If looks could kill von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Prolog: Prolog: Warum 'Morte'? ------------------------------ Wann immer sie auf diesem Hügel saß, war es ihr, als vergäße die Zeit sie. Sie selbst tat es jedenfalls im Bezug auf die Zeit. So konnte es passieren, dass sie stundenlang im Gras saß, die vor ihr liegende, im Dunkeln leuchtende Stadt betrachtete, die lila-farbenen Blumen pflückte und zu einem Kranz flocht, ohne dass sie bemerkte, wie spät es dabei wurde. Manchmal schlief sie dabei ein und fand sich dann, wenn sie später erwachte, in ihrem Bett wieder. In dieser Welt gab es keine Gefahr, vor der sie sich fürchten müsste, nicht, wenn sie daran dachte, um wen es sich bei ihren Eltern handelte. Doch meistens, so wie an diesem Tag, fand ihr Vater sie und setzte sich wortlos neben sie. Dann starrte er eine Weile zur Stadt hinüber, als dachten er über all die Dinge nach, die ihn mit diesem Ort verbanden. Er wartete stets, bis es zu spät wurde oder bis sie etwas sagte. So wie an diesem Tag: „Warum Morte?“ Die Frage musste derart willkürlich gekommen sein, dass er sie für einen Moment nicht einmal registrierte und weiter geradeaus sah. Aber dann, gerade als sie die Frage wiederholen wollte, wandte er sich nun doch ihr zu. Ihre eigenen Augen blieben dabei auf ihren Fingern, die geschickt die einzelnen Blumen miteinander verflochten. „Was meinst du?“, fragte ihr Vater, mit einer Stimme, deren Sanftheit ihr noch immer in den Ohren klang. „Warum Morte?“, wiederholte sie. „Warum habt ihr mich so genannt?“ Das Leben war von vorneherein nicht leicht für sie, als Tochter eines Dämonenjägers und einer Frau, die eigentlich geboren worden war, die Welt zu zerstören. Als jemand, der auch noch Tod genannt wurde, war es geradezu unmöglich, als ob ihr Name eine ständige Erinnerung an die Vergänglichkeit des Lebens sei, mit der sich Kinder nicht auseinandersetzen sollten. Dementsprechend hatte sie auch keine Freunde, niemand wollte mit dem Tod spielen, obwohl niemand sie überhaupt kannte, abseits ihres Namens. Ihr Vater stützte die Arme hinter sich auf dem Boden und lehnte so den Oberkörper ein wenig zurück. „Im ersten Moment muss das sehr irritierend sein, dessen waren wir uns bewusst. Aber wir fanden, dass es der beste Name war. Vor dem Tod sind alle gleich – und wir wollten, dass auch für dich alle gleich sind, damit du niemanden nach den Kriterien beurteilst, nach denen du im Moment abgeurteilt wirst.“ Sie hielt in ihrer Tätigkeit inne und sah ihn nun an, bemerkte sein sanftes Lächeln und die dunklen braunen Augen, die von innen heraus zu leuchten schienen. Jene Augen, die sie niemals vergaß und selbst in vielen Jahren noch in ihrem Gedächtnis existierten. „Dann habt ihr euch wirklich etwas dabei gedacht ...“, stellte sie murmelnd fest. Nachdem sie nun so lange davon ausgegangen war, dass keiner von ihnen sich Gedanken über den Namen gemacht hatte, die über Er klingt eben schön hinausgingen, war es gut zu wissen, dass sie sich so offensichtlich irrte. „Natürlich haben wir das“, bekräftigte er auch sofort. „Wir lieben dich, Morte. Und das haben wir schon, noch bevor du überhaupt geboren warst.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie näher zu sich. Sie ließ sich in die Umarmung fallen und schmiegte sich glücklich lächelnd an ihn. „Danke, Papa~.“ „Nichts zu danken, meine Kleine. Vergiss es nur ja nie.“ Niemals, das nahm sie sich in jenem Moment vor. Solange sie lebte, wollte sie sich daran erinnern, dass ihre Eltern sie geliebt hatten, ungeachtet aller Vorzeichen, aller Kritik, allem Schlechten, was noch vor ihrem Leben bereits geschehen sein mochte. Und doch … Während diese Szenerie sich vor ihren Augen auflöste, zu schmelzen begann, um dahinter eine rostige, blutige Welt zu enthüllen, fernab jeder traumgleichen Schönheit dieses Ortes, konnte sie nicht anders als sich wieder jene Frage zu stellen: Hätten sie mich auch geliebt, wäre ihnen bewusst gewesen, was einmal aus mir würde? Kapitel 1: Wer war es? ---------------------- Als Morte die Augen aufschlug, musste sie erst mehrmals blinzeln, da sie von dem hellen Licht über ihr geblendet wurde. Mit einem leisen Stöhnen hob sie ihren Arm, um ihre Augen damit von dieser blendenden Helligkeit abzuschirmen. Im nächsten Moment hörte sie Schritte, dann beugte sich jemand über sie – und im ersten Moment machte ihr Herz einen Sprung. „Opa“, hauchte sie leise, sehnsuchtsvoll. Das Gesicht blieb eine emotionslose Maske, aber in den Augen konnte sie ein entschuldigendes Funkeln erkennen. „Ich bin nicht dein Opa, Morte.