A Shimonshi's Tale von Nor (Säulen des Himmels) ================================================================================ Prolog: Wie der Stein ins Rollen geriet --------------------------------------- Sein Aufschrei stemmte sich gegen das unnachgiebige Eisen um seinen Hals, die nach innen gerichteten Dornen und den Mechanismus, der die Glieder ruckartig zuzog. Ketten rasselten, als sein Körper sich im Versuch, den stählernen Fesseln zu entkommen, ungebärdig aufbäumte. Blut, Galle und Schweiss türmten sich zu einem Crescendo an Gerüchen auf, das ihm den Magen umgedreht hätte, wäre dieser nicht bereits leer gewesen. Die Welt verdrehte sich in sich selbst, drohte, im Tosen der Menge, in ihrem Gebrüll, ihrem Stampfen, ihrer Gier nach mehr unterzugehen. Obwohl ihm die Luft fehlte und seine Kehle brannte, endete sein Schreien nicht einem würgenden Gurgeln. Mehr als Schmerz und weitaus mehr als Angst passierte gefletschte, rot eingefärbte Zähne und brandete über seine Lippen. Man entwurzelte ihn, obwohl er schon seit Jahren geglaubt hatte, als roher Baumstrunk auf einer Laderampe zu liegen, man zerriss ihn, obgleich er gedacht hatte, bereits nichts weiter als ein Haufen von Glassplittern zu sein. Der ihn umgebende Lärm zwang ihn nieder, umschloss ihn mit der Kraft einer sich gnadenlos zur Faust ballenden Hand. Um seine Knöchel geschlossenes Metall hielt ihn auf den Knien, als er den nackten Rücken krümmte und, seinen Aufschrei erstickend, die Stirn auf den kalten Boden presste. Wulstige Narben schimmerten weiss und blutleer auf der über eine knochige Wirbelsäule gespannten Haut. Er hatte verloren. Sie, sich selbst, seinen Platz in der Welt – alles löste sich auf, zersprang wie ein fragiles Glas, das man beiläufig hatte fallen lassen, in tausende kleinster Scherben, die die Mühe, sie aufzukehren, gar nicht mehr wert waren. Hitze nahm seinen Körper ein. Kein rotes Glühen ungebärdiger Wut, keine angenehme Wärme einer zärtlichen Umarmung, sondern die niederschmetternde, fiebrige Hitze einer Krankheit, welche sich im Körper eingenistet hatte und ihn nun Stück für Stück zersetzte. Nässe sickerte in seine Haare, ob nun Blut, Schweiss oder Tränen schien einerlei zu sein. Seine Schultern zitterten unter einer unsichtbaren Last, die seine Knochen zu brechen drohte, als wären sie nichts weiter als dürre Zweige. Ein Laut entwich seiner Kehle, den er nie zuvor gehört hatte, der sich in seine Glieder frass und ihm die Luft nahm, der urplötzlich Tränen aus Eis über seine Wangen strömen liess und schliesslich sein Herz erreichte, den Teil seiner Seele, den er bisher hatte beschützen können. Ein Laut geboren aus Angst, Schmerz... und dem Wunsch, zu sterben.   „Cae.“ Hätte man ihn nach seiner Geburt gefragt, wäre die Beschreibung dieser weichen, gedämpft sprechenden Stimme und die Art und Weise, wie sie diesem Wort Klang verlieh, seine Antwort gewesen. Vielleicht hätte er sich noch an die sanfte Umarmung ausladender Schaufelhände, den unterschwelligen Geruch nach Minzöl oder den warmen Atem, der seine Wange streifte, erinnert, doch selbst als diese Erinnerungen unter den Narben vieler Jahre zu verblassen drohten, blieb jene, der er nachsagte, sein Halt in der Welt zu sein, bestehen; die Stimme seiner Mutter, die ihn bei seinem Namen nannte. „Namen“, hatte Athir immer wieder gesagt, „sind die Anker, die unsere Seelen in dieser Welt halten. Solange du deinen Namen nicht vergisst, kannst du dich selbst nicht verlieren – doch wenn du es tust, wird dir alles entgleiten, was dich jemals ausgemacht hat.