Kirschblüten im November von Sakuran ================================================================================ Kapitel 3: Zusammen ist man weniger allein (Mimi) ------------------------------------------------- Dieser gesamte Abend war absolut beschissen verlaufen. Wie konnte es nur dazu kommen, dass ich diesen Kuss zuließ? Was ist da zwischen mir und Tai passiert? Es war kein Kuss, nur um mich zu schützen und mein Gesicht zu wahren. Die Art wie er mich küsste, war leidenschaftlich und beinahe schon sehnsüchtig. Zuletzt sprach er sogar davon, dass er nicht jede Frau küsste, sondern nur ganz besondere oder aber alte Freunde. Was war ich denn für ihn? Die Besondere oder die alte Freundin? Was ich mir ebenfalls nicht erklären konnte war, wann seine Stimmung dermaßen kippte. Plötzlich war er so bösartig und abweisend zu Koushiro. Selbst als ich mich von ihm verabschiedete konnte ich in seiner Stimme deutlich eine gewisse Gereiztheit heraus hören. Mein nasses Haar klebte mir auf den nackten Schultern und irgendwie fröstelte es mich. „Soll ich die Heizung anstellen?“ Die Stimme meines besten Freundes riss mich unerwartet aus meinen Gedanken. Eine ganze Weile saß ich schweigend neben ihm in seinem Auto, bis Koushiro schließlich das Schweigen brach. Er musste wohl mein Zittern bemerkt haben. Ich spürte seinen besorgten Blick auf meinem Körper und nickte nur auf seine Frage hin. „Sag mal, was ist das gerade zwischen dir und Tai gewesen? Es schien, als wäre er wütend auf dich.“ Ich beobachtete im neonfarbenen Schein der Straßenlaternen, dass Koushiro über meine Frage nachdenken musste. Es wirkte, als würde er die richtigen Worte suchen, sie aber nicht finden. „Ich weiß nicht. Vielleicht hat es ihn geärgert, wie die beiden Weiber über dich gesprochen haben. Du kennst doch Tai, an irgendeinem lässt er seine schlechte Laune immer aus.“ Sein künstliches Lächeln konnte mich nicht davon überzeugen, dass er seinen Worten selbst Glauben schenkte. „Hat Tai denn eine feste Freundin?“ Ach verdammt, habe ich diese Frage tatsächlich laut ausgesprochen? Sofort griff ich mir mit meiner rechten Hand an den Kopf und biss mir auf die Unterlippe. Ich hatte Koushiro nichts von meinem Kuss mit Taichi erzählt. Alles was er wusste war, dass zwei ehemalige Mitschülerinnen schlecht über mich gesprochen hatten und Taichi sie diesbezüglich zurecht stutzte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es könnte zwischen uns Dreien eine merkwürdige Situation entstehen, wenn Koushiro davon wüsste. Aber meine Frage nach einer festen Freundin war genauso unangebracht. „Also im Moment ist da niemand soweit ich weiß.“ Seine Antwort kam prompt und ich war erstaunt, dass Koushiro überhaupt nicht verwundert wirkte. „Ich weiß, dass er vor einigen Jahren eine feste Beziehung hatte. Vielleicht zwei Jahre, die beiden lernten sich irgendwann im Abschlussjahr kennen und selbst im ersten Jahr an der Uni waren sie noch ein Pärchen. Aber irgendwie beendete Tai es dann schlagartig. Er hat mir niemals erzählt warum und seitdem hatte er auch keine feste Freundin mehr.“ Das waren doch mehr Informationen als ich eigentlich wollte. Offenbar hatte er an meiner dämlichen Frage gehört, worauf ich eigentlich hinaus wollte. Koushiro kannte mich einfach viel zu gut. Ich lächelte verlegen und fuhr mit beiden Händen über meine eiskalten Oberschenkel. „Und was ist mit dir mein Bester? Gibt es da ein besonderes Mädchen in deinem Leben?“ Ich grinste frech und wollte meine Neugier bezüglich Taichis Liebesleben in eine allgemeine Richtung drängen. Trotz der nächtlichen Dunkelheit erkannte ich, dass meine Frage eine gewisse Verlegenheit in Koushiros Gesicht trieb. Er war einfach zuckersüß wenn er so nervös wurde. „Als ob du es nicht sofort wüsstest, wenn es da eine besondere Frau gäbe.“ Seine Antwort war kurz und prägnant. Leider hatte er auch noch recht damit. Es gab eigentlich keine Geheimnisse zwischen uns und von einer festen Freundin hätte er mir wohl erzählt. Obwohl ich tatsächlich etwas erschrocken war, als Taichi anmerkte, dass auch Koushiro kein Kostverächter wäre und sich genauso auf bedeutungslose Abenteuer mit Frauen einlassen würde. Bei Gelegenheit sollte ich da wohl etwas intensiver nachbohren. „Was ist mit deinem neuen Job? Bist du schon aufgeregt?“ Ich grinste süffisant, als er mir diese Fragen stellte. Wie immer wendete er sich aus einer unbequemen Situation, indem er einfach das Thema wechselte. „Ich freue mich sehr, dass ich bei dem Magazin anfangen kann. Zwar zunächst als einfache Mode-Kolumnistin, aber aller Anfang ist schwer. Wie gefällt es dir in deinem Job und ein Kollege von Tai zu sein? Ihr beide hängt ja zusammen wie ein altes Ehepaar.“ „Das sagt meine Mutter auch immer. Wir können uns zwar manchmal unwahrscheinlich auf die Nerven gehen, aber im Grunde bin ich froh, mit ihm zu arbeiten. Der Job an sich macht mir auch Spaß. Als leitender Informatiker habe ich viele interessante Aufgaben und Langeweile kommt eigentlich selten auf.“ Ich hatte ihn schon lange nicht mehr so begeistert über etwas sprechen hören. Offenbar hatte Koushiro seinen Weg gefunden, denn auch seine letzten Jahre waren nicht nur von Sonnenschein geprägt. Er brachte den Wagen vor meinem Wohnhaus zum stehen und sah mich lächelnd an. „Wollen wir morgen zu dritt an den Strand gehen?