“ Dabei sah er diesem täuschend ähnlich, angefangen bei der beachtlichen Körpergröße, über sein langes braunes Haar, bis hin zu der Brille, die er sich gerade zurechtschob. Seine Stimme schloss sich der Ähnlichkeit an; ein dunkler, wohltuender Bass, der den gesamten Raum zu erfüllen schien, wann immer er sprach, der die Worte auf den Wänden tanzen ließ, so dass man, selbst wenn er schon lange wieder fort war, noch immer glaubte, ihn bei sich spüren zu können. Bei ihrem Großvater war es genauso gewesen, deswegen war er noch immer derart in ihrer Erinnerung verankert, als halle seine Stimme noch immer in ihrem Kopf wider. „Tut mir leid, Vane“, sagte sie seufzend. „Ich habe nur von meinem Vater geträumt und da dachte ich ...“ Dass sie wieder zu Hause wäre, lange bevor Dinge geschehen waren, die ihr nun das Leben schwermachten, weil sie davon sogar bis in ihre Träume verfolgt wurde. Vane war der Arzt von Athamos, also musste sie sich auf der Krankenstation, in Sicherheit, befinden. Mit einer weiteren Entschuldigung wollte sie sich aufrichten, aber Vane legte eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie sanft, aber bestimmt, wieder auf das Bett zurück. „Du solltest dich noch ein wenig ausruhen“, erklärte er dabei. „Es waren ziemlich viele psychische Male, von denen du gezeichnet warst, und du warst einige Zeit bewusstlos.“ Automatisch gingen ihre Blicke zu ihren Armen hinunter, als sie sich wieder erinnerte. Sie war gemeinsam mit den anderen Schülern auf einem nächtlichen Übungseinsatz gewesen und dabei auf einen Albtraum mit einer Schall-Prägung gestoßen. Ein äußerst sadistischer Albtraum, wie ihr schnell aufgefallen war, denn er hatte sie erst kampfunfähig gemacht – in einer bahnbrechenden Geschwindigkeit – und sie dann mit psychischen Malen belegt, die ihre gesamte Seele, ihr ganzes Sein, mit jenen negativen Gefühlen durchsetzt hatte, aus denen der Albtraum geboren war. Sie musste erst zu einem sehr späten Zeitpunkt ohnmächtig geworden sein, denn sie erinnerte sich noch genau an die Schmerzen. Aber woraus genau die Gefühle bestanden hatten, wusste sie inzwischen nicht mehr – darum war sie auch ganz froh. Inzwischen waren ihre Arme frei von jedem Mal, als wäre nie eines vorhanden gewesen. Das war eine freudige Tatsache, aber dennoch stimmte es sie ein wenig betrübt. „Ich habe verpasst, wie du singst. Wie traurig.“ Im Gegensatz zu ihrem Großvater konnte sie Vane auch nicht darum bitten, ihr einfach so etwas vorzusingen. So sehr sie seine Stimme, besonders seinen Gesang, auch liebte, sie wusste, dass er noch andere Dinge zu tun hatte um die er sich kümmern musste, nicht zuletzt seine eigene Familie – und das hatte natürlich alles Vorrang. In seinen Augen tanzte ein amüsiertes Funkeln, das mehr aussagte als jedes Lächeln es je könnte, wenn man sich Mühe gab, es auch wirklich wahrzunehmen. „Irgendwann bekommst du bestimmt wieder die Möglichkeit, mir zuzuhören.“ Das hoffte sie ebenfalls, aber sie sprach das lieber nicht aus und kam stattdessen auf ein anderes Thema, das sie gerade ebenfalls interessierte: „Was ist mit dem Albtraum geschehen?“ Als sie bewusstlos geworden war, hatte er immerhin noch existiert und sie sogar höhnisch verlacht, als wäre ihm genau bewusst, mit wem er es bei ihr zu tun hatte. „Einer der Lehrer hat ihn zerstört.“ Offenbar war es also niemandem von den Schülern sonst gelungen, ihn zu besiegen. Allerdings konnte sie das durchaus gut verstehen. Sie gab nicht gern mit ihren Fähigkeiten an, aber es war unzweifelhaft dass sie, aufgrund ihrer Eltern, über wesentlich mehr Können verfügte, als ein durchschnittlicher Traumbrecher-Schüler. Wenn nicht einmal sie einen Albtraum besiegen konnte, traf das auch auf die anderen zu. Aber es erstaunte sie ein wenig, dass es einem Lehrer gelungen war. „Wer war es?“ „Rowan Durante.