Augenblicke von Arisa-Yuu (die alles verändern) ================================================================================ Kapitel 1: Augenblicke ---------------------- Dienstag: 15, 41 Uhr “Reita..warte..“ schnaufe ich leicht außer Atem, während ich versuche mit dir Schritt zuhalten. Natürlich kommst du meiner Bitte nicht nach und natürlich beschwere ich mich nicht noch ein weiteres Mal darüber, dass ich mich wegen dir durch die Menschenmassen der Tokioter U-Bahn quetschen muss. Jeden Tag aufs Neue und immer mit demselben Ergebnis. Du erreichst stets vor mir den Bahnsteig, ohne dich nach mir umzusehen und ich stelle mich, nach einem mehr oder weniger erfolgreichen Kampf gegen die übrigen U-Bahn-Fahrer, neben dich. Ein folgsamer Hund, der seinem Herrn nicht von der Seite weicht. Ich versuche meine zerknitterte Uniform ein wenig glatt zu streichen, die unter diesem Gedränge beinahe noch mehr gelitten hat als ich. Aber zumindest bekomme ich gleich eine kleine Belohnung für all das. Für das Nachlaufen, das ignoriert werden und für die mitleidigen Blicke, mit denen ich viel zu oft bedacht werde. Ich darf deine Hand halten! Zugegebenermaßen darf ich das nur, weil ich deine Hausaufgaben selbstlos erledige und meinen Stolz gleich mit. Trotzdem gehören die kommenden zehn Minuten zu den schönsten im Laufe meines gesamten Tages. Sobald die U-Bahn hält und wir eingestiegen sind, darf ich dich berühren. Das ist all die Erniedrigungen wert! Mein Herz schlägt allein bei dem Gedanken daran schneller. Ungeduldig schaue ich auf die übergroße Uhr, welche anzeigt, wann meine persönlichen Minuten des Glücks beginnen. Nicht mehr lange und ich habe es geschafft. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Einfach so. Ich kann mich dagegen nicht wehren. Vielleicht freust du dich genauso darauf, wie ich? Ein Seitenblick zu dir lässt meine Hoffnung allerdings prompt zerbröckeln. Denn du siehst genervter aus als all die Wochen davor oder bilde ich mir das nur ein? Du schaust stur nach vorn, als wärst du allein auf der Welt. Nichts nimmst du wahr. Nichts interessiert dich... Erst als die U-Bahn einfährt, löst du dich aus deiner Starre. Dein Kiefer spannt sich an, als würdest du fest die Zähne aufeinander beißen. Bedrückt dich etwas? Vielleicht sollte ich dich fragen? Doch noch, bevor ich meinen Mund öffnen kann, setzt du dich wieder in Bewegung und steigst in die U-Bahn. Eilig folge ich dir. Auf keinen Fall will ich eine Sekunde der kommenden Minuten sinnlos vergeuden. Denn sie sind alles an Glück, was ich durch dich bekomme.. Mittwoch: 15, 34 Uhr Vorbei.. Es ist vorbei! Keine Händchenhalten. Keine geheimes Abkommen. Kein Reita.. Ich habe schon länger damit gerechnet. Es manchmal regelrecht herbei gesehnt. Gehofft und gebangt gleichzeitig. Ich wollte, dass es vorbei ist. Irgendwann! Heute war es soweit. Die Qual ist vorüber. Für dich. Für mich. Für uns.. Ich habe es nicht länger ausgehalten und wurde endlich, durch dich, erlöst. Trotzdem spüre ich, wie meine Augen glasig werden. Wie meine Sicht verschwimmt und alle scharfen Konturen weich werden, als würde sich alles auflösen. Zusammen mit meinem Leben. Meinem Herz. Meiner Liebe.. Ich stolpere prompt über meine eigenen Füße und kann mich gerade noch am Geländer der Treppe festhalten, um zu verhindern, dass