“ Etwas verblüfft hob ich meine Augenbrauen und musterte ihn misstrauisch. Hatte er denn noch nicht genug von mir und was war mit Taichis schlechter Laune? Würde der überhaupt mitkommen? Nichts desto trotz reizte mich ein Tag am Meer und was sollte ich sonst am Sonntag machen? Also sagte ich zu und stieg aus dem Auto aus. Koushiro begleitete mich zur Tür und wir beide blieben stehen. Ich musste ungewollt lächeln, denn es sah so aus, als hätten wir ein Date gehabt und er brachte mich gerade nach Hause. Sanft fuhr ich mit meinen Fingern durch sein Haar. Es war inzwischen vollständig getrocknet und ein leichter rötlicher Schimmer auf seinen Wangen verriet mir, dass es ihn nervös machte, wenn ich ihn auf diese Weise berührte. „Gute Nacht Koushiro...“ flüsterte ich leise und löste meine Finger von seinem Kopf. „...vielen Dank, dass du mir ein so guter Freund bist. Ich möchte dich in meinem Leben niemals missen und ich weiß, dass ich das viel zu selten sage.“ In seinen dunkelbraunen Augen spiegelte sich eine gewisse Verwunderung. Ich öffnete die Hauseingangstür und lächelte sanft. „Holst du mich morgen ab, damit wir zusammen zum Strand fahren können?“ Er nickte stumm und ich spürte, dass er etwas sagen wollte, doch er tat es nicht. Stumm schob er seine Hände in die Hosentaschen und ging einige Schritte rückwärts, bis er sich schließlich umdrehte und zurück zu seinem Auto lief. Bevor er einstieg hörte ich noch ein zögerliches »Gute Nacht, Mimi.«. Seufzend begab ich mich zum Fahrstuhl und kam nicht umhin, noch die gesamte Nacht über diesen verrückten Abend nachzudenken. Verschlafen stand ich am darauf folgenden Sonntagmorgen an der Straße und wartete auf Koushiro. Er hatte mich angerufen und mir mitgeteilt, dass er in einer Stunde vor meinem Haus stehen und mich abholen würde. Jetzt wartete ich bereits seit fünfzehn Minuten und er war nicht zu sehen. Ich setzte mich auf meine Strandtasche, zog meine Beine dicht an den Körper und winkelte meine Ellenbogen an, damit ich mein Gesicht darauf ablegen konnte. Ich wollte gerade mein Telefon zücken und ihn hysterisch schreiend anrufen, als ich im grellen Schein der Sommersonne sein Auto auf der Straße erkannte. Sichtlich beschämt stieg er aus dem Wagen und neigte mehrfach entschuldigend seinen Kopf. Wütend stand ich auf und warf ihm meine Tasche gegen die Brust. „Halt die Klappe und fahr los! Holen wir den dämlichen Trottel von zu Hause ab oder bewegt der hübsche Prinz seinen Knackarsch selbst zum Strand?“ Als ich mich auf den Beifahrersitz setzte verschränkte ich meine Arme vor der Brust und starrte Koushiro mit meinem bösen Blick nieder. „Er will nicht mitkommen. Deswegen habe ich mich verspätet. Ich habe jetzt sicherlich eine halbe Stunde mit ihm diskutiert, aber er will nicht. Tai meinte, dass er sich heute mit seiner Schwester treffen wolle und deshalb keine Zeit hätte.“ Merklich verstimmt blies ich meine Wangen auf und drückte meinen Kopf in den Sitz. „Was soll das heißen? Will er mir erzählen, dass er den ganzen Tag bei Hikari ist? Wohl eher nicht, vielmehr glaube ich, dass dieser dämliche Trottel immer noch beleidigt ist, so wie ein kleines Baby. Wo wohnt Hikari denn? Ich habe sie auch schon sehr lange nicht mehr gesehen und auf einmal verspüre ich starke Sehnsucht nach ihr...“ „Ich dachte auch, dass er irgendwie sauer wirkte. Aber er wollte mit mir nicht darüber sprechen. Seine Schwester wohnt oben in Sumida, willst du jetzt etwa dorthin?“ „Genau, wir fahren ihn dort abholen. Dieser dämliche Vollidiot, was hat der für ein Problem?“ Es war eine kurze Diskussion, die ich mit Koushiro diesbezüglich führen musste, bis er schließlich in Richtung Sumida fuhr. Ich wollte jetzt wissen, was Tai für ein Problem mit mir oder Koushiro hatte. Wir waren doch nicht mehr im Kindergarten und so einfach ließ ich diesen Trotzkopf nicht davon kommen. Nach einer schier endlosen Fahrt durch die Hitze der pulsierenden Stadt, erreichten wir den weitläufigen Gebäudekomplex, in dem Hikari zu wohnen schien. Koushiro machte kein Geheimnis daraus, dass es ihn wortwörtlich ankotzte, dass wir jetzt hier waren. Er wusste, dass es Ärger mit Tai geben würde und hatte wohl keine große Lust weiter mit ihm zu streiten. Doch ich ließ mich davon nicht beirren und außerdem wollte ich meine kleine und jüngste Freundin auch endlich wieder sehen. Fröhlich posaunte ich in die Gegensprechanlage, als ich Hikaris Stimme am anderen Ende hörte, woraufhin diese ebenfalls in schallende Freudenschreie ausbrach und uns die Tür öffnete. „Ach du meine Güte, Mimi! Du siehst fabelhaft aus!“ begrüßte sie mich an ihrer Eingangstür und ich schlang sofort meine Arme um sie. Sie war noch immer so klein und zierlich wie damals. Ihr Haar reichte lediglich bis zum Kinn und sie trug eine Brille. Alles in Allem sah sie sehr erwachsen aus, vielleicht ein bisschen zu dünn für meinen Geschmack. „Es ist viel zu lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wie geht es dir?“ antwortete ich schließlich. Doch unser freudiges Wiedersehen wurde jäh unterbrochen, als Taichi hinter seiner kleinen Schwester auftauchte und sich missmutig gegen den Türrahmen lehnte. Zunächst galt sein zorniger Blick Koushiro, bevor er schließlich mich ansah. „Ihr seid ja wie die Kletten. Was wollt ihr denn hier? Ich habe doch gesagt, dass ich heute keine Zeit habe, um an den Strand zu fahren...