“ Wer auch sonst? Es war absolut passend, dass gerade der Lehrer, der sich ohnehin nur auf seine Kraft verließ, es schaffte, einen derart sadistischen Albtraum zu vernichten. Passend und dennoch etwas, das sie mit den Augen rollen ließ. Auch das sorgte für ein amüsiertes Funkeln in Vanes Blick. „Er hat dich auch gerettet.“ Das gefiel ihr noch wesentlich weniger. Aber vor allem verstand sie es nicht. „Warum?“ Bislang hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, ihr zu zeigen, wie wenig er von ihr hielt und wie sehr er ihr misstraute. Allein schon sein Blick, wann immer sie sich zufällig begegneten – was leider häufig vorkam – schien sie jedes Mal mit unzähligen glühenden Dolchen zu durchbohren. Könnten Blicke töten, wäre sie den seinen längst zum Opfer gefallen – aber sie zweifelte kaum daran, dass er die erste Person werden könnte, bei der es wirklich eines Tages funktionierte. Sie hoffte nur, dass er bis dahin niemanden mehr fand, den er derart ansehen könnte. „Bernadette hat ihn gezwungen, soweit ich weiß.“ Bei jeder anderen Person wäre nun ein feines Lächeln gefolgt, ein leichtes Anheben der Mundwinkel, bei Vane wartete man darauf vergeblich. Er nahm das Klemmbrett, das er bislang unter seinem linken Arm getragen hatte, in die Hand und warf einen Blick darauf. „Er schien nicht sonderlich glücklich darüber, dich gerettet zu haben.“ Morte mochte Bernadette. Sie war zwar die Lehrerin für die Traumbrecher mit Schöpfer-Prägung, aber das änderte nichts daran, dass sie jeden Schüler bemutterte – darunter eben auch Morte. Da diese inzwischen keine Familie mehr hatte, nutzte sie jede Gelegenheit, sich bei anderen das angenehme Gefühl zu holen, das einem nur die Familie geben konnte. Zumindest solange, bis sie ihre eigene Familie gegründet hatte. Mit ihrer Vergangenheit konnte das aber noch eine Weile dauern. „Wenigstens kann ich mich auf Detty verlassen“, sagte sie seufzend. Dabei hätte ihr Lehrer – Nevin Durante – seinen Bruder bestimmt auch aufgefordert, sie zu retten, wenn Bernadette nicht schneller gewesen wäre. Egal, was geschah, sie wusste, sie konnte sich hier auf ihre Verbündeten verlassen. Vane blätterte durch die beschriebenen Seiten auf seinem Klemmbrett. Manchmal fragte sie sich, was er da wohl alles aufschrieb, aber ihr kurzer Blick darauf hatte ihr nicht weitergeholfen. Das alles war in einer Sprache verfasst, die sie nicht entziffern konnte, aber sie traute sich nicht, ihn danach zu fragen. Ein wenig fürchtete sie sich nämlich davor, was er wohl über sie aufgeschrieben haben mochte. Sie glaubte nicht wirklich, dass er etwas sehr Negatives über sie geschrieben hatte – aber sie wollte das auch nicht nachprüfen. „Du musst dich noch ein wenig ausruhen“, sagte Vane, den Blick weiterhin auf seine Notizen gerichtet. „Aber du kennst die Zeit hier ja noch.“ Zu Beginn ihrer Zeit in Athamos war sie tatsächlich nur auf der Krankenstation gewesen. Schon damals war Rowan sehr schlecht gelaunt gewesen, nachdem er erfahren hatte, dass die Weltenzerstörerin sich hier aufhielt, nicht einmal im Kerker oder sonst in Gefangenschaft, sondern frei auf der Krankenstation. Sie konnte ihn durchaus verstehen. Nachdem Kieran Haze nach Athamos gekommen war, ebenfalls nicht als Gefangener, sondern als Forschungsobjekt, war sie ebenfalls misstrauisch gewesen. Mehrere Tage lang hatte sie das Labor, in dem er sich die meiste Zeit aufhielt, argwöhnisch betrachtet, war umhergeschlichen, darauf wartend, dass er etwas tat, das ihr Misstrauen rechtfertigte. Im Gegensatz zu Rowan war ihr das aber irgendwann langweilig geworden. „Wie lange muss ich noch bleiben?“, fragte sie. „Schlaf noch mal ein wenig“, riet Vane. „Ich komme dann später wieder, wenn du gehen kannst.