Greif' zum Himmel von Nymphalinae ================================================================================ Kapitel 1: Rot und Schwarz -------------------------- „Rot und Schwarz“ Mit einem zweifelnden Blick begutachtete die Rothaarige ihr Spiegelbild - erst eine halbe Drehung nach rechts, dann eine nach links. Dabei fuhren ihre orangen Augen über das knielange dunkelblaue Kleid, dessen Stoff sich eng an ihre nackte Haut schmiegte. Sie hatte es heute Vormittag bei einem Ausflug auf einer benachbarten Insel für einen guten Preis gekauft. Dafür hatte sie extra einen Tag krank gemacht, wofür sie sich mit Sicherheit später noch eine gewaltige Standpauke ihres Chefs anhören durfte, aber das war es ihr wert gewesen. Ihre eigentliche Heimat Usoda - eine herrliche Frühlingsinsel auf der Grandline - war im Vergleich mit anderen Inseln zwar relativ groß, besaß im Gegensatz dazu aber wenig Bevölkerung. Nur vereinzelt gab es kleinere Städte und ein paar Dörfer, wie ihr eigenes. Der Rest war Vegetation und unbrauchbarer Boden, somit waren auch kaum - eigentlich gar keine - ordentlichen Bekleidungsgeschäfte vorhanden. „Mh…irgendwie habe ich es mir anders vorgestellt“, sagte sie laut in den Raum hinein und stieß danach einen unglücklichen Seufzer aus. Es war nicht so, dass ihr das Kleid nicht gefiel oder nicht stand - eher im Gegenteil, doch es entsprach nicht so ganz ihren Vorstellungen. „Im Laden warst du noch völlig begeistert“, meldete sich eine andere gelangweilte Stimme zu Wort, wobei das Rascheln von Papier zu hören war. „Ich weiß, Nisha! …vielleicht sollte ich es nächstes Mal doch lieber vorher anprobieren und erst dann kaufen“ Nach dieser bahnbrechenden Erkenntnis ihrerseits löste sich die junge Frau - eine gefühlte Ewigkeit später - von dem Spiegel und wendete sich ihrer Freundin zu. Als sie Nisha langgestreckt auf dem großen Bett mit einem Buch in der Hand erblickte, schlich sich ein hinterhältiges Grinsen auf ihre Lippen. So gut, wie es ihr Kleidungsstück zuließ, ging sie hinunter in die Hocke, bevor sie vom Boden absprang - dabei einen Art Kampfschrei ausstoßend - und am Ende mit einem dumpfen Aufprall zur Hälfte auf der Matratze und zur Hälfte auf ihrer besten Freundin landete. Erschrocken schnappt die Liegende nach Luft, um anschließend einige nicht jungendfreie Flüche auszustoßen. Indessen erbarmte sich die Rothaarige dazu von ihr herunterzurollen, danach aber begann lauthals loszulachen. „Akito!“ Wütend starrte Nisha ihre Freundin an, die dadurch jedoch nur noch mehr lachen musste, sodass es fast schmerzte. Einige Sekunden später verzogen sich aber auch Nishas Lippen unwillentlich zu einem Grinsen, sie konnte Akito einfach nie lange böse sein. Kopfschüttelnd drehte sie sich zu ihrem Buch und versuchte die zerknitterten Seiten wieder zu glätten. Manchmal fragte sie sich, ob Akitos Eltern schon vor der Geburt wussten, was für ein Satansbraten ihre Tochter einmal werden würden und ihr deshalb diesen Namen gegeben hatten. Eigentlich war Akito ein typischer Jungenname, der so viel wie ‚kleiner Teufel‘ bedeutet und ihre Freundin machte ihrem Namen alle Ehre. Vereinzelt glaubte Nisha, dass eher sie die Ältere von ihnen beiden war, und nicht Akito, zumindest, wenn man vom Verhalten ausgehen würde. „Was liest du da eigentlich?