“ Gelangweilt von seinen Worten verdrehte ich meine Augen und schob ihn sachte zur Seite, damit ich in die Wohnung meiner Freundin eintreten konnte. „Bleib mal ganz locker Yagami oder wurdest du heute Morgen mit dem Klammerbeutel gepudert?“ Sein genervtes Zischen ließ mich völlig kalt und neugierig sah ich mich in der Wohnung um. Hikari lebte alleine in dieser Zwei-Raum-Wohnung. Im Wohnzimmer sah ich einige alte Fotos von uns aus Schulzeiten und Kindertagen. „Warum seid ihr hier? Was soll das Izzy?“ hörte ich Taichi angespannt sagen, als er mit Koushiro im Flur stehen blieb. „Sie wollte unbedingt Hikari sehen...“ versuchte sich dieser irgendwie aus der Affäre zu ziehen. „Sag mal Kari, warum ist dein Bruder heute so schlecht gelaunt? Ich bin erst seit zwei Tagen in der Stadt und schon macht er mir das Leben schwer. Wir wollten heute zu dritt ans Meer fahren und er spielt seit gestern Abend die beleidigte Leberwurst.“ Meine jüngere Freundin stand grinsend neben mir. Es schien, als wüsste sie mehr als ich und doch sah ich etwas in ihren Augen, dass überhaupt nicht fröhlich wirkte. Was war das nur für ein trauriges Leuchten in ihren braunen Augen? Nachdenklich musterte ich noch einmal ihre Wohnung und stellte fest, dass zwar überall Fotos von uns standen, aber kein einziges von ihr und Takeru. Was war geschehen? Die beiden waren doch immer wie Pech und Schwefel. „Mein Bruder ist kompliziert, das weißt du doch. Man muss ihn eben zu seinem Glück zwingen. Nehmt ihn ruhig mit, ich wollte mich heute sowieso noch mit einigen Freundinnen treffen...“ Ihre Worte und der darauf folgende Protest ihres großen Bruders rissen mich aus meinen Gedanken. „Wie bitte? Wie kannst du mir so in den Rücken fallen? Wir waren heute miteinander verabredet!“ „Ach Tai, du solltest ein wenig mit deinen Freunden raus gehen und spielen. Sei mal ein bisschen locker und weniger Business-Man...“ Es war immer noch niedlich, wie die beiden miteinander umgingen. So unbeschwert und natürlich. Die beiden waren schon immer durch ein starkes Band miteinander verbunden. Sie waren so viel mehr als Geschwister. Sie waren Freunde. „Hör auf wie Mama mit mir zu sprechen!“ Die Zwei lieferten sich ein hitziges Wortgefecht, bis ich schließlich dazwischen ging und Taichi sachte aus der Wohnung manövrierte. „Hey! Nimm deine Finger weg, ich will nicht mit euch zum Strand!“ fluchte er verdrossen und packte mich an den Handgelenken. „Sonst stört es dich doch auch nicht, wenn eine Frau Hand anlegt. Also sei ein braver Junge und tu mir diesen Gefallen. Ich möchte mit dir Zeit verbringen, wir haben uns so lange nicht gesehen und der gestrige Abend war nicht unbedingt unter meinen persönlichen Top 10.“ Plötzlich wurde Taichi ganz still und zeigte keinerlei Gegenwehr. Sein wütender Blick verschwand und beinahe traurig sah er mich an. „In Ordnung...“ sagte er leise. „...aber ich brauche eine Badehose und eine Sonnenbrille.“ Ich hörte ein lautes Stöhnen von Koushiro, der mit hängendem Kopf die Wohnung verließ und am Fahrstuhl auf uns wartete. Offenbar hatte der Rothaarige keine große Lust, mit seinem besten Freund auch noch einkaufen zu gehen. Ich hingegen wendete mich zu Hikari und nahm sie fest in meine Arme. „Ich bin so glücklich darüber, dass ich endlich wieder zu Hause bin. Wir müssen uns unbedingt wieder treffen und dann musst du mir alles erzählen.“ Als ich mich von ihr löste, starrten ihre knopfrunden braunen Augen fragend in mein Gesicht. Ich zwinkerte ihr zu und lehnte mich zu ihr runter, damit ich ihr etwas ins Ohr flüstern konnte. „Das mit dir und Takeru...ich will alles wissen.“ Dann eilte ich zu meinen Jungs, die schon wieder drauf und dran waren sich gegenseitig aufzufressen. Drei Klamottenläden und fünfundvierzig Autominuten später erreichten wir endlich den Strand. Inzwischen stand die Mittagssonne im Zenit und verbrannte den Asphalt unter meinen Füßen. Ich schob mir meine schwarz getönte Sonnenbrille immer wieder die Nase hinauf und konnte es kaum erwarten ins Meer einzutauchen. Koushiro schien jedoch am Rande des Wahnsinns zu sein, denn ich konnte die unterschwellige Aggression in jedem seiner Schritte sehen. Taichi hingegen flanierte lässig über den Sand und erfreute sich einer unverschämt teuren »Prada Sonnenbrille« und neuer Bermudashorts. Beinahe schon auffällig absichtlich ließ er bei jedem vorbei laufenden Mädchen, seine Sonnenbrille etwas tiefer gleiten und musterte deren Körper ganz genau. Sollte er doch seine dämlichen Spielchen spielen, ich stand da drüber. Ich war schließlich erwachsen und kein Teenager mehr. So leicht konnte man mich nicht eifersüchtig machen. Zumindest war ich sehr bemüht, diesen Anschein zu erwecken, was mir aber verflucht schwer fiel. Im Gedränge aus Touristen und anderen Badegästen ergatterten wir einen Platz unweit eines kleinen Strandrestaurants. Ich hatte keine Geduld mehr mein Handtuch auszupacken und mich in aller Ruhe auszuziehen, denn ich schmolz dahin. Ungeduldig zerrte ich an meinem Sommerkleid, bis ich es endlich über den Kopf bekam und rannte wie eine Wahnsinnige ins Wasser. Der heiße Sand verbrannte mir die Fußsohlen und kreischend sprang ich in die salzigen Wellen. Mein Badeanzug sog sich mit Wasser voll und für einen kurzen Moment erschauderte ich unter der Kälte des Ozeans. Mit geschlossenen Augen tauchte ich unter und ließ mich einige Sekunden von der Strömung treiben, bis ich mich mit beiden Füßen vom Meeresboden abstieß und wieder auftauchte. „Ach übrigens….