Wo dich dein Leben hinführt von tatosensei ================================================================================ Kapitel 21: Starke Entscheidungen --------------------------------- Kaum war der Himmel von New York von der Morgensonne behelligt worden, schon gingen die ersten lauteren Geräusche los, die in der Stadt, die niemals schlief, eigentlich nie weg waren. Alles floss wieder in einem einzigen gigantischen Rhythmus: die Autos in den Straßen, die U-Bahnen in den Untergründen und die Menschen, die unaufhaltsamen, gestressten und irgendwohin eilenden Menschen. New York war der Puls der Erde; dort konnte man sich verlieren.   Verlieren versuchte sich auch eine junge Frau, die erst seit Kurzem wieder einen Fuß in die mächtige Stadt gesetzt hatte, und sich und die Welt durch die Hektik, den Rush und die Unaufhaltsamkeit der Menge vergessen wollte.   Tea Gardner eilte durch die langen Straßen und  die unzähligen Menschen hindurch - einen Kaffee-To-Go-Becher mit frisch gebrühtem Kaffee – ohne Zucker, mit etwas Milch-  in der rechten Hand. Eine schlechte Angewohnheit, die sie erst vor Kurzem sich angeeignet hatte und  nicht nur ihren Lieblingstee gegen das bittere Getränk ausgetauscht hatte, sondern auch im Laufen, ja sogar im Rennen trank. Sie wusste, wem sie die Angewohnheit zu verdanken hatte. Aber er gehörte ebenfalls zu den Dingen, die sie vergessen wollte.   Als sie aus der U-Bahn an der 66th Lincoln Station ausstieg und die Broadway herunterlief, sah sie in der rechten Ecke das imposante dreieckig-spitze Gebäude des Konservatoriums, des Julliard School of Performing Arts, und ihr Herz bebte wieder einmal wie am ersten Tag, obwohl sie hier ein Jahr lang studiert hatte und obwohl sie bereits seit einem Monat wieder da war.  Es war das Gefühl der Beständigkeit und die unzähligen guten Erinnerungen, die dieses außergewöhnliche Herzbeben verursachten und jedes Mal aufs Neue bestätigten, dass dies eine gute, eine richtige Entscheidung war hier und heute da zu sein.   Sie öffnete die Glastür und eilte die Treppen hinauf: ihre Tanzstunde würde in nur fünfzehn Minuten beginnen.   Als sie das Angebot vor sechs Wochen bekam, als Assistant-Teacher, also eine kurzfristige Lehrbeauftragte, bei Julliard für die nächsten zwei Monate zu arbeiten und ihre ehemalige Tanzlehrerin Mrs. Michailowna und russische Ballette-Legende zu vertreten, war sie geschmeichelt. Es wäre eine Ehre und eine außergewöhnliche Gelegenheit wieder bei Julliard zu sein. Eigentlich hätte sie in allen erdenklichen Situationen keinen einzigen Augenblick gezögert zuzusagen. Sie würde gerne wieder mal in ihre einjährige Wahlheimat zurückkehren, ihre Freunde wiederfinden, die fast alle entweder am Broadway arbeiteten, oder noch in der Ausbildung waren, diese tolle Erfahrung zu sammeln bei einer der berühmtesten Akademien die Kunst des Tanzens zu lehren. Eine große Gelegenheit, die sie ihrer liebenswürdigen aber strengen Lehrerin, mit der sie seit ihrem Ausscheiden aus dem Konservatorium in Kontakt geblieben war, und der Tatsache zu verdanken hatte, dass diese eine etwas größere Operation am Kniegelenk durchführen musste und deshalb einige Monate nicht tanzen konnte.   Sie sagte damals ab. Legte das Einladungsschreiben in ihren Akten und vergaß darüber ohne es jemals bei irgendjemanden zu erwähnen. Sie war glücklich und mit ihrem Leben, zufrieden, sie wollte auf keinen Fall diese Idylle zerstören. Eine gute Entscheidung damals. Bis an dem Tag, an dem sie sich voller Verzweiflung darüber, was sie machen und wohin sie gehen könnte, wieder an die Einladung besann und ihr Einstellungsunterlagen abschickte.   