“, hakte die Braunäugige nach, welche sich mehr oder weniger beruhigt hatte und nun neugierig über die Schulter ihrer Freundin linste. Laut las Akito den Titel des Buches vor: „Die Bücherdiebin“. Dieses ‚Buch‘ bestand eigentlich nur aus einem improvisiert zusammengenschürten Stapel Blätter mit einem gebrauchten Einband, aber Nisha störte das keineswegs. Denn schon seit klein auf hatten ihre Bücher ihr alles bedeutet - sie waren ihr Anker in schweren Zeiten. Doch seitdem ihr Augenlicht anfing zu schwanden, bis es letztendlich ganz erloschen war, hatte sie die Hoffnung aufgegeben je wieder lesen zu können. Bis Eraste plötzlich vor ihrer Tür stand. Eraste war ein schweigsamer Mann mittleren Alters mit ergrautem Haar, der immer ein warmes Lächeln auf den Lippen trug und für jeden im Dorf ein offenes Ohr hatte. Vor einigen Jahren führte er am Marktplatz noch einen kleinen Lebensmittelladen, den er von seinem Vater geerbt hatte, aber auch an seinem Körper hinterließ die Zeit ihre Spuren. Nach und nach klagte er über Schmerzen in seinen Gelenken, vor allem in den Beinen. Deswegen überließ er, nachdem der Arzt ihm dazu geraten hatte, schlussendlich seiner Tochter das Geschäft, während er sich zur Ruhe setzte. Sie und Akito versuchten ihn täglich zu besuchen, da er für sie beiden mit seiner liebevollen Art wie der Großvater war, den zumindest Nisha nie hatte. Eines kalten Wintertages kurz nach Beginn des neuen Jahres, sie wollten sich gerade auf den Weg zu Erastes Haus machen, klopfte es aus heiterem Himmel an Nishas Apartmenttür. Zu ihrem Erstaunen stand der ältere Herr vor der Tür, unter den Armen mehrere Bücher, dickes Papier und - zu ihrer großen Verwunderung - einige Nähnadeln seiner Frau, jedenfalls hatte Akito das Bild später so für sie beschrieben. Höflich, aber irritiert waren sie zu Seite getreten und hatten ihn aufgefordert doch hinein zu kommen. Unterdessen Nisha Eraste einen Stuhl an ihrem runden Esstisch anbot, war Akito im Nebenzimmer verschwunden, um für sie eine Tasse Tee zu kochen. Als sie ein paar Minuten danach alle drei am Tisch beisammen saßen, trug Eraste auch sogleich sein Anliegen den beiden Mädchen vor. Er wusste um die große Liebe von Nisha zu ihren Büchern, würde sich noch gut erinnern, wie sie als kleines Kind immer auf seinem Schoß saß und gespannt seinen vorgelesenen Geschichten lauschte. Seit ihrer Erkrankung hätte er an manchen Abenden kein Auge zubekommen, weil er immer wieder überlegte, wie er dem armen Mädchen helfen könnte. Doch hatte er durch seinen Vollzeitjob nie wirklich die Zeit gefunden seine verschiedenen Ideen auszuprobieren und in die Tat umzusetzen. Seit seinem Ruhestand vor fünf Jahren hatte er sie gehabt und fleißig an einer Möglichkeit getüftelt, um Nisha wieder das Lesen zu ermöglichen. Mit diesen Worten überreichte er ihr das erste Buch, welches sie seit Jahren in den Händen halten und gierig verschlingen würde. Eraste erklärte ihr, dass er zuerst ein spezielles Alphabet aus Punkten entwickelt hat, um die ‚richtigen‘ Buchstaben zu ersetzen. Dann hatte er eines seiner Lieblingsbücher in die eigens entwickelte ‚Sprache‘ übersetzt und mit Hilfe der Nadeln vorsichtig Erhebungen in das dickere Papier gepresst, sodass Nisha nur mit ihrem Finger darüber fahren muss, um die Schrift für sie zu entziffern. Eigentlich wollte er ihr das Erste bereits an Weihnachten als kleines Überraschungsgeschenk geben, wegen seiner teilweise starken Beschwerden kam er aber nicht so schnell voran, wie er es sich erhoffte. Im Anschluss schob er den beiden noch ein weiteres Stück Papier und die Nadeln entgegen, wobei er meinte, dass er dort die einzelnen Buchstaben und ihre jeweilige