ich diese hinab falle und damit eine Menschenlawine auslöse, die alle Hektik in der U-Bahn für einen Augenblick zum Erliegen bringen würde. Doch wirklich Zeit, um diesen kleinen Schockmoment zu verarbeiten, habe ich nicht. Denn ich werde mit leichtem Nachdruck weiter vorwärts geschoben. Alle wollen die nächste Bahn erreichen und endlich Heim. Da ist für einen Teenager mit Liebeskummer kein Platz. Ich bin lediglich einer von Vielen und habe keine Rücksichtnahme zu erwarten. Trotzig fahre ich mir mit meiner Hand über die Augen, um nicht noch einen Fehltritt zu riskieren. Genau Takanori reiß dich zusammen! Ich bin kein kleines Kind mehr, und doch habe ich mich die letzten Wochen wie eines benommen. Ich habe lediglich das wahrgenommen, was mein verblendetes Gehirn zugelassen hat. Ich habe mir eingeredet, dass aus erkauften Händchenhalten, mehr werden könnte. Liebe. Eine Beziehung.. Lachhaft. Jeder hätte mir das gesagt und dennoch, ich hätte die Hoffnung nicht aufgegeben. Ich hatte sie bis heute tief in mir vergraben. Wie eine Schatztruhe. Leider erwartete mich kein Schatz, sondern nur Leere. Reita hat Schluss gemacht. Ist es überhaupt Schluss machen, wenn wir vorher noch nicht einmal zusammen waren? Für mich fühlt es sich jedenfalls sehr stark danach an. Er hat mir das Herz gebrochen. In der Mittagspause. Zwischen zu lang gekochten Reis und geschmacklosen Sojabohnen, hat er drei Minuten seiner wertvollen Zeit geopfert, um mir mitzuteilen, dass er mich ab heute nicht mehr braucht... Mit dem Händchenhalten ist es vorbei.. Er fährt von nun an mit Ayumi nach Hause. Das ist unsere Klassenstreberin, die sogar in Mathe besser ist als alle Jungs. Liegt vielleicht daran, dass sie einem Taschenrechner zum Verwechseln ähnlich sieht. Flach und unscheinbar. Sie würde von Heidi Klum nie ein Foto bekommen, um in die nächste Runde zu gelangen. Aber sie hatte einen entscheidenden Vorteil mir gegenüber. Sie ist, trotz allem, ein Mädchen.. Meine Augen füllen sich erneut mit Tränen, wenn ich daran denke, wie dumm ich war. Ich dachte, er würde mich endlich nach einem Date fragen. Das sich meine Hartnäckigkeit doch noch ausgezahlt hätte. Stattdessen schlägt er mich verbal nieder und wirft mein Herz quer durch den Speisesaal, zu der Theke mit dem zu dem weich gekochten Fisch. Möchte noch jemand ein Stück? Es tut weh und es hört nicht auf. Wenn sich Liebeskummer immer so anfühlt, will ich mich nie mehr verlieben.. “Verdammt, pass doch auf..“ eine verärgerte Stimme reißt mich aus meinem Selbstmitleid. Dem geht ein dumpfer Aufprall voraus. Die Ordner in meiner linken Hand fallen zu Boden und klatschen geräuschvoll auf den Fliesenboden der U-Bahn-Station. Durch mein Geheule bin ich doch tatsächlich mit jemandem zusammengestoßen. Das ist das i-Tüpfelchen des heutigen Tages. Fehlt nur noch, dass ich meine Bahn verpasse. “Tut..tut mir leid. War keine Absicht..“ stammle ich peinlich berührt vor mich hin, während ich in die Hocke gehe und schniefend mein Zeug aufsammle. Mein Gegenüber tut es mir gleich. Wie es scheint, hat er ebenso etwas fallen lassen. Zu allem Überfluss liegt mein Matheblock offen da. Nicht, dass ich schlecht im Rechnen wäre, aber ich habe die Angewohnheit die Seiten meines Blogs zu verzieren, wenn mir langweilig ist, und im Mathematikunterricht kommt das sehr häufig vor. Deshalb befinden sich dort sehr viele Herzchen, in denen zu allem Überfluss auch der Name meines Angebeteten steht. Viele kleine, große, bunte und einfarbige Herzen, in denen ein Name prangt. Reita!! Manchmal habe ich ihn sogar als Chibi-Figur verewigt. Ein kreativer Beweis dafür, wie verzweifelt ich war. Aber immerhin originalgetreu mit Nasenband. “Du scheinst nicht nur beim Gehen nicht aufzupassen..