Während des Tanzens, egal ob als Ballerina vor der Bühne, oder dahinter beim Trainieren oder als Lehrerin vor ungefähr dreißig Studenten, vergaß sie die Welt, ihre Probleme und Seto Kaiba.   Die Tanzeinheit endete, die Studenten verabschiedeten sich lauthals von ihrer jungen Lehrerin und machten sich auf dem Weg in die Kabinen um der nächsten Stunde zu den anderen Kursen zu gehen. Tea hatte noch vier Stunden Tanzunterricht, drei verschiedene Gruppen und Genre, drei kurze Ewigkeiten in den Tanz zu verfallen und nicht nachzudenken. Gegen siebzehn Uhr war sie wieder auf den vollen Straßen von Manhattan. Hier konnte sie sich nicht mehr von ihren Gedanken ablenken, die sie während ihres Unterrichts bändigen und zähmen konnte, aber nicht vernichten, nicht eliminieren. Sie dachte an ihn, an seinen hinterhältigen Plan, an seinen Verrat, in dem ihre beste Freundin involviert war, die eine Affäre mit ihm hatte, und sie sicherlich auch während ihrer kurzen Ehe betrog. Dennoch  vermisste sie ihn. Und dieses Gefühl brachte tiefe Verzweiflung mit sich und runde wasserklare Tränen, die sie sich schnell aus dem Gesicht wischte. Sie könnte weglaufen, bis ans Ende der Welt und sich vor ihm verstecken, ihn nie wieder sehen, aber was halfen ihr die Distanz und die Zeit, wenn er jedes Mal bei ihr war, jeden Augenblick in ihren Gedanken am Tag und in ihren Träumen in der Nacht?   War es richtig wegzulaufen?   Eine starke Frau läuft nicht vor Problemen weg, das hatte sie vom Leben gelernt, sondern konfrontiert sich mit ihnen, sucht nach Lösungen, setzt sich durch. Sie dagegen war weggelaufen. Doch nicht weil sie nicht stark war, sondern weil auch starke Frauen ab und zu mal schwach sein dürfen.   Starke Menschen weinen nicht weil sie schwach sind, sondern weil sie zu lange stark sein mussten.   Tea war viel zu lange viel zu stark gewesen. Sie brauchte die Distanz um nicht von dem Schmerz, den sie damals wie heute verspürte, geblendet, etwas falsches tat, um einen klaren Kopf zu bekommen und zu überlegen, was sie mit ihrem Leben nun anfangen konnte. Sie war nicht weggelaufen weil sie schwach war, sondern weil sie stark bleiben wollte, an dem Tag, an dem sie ihn wiedersehen würde, und dieser Tag würde irgendwann kommen, kam sogar immer näher, je mehr Tage vergingen. Sie wusste, dass er sie suchte. Schon allein deshalb, weil sich ein Seto Kaiba niemals ein wortloses Verschwinden gefallen lassen würde. Da war sein Ego größer als jede Freude darüber, dass er endlich seine Farce ablegen konnte. Und da war noch die Sache mit dem Vertrag. Zwar drohte ihm kein Jugendamt Mokuba wegzunehmen, aber er würde sicherlich eine richtige Vertragsauflösung, beziehungsweise eine rechtmäßige Scheidung wollen, um mit ihr abzuschließen und sich eventuell eine neue Herausforderung zu suchen. So würde es nicht lange dauern, bis er sie  auch am anderen Ende der Welt, in der Megametropole finden würde. Darauf bereitete sich Tea vor.   