Punkte-Zuordnung niedergeschrieben hätte, als Starthilfe für Nisha und damit sie ein Gefühl für die Umstellung bekommen könnte. Danach war er aufgestanden, hatte sich seine Sachen geschnappt und verschwand ohne ein weiteres Wort. Er wollte kein Danke oder Ähnliches hören, und ihm war klar, dass das kommen würde, mit sowas konnte er nicht gut umgehen. Beide Mädchen blieben noch eine Weile, wie zu Salzsäulen erstarrt, kerzengrade am Tisch sitzen, bis Nisha anfing sich zu regen und unsicher nach dem Mitbringsel von Eraste griff. Der Einband war rau wie Leder. Das vergilbte Papier fing leise an zu rascheln, als sie es aufschlug und behutsam mit vibrierenden Finger über eine der Seiten fuhr. Deutlich konnte sie die verschieden angeordneten Erhöhungen unter ihren Finger spüren, während sie langsam über einige von ihnen herüber strich. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde stehen bleiben, nur um hinterher in dreifacher Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Ihr Atem setzte für einen kurzen Moment aus, gleichzeitig flutete eine Welle der unterschiedlichsten Emotionen ihren Körper - von Glück, Freude über Unglauben bis hin zur Fassungslosigkeit - und sie merkte, wie die ersten Tränen ihre Wangen benetzten. Wortlos schlossen sich zwei Arme um ihre Schultern und zogen sie dicht an die Brust ihrer rothaarigen Freundin. Zitternd betete sie ihren Kopf an den Hals der Braunäugigen. Minutenlang saßen die beiden Frauen eng umschlungen da, während Nishas Körper immerfort von heftigen Schluchzern erbebte. Voller Dankbarkeit war sie mit den ersten Sonnenstrahlen des nächsten Tages zu Erastes Heim gerannt und hatte wie eine Verrückte gegen die Tür gehämmert - er hatte ihr nicht geöffnet, obwohl das Licht im Wohnzimmer deutlich signalisierte, dass er schon wach war. Im ersten Augenblick kränkte es sie schon ein wenig, doch dann lächelte sie glücklich und sie fing einfach an das auszusprechen, was ihr durch den Kopf schoss, das, was sie ihm eigentlich persönlich sagen wollte. Die dankerfüllten und emotionalen Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Schließlich legte sie eine Hand auf das weiße Holz, die andere umklammerte fest das kleine Büchlein und sie spürte seine Anwesenheit auf der anderen Seite. „Danke“, flüsterte sie in die Stille der Morgenstunden, dann ging sie zurück und drehte sich nicht mehr um. Von da lag mindesten einmal die Woche ein neues Buch vor ihrer Tür und sie tat fast nichts anderes mehr außer in deren fantastische Welten hinab zu tauchen. Angestrengt zerbrach sie sich den Kopf darüber, wie sie jemals ihre tiefe Dankbarkeit, die er ohne Zweifel verdiente, gegenüber diesem Mann zeigen könnte. Acht Monate später starb Eraste. Herzversagen laut dem Arzt. Er war friedlich in seinem Bett eingeschlafen, seine Tochter hatte ihn gefunden. Nun war seine Seele bei Mesec im Himmel, endlich wieder vereint mit seiner geliebten Frau. Neben seinem Bett hatte Nisha, die freiwillig die Totenwache übernahm, es war das mindeste, was sie hätte tun können, zehn weitere und vier unfertige Romane in ihrer ‚Sprache‘ gefunden zusammen mit einem Brief von Eraste an sie. „Woran denkst du gerade?