“ Damals, geborgen in der Sicherheit der zahllosen unterirdischen Tunnelsysteme, die Gondram durchzogen, hatte er nicht vollständig verstanden, was Athir ihm damit hatte sagen wollen. Er brauchte keinen eigenständigen Namen, um besonders zu sein; das war eine Aufgabe, die sein Äusseres bereits übernahm. Obwohl kein Einwohner Torechs, der ‚Grossen Höhle‘, ihn das auf eine negative Art hatte spüren lassen, tat es der Offensichtlichkeit, dass er anders war, keinen Abbruch. Wo die kräftigen, kurzen Oberarme der Shimonshi in ausladende Schaufelhände übergingen, sassen bei ihm klauenartige Gliedmassen, die nur ihre Grösse mit der seines Volkes gemein hatten. Auf den breiten Nasen der Shimonshi sass zarter Flaum, der sich über die Stirn hinweg zu einer Mischung aus Fell und dicken Haaren entwickelte. In letzteres flochten sie mit Vorliebe kunstvolle Zöpfe, welche den Strähnen trotz ihrer schieren Masse den Eindruck von Struppigkeit nahmen. Dabei zeigten sie ein Geschick, das man ihnen in Anbetracht des Ausmasses ihrer Greifwerkzeuge gar nicht zugesagt hätte. An das durch zahlreiche Kristalle, welche die Höhlen- und Tunnelwände säumten, erzeugte Dämmerlicht perfekt angepasste, tiefschwarze Knopfaugen sassen inmitten von rundlich wirkenden Gesichtern. Caes Augen wiederum waren von einem intensiven Bernsteinton und mit einer geschlitzten Pupille versetzt, die bereits dem neugeborenen Mischling einen stechenden Blick bescherte. Zwei Reihen spitz zulaufender Zähne säumten seinen Mund und obschon er die fuchsrote Farbe des Haarwuchses seiner Mutter übernommen hatte, fielen sie ihm als feine, wirre Strähnen in Gesicht und Nacken. Sein Körperbau war drahtiger und menschlicher als jener der Shimonshi, seine Beine länger und sein Gesicht schmaler. Auch entzogen sich seine Hände dem eigentlichen Markenzeichen dieser Rasse und waren dank gebogenen Klauen absolut ungeeignet für die Grabarbeit, aus der ihr Leben hauptsächlich bestand. Die einzigen tatsächlichen Gemeinsamkeiten lagen in Körpergrösse, handwerklichem Geschick und dem Beutel mit Geburtssteinen, die sie alle gut behütet um den Hals trugen. Trotzdem fühlte Cae sich nie fehl am Platz. Wo andere nach Kristallen und Edelsteinen schürften, trug er die Fundstücke an ihre Lagerungsorte, reinigte und schliff sie oder begnügte sich bescheiden damit, überschüssiges Geröll und feinsten Diamantstaub wegzuräumen. Zudem machte ihn der Fakt, dass er im Gegensatz zu den Shimonshi keine Lichtempfindlichkeit zeigte, schon früh zu einem gefragten Träger von Waren, die auf die warteten Handelsschiffe bugsiert werden mussten. Einem Fremden war das Betreten des Gängesystems bereits seit jeher untersagt. Das Leben unter Tage war nicht das einer Bande von Abenteurern, doch boten die kunstvoll gegrabenen Gänge und ausladenden Höhlen mit ihren Leuchtkristallen, dem unablässig leise brummenden, warmen Fels, den unterirdischen Seen und Flüssen und einer Vegetation, von derer Existenz die Wissenschaftler des Himmelreichs nur phantasierten,  einem friedliebenden Volk die Ruhe und Sicherheit, die es benötigte. Cae wuchs inmitten dieser Gemeinschaft auf, ein stiller, mit Worten nicht unbedingt geschickter Mischling, der von seinem Vater gerade mal wusste, dass er zur menschlichen Unterrasse der ‚Schnapper‘, eine vom Nebel deformierten Daseinsform, gehörte. Der Nebel, so wusste er, war der Auslöser für eine gewaltige Katastrophe gewesen, die damals die Völker der Erde mitsamt den noch intakten Kontinenten in den Himmel getrieben hatte. Magie sei dabei im Spiel gewesen, ein gewaltiges Kräftemessen zwischen Zauberern und den verseuchten Schleierwolken. Manchmal schnappte