“ hörte ich eine tiefe Stimme hinter mir und noch ehe ich mich umdrehen konnte, spürte ich eine kräftige Hand in meinem Genick. „...das ist für den »Klammerbeutel«.“ Und schon drückte er meinen Kopf in die nächste Welle. Keuchend tauchte ich wieder auf und rieb mir entsetzt meine Augen. Sein schallendes Gelächter trieb mir die Röte ins Gesicht und wütend griff ich nach seinem Arm, doch Tai stand wie ein Fels in der Brandung. Egal wie sehr ich an ihm zerrte, schubste, kratzte, biss oder kreischte. Lachend tauchte er mich abermals unter Wasser und zog mich im selben Moment wieder nach oben. „Da musst du noch etwas trainieren. Mit deinen dünnen Pudding Ärmchen hast du keine Chance gegen mich, meine Süße!“ sagte er und ich konnte nicht eine Sekunde länger gegen ihn ankämpfen. Hustend und röchelnd hielt ich mich an ihm fest, da mich meine Kräfte verließen. Trotz meiner erbärmlichen Niederlage musste ich lächeln. Wir spielten wie kleine Kinder und offensichtlich hatte sich seine schlechte Laune auch etwas gebessert. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlang ich meine Beine um seine Hüften und legte meinen Kopf erschöpft auf seine Schulter. Ich weiß nicht, wie lange wir auf diese Weise in den Wellen standen, aber ich genoss seine Wärme und die Nähe zu ihm. Irgendwann spürte ich sogar seine Hände und wie er mir damit sanft über den Rücken streichelte. Es fühlte sich so vertraut an. Ich vermisste es, mich in den Armen eines Mannes beschützt zu fühlen. Langsam schloss ich meine Augen und schmiegte mich etwas dichter an seine Brust. Am liebsten hätte ich ihn nie wieder los gelassen. Woher kamen nur diese Gefühle in meiner Brust? Wie konnte es möglich sein, dass nach all den Jahren immer noch eine so große Anziehungskraft zwischen uns bestand? Unentwegt musste ich an unseren Kuss von gestern Abend denken. Wie sich seine rauen Lippen fordernd auf meine legten. Ich schmeckte noch immer seinen bittersüßen Geschmack auf meiner Zunge. Es war eine Mischung aus seiner letzten Zigarette und Bier. Im Grund wollte ich es mir nicht eingestehen, aber dieser Kuss hatte in mir etwas geweckt. Ein Verlangen, welches ich so sorgfältig versuchte zu verbergen. Nicht zuletzt durchflutete diese Sehnsucht nach ihm meinen gesamten Körper und ließ mich unter jeder Berührung seiner Finger erzittern. „Lass uns zurück gehen, sonst brät Izzy wie ein Scampi in der Pfanne. Er möchte sicherlich auch ins Wasser...“ Als Tai mich langsam von sich drückte, konnte ich meine Enttäuschung nur schwer verbergen, aber ich nickte lächelnd und gemeinsam gingen wir zurück zu unseren Plätzen. War ihm meine Nähe zu viel? War das vielleicht der Grund, warum er gestern Abend so missmutig reagierte? Aber weshalb kam er dann zu mir ins Wasser? Ich wurde aus diesem Kerl einfach nicht schlau. Nach all den Jahren war es immer noch dieses auf und ab, heiß und kalt, nah und fern zwischen uns. Koushiro lag dösend auf dem Bauch und hatte sein Gesicht unter den Armen vergraben. Mir war gestern schon aufgefallen, dass er ein ziemlich breites Kreuz hatte. Einzelne Muskelfasern zeichneten sich unter seinen Schulterblättern ab und zogen sich diagonal verlaufend in seine Oberarme. Natürlich hatte ich ihn schon sehr oft mit freiem Oberkörper gesehen, aber seine männliche Statur war mir noch nie zuvor wirklich aufgefallen. Ich sah kurz zu Taichi und signalisierte ihm, dass er still sein sollte. Sofort verstand der Brünette und grinste schadenfroh, als ich mich ohne Vorwarnung auf Koushiro legte. Ich war nicht nur nass, sondern auch eiskalt. Mein Freund fuhr unter einem lauten Aufschrei zusammen, doch ich blieb unbeirrt auf seinem Rücken liegen und klammerte meine Arme um seine Brust. „So kalt ist das Wasser….“ sagte ich lachend. Ich spürte seine Gänsehaut unter meinen Fingern und roch den Duft seines Parfüms. Meine Beine legte ich neben seinen Hüften ab und platzierte meinen Hintern bequem auf seinem, während er versuchte sich unter mir zu winden und sich somit zu befreien. „….Oh, oh, oh Izumi-san, so willst du dich aus meinem Griff befreien? Das geht doch besser, denn wirkliche Mühe gibst du dir nicht.“ sagte ich provokant und legte meine Lippen sachte an sein Ohr. „Warum sollte ich mir auch Mühe geben? Ich finde deinen scharfen Hintern, der auf meinem sitzt, überaus reizvoll.“ antworte er mir flüsternd und ich riss etwas verblüfft meine Augen auf. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass Koushiro Izumi soeben mit mir flirtete? Auf einmal packten mich seine Hände an den Oberschenkeln und beförderten mich auf den Rücken. Unbeeindruckt erhob sich der Rothaarige und sah von oben mit einem breiten Grinsen auf mich herab. „Ts, ts, ts Tachikawa-san, verliere deinen Gegner niemals aus den Augen.“ Dieser Mistkerl, hatte mich absichtlich verwirrt. Ich setzte mich aufrecht hin und beobachtete meinen Freund dabei, wie er ins Wasser rannte. „Wirklich durchtrieben. Ich frage mich, woher er solche hinterhältigen Verhaltensweisen hat?