“, kommentiert dieser Typ meine kleinen Kunstwerke, die genau in seinem Blickfeld liegen. Er nimmt den Block sogar in die Hände und erhebt sich mit ihm, als wäre es sein Eigentum. “Das geht dich gar nichts an..“ fauche ich ihn leise an, nachdem ich mich ebenso wieder aufgerichtet habe, um mit ihm auf Augenhöhe zu bleiben. Er ist, selbstverständlich, größer als ich und scheint durch meinen Protest rein gar nicht beeindruckt zu sein. Denn sein Blick haftet weiter an meiner kleinen Reita-Galerie. Niemand findet Algebra so interessant. “Das ist MEINS..“ zische ich ihn mit hochroten Wangen an. Gleichzeitig entwende ich ihm meinen Block, klappe ihn schnell zu und presse ihn mir dicht an die Brust. Jetzt, wo das Objekt unser beider Interesses endlich verschwunden ist, treffen sich unsere Augenpaare zum ersten Mal. Vor mir steht ein Junge mit dem durchdringensten Blick, den ich jemals gesehen habe. Der schwarze Eyeliner, der seine Augen umrandet, verstärkt diesen Eindruck noch erheblich. Im Kontrast dazu sind seine Haare Blond gefärbt. Er trägt eine andere Schuluniform als ich, was darauf schließen lässt, dass er etwa in meinem Alter ist. Möglicherweise ein oder zwei Jahre älter. “Du solltest dich mehr auf den Unterricht konzentrieren. Du hast in einer Gleichung zwei Fehler. Das können selbst die vielen Herzen nicht vertuschen..“ holt mich seine Stimme aus meinen Überlegungen. Er grinst mich frech an, sodass mir für einen Moment die Sprache versagt. Frechheit! “Danke für den Tipp..“ Arschloch. Noch während ich mich umdrehe, sehe ich, wie sein Grinsen noch breiter wird. Arrogantes Arschloch. Verbessere ich mich in Gedanken und stapfe dann auf die Rolltreppe zu, die zu meinem Bahngleis führt. Ich muss mich beeilen. Denn diese ungeplante 'Unterhaltung' hat wertvolle Minuten gekostet. Doch ich schaffe es noch rechtzeitig. Es wird das erste Mal seid Wochen sein, dass ich allein in die U-Bahn steige und sofort bildet sich wieder ein Kloß in meinem Hals. Zwischen all den Menschen um mich herum, fühle ich mich so einsam, wie in einer ausgestorbenen Wüste. Jeder lacht oder unterhält sich mit jemandem. Nur ich gehöre nicht dazu. Das habe ich noch nie. Um nicht erneut den Kampf gegen die Tränen zu verlieren, schaue ich mich ziellos um. Dicht gedrängte Teenager, die entweder Musik hören oder sich unterhalten. Uninteressant. Anzugträger, die beinahe im Stehen einschlafen. Uninteressant. Reita, der mit Ayumi auf die Bahn wartet.. Mir wird schlecht. Ich wende meinen Blick schnell ab und schaue einfach nur gerade aus. Auf dem Bahnsteig mir gegenüber herrscht das gleiche Gedränge. Dennoch sticht mir eine Person regelrecht ins Auge. Ein blonder Typ in Schuluniform und schwarz umrahmten Augen. Lässig. Cool und ein bisschen provokant. Überraschenderweise scheint er mich genauso anzusehen, wie ich ihn. Ob er jeden Tag diese U-Bahn nimmt? Er ist mir bisher noch