“ Damit verließ er das Krankenzimmer bereits wieder. Erst als er draußen war, fiel ihr auf, dass sie ihn auch hätte fragen können, wie viele andere Schüler verletzt worden waren und wie es ihnen inzwischen ging. Sie hatte kaum Verbindungen zu den anderen Schülern, deswegen kam sie erst darauf, als er bereits draußen war und nur seine Stimme noch immer durch den Raum tanzte. Mit einem leisen Seufzen rollte sie sich zusammen, griff dann in ihre Tasche und zog eine silberne Taschenuhr heraus. Jeder Traumbrecher besaß eine solche, sie war das Herz jener Kämpfer, die im Krieg mit Albträumen standen. Dementsprechend mussten sie gut behütet und immer sorgsam gepflegt und nah bei einem getragen werden. Aber für Morte hatte ihre Uhr noch eine weitere Bedeutung. Da keine von Jiis Taschenuhren sie als Trägerin auserwählt hatte, waren sie auf die alte Uhr ihres Großvaters ausgewichen. Diese trug sie seit damals als Andenken an ihn bei sich. Normalerweise waren auf den Sprungdeckeln der Uhren weiblicher Traumbrecher Sterne abgebildet und auf denen der Männer Mondsicheln. Auf ihrer war allerdings eine Feder geprägt, die mit viel Liebe zum Detail herausgearbeitet worden war. Das Ziffernblatt war wesentlich stärker stilisiert als das der gewöhnlichen Taschenuhren der anderen Traumbrecher, aber auch so konnte sie ablesen, dass sie bereits eine Stunde ihrer sechs verbraucht hatte. Allerdings glitt ihr Blick direkt nach links, auf die Innenseite des Deckels, auf der ein Bild angebracht war. Es war ein Familienbild, das sie selbst als Kind gemeinsam mit ihren Eltern zeigte. Ihr Großvater hatte sie sehr geliebt, wie sie wieder einmal feststellte. Auch wenn er das nie gesagt hatte, so wie ihr Vater, war es doch spürbar gewesen, in jedem seiner Worte und seiner Taten. Dieses Bild hier war nur ein weiterer Beweis. Damals, als das Foto gemacht worden war, war noch alles in Ordnung gewesen. Morte war bei ihren Eltern aufgewachsen, keiner von ihnen hatte sich auch nur im Mindesten auf die Dunkelheit vorbereitet, die eines Tages über sie hereinfiel und Morte alles nahm, was ihr lieb und teuer gewesen war, angefangen von ihrem Großvater, über ihre Mutter, bis zu ihrem Vater. In einer zärtlichen Geste strich sie über die lächelnden Gesichter ihrer Eltern, worauf sie beinahe zu schluchzen begonnen hätte. Sie konnte sich gerade noch davon abhalten – als sie plötzlich eine verärgerte Stimme direkt vor ihrer Tür hören konnte. Vor Schreck fiel ihr die Taschenuhr aus der Hand – glücklicherweise landete sie nur wenige Zentimeter tiefer auf der Matratze – und im ersten Moment war es ihr nicht möglich, die Stimme zu erkennen oder gar herauszuhören, was sie sagte. Während sie die Uhr wieder säuberlich in ihrer Tasche verstaute, lauschte sie aufmerksam und verzog dann das Gesicht. Natürlich musste es ausgerechnet Rowan sein, der vor ihrer Tür einen lautstarken Radau veranstaltet. Seine Stimme war nicht im Mindesten sanft oder auch nur einnehmend, sondern hart und unerbittlich, genau wie er selbst. Ausgehend von den wenigen Worten, die sie in seiner Aufregung verstehen konnte, konnte sie heraushören, dass er mit seinem Bruder sprach und gerade versuchte, ihm zu verbieten, sie zu besuchen. Nevins Stimme war wesentlich leiser, vollkommen ruhig, weswegen sie ihn nicht verstehen konnte. Aber offenbar gewann er die Diskussion, denn nach einem wütenden Schnauben Rowans, wurde die Tür geöffnet und Nevin kam herein. Wie üblich trug er ein Lächeln auf den Lippen, das sogar seine violetten Augen zum Strahlen brachte, das schneeweiße Haar war zu einem Zopf geflochten und lag auf seiner Schulter auf. Alles an Nevin, von seinem Aussehen, über seine Gangart, bis zu seiner Stimme, war einfach nur unendlich sanft und voller Gleichmut, so dass einfach jeder ihn mögen musste, inklusive Morte. Sein älterer Bruder Rowan, der ebenfalls hereinkam, war in so vielen Dingen das komplette Gegenteil. Anmutige Bewegungen suchte man bei ihm vergebens, jeder Schritt schien einer inneren Wut zu entstammen über die auch sein finsterer Gesichtsausdruck Zeugnis ablegte. Aber es gab zwei Dinge an ihm, die einen auf den ersten Blick eine falsche Annahme über ihn treffen ließen: Er trug eine Brille, hinter der seine grünen Augen sie immer wütend anfunkelten – aber er war nicht sonderlich intelligent. Er hatte rosa Haar, etwa schulterlang, das er meist zusammenband – aber er war alles andere als ein netter Junge und das demonstrierte er scheinbar immer wieder gern. Selbst in diesem Moment schien er Nevin einfach packen und wieder rausschleifen zu wollen. Das tat er zwar nicht, baute sich aber dennoch wie ein Bodyguard hinter seinem Bruder auf. Nevin ignorierte das und schenkte Morte dafür sein strahlendstes Lächeln. „Ich bin froh, dass du wieder wach bist.