Cae im Beisein von Matrosen der Handelsschiffe Geschichten auf, dass diese magische Kraft noch immer eine Bedrohung darstellte, doch befassten die Shimonsi sich ganz allgemein selten mit den Widrigkeiten der Aussenwelt. Obwohl Athir nie mit fantastischen Geschichten oder Liedern, die ihn an Orte weit weg von Gondram trugen oder noch tiefer in den fliegenden Felsen hineinführten, gegeizt hatte, blieb sein Vater ein Thema, über das sie beharrlich schwieg. Nicht, dass es ihn bekümmert hätte. Nachbohren lag bereits zu dieser Zeit nicht in seiner Natur und solange das Ausbleiben einer Antwort ihn nicht davon abhielt, geradeaus weiter zu gehen, interessierten ihn die Gründe auch nicht weiter. Nur manchmal, wenn er seine Arbeit getan und Kisten voller Schmucksteine auf fremde Schiffe verladen hatte, wenn er bereits im Begriff war, den Weiten ausserhalb des schwebenden Felsens wieder den Rücken zu kehren, hielt er inne und sah über die Schulter, wo sich Segel im Wind blähten und die Sonne warmes Licht über seine Haut gleiten liess. In diesen Momenten fragte er sich gelegentlich, wie ein Leben dort draussen am Himmel wohl sein würde. Wie es war, in einen der Stürme zu geraten, die manchmal an ihrem Kontinent vorbei zogen, wie dieser Nebel wohl roch und wie es sich anfühlte, von den ersten Strahlen der Morgensonne wachgekitzelt zu werden. Dass die Zeit im Licht  seine dunkelsten Stunden für ihn bereithalten würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.   War der Klang seines Namens die Stunde seiner Geburt, dann liess sich auch der Moment, in dem er seinem Tod erstmals unwissend die Hand reichte, festmachen. Selbst Jahre später erinnerte Cae sich an diesen Tag, als wäre sein restliches Leben ein Traum gewesen, aus dem er lediglich noch nicht aufgewacht war. Ein paar mutige Schleierwolken hatten sich vor die Sonne geschoben und eine frische Brise zauberte ein leises Heulen in die poröse oberste Gesteinsschicht Gondrams. In der Nacht davor musste es geregnet haben; das bisschen Erde, welches die Oberfläche des Felsens bedeckte, schmatzte unter seinen Schritten. Ihr würziger Geruch stieg ihm in die Nase. Obwohl die Morgenluft ein Frösteln in sich trug, spürte Cae die Kälte nicht. Sein Puls hatte den Takt seines Laufs bereits überholt und beschleunigte sich nun, als er den Blick vom Rücken des vor ihm gehenden Menschen löste und aufsah, noch einmal spürbar. Vertäut an in den Boden getriebenen Eisenringen schwebte das Himmelsschiff am Rand des Felsüberhangs. Dunkelbraun und bauchig zeichnete es sich gegen den hereinbrechenden Tag ab. Man hatte die Segel noch nicht gehisst und die Planke, über welche man das Gefährt betreten konnte, war noch immer ausgefahren. Es fühlte sich an, als hätte sich das ohnehin nicht nennenswerte Gewicht seines Bündels, das er über eine Schulter geschnürt hatte, soeben verflüchtigt. Ein Zucken wanderte durch seine Beine, ein Impuls, schneller zu gehen, doch behielt er das Schritttempo seines Begleiters bei. Ein Hauch von Minzöl streifte und überschwemmte ihn flüchtig mit dem leichten Stechen des Abschiedes, den er vor kaum einer Stunde erlebt hatte. Es war sein erster gewesen. „Nur zwei, drei Wochen.“, hatte er gemurmelt, während Athir ihn in ihrer Umarmung geborgen gehalten hatte, ohne etwas darauf zu erwidern. War sie sonst immer diejenige gewesen, die mit Worten Wunder zauberte, während er gebannt schwieg und lauschte, so war es nun an ihm, zu sprechen. Es war kein leichtes gewesen, ihre Zustimmung für diese Reise zu erhalten. „Dann bin ich wieder da. Versprochen.