“ Eigentlich sprach ich mit mir selbst, aber Taichi saß kichernd neben mir und zündete sich gerade eine Zigarette an. Es war immer noch merkwürdig für mich, dass er rauchte. Aber über die Jahre hatte sich eben so einiges verändert. „Ich würde sagen, dass er in dir die beste Lehrerin hatte.“ Argwöhnisch verzog ich meine Mundwinkel und blickte auf Tai nieder. Er lag entspannt auf seinem Handtuch in der prallen Sonne und hatte seinen rechten Arm unter seinen Kopf geschoben. Mit der linken Hand bewegte er seine Zigarette immer mal wieder zu seinen Lippen. Seine Brustmuskeln hoben sich gleichmäßig bei jedem Atemzug und ich kam nicht umhin, ihn versehentlich etwas weiter unterhalb seines Bauchnabels zu mustern. „Arsch.“ stöhnte ich und streckte ihm die Zunge raus. „Zicke.“ erwiderte er grinsend und streckte mir ebenfalls seine Zunge raus. Die Zeit verging wie im Fluge und irgendwann muss ich wohl tatsächlich eingeschlafen sein. Mir war unsäglich heiß und der Schweiß perlte mir von der Haut, als ich mich keuchend auf meinem Handtuch aufsetzte. Neugierig beobachtete ich die zahlreichen Menschen am Strand. Kinder, die aufgeregt in den Wellen spielten. Liebespaare, die Händchen haltend vor mir auf und ab spazierten und natürlich die faulen Sonnenanbeter neben mir. Mit einem schiefen Grinsen starrte ich abwechselnd auf Tai und Koushiro. Beide lagen dösend auf dem Bauch und regten sich keinen Zentimeter. Da mit den beiden Schnarchnasen sowieso nichts anzufangen war, beschloss ich, alleine eine Runde schwimmen zu gehen. Ich musste dringend einen klaren Kopf bekommen. Als ich meinen Körper seicht ins Wasser gleiten ließ, schloss ich meine Augen und dachte über die vergangenen zwei Tage nach. Die Situation zwischen mir und Tai am Flughafen, wir drei vor der Schule, wie er mich ins Bett brachte und dann der Kuss zwischen uns auf der gestrigen Party. Plötzlich durchzog ein stechender Schmerz jede einzelne meiner Muskelfasern und riss mich aus meinen Gedanken. Ein kurzer Aufschrei kam mir über die Lippen und ich zog mein rechtes Bein reflexartig an mich heran. Ich verlor das Gleichgewicht und versuchte mit meinen Füßen den Meeresboden zu erreichen. Es war jedoch zu tief und umso mehr ich mich bemühte irgendwie Halt zu finden, desto öfter schluckte ich versehentlich Wasser. Unkontrolliert begann ich zu husten und ruderte mit beiden Armen. Eiskalte Panik kroch meinen Bauch hinauf und ließ mich beinahe erstarren. Was hatte mich in mein Bein gebissen? Würde ich jetzt ertrinken? Sollte es so zu Ende gehen? Kein wirklich spektakulärer Abtritt, das hätte ich mir besser vorgestellt. Doch während ich mich innerlich von dieser schönen Welt verabschiedete, packten mich zwei Hände und zogen mich rückwärts aus dem Wasser. Nach Luft ringend krallte ich mich an seinem Nacken fest, als Tai mich vorsichtig an den Strand trug und sich hinkniete. Dabei legte er mich vorsichtig auf seinen Beinen ab und richtete meinen Oberkörper senkrecht auf. Ein paar Mal schlug er mir auf den Rücken, sodass ich das Wasser aus meinen Lungen spuckte. „Was ist passiert?“ fragte mich eine andere Stimme und verwirrt sah ich in das Gesicht meines rothaarigen Freundes, der sich schützend über mich beugte. „Ich glaube irgendwas hat sie gebissen. An ihrem rechten Knöchel sind merkwürdige rote Punkte. Könnte eine Seeschlange gewesen sein...“ antwortete Tai und hob meinen Fuß etwas an. „Eine Schlange?“ schrie ich plötzlich lautstark und krallte meine Fingernägel tief in sein Genick. Ich hörte sein schmerzverzerrtes Keuchen und ließ sofort locker. Koushiro kniete sich vor meine Füße und berührte vorsichtig meine Ferse, damit er sich die benannte Stelle genauer betrachten konnte. „Es sieht tatsächlich wie ein Biss aus. Ich rufe einen Notarzt, bleib bei ihr...“ mein Freund stand auf und eilte zur Strandhütte. Ich spürte deutlich, dass ich immer nervöser wurde. Meine Gliedmaßen zitterten und ängstlich starrte ich zwischen Tai und den zahlreichen Menschen, die um uns herum standen, hin und her. Mit einem Mal legte Tai seine Lippen an meinen Knöchel. Etwas entsetzt zog ich mein Bein zurück, doch er hielt es fest und sah mich ermahnend an. „Wenn es eine giftige Seeschlange war, dann muss das Gift raus. Bis der Notarzt hier ist, sollte ich wenigstens versuchen, es mit dem Mund heraus zu bekommen.“ Noch immer starrte ich ihn völlig fassungslos an. Irgendwie hatte ich mir den Moment, in dem ein Taichi Yagami seine Lippen über mein nacktes Bein gleiten lässt, anders vorgestellt. Ich spürte den kräftigen Sog seiner Lippen kurz überhalb meines Knöchels und kniff meine Augen etwas zusammen. Es war ein schöner Anblick, wie ich auf seinem Schoß lag, meine Arme um seinen Nacken geschlungen hatte, den Kopf an seine nackte Brust schmiegte und er mit seiner linken Hand zärtlich meinen Rücken stützte und die rechte Hand unter meinen Oberschenkel legte, damit er mein Bein vorsichtig zu seinem Mund führen konnte. Er hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich darauf, mir zu helfen. Als er sich von mir löste und sich leicht von mir weg drehte, damit er ausspucken konnte, bemerkte ich, dass ich am ganzen Körper Gänsehaut hatte. Wie peinlich! Sicherlich hatte er es bemerkt. Mein rotes Gesicht hätte ich in dieser Hitze erklären können, aber eine Gänsehaut? „Du musst ihr nicht das Blut aussaugen wie ein Vampir!