nie aufgefallen. Aber das wird wohl eher daran liegen, dass meine Aufmerksamkeit immer ganz Reita gegolten hatte. Das war vielleicht in doppelter Hinsicht ein Fehler.. Wir sehen uns weiter an, bis die U-Bahn auf meiner Seite einfährt. Mir entweicht ein leises Seufzen. Ich freue mich nicht mehr auf die Fahrt nach Hause, trotzdem steige ich ein und vergrabe meine Hände so tief es geht in meinen Hosentaschen.. Donnerstag: 15, 29 Uhr Ich war überpünktlich. Meine Bahn fuhr jeden Tag um Dreiviertel ab. Ich hatte also noch ausreichend Zeit, was sonst nur selten vorkam. Heute hatte ich mich jedoch aus zwei Gründen sehr beeilt. Zum einen schien die Schonzeit in meiner Klasse vorbei zu sein. Denn Sie hatten den ganzen Tag nette Sprüche für mich auf Lager. Noch Nettere als sonst. Und mit nett meine ich, gemein. Besonders eine Gruppe von Jungs aus meiner Klasse war hartnäckig und hatte mich wohl zu Ihrem neuen Opfer auserkoren. Ob es Zufall war, dass das einen Tag nach Reitas charmanter Abfuhr geschah? Das bezweifelte ich stark. Ich hatte also nicht nur mein Herz verloren, sondern auch meinen Schutz. Was davon schmerzlicher für mich sein würde, würde ich gewiss in den kommenden Tagen erfahren. Solange es nur bei dummen Sprüchen und leichten Schubsern blieb, war es mir egal. Ich hatte bereits Schlimmeres überstanden. Der zweite Grund war, dass ich etwas zurück geben wollte. Um genauer zu sein, ein Buch. Nach dem Zusammenprall gestern muss ich es aus Versehen mit aufgesammelt haben. Leider ist es mir erst in meinem Zimmer aufgefallen und mir war sofort klar, wem es gehören musste. Neugierig, wie ich nun einmal bin, habe ich es gewagt einen Blick hineinzuwerfen. Ich weiß nun, dass dieser blonde Typ Byou heißt. Bestimmt ein Spitzname. Anscheinend gehörte er zu den kreativen Köpfen. Denn er hatte mehrere Songtexte in dem Buch verewigt und ich muss zugeben, dass sie gar nicht mal so übel sind. Zumindest für meinen Geschmack. Aber was weiß jemand wie ich schon von Songtexten? Irgendwie habe ich das Gefühl diesen Byou nun besser zu kennen. Er hat seine Gedanken nieder geschrieben und ich durfte sie lesen. Es hat etwas intimes. Als würde er mir ein Geheimnis anvertraut. Er spricht mir aus der Seele. Anscheinend hat er ähnlich schlechte Erfahrungen gemacht, wie ich. Das hat etwas sehr tröstliches.. Oder bin ich egoistisch? Auf jeden Fall wirkt er auf mich nicht mehr arrogant, sondern eher geheimnisvoll. Bei seinem letzten Werk scheint er jedoch Probleme zu haben. Nach der ersten Strophe war Schluss und einen Titel hatte es auch nicht. Es schien sich um ein trauriges Stück zu handeln, und da ich momentan der traurigste Mensch überhaupt war, fiel es mir nicht sonderlich schwer den Song zu vollenden. Es hatte mir regelrecht in den Fingern gejuckt, meine Gefühle niederzuschreiben. Ich verlieh ihm sogar einen Titel. Zweisam Einsam. Mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee war. Davon abgesehen, dass ich noch nie einen Song geschrieben hatte. Unschlüssig kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Ich könnte auch einfach gehen und das Buch behalten. Der Typ kannte seine Texte bestimmt auswendig. Immerhin hatte er sich eigenhändig geschrieben. Was brauchte er da noch das Buch? Außerdem ersparte ich mir die Peinlichkeit, ihm meine geschriebenen Zeilen