Er strich ihm eine tropfend nasse Locke aus der Stirn und fuhr mit den Fingern sanft über Einars Gesicht bis zu dessen weichen Lippen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, aber fragte dennoch die Frage, die ihn seit dem Essen beschäftigte: „Darf ich nochmal?“ Einar sah ihn mit großen Augen an, dann nickte er und beugte sich Tarek entgegen. Der andere kam ihm entgegen und ihr Lippen trafen sich auch halbem Wege. Sehr schnell wurde daraus mehr als der unschuldige Kuss im Park, der nur drei Sekunden gedauert hatte. Als sie sich voneinander lösten, war es diesmal Tarek, der Einars Hand griff und „Komm!“ flüsterte während er ihn zum Bett zog. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)