“ Koushiro kniete sich neben mich und packte meinen Fuß etwas unsanft. In seiner Hand hielt er ein Glas mit Eistee und Eiswürfeln, ohne Vorwarnung goss er den Inhalt über meinen Fuß und ich schrie schockiert auf. Sein strafender Blick und fester werdender Griff um mein Fußgelenk ließ mich sofort verstummen. Sachte strich er mit dem Eiswürfel über die verwundete Stelle und betrachtete sie erneut besorgt. „Das Teein im Eistee hat eine antitoxische Wirkung. Der Notarzt müsste gleich hier sein. Inzwischen ist die Stelle ganz schön geschwollen, aber wohl eher, weil ein gewisser Blutsauger, wie ein Geisteskranker, daran rumgelutscht hat.“ Irgendwie spürte ich eine gewisse Spannung zwischen den beiden. Warum denn das? Taichi grinste nur provokant und ließ die Aussage von Koushiro völlig unkommentiert. Keine fünf Minuten später saßen noch zwei Sanitäter und ein Notarzt um mich herum. In der ganzen Aufregung hatte ich natürlich angefangen zu heulen wie ein kleines Mädchen. Noch immer lag ich auf dem Schoß von Tai und klammerte mich an ihm fest. „Ich glaube nicht, dass es ein Biss von einer Seeschlange ist. Es sieht vielmehr danach aus, als wäre ihre Freundin an einen Seeigel geraten. Aber damit wir sicher sein können, werde ich ihr vorsichtshalber ein Antiserum spritzen.“ Ich fuhr erschrocken zusammen. Hatte dieser sadistische Schweinehund von Notarzt gerade gesagt, dass er mir eine Spritze geben wollte? Ich sah das glänzende Metall der Kanüle im grellen Schein der Nachmittagssonne aufblitzen und zog ruckartig mein Bein zurück. Meine Lippen begannen zu beben und Tränen kullerten über meine Wangen. „Ich will keine Spritze! Ich habe Angst vor Spritzen!“ jammerte ich schluchzend und vergrub mein Gesicht in Taichis Brust. Sein sanftes Lachen brachte mich dazu, ihn anzusehen. Liebevoll streichelte er über meine Wange und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Es war mir egal, dass alle um mich herum denken mussten, ich wäre ein kleines dämliches Mädchen. Es war mir egal, dass uns alle anglotzten. Ich spürte seine Lippen auf meiner Haut, sah das Strahlen in seinen Augen, das Lächeln in seinem Gesicht und spürte seine Hände überall auf meinem Körper. „Du hast normalerweise so eine große Klappe und fürchtest dich vor nichts. Du bist eine tapfere Kämpferin und jetzt gehst du in die Knie wegen einer kleinen Spritze? Da hast du doch schon viel schlimmeres überstanden. Ich denke, dass du dich vor überhaupt nichts fürchten musst, solange ich bei dir bin. Denn ich werde immer auf dich aufpassen, versprochen.“ Bedächtig weiteten sich meine Augen und mein Herz hämmerte gegen meine Brust, als ich seine Worte hörte. Meine verkrampften Finger wurden etwas lockerer und langsam streckte ich mein Bein wieder aus, sodass der Notarzt die Injektion setzen konnte. Aber es gelang mir einfach nicht, meinen Blick von Taichis dunkelbraunen Augen abzuwenden. Tai selbst, sah mich ebenfalls unentwegt an. Er nannte mich eine Kämpferin, dass ich tapfer sei und schlimmeres überstanden hätte. Doch vielmehr bewegte mich, dass er sagte, ich müsste mich niemals fürchten, solange er bei mir wäre. Er würde immer auf mich aufpassen. Ich schluckte harte und fuhr mit meinen Fingerspitzen langsam durch seinen Haaransatz im Nacken. Kurz fielen ihm dabei die Augen zu und ich konnte deutlich erkennen, dass er es genoss, wenn ich ihn auf diese Weise berührte. „Ein Versprechen muss man halten...“ sagte ich plötzlich und er öffnete seine Augen wieder. „Kein Problem. Es funktioniert aber nur, wenn du auch an meiner Seite bist.“ Er sprach diese Worte ganz leise in mein Ohr, sodass es niemand um uns herum hören konnte. Wie ein Geheimnis flüsterte er mir dieses Versprechen zu und ich hätte mich nicht glücklicher fühlen können. Auch wenn ich ihn nicht einschätzen konnte, nicht wusste, was das zwischen uns zu bedeuten hatte, nahm ich sein Versprechen dennoch ernst. Nachdem ich einen schmalen Verband um mein Fußgelenk bekommen hatte, erhoben sich die Sanitäter sowie der Notarzt und ich bedankte mich höflich bei ihnen. Es war mir sehr peinlich, dass ich mich wie ein kleines Mädchen aufgeführt und diesen erwachsenen Männern solche Sorgen bereitet hatte. Koushiro packte mich sanft am Arm und half mir dabei aufzustehen. Mit einem verschämten Lächeln dankte ich ihm. „Wollen wir vielleicht etwas essen?“ fragte er grinsend und ließ meinen Arm los. „Ich habe einen Bärenhunger. Einfältige Jungfrauen zu retten ist ganz schön anstrengend!“ bemerkte Tai und schlug sich auf seinen durchtrainierten Bauch. „Wer ist hier einfältig? Du spinnst wohl?“ zischte ich gefährlich und stemmte meine Hände in die Hüften. „Die Frage sollte vielmehr lauten, wie Tai auf »Jungfrau« kommt.“ Vollkommen fassungslos starrte ich in das Gesicht meines rothaarigen Freundes. Hatte er das jetzt tatsächlich von sich gegeben? Laut lachend schlug ihm Tai auf die Schulter und die beiden gingen Arm in Arm zu dem kleinen Strandrestaurant. Wie ein Herz und eine Seele, obwohl sich die beiden vor wenigen Minuten noch gegenseitig tötende Blicke zugeworfen hatten. Ach und überhaupt, wieso war ich denn jetzt die Blöde? „Hey wartet auf mich! Ich bin verletzt! Seid lieb zu mir!