zuzumuten. Auf eine Person mehr, die mich auslachte, konnte ich verzichten. Aber..wenn ihm das Buch tatsächlich etwas bedeutete, dann würde er es suchen.. Mein schlechtes Gewissen meldete sich unangemeldet und ließ mich mit den Zähnen knirschen. Manchmal war es nicht leicht ein guter Mensch zu sein.. Davon abgesehen, war ich es ihm schuldig. Seine Texte hatten mich abgelenkt und mir Trost gespendet. Eigentlich müsste ich mich sogar bedanken! Durch meine Grübelei hatte ich ganz die Zeit außer Acht gelassen. Noch vier Minuten, bis meine Bahn kam. Sollte ich bis zur nächsten warten? Und wenn dieser Byou heute überhaupt nicht auftauchte? Wenn er nie mehr kam? Noch drei Minuten. Nervös sah ich mich um und, wie durch ein Wunder, entdeckte ich ihn. Die gleiche blonde Strubbelfrisur. Die gleichen dunkel geschminkten Augen mit dem durchdringenden Blick. Leider schien er mich nicht zu bemerken, was bei meiner enormen Größe auch nicht verwunderlich war. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mir den Weg zu ihm durchzubahnen. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt. Ihr wisst schon.. Der Vorteil an meiner kleinen Statur war, dass ich mich leichter durch enge Gassen schlängeln konnte, oder in diesem Fall, Menschenansammlungen. Er entdeckte mich, überraschenderweise, noch bevor ich ganz bei ihm war und kam mir, wie selbstverständlich entgegen. In der Mitte der vorbei eilenden Menschen trafen wir uns endlich. Die Worte, die ich mir zurechtgelegt hatte, waren wie weggeblasen und zu allem Überfluss spürte ich, wie meine Wangen heiß wurden. Warum, war mir selbst nicht klar. “Mein Buch..“, stellte mein Gegenüber erstaunt fest. Sein Blick lag auf besagtem Objekt, welches ich fest umklammert hielt. “Ich dachte schon, ich hätte es verloren..“, sprach er weiter und schien ehrlich erleichtert zu sein. Sein Lächeln wirkte kein Stück mehr arrogant. “Es ist zwischen meine Hefter gerutscht. Tut mir leid. Ich wollte es dir nur schnell zurückgeben..“ sprudelte es wasserfallartig aus mir hervor, bevor sich mein gesamter Mut in Luft auflöste. Ich drückte das Buch seinem rechtmäßigen Besitzer in die Hände und machte dann auf dem Absatz kehrt. Ich ließ ihn, wie am Tag zuvor, einfach stehen. Denn er brachte mich durcheinander.. Außerdem durfte ich meine Bahn nicht verpassen und, was noch entscheidender war, ich durfte mich nicht gleich wieder kopflos in irgendjemanden verlieben, der sowieso nichts von mir wissen will. Meine Gefühle spielte bereits Achterbahn genug. In diesen Moment tauchen natürlich immer die Menschen auf, die ich am wenigsten sehen will. In meinem Fall ist das Reita. Nicht weit von ihm konnte ich auch sein neues Anhängsel ausmachen. Sie stiegen zusammen in die U-Bahn. Für einen flüchtigen Moment stoppte ich. Am liebsten wäre ich zu Ihnen gegangen und hätte Ihnen meine Meinung entgegen geschrien. Wie verletzt ich war. Wie traurig ich war und, wie wütend ich war. Obwohl, Letzteres war ich nur auf mich selbst. Ich ballte meine Hand zu einer Faust. Das war alles, was ich mich traute.. Mit gesenktem Kopf betrat ich die U-Bahn und würde ihn erst wieder heben, wenn ich an meiner Haltestation angelangt war. Freitag: 19, 23 Uhr Warum mussten Treppen eigentlich aus so vielen Stufen bestehen? Jede Einzelne tat weh. Jeder Schritt. Jeder