“ An einem Lederband und unmittelbar unter dem Beutel mit seinen Geburtssteinen sprang ein neuer, in einen feinen Käfig aus Eisen gefasster Stein auf seiner Brust auf und nieder. Athir hatte ihn ihm um den Hals gelegt, ehe er die Höhle, welche für gut zehn Jahre sein Daheim gewesen war, verlassen hatte. „Zum Schutze – und jetzt lauf. Auf bald.“ Das war alles gewesen, was sie noch gesagt hatte. Caes linker Fuss wechselte von rauem Fels, den sie seit einer halben Stunde bewanderten, auf Holz. Ein weiterer Schritt genügte, um Gondram hinter sich zu lassen. Etwas, das er bis anhin nicht gekannt hatte, schlich sich in seine Gliedmassen und fand kräuselnd den Weg über seinen Nacken bis hin zu seiner Kopfhaut; Aufregung, eine Spur Nervosität und ein Hauch von Angst, aus dem bekannten Rahmen ausgebrochen zu sein. Die Planken des Schiffes knarzten leise, als hiessen sie ihn willkommen. An Deck herrschte bereits eine gewisse Betriebsamkeit. Man war im Begriff, nach ihrem Betreten die Leinen zu lösen, die Planke einzuholen und die Segel zu hissen. Hinter dem Steuer stehend rief der Kapitän Befehle über die Köpfe seiner Mannschaft hinweg und unterbrach diese nur kurz, um ihre Ankunft zur Kenntnis zu nehmen. Der Mann, der ihn hierher begleitet hatte, drehte sich um und zwinkerte. „Dann kann’s wohl losgehen.“ Es war Cae nicht leicht gefallen, sich seinen Namen zu merken, da er so ganz anders klang als jene, die er sich bis anhin gewöhnt gewesen war. Dunjack hiess er und als er nun grinste, wurden die Hautfalten um Augen und Nase, welche nicht von einem dichten Bart oder buschigen Brauen bedeckt waren, noch tiefer. Cae atmete tief ein. Das war also der Platz, an den er für gut drei Wochen gehören würde. Ein Moment für Reue, das Angebot der mit einer stark dezimierten Mannschaft geschlagenen Kapitäns, das Handelsschiff bis zur nächstgelegenen Insel zu begleiten und an Bord zu arbeiten, um anschliessend hierher zurückgebracht zu werden, sobald die Ladung abgeliefert war und die Besatzung neuen Zuwachs erhalten hatte, angenommen zu haben, konnte gar nicht mehr aufkommen, als das Schiff nun, vom Felsen selbst gelöst, mit geblähten Segeln in die Luft stieg. Cae blickte über die Reling und sah, wie sich Gondram rasch unter ihm entfernte, während sie Fahrt aufnahmen. „Willkommen an Bord.“, lachte Dunjack und reichte ihm die Faust zum Grusse. Cae drückte seine eine Klaue dagegen und erlaubte sich ein kurzes Zucken der Mundwinkel. Hätte er zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass es Dunjacks Hand sein würde, die nach einer durchzechten Nacht den Sack Gold entgegen nahm, welcher für ihn gezahlt worden war, hätte er sie ihm aus dem Gelenk gerissen und in die bodenlose Tiefe unter ihnen geschleudert.   Das Holzstück traf ihn am Hinterkopf. Er stolperte über die rasselnden Ketten zwischen seinen Füssen und prallte gegen die feuchte Holzwand. Obwohl sein Schädel dröhnte und sein Blickfeld von springenden, weissen Flecken beherrscht wurde, fuhr er zischend herum und kauerte sich mit entblössten Fängen und vor sich in den Boden gegrabenen Klauen in die Ecke der Zelle. Schwer hob und senkte sich sein Brustkorb, als er nun den in seinem Zustand nur als Schatten wahrnehmbaren Menschen entgegenstarrte. Hitze lief über seinen Rücken; ein metallischer Hauch verriet ihm, dass es Blut sein musste, das sich zähflüssig seinen Weg über wulstige Narben und erst kürzlich verursachte Wunden suchte. Dick geschwollen, mehr Lappen als Organ, klebte seine Zunge an seinem Gaumen. Wasser- und Nahrungsmangel machten es ihm schwer, überhaupt auf den Beinen zu bleiben, geschweige denn, sich zu wehren. Worte, aus denen er nur den Klang von Spott, jedoch keinen Inhalt filtern konnte, prallten an ihm ab, als hätte man sie nach ihm geworfen. Erneut stiess der Balken zu, verfing sich zwischen zwei Finger seiner reflexartig hochgerissenen Pranke und wurde seinem Träger mit einem impulsiven Reissen zur Seite aus den Händen geschleudert.  