“ Seine Stimme war stets wie eine Umarmung, nicht so wohltuend wie jene ihres Vaters, aber dennoch für Morte sehr willkommen. Deswegen musste sie stets lächeln, sobald sie diese hörte. „Ach, das war doch überhaupt nichts“, wehrte sie ab. „Ich stand schon schlimmere Dinge durch.“ Sie musste sich nur an jene Welt zurückerinnern, in der ihr ein Kämpfer regelrecht den rechten Arm herausgerissen hatte. Dass sie einen solchen überhaupt noch besaß, verdankte sie lediglich ihren Fähigkeiten als Tochter einer Weltenbrecherin. Rowan schnaubte leise. „Darauf wette ich.“ Morte ließ es sich nicht nehmen, seinen Blick angriffslustig zu erwidern, aber sie beeindruckte ihn damit nicht im Mindesten. Stattdessen trat einfach nur Nevin zwischen sie beide, um den Blickkontakt zu unterbrechen. „Ich möchte dir noch einmal danken, Morte.“ Sie stutzte. „Wofür?“ „Der Albtraum war so sehr mit dir beschäftigt, dass keiner der anderen Schüler verletzt werden konnte.“ Auch wenn das als Aufmunterung gemeint war, bedrückten sie diese Worte eher. Es war ihr nicht möglich gewesen, aufgrund ihrer Fähigkeiten alle anderen zu beschützen, sondern nur weil sie ein derart gutes und ergiebiges Opfer gewesen war. Wer wollte so etwas denn schon hören? Nevin bemerkte ihren Unmut wohl, denn seine Stimme wurde direkt noch ein wenig sanfter, als wolle diese sie wirklich in eine Umarmung schließen: „Du hast wirklich gute Arbeit geleistet, Morte. Nächstes Mal wird es bestimmt noch besser.“ Das konnte sie jedenfalls nur hoffen, denn sonst wäre das hier vollkommen umsonst. Andererseits wollte sie nach der Ausbildung ohnehin Ärztin werden, so wie Vane, also war es lediglich ihr Stolz, der hierbei angegriffen wurde. Sie müsste nächstes Mal wirklich bessere Ergebnisse abliefern. „Nächstes Mal wird sie sich wahrscheinlich mit dem Albtraum verbünden und uns alle umbringen“, brummte Rowan. Nevin lächelte entschuldigend und zog dabei die Brauen zusammen. Morte wollte ihm gerade versichern, dass es schon in Ordnung wäre und er nichts für das Verhalten seines Bruders konnte, als Vane vor der offenen Tür stehenblieb. Er überragte die beiden Besucher, so dass sie seine gerunzelte Stirn sehen konnte. „Morte braucht Ruhe“, ordnete er an. „Lasst sie jetzt bitte allein.“ Nevin folgte diesen Worten sofort und verabschiedete sich von Morte, ehe er herumfuhr, um davonzugehen. Rowan funkelte sie noch einmal an, dann schloss er sich Nevin an und war schon kurz darauf verschwunden. Morte unterdrückte das Seufzen, das ihr wegen dieser dauernden Feindseligkeit entkommen wollte, und konzentrierte sich lieber auf Vane. „Alles in Ordnung?“, fragte dieser. „Bestens~“, sagte sie mit einem Lächeln. Abgesehen von ihrem verletzten Stolz gab es ja nichts zu beklagen und das war nun nicht zwingen seine Baustelle, deswegen ließ sie es lieber aus. Er nickte knapp und griff dann nach der Tür, um diese zu schließen. Vorher hielt er aber noch einmal kurz inne. „Also, wie gesagt, ruh dich ein wenig aus. Sonst wirst du nicht so schnell wieder fit.“ Erst nachdem er das gesagt hatte, schloss er die Tür, ohne ihr noch einmal die Chance für eine Erwiderung zu lassen. Mit einem lautlosen Seufzen ließ sie sich wieder tiefer in ihr Bett sinken. Begegnungen mit Rowan nagten stets an ihr, egal wie sehr sie das zu leugnen versuchte. Auch wenn sie ihn verstehen konnte, fragte sie sich, wie lange er dieses Misstrauen noch aufrecht erhalten wollte und was sie tun könnte, um dem endlich zu entgehen. Noch fiel ihr allerdings, wie gehabt, nichts dergleichen ein, zumindest nichts, was über Lass alle am Leben hinausging und das tat sie ja bereits. Aber aufgeben kam für sie dennoch nicht in Frage. Irgendwann, dachte sie, zeige ich diesem Kerl schon, dass man sich auch auf mich verlassen kann. Und dann wird er sich bei mir entschuldigen. Ha! Kapitel 2: Ich habe schon Schlimmeres durchgestanden. ----------------------------------------------------- Wenn man ein einsames Kind war, blieben einem nicht viele Möglichkeiten, seine Zeit zu verbringen. Eine war sicherlich, den ganzen Tag auf einer Blumenwiese