“ Erschrocken zuckte die Angesprochene, aus ihren Gedanken gerissen, zusammen. Verlegen drehte sich Nisha herum und lächelte Akito an, obwohl das Lächeln ihre trüben Seelenspiegel nicht erreichte. „Eraste? …Man sieht es in deinen Augen“, erwiderte Akito auf das fragende Gesicht ihres Gegenübers. Inzwischen hatte sie sich die goldene Haarbürste vom Nachtisch gefischt und fuhr sachte durch das dünne, pechschwarze Haar ihrer Freundin. Vielleicht mag es seltsam erscheinen, aber diese Prozedur war mittlerweile eine Art Ritual für sie geworden, denn es beruhigte sie beide. Genießerisch schloss Nisha die Augen und atmete einmal tief aus. „Weist du schon, was du zum Fest heute Abend anziehen wirst?“ Einen leisen Seufzer ausstoßend schüttelte die Schwarzhaarige den Kopf. Am liebsten würde sie den Abend allein zu Haus verbringen, wie schon die Jahre zuvor. Doch dieses Mal hatte sie Akito versprochen mitzukommen. Ohne Wiederrede. Zu Ehren der höchste Inselgottheit Mesec veranstalteten die Dörfer Usodas einmal zum Ende des alten Kalenderjahres eine große Feier, zu der meistens über hunderte von Menschen aus der Umgebung anreisten. „Wer weiß, vielleicht triffst du heute den Mann deines Lebens“, witzelte Akito herum, legte die Bürste beiseite, nahm Nishas lange Strähne zwischen ihre Finger und begann diese zu flechten. „Du kannst schließlich nicht ewig allein bleiben“ Nisha antwortete nicht sofort, spannte sich jedoch merklich an. „Selbst wenn, wer würde eine Blinde als Frau wollen“, flüsterte sie bedrückt, zeitgleich bemerkte Akito, dass sie das falsche Thema angesprochen hatte. Sie beide hatten solch ein Gespräch schon des Öfteren geführt, denn Akito versuchte sie immer wieder mit irgendwelchen Kerlen zu verkuppeln, ohne auf Nishas Erkrankung hinzuweisen, egal wie oft sie ablehnte. Es war nicht so, dass Nisha ein großes Problem hatte nichts sehen zu können. Die Jüngere hatte genug Zeit gehabt sich an die Tatsache zu gewöhnen und zu lernen ihren Alltag trotzdem zu meistern. Womit sie aber nie richtig fertig wurde, war der Umgang von Fremden mit ihrer Krankheit. Die Meisten behandelten sie wie eine Porzellanpuppe, die bei allem irgendwelche Unterstützung benötigte, doch das war und wollte sie nicht. Ihr war bewusst, dass sie bestimmte Dinge nicht mehr machen konnte und dennoch, komplett hilflos war sie nicht. „Nun gut, Schluss mit Trübsal blasen“, beschwingt von neuer Fröhlichkeit klatschte die Rothaarige in die Hände und hüpfte schnell vom Bett, nur um ohne weitere Erklärungen für das nächste Weilchen in Nishas winzigem Ankleidezimmer zu verschwinden. Nisha blieb dezent verwundert an Ort und Stelle zurück, derweil ein unheimlich lauter Krach zu ihr herüberschallte. Und insgeheim fragte sie sich ernsthaft, was Akito dort drinnen trieb. „So, bitteschön!“, mit diesen Worten wurde der Schwarzhaarigen ein weicher Stoff ins Gesicht gedrückt. „Was ist das? „Hab’s in deinem Kleiderschrank gefunden. Wusste gar nicht, dass du sowas schönen besitzt. Es ist dein Kleid fürs Fest, also zieh es an“ „Sicher?“ „Sicher! Du wirst damit das schönste Mädchen auf der gesamten Insel sein! Vertrau mir!“ Grinsend über Akitos Enthusiasmus nahm Nisha das Kleidungsstück an sich und legte es vorerst auf die Matratze, anstelle es anzuziehen. Stattdessen schnappte sie sich als Rache für vorhin eines der Kissen und im nächsten Moment klebte es bei Akito, die auf so einen Angriff nicht vorbereitet war, im Gesicht. Vielleicht, vielleicht sollte sie den heutigen Abend in aller Ruhe mit ihrer besten Freundin einfach nur genießen, dachte Nisha bei sich, als schon der Gegenangriff auf sie zugeflogen kam. Und in den nächsten Stunden konnte man von draußen nur noch das erheiterte Gelächter zweier Frauen hören. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)