Instinktiv und getrieben von Adrenalin schnellte er nach vorne. Die eisernen Fussfesseln an seinen Knöcheln zerrten die an ihnen befestigte Kette rasselnd über den Boden, als seine Klauen auf die erste Gestalt niederfuhren. Er spürte, wie sie Stoff, Haut und Muskelgewebe zerfetzten, hörte, wie sein eigenes heiseres Brüllen sich in einen schmerzerfüllten Aufschrei mischte. Ein dumpfer Aufprall, ein Zucken – erneut fiel die Pranke wie die Klinge einer Guillotine. Der Körper vor ihm verstummte. Eine Kralle ragte aus dem geöffneten Mund, abgesplitterte Zähne umgaben die Kuppe seines Fingers einer Ruinenstadt gleich. Es war, als hätte sich urplötzlich Nebel in seine Ohren gezwängt und ihn taub gemacht. Ihre Münder bewegten sich, doch erreichte ihn kein einziges Wort, kein Knarren von Holz, nicht einmal das hektische Schlagen seines Pulses. Die Welt schien stehen zu bleiben. Cae. Sein Name lautete Cae. Beinahe war es ihm, auf allen vieren kauernd wie ein wildes Tier, entfallen. Die Lederriemen, an welchen sein Beutel mit Geburtssteinen und der Anhänger baumelten, lagen auf seinem Schlüsselbein. Ihr Gewicht war nicht nennenswert, doch spürbar genug, ihn an seine Wurzeln zu erinnern. Sein Name war sein Anker. Er durfte ihn nicht verlieren. Eine Hand packte ihn im Nacken. Finger gruben sich in seine Haut, in den Narbenstrang, der seinen Hals wie eng anliegender Schmuck umschloss. Es war, als hätte man eine sich rasend schnell erhärtende Masse über ihn gekippt – schlagartig erstarrte sein kompletter Körper, seine Muskeln verwandelten sich innerhalb eines Blinzelns zu Stein. Für einen Sekundenbruchteil rührte er sich nicht, atmete nicht, dachte nicht mehr. Dann gab seine Beinmuskulatur nach und er krachte auf die Knie. Die eben noch zu todbringenden Klauen geformten Finger pressten sich flach auf den Boden, dabei nicht realisierend, dass der Untergrund, gegen den sie sich drückten, ein toter menschlicher Körper war. Inmitten geweiteter, gelber Augen zitterten zwei geschlitzte Pupillen, die ins Leere starrten. Ein Schneesturm tobte in seinem Kopf, kalt und voller Vergessen. Eis begrub die Stimme seiner Mutter, umschloss klirrend seinen Willen, seinen Geist, sein ganzes Selbst. Zurück blieb nur ein nackter, zusammengekauerter Embryo inmitten der Schneemassen, der sich Angst nannte.   „Ah, du bist also wach.“ Er wusste, wem die Stimme gehörte. Trotzdem blieb er, das Gesicht auf den kalten, weissen Boden gepresst, liegen. Antwortete nicht. Bewegte sich nicht. Eisen umschloss jeden seiner Finger – selbst jenen, dem nun eine Klaue fehlte. Füsse schoben sich in sein Blickfeld. Ihre dunkelbraune Haut liess den hellen Untergrund beinahe blendend wirken. Finger fuhren ihm durch die Haare und kämmten sie aus seinem Gesicht. Er wandte den Kopf nicht ab; Gegenwehr schien sinnlos geworden zu sein. Die Erkenntnis, dass er aufgegeben hatte, traf ihn weniger hart, als er es erwartet hätte. „Das Gift beginnt zu wirken, nicht wahr?