“ rief ich und humpelte den beiden hinterher. „Na komm schon, du Verletzte vom Seeigel und sterbende Prinzessin in den Armen des holden Ritters.“ Tai breitete seinen Arm aus und die beiden ließen mich in ihre Mitte. Wir holten unsere Sachen und zogen uns etwas über, bevor wir gemeinsam zu dem kleinen Restaurant liefen. Es war schon merkwürdig zwischen uns. Irgendwie waren wir sehr vertraute Freunde und doch konnte ich ab und an eine gewisse Spannung zwischen uns spüren. Ich hätte nicht genau beschreiben können, ob es sich dabei um Liebe, Sehnsucht, Leidenschaft oder vielleicht sogar Eifersucht handelte. Aber es war mehr als unschuldige Zuneigung unter Freunden. „Wer hätte denn eigentlich geglaubt, dass Joey der Erste von uns sein wird, der heiratet und sogar eine Familie gründet?“ Ich stützte meinen Kopf auf der Handfläche meiner linken Hand ab und rührte mit dem Strohalm in den Eiswürfeln meines Getränkes. „Ich kann auch nicht verstehen, wie der eine Frau gefunden hat. Joey war doch nur am lernen. Wirklich unfassbar, dass die beiden in wenigen Monaten Eltern sein werden.“ Taichi blätterte in der Speisekarte und in seiner Stimme hörte man deutlich den Zynismus heraus. „Ja, stellt euch mal vor, wir wären jetzt schon Eltern. Wirklich eine absurde Vorstellung…..“ Koushiro sprach diesen Satz unbedacht und lachend aus, bis eine eisige Stille zwischen uns einkehrte. Entsetzt hatte Tai den Blick von der Speisekarte abgewendet und sah zu Koushiro, bevor er sein dunkelbraunes Augenmerk verschämt von ihm abwendete und zu Boden starrte. Auch ich war völlig fassungslos. In den Augen meines rothaarigen Freundes spiegelte sich sein Mitgefühl und ich hörte seinen aufgebrachten Herzschlag. „Es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Ich habe nicht über meine Worte nachgedacht. Bitte entschuldigt...“ stotterte Koushiro und presste seine Hände zitternd gegen seine Oberschenkel. Ich weiß nicht, wie lange wir uns noch anschwiegen, aber ich konnte die traurigen und von Schmerz gezeichneten Gesichter der beiden nicht länger ertragen. Es war so lange her und heute hätte man sowieso nichts mehr daran ändern können. Es gab keinen Tag, an dem ich mir nicht genau dieselbe Frage stellte, die mein rothaariger Freund vor wenigen Sekunden laut ausgesprochen hatte. Was wären wir wohl für Eltern geworden? Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als endlich mit meiner Vergangenheit abzuschließen, konnte ich in den Augen von Tai offenkundig erkennen, dass es wohl niemals aufhören würde wehzutun. Vorsichtig legte ich meine Hand auf die Schulter meines besten Freundes und schenkte ihm ein sanftmütiges Lächeln. „Schon gut. Es ist so lange her. Wir sollten nicht immer in der Vergangenheit hängen, schließlich gibt es soviel gutes in unserer Gegenwart zu besprechen. Zum Beispiel das Glück unseres Freundes, der bald Vater wird.“ Ich spürte, dass auch Taichi seinen Blick wieder aufrichtete und zu mir sah. „Mimi hat recht. Du hast nichts falsches gesagt. Die Dinge sind, wie sie sind.“ Wie immer gelang es dem Brünetten mit wenigen Worten direkt zum Punkt zu kommen. Ich wollte diese drückende Stimmung zwischen uns lockern und fing an, einige Fragen zu Hikari zu stellen. Natürlich wollte ich wissen, was zwischen ihr und Takeru vorgefallen war, weil sie keinerlei Fotos von ihm in ihrer Wohnung hatte. Doch Taichi hielt sich bedeckt und sagte mir, dass er es nicht genau wüsste. Die Entscheidung, dass der Blondschopf alleine in Osaka studieren würde, sei sehr unerwartet gekommen. Danach hätte Hikari sich Hals über Kopf in eine hoffnungslose Romanze mit irgendeinem Kerl gestürzt. Taichi sprach sehr abfällig über diesen Mann und beschrieb die Beziehung zwischen seiner Schwester und diesem Kerl sehr negativ. Manchmal hatte ich tatsächlich das Gefühl, als würde er sich für seine Schwester wünschen, dass Takeru noch in ihrer Nähe sei. Vielleicht hoffte Taichi sogar insgeheim, dass die beiden irgendwann vielleicht doch noch ein Paar werden könnten. „Aber ich glaube, dass meine Schwester mir nicht alles erzählt hat, was zwischen ihr und Takeru vorgefallen ist. Möglicherweise hängt alles auch mit der Scheidung unserer Eltern zusammen. Ich hatte damals schon das Gefühl, als hätte Hikari in dieser sinnlosen Romanze zu diesem Kerl Trost gesucht. Wahrscheinlich gibt es eben doch Dinge, über die meine Schwester nicht mit mir sprechen möchte.“ Etwas entsetzt riss ich meine Augen auf und fuhr mir durch mein offenes Haar. „Deine Eltern sind getrennt? Davon wusste ich gar nichts. Seit wann und warum?“ Ich wusste nicht, dass sich seine Eltern getrennt hatten. Über all die Jahre habe ich wirklich sehr viel verpasst und es wurde mir immer schmerzlicher bewusst. Tai hatte in seinen Briefen niemals davon berichtet, dass seine Eltern Probleme miteinander hatten. Aber wahrscheinlich war dies auch kein Thema, worüber man in einem kurzen Brief erzählte. Auch Koushiro hatte niemals ein Wort darüber verloren. Im Grunde war das Familienleben eine sehr private und intime Angelegenheit und ich konnte verstehen, dass man so etwas nicht zwischen Tür und Angel miteinander besprach. „Meine Eltern sind nicht getrennt. Sie sind bereits seit zwei Jahren geschieden. Eine Trennung gab es bereits weit vorher. Meine Schwester hatte sehr darunter gelitten. Ich persönlich hatte es schon lange kommen sehen und war froh, als die beiden endlich einen Schlussstrich zogen. Ihre ewigen Streitigkeiten waren nicht mehr zu ertragen. Vielleicht haben sie auch nur gewartet, bis wir endlich erwachsen waren. Vielleicht hatten sich meine Eltern schon sehr viel länger nichts mehr zu sagen.