Atemzug. Jede Bewegung. So mussten sich Sportler nach einem Marathon fühlen. Mit dem Unterschied, dass Sie rennen, um zu gewinnen und nicht, um Prügel zu entgehen. Ich war gerannt. So schnell ich konnte. Selbst als die Luft anfing in meinen Lungen zu brennen. Ich habe sicher meinen eigenen Rekord gebrochen. Mein Sportlehrer wäre stolz auf mich... Genutzt hat es mir trotzdem nichts. Sie haben mich erwischt. Mich ausgelacht. Mich beschimpft. Mich geschlagen und getreten. Als Krönung haben sie mich in meinen eigenen Spint eingeschlossen und mich noch mal ausgiebig ausgelacht. Wenn der Hausmeister keinen Kontrollgang durch die Flur gemacht hätte, hätte ich die ganze Nacht dort verbringen müssen. Oder bei meinem Glück, dass ganze Wochenende. Meine Eltern werden sicher auch kurz vorm Ausrasten sein, weil ich nicht pünktlich nach Hause gekommen bin, ohne Ihnen Bescheid zu sagen. Leider ist mein Handy nur noch ein Haufen Schrott. Also werden Sie warten müssen, bis ich da bin. Sie sind ohnehin mein geringstes Problem. Ich will gar nicht wissen, was mich am Montag erwartet oder wie ich aussehe. Meine Uniform ist total ruiniert. Die Rippen auf meiner rechten Seite tun höllisch weh, meine linke Schulter ebenso und ich muss mir meine Unterlippe aufgeschnitten haben. Zumindest würde das, das Blut auf meinem Hemd erklären. Abgesehen von dem unangenehmen Pochen an der Stelle. Außerdem weiß ich nun fünf neue Umschreibungen für Schwuchtel, die ich so schnell sicher nicht vergessen werde. Zu allem Überfluss werde ich angegafft als wäre ich eben vom Himmel gefallen. Ich will nur noch eins. Nach Hause und mich in mein Bett legen. Mühsam kämpfe ich mich in Richtung Rolltreppe voran. Um diese Zeit sind glücklicherweise nicht mehr so viele Menschen unterwegs, weswegen die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass ich in der U-Bahn einen Sitzplatz ergattern kann. Doch mit einem habe ich nicht gerechnet. Einem blonden Typ mit Eyeliner. Er lehnt an einer Wand, bis er mich entdeckte. Ich wäre am liebsten sofort im Boden versunken. Er sollte mich so nicht sehen. “Scheiße, wie siehst du denn aus..?“ er klingt ernsthaft besorgt, nachdem er mich einmal komplett von oben bis unten gemustert hat. Sofort fühle ich mich noch schlechter. “Wurdest du verprügelt..?“, fragt er etwas leiser und ernster, nachdem ich keine Anstalten mache zu antworten. Ich schlucke den bissigen Kommentar dazu herunter, welcher mir auf der Zunge liegt. Schließlich kann er nichts dafür, dass mein Leben einer Müllhalde Konkurrenz macht. Nichts weiter als ein großer, stinkender Haufen Müll, der jeden Tag wächst. “Ist das nicht offensichtlich..!“ stelle ich ironisch fest und versuche eine Grimasse zu ziehen, was ich gleich wieder bereue. Denn meine Unterlippe schmerzt dadurch noch mehr. “Du hast ganz schön was abbekommen. Ich werde dich nach Hause begleiten und..“ beschließt er, wie selbstverständlich, aber ich lasse ihn gar nicht erst ausreden. „Das schaffe ich allein. Ich geh den Weg jeden Tag. Ohne Begleitung..“ wehre ich stur ab, während ich meinen Weg fortsetze. Er folgt mir. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn heute irgendetwas so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe. “Was soll das? Hörst du schwer..?“ zische ich ihn verärgert an. “Im Gegenteil. Ich höre und sehe bestens..