“ Solun war in die Hocke gegangen und betrachtete ihn mit schräg gelegtem Kopf. Der Goldschmuck an seinen Knöcheln und dem Handgelenk, die goldene, mit Perlen besetzte Prothese, welche den Stummel seines linken Arms umschloss, die Ketten, die von seinem Hals hingen und seine Brust umschlangen, sich um sein eines noch intaktes Horn wickelten und an seiner Hüfte zu einem klimpernden Knäuel drapiert waren, funkelten im magischen Licht des Raumes. Kurz herrschte Stille. Noch immer ruhten die Finger in seinen Haaren, ehe sie plötzlich nach unten glitten. In die Richtung seines Nackens, hin zu dem Kranz aus Narben, der ihn umschloss. Cae schoss hoch, als wäre er soeben aus einem Albtraum aufgeschreckt. Reflexartig schnappte er mit gefletschten Zähnen nach der Hand, die ihn beinahe paralysiert hätte, doch war Solun schnell genug, sie zurück zu ziehen. Auf seine Züge legte sich ein süffisantes Schmunzeln, das seine Augen jedoch nicht erfasste. „Du lebst also noch.“, stellte er fest, während er ihn dabei beobachtete, wie er an den Metallschellen, die seine Finger am Boden hielten, riss. „Ich hatte für einen kurzen Augenblick befürchtet, sie hätten dich bereits gebrochen. ...was ziemlich erbärmlich wäre, in Anbetracht dessen, dass sie dir nur eine Klaue ausgerissen haben.“ Caes Herz trommelte gegen seinen Brustkorb und für einen kurzen Moment dachte er, es würde ein Loch in seine Rippenbögen hämmern. Atmen schmerzte. Jeder Luftzug kratzte über seine Kehle und liess sich nur mit Mühe in seine Lungen zwingen. Der Finger, dessen Kralle ihm genommen worden war, pochte und erinnerte ihn, obwohl er nicht hinsah, an den Verlust. „Verschwinde.“ Seine Stimme war so heiser, dass Cae sie kaum wiedererkannte. Jeder Buchstabe schrappte über seine Zunge, als müsse er sie alle einzeln ausspucken, um sie überhaupt zu einem Wort formen zu können. Übelkeit drückte gegen seinen Gaumen und brachte seinen Körper dazu, kaum hatte die impulsive Anspannung nachgelassen, wieder in sich zusammen zu sinken. Atemluft stiess gegen seine Oberschenkel, als er die Stirn vor den eigenen Knien auf den kühlen Boden drückte. Soluns helles Lachen antwortete ihm und setzte ein Klingeln in sein Ohr. „Keine Sorge, das hatte ich vor.“ Das Klimpern von Goldschmuck und Perlen begleitete die geschmeidige Bewegung seines Körpers, mit der er sich aufrichtete. „Jetzt weiss ich ja, dass du nur in Selbstmitleid badest und noch nicht vollständig zerbröselt bist. Oh, und bevor ich es vergesse; dein Einverleibungsritus steht nun fest. Du wirst also bald in die Arena zurückkehren.“ Cae hob den Kopf. Die Wesenheit mit der gebräunten, von einem goldenen Schimmer überzogenen Haut und dem schneeweissen Haar, dem einen blinden und dem anderen, giftgrünen Auge, einem intakten und einem abgebrochenen Horn, seinem dekorierten Armstummel, den in die Haut eingelassenen Diamanten unter dem linken Auge und den Ketten und Plättchen, die seinen Körper anstelle von Kleidung bedeckten, hatte innegehalten und blickte auf ihn hinunter. Angst überschwemmte ihn erneut, als er in seiner sonst so glatten, undurchdringlichen Mimik etwas erkannte, das an Mitleid erinnerte. „Deine Achillessehnen. Sie werden sie dir durchtrennen, auf dass du bis ans Ende deiner Tage ihre kriechende Kreation mit den monströsen Händen und dem hübschen Gesicht bleibst. Freiheit ist in deinem Fall der Wille, dem zu folgen, was man Schicksal nennt. Es umgarnt dich wie Nebelschwaden die aufgehende Sonne, auch wenn du es vermutlich selbst noch nicht greifen kannst. Mit der Fähigkeit zu laufen nehmen sie dir jeden Hauch an Hoffnung, diesen Pfad jemals zu beschreiten.“ Solun zuckte die Schultern, der Ausdruck von Mitgefühl wurde von seinem Gesicht gespült wie ein Bach Laub von seinem Ufer wischen würde. „Du siehst also. Die Zeit, zu brechen, kommt erst noch. Schlaf gut, Prankenjunge.