“ Ich sah in seinem Gesicht, dass Taichi sehr darauf bedacht war, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und doch wusste ich genau, wie schmerzlich es für ihn gewesen sein musste. In seinen dunkelbraunen Augen spiegelte sich einfach jede Emotion. Langsam schob ich meine Hand über den Tisch und berührte seine Finger. „Es tut mir leid...“ murmelte ich, doch Tai zog abrupt seine Hand weg und schenkte mir ein beiläufiges Lächeln. Der Kellner, der uns das Essen auf den Tisch stellte, unterbrach diese merkwürdig angespannte Situation glücklicherweise. Warum entzog sich Taichi meiner Berührung? Was war das für ein Lächeln? Vor wenigen Minuten waren wir uns körperlich so nah, er gab mir ein Versprechen und jetzt schien wieder eine wahnsinnig große Distanz zwischen uns zu bestehen. Meine Gedanken zogen unaufhörliche Kreise in meinem Kopf. Irgendwann konnte ich dem Gespräch zwischen Koushiro und Taichi nicht länger folgen und konzentrierte mich auf mein Essen. Könnte es vielleicht sein, dass Taichis Reaktion überhaupt nichts mit der Scheidung seiner Eltern zutun hatte, sondern mit dem, was Koushiro versehentlich sagte? Mied er absichtlich die Nähe zu mir aus Angst, dass die Vergangenheit uns einholen könnte? Gab es einen Zusammenhang zwischen der Scheidung seiner Eltern, dem Bruch in der Freundschaft zwischen Hikari und Takeru und dem was vor acht Jahren passiert ist? „Kommst du mit?“ erschrocken zuckte ich zusammen und starrte zu Koushiro rauf. Er hatte sachte seine Hand auf meine Schulter gelegt und wartete offenbar schon etwas länger auf eine Antwort von mir. „Wie bitte?“ fragte ich verwirrt und stand langsam vom Tisch auf. „Wir wollten noch eine Runde am Strand spazieren, möchtest du mitkommen?“ Ich nickte und folgte den beiden. Inzwischen war die Sonne kaum noch am Horizont zu sehen und die Dunkelheit legte sich langsam über den Strand. Dennoch wich die Hitze kein bisschen. Immer wieder zog ich meine Füße durch die seichten Wellen und drückte sie in den nassen Sand. Der Abend war wunderschön. Ein sternenklarer Himmel breitete sich über uns aus und in weiterer Entfernung war das gleichmäßige Zirpen der Grillen zu hören. Wir setzten uns irgendwo hin und betrachteten die schimmernde Reflexion des Mondes auf der unruhigen Meeresoberfläche. Mittlerweile hatten auch die beiden Männer aufgehört sich zu unterhalten und genossen die Stille. Schweigend erhob ich mich und ging einige Schritte vor zum Wasser. Nachdenklich beobachtete ich, wie sich die Schaumkronen der tosenden Wellen langsam absetzten und unter ihnen verschwanden. Seit so vielen Jahren hatte ich mich unbeschreiblich einsam gefühlt. Ein Teil von mir wurde mir entrissen. Unwiderruflich ausgelöscht in einem Bruchteil von Sekunden. Vor acht Jahren verschwand dieses unschuldige kleine Mädchen in mir und zurück blieb eine leere Hülle. Doch seit zwei Tagen spürte ich deutlich, dass sich etwas in mir veränderte. Die beiden veränderten mich. Selbst wenn ich beinahe jede Sekunde mit meiner Vergangenheit konfrontiert wurde und den Schmerz von damals fühlte, so wurde mir mit einem Mal bewusst, dass nicht nur ich diese Hölle durchlebt hatte. Ich drehte mich um und lief langsam zurück. Mit einem leisen Seufzen ließ ich mich vor ihnen auf die Knie sinken und musterte ihre fragenden Gesichter. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass das Schweigen zwischen uns lauter ist, als jedes Wort das wir uns sagen.“ Ich beugte mich etwas nach vorn und schlang meine Arme um die beiden. Ich schmiegte meinen Kopf auf ihre Schultern und schloss genüsslich meine Augen. Koushiro legte seinen Arm auf meinen Rücken und zog mich dichter zu sich. Tai hingegen zeigte keinerlei Reaktion. Es war mir plötzlich sehr unangenehm und ich hatte das Gefühl, als würde ich mich Taichi aufdrängen. Es war beinahe so, als hätte er kein Interesse an meiner Nähe. Ich wollte mich gerade von den beiden lösen, als es die Hand des Brünetten war, die mich ruckartig wieder nach unten zog. Ungewollt war ich zwischen den breiten Schultern der beiden gefangen, unfähig ihnen in die Augen zu sehen. Ich spürte seine warmen Lippen an meinem Ohr, leise flüsterte er mir etwas zu und sorgte dafür, dass mein Herz fast zersprang. „Ganz egal wie lange es dauern wird, bis wir darüber hinweg sind. Ganz egal wie laut unser Schweigen auch sein wird. Ich will es niemals vergessen. Aber bitte denke immer daran, dass du diesen Schmerz nicht alleine in dir trägst.“ An diesem Abend. In der Hitze der Nacht. Zwischen dem Leiden der Vergangenheit und den Sehnsüchten der Gegenwart wurde mir zum aller ersten Mal in meinem Leben bewusst, dass wir als Freunde diese Bürde gemeinsam trugen. Ich verstand, dass man zusammen weniger allein war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)