“ antwortet er trocken, was mich die Augen verdrehen ließ. Ich fand ihn sympathischer als er weniger geredet hat. “Idiot..“, murmle ich leise vor mich hin. “Nahe dran. Die meisten nennen mich Byou und wie heißt du..?“ kontert er mit diesen Grinsen im Gesicht. “Ich weiß, dass stand in deinem Buch und jetzt hau ab, sonst verpasst du deine Bahn..“ fordere ich ihm erneut und ein wenig nachdrücklicher auf. Ich brauche kein Mitleid. “Ruki..“ füge ich noch knapp hinzu. So viel Zeit musste sein. “Das habe ich bereits und das Ganze viermal, Ruki..“, lässt er mich wissen und nun kann ich nicht anders als zu ihm aufzusehen. Unsere Blicke treffen sich erneut. Mir wird ganz anders und das liegt nicht an meinen Verletzungen. “Heißt das, das du auf mich gewartet hast? Warum..?“ will ich zögerlich wissen. Meine eigene Stimme kommt mir plötzlich so fremd vor. “Ich wollte mich dafür bedanken, dass du meinen Song vollendet hast. Ich versuche das schon seid Wochen. Aber ich hatte irgendwie eine Blockade..“ erklärt er, ohne seinen Blick abzuwenden. Ein Teil von mir freut sich darüber, der andere ist ein wenig enttäuscht. Die U-Bahn rauschte an uns vorbei und ließ mich leicht zusammenzucken. Ich hatte ganz vergessen, wo ich mich eigentlich befand oder wohin ich wollte. Allgemein war mein Kopf ein einziges Vakuum. Byou ergriff meine Hand, was gut und schlecht zugleich war. Gut, weil ich mich sonst nicht von der Stelle bewegt hätte und schlecht, weil mein Herz sofort zu rasen begann. Widerstandslos folgte ich dem Größeren in das Innere der Bahn. Ich kann mich lediglich vorsichtig gegen die Rückseite eines Sitzes lehnen, da leider kein Platz in Sichtweite mehr frei ist, Byou sieht mich abwartend an und ich realisiere, dass ich noch nichts auf seine Worte geantwortet habe. “Gern geschehen. Aber das war reines Glück..“ gebe ich ehrlich zu und schenke ihn ein schwaches Lächeln. Er steht direkt vor mir. Unsere Gesichter sind sich sehr nah, sodass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren kann. “Glück, das war es auf jeden Fall..“ stimmt er mir zu, was nicht die Antwort war, die ich erwartet hatte. Normalerweise müsste ich beleidigt sein, doch sein Blick sagt mir, dass er nicht meine Schreibkünste meint. Ich schlucke trocken, ehe ich mich in den Armen des Blonden wiederfinde. Dir U-Bahn war ruckartig angefahren und ich verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht. Ich halte kurz den Atem an. Nicht, weil ich Schmerzen habe, sondern, weil ich Byou so unglaublich nahe war. “Ich habe eine Band. Wir treten morgen in einem Klub auf. Ich würde mich sehr freuen, wenn du kommst. Ich werde auch Unser Lied singen. Allerdings unter einem anderen Titel..“ dringt seine Stimme dicht an meinem Ohr zu mir durch und lässt mich sichtlich erschauern. Mein Kopf bewegt sich, wie von allein, und gibt meine Zustimmung mit einem kaum merklichen Nicken bekannt. Ich bin zu aufgewühlt, um viel zu sagen. “Wie lautet denn der Titel..?“, frage ich dann doch noch schüchtern nach, ohne mich von dem Blonden zu lösen. Ich brauchte Halt. “Gemeinsam Einsam..“ lautet die leise Antwort, wobei er mir wieder direkt ins Gesicht sieht. Er drückt meine Hand und lässt sie die gesamte Fahrt nicht los. Und auch nicht danach.. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)