“   Wieder kauerte sie ausserhalb der Gitterstäbe, eine Gestalt in Weiss und Rot, die sich wie ein Geist gegen die Dunkelheit und Kälte des Kerkers abhob. Das von den feuchten Wänden wiederhallende Echo ihres Flüsterns hatte ihn aus dem Dämmerschlaf geweckt. Vleer hockte bereits vor den Stangen aus Eisen und hatte ihre Hände in die der Frau mit dem langen, schneeweissen Haar gelegt. Ihre an eine Fledermaus erinnernden Ohren zuckten aufgeregt und ein sachtes Fipsen, ein Ausdruck von Freude, wie er inzwischen festgestellt hatte, kam über ihre ihr Gesicht beinahe spaltenden Lippen. Lederne, mit feinstem Flaum bedeckte Membran spannte sich zwischen ihrer Hüfte und den knochigen Fingern, die sich nun im Ärmelstoff ihres Gegenübers vergruben. Neben ihm bewegte sich etwas. Caes nun wache, glühende Augen erfassten die Umrisse von Tjald, der sich fröstelnd erhob. Seine Schuppen verursachten dabei ein leises Klappern, ein Geräusch, das entfernt an ein hölzernes Windspiel erinnerte. Ihm setzte die Kälte der unterirdischen Verliesse am meisten zu. Seine Heimat waren die warmen Gewässer eines Cae unbekannten Kontinents gewesen, bevor er sich in die Netze der Schatzjäger des Dvorana  Netvor verstrickt hatte – das hatte er ihr bei ihrem zweiten Besuch in gebrochenem Terran erzählt, wobei sie selbst den Ort, an dem sie zuvor gewesen waren, mit diesem Namen versehen hatte. Cae schälte sich aus der Flickendecke, ebenfalls eine Gabe der Gestalt in Weiss. Seit der Zirkus sie aus den hellen, magisch beleuchteten Schaukästen, aus der internen Arena, in der Cae seine Klaue und Vleer ihre Nase verloren hatten, entlassen hatte, waren vielleicht Tage, vielleicht gar Wochen vergangen. Die ewige Dunkelheit, welche weder von Kerzen noch Fackeln gelichtet wurde, liess sie die Zeit vergessen, während die Zeit selbst sie offenbar ebenfalls vergessen hatte. Keiner hatte sich um sie gekümmert, seit sie in dieses schwarze Loch geworfen worden waren. Keiner ausser ihrer Besucherin mit den roten und weissen Gewändern. Sie hatte sich zum ersten Mal kurz nach ihrer Ankunft in die Kerker geschlichen und kehrte seither in unregelmässigen, doch konsequenten Abständen zurück. Decken und das bisschen an Wasser und Nahrung, das sie hatte her schmuggeln können, waren durch die Gitter gereicht worden. Vleer hatte in ihrer Verzweiflung am schnellsten auf sie reagiert und war zu Beginn gar nervös an den Zellenstäben auf und ab gelaufen, wenn sie nicht auftauchte. Cae wiederum hatte sie anfangs völlig abgestossen. Gefangen in einer Umgebung, die hätte die seine sein können, wäre dieser Stein nicht kalt und tot gewesen, ohne das Flüstern seiner Heimat Gondram, ohne das hallende Echo und das wärmende Licht der Kristalle, weigerte er sich schlichtweg, jemandem zu vertrauen, der die gleichen Farben trug wie jene Menschen, die sie in holpernde Wagen verladen und an Ketten in diese nach verrottendem Fleisch stinkenden Hallen gezerrt hatten. Vertrauen war nicht mehr Teil seiner Existenz, hatte er geglaubt. Bis sie ihn eines Besseren belehren konnte. Sein Blick fiel auf den blutroten Schal, den er eng um den Hals geschlungen trug, und ein Gefühl von Wärme breitete sich auf seiner Brust aus. Was für viele nicht mehr als ein Stück edlen Stoffes war, hatte ihm etwas geschenkt, das dem Gefühl der Umarmung von Athirs gigantischen Schaufelhänden und dem Hauch von Minzöl nahe kam. Ohne mit ihm gesprochen zu haben und obwohl er sich ausserhalb des Lichtkegels ihrer Laterne zusammengekauert und jeden Blick in seine Richtung mit einem dunklen Knurren quittiert hatte, hatte sie die Narbenkrause und die Art, wie er sie zu verbergen versuchte, bemerkt. Der Schal war ihre Antwort gewesen. Roter Stoff verbarg nun seine verletzlichste Stelle, bewahrte die beiden Ketten, die man ihm als einzigen Besitz gelassen hatte, und verankerte den Namen seiner vorherigen Besitzerin unauslöschlich in seinem Kopf. Astaroth.   