zu sitzen und Kränze zu flechten. Eine andere – und die bevorzugte Morte doch sehr – war es, bei ihrem Großvater zu sitzen und ihm zuzuhören, während er Geschichten erzählte. Seine Stimme schaffte es stets, all die Ereignisse lebendig werden zu lassen. Ungeheure Drachen, die Menschen fraßen und dann allein durch die Macht der Liebe bekehrt wurden, ein verzauberter Turm, dessen Fluch erst durch die Freundschaft zweier Menschen bezwungen werden konnte … Egal wie abwegig es auch erschien, durch seine Stimme wurde alles möglich und selbst die größte Gefahr, erst durch sie lebendig geworden, verblasste an ihrer Schönheit und musste schließlich dem Guten weichen, das immer wieder über die Dunkelheit zu siegen schien. Sie lauschte diesen Geschichten stets hingerissen, mit großen Augen, die vollkommen auf seinem ruhigen Gesichtsausdruck fixiert waren, er erwiderte ihren Blick mit einem solchen, der ihr sagte, dass alles gut und sie in Sicherheit war. Nichts könnte ihr an diesem Ort schaden, solange er hier war. Entsprechend am Boden zerstört war sie daher, als er plötzlich nicht mehr da war, sein Sessel verwaist. Er war einem dieser Monster, das nur in Märchen zu existieren schien, zum Opfer gefallen. Mit verzweifelter Kraft klammerte sie sich an die Taschenuhr, das einzige, was ihr von ihm geblieben schien, als ob noch immer etwas von ihm darin sein könnte. Vor- und zurückwippend blieb ihr Blick stets auf den Sessel gehaftet, mit einer leisen Hoffnung beseelt, dass er doch plötzlich zurückkäme, dass er, wie in seinen Geschichten auch, den Tod besiegt und in seine Schranken gewiesen hätte. Wenn ich wirklich der Tod wäre, so überlegte sie, könnte ich ihn einfach zurückholen. Ich würde in dieses Jenseits gehen, ihn schnappen und wieder auf diesen Sessel setzen. Ganz einfach. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich wirklich wünschte, ihrem Namen gerecht werden zu können, der Augenblick, in dem ein dunkler Samen in ihr Herz fiel und dort Wurzeln schlug, die erst viele Jahre später eine finstere Blume hervorbringen sollten. Ihre Mutter ahnte davon nichts, als sie sich an einem dieser Tage neben sie auf den Boden setzte. „Es ist schon eine Woche her, Morte“, sagte sie, statt so lange Schweigen walten zu lassen, wie ihr Vater es täte. „Willst du nicht endlich etwas anderes tun?“ „Nein.“ Eine knappe Antwort, in die sie ihren ganzen Weltschmerz legte. „Morte, du weißt doch, dass Menschen sterben.“ „Aber er war doch nicht nur irgendein Mensch.“ Wie konnte es sein, dass es eine Welt gab, in der man jemandem eine so wundervolle Person schenkte, wie ihr Großvater sie gewesen war, nur um sie dann wieder zu entreißen? Wessen Wille war dafür verantwortlich und was dachte er sich dabei? Ihre Mutter legte einen Arm um ihre Schulter. „Ich weiß, es ist nicht leicht, einen Verlust zu verarbeiten. Aber ich bin sicher, dass du das kannst. Weil du stark bist. Aber du musst auch deine Stärke beweisen, indem du aufstehst und weiterlebst.“ „Und wenn ich das gar nicht will?“ Das verschlug ihrer Mutter wohl einen Moment die Sprache, denn sie sagte nichts mehr und strich sich stattdessen nervös durch das grüne Haar. Es dauerte eine Weile, bis sie schließlich wieder Worte fand, um Morte nicht darin zu bestätigen, dass es besser wäre, nicht zu leben: „Solange du lebst, kannst du einen Unterschied machen. Wenn du tot bist, ist alles vorbei und du wirst nie wieder eine solche Gelegenheit bekommen.“ Im Moment kümmerte sie eigentlich nicht, ob sie jemals wieder eine Chance für irgendetwas bekäme, aber sie überlegte dennoch, ob ihr Großvater zufrieden über diese Einstellung wäre. Allerdings kam sie zu der Erkenntnis, dass er wohl bedächtig mit dem Kopf schüttelte und ein tiefes Seufzen ausstieße, könnte er sie so sehen. „Und zuguterletzt sind es deine Erinnerungen, die deinen Großvater immer lebendig halten werden.“ Ihre Mutter legte einen Finger auf ihre Brust. „Solange du ihn nicht vergisst, wird er immer weiterleben – deswegen darfst du niemals zulassen, dass diese Erinnerung verlorengeht.