Die U-Bahn, die sie nach Hause bringen würde, kam in fünf Minuten Takt und beförderte hunderte Menschen zugleich zu ihren Destinationen. Diesmal war sie so voll, dass der schwarze ältere Mann mit langen Afrofrisur, der immer um diese Uhrzeit im Zug war, nicht wie üblich seine Ständchen singen und durch die Wagons laufend ein wenig Trinkgeld sammeln konnte. Stattdessen versuchte er es einige Sekunden lang mit einer Blues, merkte die Ignoranz der Mitfahrer und hörte auf. Er würde sein Glück woanders versuchen. Tea beobachtete ihn diesmal mit mehr Interesse als sonst. Wie glücklich dieser Mann sein müsste, auch wenn er nichts besaß außer seiner Musik und seine kleinen Moneten, die er tagtäglich bekam. Geld, Reichtum bedeuteten in den seltensten Fällen vollkommenes Glück, denn dann wäre der Sinn des Lebens, die Formel für das Glück, nach dem sich die Menschheit sehnte, viel zu simpel und viel zu leicht zu erreichen. Stattdessen war sie sich sicher, dass die einfachen Dinge das Leben schöner und liebenswürdiger gestalteten. Ihr kleines Tanzstudio in Domino zum Beispiel und die kleinen zufriedenen Ballerina, die ihr Studio mit einem breiten Lächeln verließen. Und was würde Geld und Macht und Reichtum bringen? Nichts als Schmerz und Leid, denn dieses Reichtum brachte Seto Kaiba dazu jeden zu kaufen, den er für seinen schamlosen Plan benötigte, dieses Geld war der Grund, warum Serenity ihr in den Rücken fiel. Tief im inneren wusste sie aber, dass weder Serenity noch Seto Kaiba glücklich waren.   Die U-Bahn hielt an der 23th Street Station. Eine Menge an Menschen und Tea stiegen aus. Sie freute sich auf ihr neues kleines Zuhause, was im Wesentlichen eine internationale Hostel war, welche sich  Ecke 7th Avenue befand und Reisende, die etwas länger bleiben wollten, neben Hostelzimmer ebenso kleinere Apartments zur Verfügung stellte, gerade richtig für Tea, die erstmal nur zwei Monaten in New York bleiben wollte. Die Zimmern sowie die Apartments waren sehr minimalistisch eingerichtet: ein Stahlbett, ein kleiner Schrank, ein Stuhl und ein Schreibtisch, ein kleines Badezimmer. Keine Küche. Dafür aber mit einem herrlichen Blick auf die Empire-State-Building. Es war ungewöhnlicherweise keine große Umstellung von der riesen Villa der Kaibas in das beschauliche Zimmerchen von nicht einmal 25 Quadratmetern umzuziehen. Wieder einmal eine Bestätigung, dass Reichtum nicht glücklich machte.   Sie betrat das aus insgesamt drei Häusern und einem Gemeinschaftsraum bestehende Gebäude der Hostel und ging zur Rezeption. Bobby hatte diesmal Schicht und legte gerade das Telefon ab, als Tea herein kam.   „Hi Bobby, hast du für mich irgendwelche Nachrichten?“, fragte Tea freundlich. Die Briefe in dem Hostel wurden an der Rezeption abgegeben und mussten jeden Tag abgeholt werden. Auch gab es kein Telefon in den Zimmern, sodass auch Telefonanrufe von den meist jungen Rezeptionisten, die neben der Uni hier jobbten, aufgefangen wurden.   „Hi, ich glaube schon. Sam war gerade dabei die Briefe zu verteilen, möglicherweise bringt er sie dir hoch.“   Tea bedankte sich und ging die Treppen hoch. Sie wohnte im letzten, dritten Stockwerk des mittleren Hauses. Im Zimmer angekommen, öffnete sie die Fenster, um etwas frische Luft hereinzulassen. Da die Fenster alle in den Hof aufgingen, hatte sie nur gedämpften Lärm. Sie stellte ihre Tasche ab und wusch ihr Gesicht mit dem kalten Wasser. Es klopfte an der Tür. Das muss Sam sein. Tea trocknete schnell ihr Gesicht mit dem Handtuch und öffnete die Tür. Es war Bobby, etwas irritiert verkündete er: „Tea, du hast Besuch“, und trat zur Seite.   Da stand er hochgewachsen und mit ernster Miene: Seto Kaiba.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)