Wie lange hatte er den Sternenhimmel nicht mehr gesehen? Die kalte Abendluft brannte in seinen Lungen, doch bremste das Caes Lauf nicht. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen, als wäre er ein Funken Glut, bereits im Begriff, auszugehen, den ein unerwarteter Windstoss wieder hatte Feuer fangen lassen. Ein Schrei stemmte sich gegen seine Kehle und es fiel ihm unendlich schwer, ihn zu schlucken. Er verlangsamte sein Tempo, als die Geräusche eines sich ebenso rasch bewegenden Körpers hinter ihm leiser wurden. Sie holte zu ihm auf, gekleidet in einen schwarzen Reiseumhang, der Weiss und Rot unter sich verbarg. Die Kapuze warf ihr tiefe Schatten ins Gesicht, doch registrierte Cae ein flüchtiges Lächeln, als sie wieder neben ihm herlief. Vleer kreiste über ihnen. Das Schlagen ihrer ledernen Schwingen und die kaum zu vernehmend hohen Geräusche, die sie immer wieder ausstiess, drangen an Caes feines Gehör. Ihre sich kaum gegen das Firmament abzeichnende Gestalt glitt wie eine Projektion einer anderen Ebene über sie hinweg. Kurz verweilten Caes Gedanken bei Tjald. Sie hatten ihn geholt, vier von ihnen, und mit sich fortgeschleift. Er war nicht zurückgekommen. Astaroth war es gewesen, deren Laterne fahles Licht in die Zelle warf. Cae sah vor seinem inneren Auge erneut, wie ihre Hände bebten. Er schmeckte den metallenen Gout von Blut förmlich auf der Zunge, roch den Gestank von Gewalt und Tod, der an ihr klebte wie eine zweite Haut. Und er hörte ihre Worte, eindringlich, leise und erfüllt von etwas, das keine Angst mehr war. „Wir müssen fliehen.“ Seither rannten sie. Durch kalte, nackte Gänge im Fels, durch lange, menschenleere Flure, durch Gassen und Hinterhöfe. Während sie voran hasteten, sickerte ein Rinnsal des Begreifens, wie Wasser zwischen Steinen zu verschwinden pflegte, in Caes Bewusstsein. Er begann zu verstehen, was Solun mit einem ‚Nebelhauch von Schicksal‘ gemeint hatte. Er erkannte, was es bedeutete, dass er nicht blind in die Nacht stürmte, sondern gleichauf mit ihr lief. Eine der Legenden, die Athir ihm oft erzählt hatte, handelte von einem reinweissen Kristall. Dieser Kristall, so hiess es, war das Herz des Felsens, der Ursprung allen Lebens in und auf dem warmen Stein.  Er brachte das erste Licht in das Reich tief unter der Erdoberfläche, nährte die unterirdischen Flüsse und Seen, liess Vegetation erblühen und schloss ihr Volk in seine schützende Umarmung aus sanfter Helligkeit. Cae hatte dieses Wunder ihrer Welt nie mit eigenen Augen zu sehen bekommen, ehe er seiner Mutter entrissen worden war, doch kannte er seine Bezeichnung, seit er fähig war, Worte zu formen. Silef. In jener Nacht, vielleicht gar davor, wurde Astaroth zu seinem Kristall in der Dunkelheit. Zu seinem Neuanfang. Cae blieb bei ihr, als Vleer sich in die Lüfte schwang und flatternd in der selbst im Mondlicht finster bleibenden Unendlichkeit über der Klippe verschwand. Er folgte ihr, als sie die Kutsche, welche hinter der Stadtmauer auf sie gewartet hatte, wieder verliessen und an Bord eines Schiffes traten. Er stellte sich vor sie, wann immer er Gefahr witterte, vertraute ihren Entscheidungen, ihrem Weg – und fand sich schliesslich an ihrer Seite an Bord der Windbruch wieder, einem Ort, den er bald 'Zuhause' nennen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)