“ Und als wolle er diese bestätigen, glaubte sie plötzlich wieder, seine Stimme zu hören und ihn in seinem Sessel sitzen zu sehen, während er eine Geschichte erzählte, in der Liebe den Tod überwand – und zum ersten Mal glaubte sie, dass dieses Überwinden dieses endgültigen Zustands eigentlich nur im rein übertragenen Sinn zu verstehen sei. Als Morte diesmal erwachte, fühlte sie sich wesentlich ausgeruhter als beim letzten Mal. Außerdem war sie auch nicht derart in ihrer Traumwelt gefangen, so dass sie sofort wusste, wo sie sich befand. Ohne auf Vane zu warten, stand sie aus dem Bett auf. Ihr war nicht schwindelig, also dürfte es ihr problemlos gelingen, endlich wieder in ihr Quartier zurückzukehren. Dort könnte sie die Mission noch einmal Revue passieren lassen und sich überlegen, woran genau sie gescheitert war. Noch einmal wollte sie keinesfalls von Rowan gerettet werden müssen. Doch sie hatte kaum ein paar Schritte in Richtung der Tür getan, als diese bereits geöffnet wurde und Vane hereintrat. Seine Anwesenheit füllte sofort den Raum, auf eine wohltuende Weise, die sie erst einmal tief Luft holen ließ. Er musterte sie einen kurzen Moment mit einem prüfenden Blick. „Es scheint dir wieder gut zu gehen.“ „Ja, sehr gut sogar“, sagte sie und lächelte zur Demonstration. „Ich wollte gerade-“ „Mit mir kommen, um gemeinsam mit Konia und den Kindern zu Abend zu essen.“ Eigentlich mochte sie es nicht, unterbrochen zu werden, aber bei diesem Vorschlag konnte sie nicht anders als ihr Lächeln noch ein wenig strahlender werden zu lassen. „Wirklich? Darf ich?“ „Natürlich, da musst du nicht erst fragen.“ Morte war gern bei Vane und seiner Familie. Nicht nur weil er sie an ihren Großvater erinnerte, sondern weil Konia, seine Frau, sie auch stets an ihre Mutter erinnerte – was kein Wunder war, bedachte man, dass ihre Mutter einfach die Konia einer anderen Welt – ihrer Welt – gewesen war. Aber gerade als sie wieder daran dachte, spürte sie, wie eine eiskalte Hand sich um ihr Herz schloss und sie tief durchatmen ließ. „Ich kann leider nicht. Außerdem habe ich auch gar keinen Hunger. Es ist besser, wenn ihr ohne mich esst, ich leiste euch dann ein andermal Gesellschaft.“ Vane bedachte sie mit einem tadelnden Blick, erkannte wohl aber, dass es sinnlos war, sie auf etwas hinweisen zu wollen. „In Ordnung. Aber wenn du es dir doch noch anders überlegst, weißt du, wo du uns findest. Okay?“ Sie nickte und bedankte sich, dann ging sie hastig an ihm vorbei, um erst das Zimmer und dann die Krankenstation zu verlassen. Sie musste dort weg, bevor es begann. Mit hastigen Schritten legte sie den Weg durch die Gänge Athamos' zu ihrem eigenen Zimmer zurück. Das Atmen fiel ihr dabei schwer, als müsste sie den Sauerstoff durch eine dünne Eisschicht filtern, was jeden doch geglückten Atemzug zu einer kalt brennenden Agonie ihrer Lungen werden ließ. Ihr Sichtfeld war dunkel, nur noch Konturen, die sich von der Schwärze abzuheben schienen. Neben dem in ihren Ohren rauschenden Blut hörte sie nur Dinge aus ihrer Vergangenheit, aber keine wohltuenden. Es waren Schreie, die sie verfolgten, ihre Klauen in sie schlugen, das anklagende wütende Heulen derer, die sie getötet hatte. Sie glaubte, das unangenehme Brennen des Machtgebrauchs auf ihrem Gesicht zu fühlen, stellte aber fest, dass es sich dabei nur um Tränen handelte. Die Flüssigkeit sah durch ihre verfinsterte Sicht aus wie Blut. Rowan hat recht, durchzuckte es sie wie ein elektrischer Schlag. Ich bin eine Gefahr. Und irgendwann werde ich jeden hier töten, so wie auch in allen anderen Welten. Sie wollte auch direkt anfangen, zu zerstören, am besten mit ihr selbst. Ja, wenn sie sich selbst zerstörte, bevor sie jemand anderem etwas antat, wäre alles gut, dann wäre zumindest eine Welt vor ihr gerettet worden. Mit einem heiseren Kreischen begann sie ihre Hände gegen die Wand zu schlagen, sich die Arme aufzukratzen, nur um die Wunden gleich wieder verheilen zu sehen. Die stetig fließenden Tränen brannten auf ihren Wangen, bis sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können. Sie griff in ihre Tasche, zog die Uhr hervor und starrte sie an. Wenn sie ihr Herz zerstörte, wäre die Welt von ihr befreit. Keine Selbstheilung dieser Welt wäre in der Lage, sie dann noch vor dem sicheren Tod zu retten. Aber als sie vor ihrem inneren Auge sah, wie die Uhr zerschmettert auf dem Boden lag, verließ sie der Entschluss. Sie erinnerte sich wieder an ihren Großvater, seine Stimme und seine schwere Hand auf ihrem Haar, als Gute-Nacht-Geste. Wenn sie diese Uhr zerstörte, verschwand die letzte Erinnerung an ihn – nicht nur in Form dieses Gegenstands, sondern auch durch ihren Tod. Dieser Gedanke half ihr, sich endlich wieder zu beruhigen, der eiskalte Griff um ihr Herz lockerte sich. Leise schniefend wischte sie sich die Tränen ab, dann steckte sie die Taschenuhr wieder ein, stellte dabei sicher, dass sie gut verwahrt war und atmete einmal tief durch. Noch immer spürte sie die Nachwirkungen des Anfalls, aber es besserte sich. Das hoffte sie jedenfalls. Sie wollte glauben, dass die ruhigen Phasen länger andauerten, fürchtete sich aber davor, das mittels eines Kalenders zu überprüfen. Wenn sie feststellte, dass sie sich irrte, könnte sie das nicht ertragen, also lebte sie lieber in dieser Illusion. „Ah, hallo, Morte~.“ Die plötzliche Stimme ließ sie erschrocken zusammenzucken und herumfahren. Vor ihr stand eine Frau, die sie, wieder einmal, nur anstarren konnte im ersten Moment. Runa, die Freundin des Direktors Jii Tharom, war in ganz Athamos inzwischen bekannt. Aber nicht etwa wegen ihres rosa Haar, auch nicht wegen ihrer warmen türkis-farbenen Augen oder ihrer glockenklaren Stimme, alles Attribute, die es in Athamos zuhauf gab. Nein, der Grund war die Mütterlichkeit, die sie allen Schülern entgegenbrachte und womit sie Bernadette darin unterstützte, die Ersatz-Mutter für viele zu sein. Glücklicherweise betrachtete keine der Frauen das als Konkurrenzkampf. „Hallo, Runa“, sagte Morte, nachdem sie sich sicher war, dass ihre Stimme nicht mehr sofort ihre Gefühle verriet. Das Lächeln ihres Gegenübers schwand kein bisschen. „Bist du heute nicht bei Vane und Konia?“ Morte schüttelte mit dem Kopf und erklärte, dass sie die beiden nicht immer in ihrem Familienleben stören wollte, dabei hoffte sie, dass Runa nichts von ihrem Anfall gerade eben gesehen hatte. Das Glück schien ihr hold, denn Runa sagte nichts dazu und kam lieber auf ein anderes Thema: „Willst du nicht wenigstens etwas Kuchen essen? Nur ein Stück? Das wäre doch besser, als mit leerem Magen ins Bett zu gehen.“ Im Gegensatz zu Vane war der Widerstand bei Runa zwecklos. Am Ende schickte sie dann nur Bernadette vorbei, um ihr doch noch etwas Kuchen aufzuzwingen. Außerdem klang die Aussicht sehr verlockend und nach diesem Anfall meldete sich ihr Magen tatsächlich. Also stimmte sie zu und begleitete Runa in den Speisesaal Athamos'. Neben ihr befanden sich auch einige andere Schüler und bereits ausgelernte Traumbrecher hier, vermutlich allesamt von Bernadette und Runa eingesammelt und allesamt erpicht auf Kuchen, dessen Geruch Mortes Magen zum Knurren brachte. Zwischen den Anwesenden konnte sie Bernadette herumwuseln sehen. Die Lehrerin der Schöpfer-Traumbrecher war eine blonde, untersetzte Frau, die der Inbegriff einer Mutter-Figur zu sein schien. Wann immer Morte sie sah, wuselte sie umher, sie kannte jeden mit Namen und hatte auch für jeden ein nettes Wort übrig. Selbst für Morte. Als Bernadette diese erblickte, kam sie sofort herüber und umarmte Morte erst einmal. „Ach, Liebes, es ist schön, dass du auch vorbeigekommen bist.“ Bernadette löste sich wieder von ihr und zwinkerte ihr zu. „Runa hat extra nach dir gesucht, weil wir dachten, dass gerade du auch Kuchen gebrauchen könntest.“ Wie auf Bestellung reichte Runa ihr plötzlich einen Teller mit einem Kuchenstück darauf und eine dazu passende Gabel. Sie musste während Bernadettes Begrüßung losgezogen sein, um ihn zu holen. Morte nahm ihr den Kuchen ab und bedankte sich, dann wurde sie bereits von Bernadette mit sanfter Gewalt zu einem Tisch geführt, um sich zu setzen. Dort befanden sich schon einige andere Schüler, die Morte lediglich vom Sehen her kannte, aber dennoch grüßten sie sich alle gegenseitig mit einem Lächeln. Der Kuchen musste gute Laune verbreiten. Morte blickte endlich hinunter und betrachtete den Kuchen, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Auf dem hellen, locker aussehenden Kuchenboden, befand sich ein gelb-goldener Pudding, der Neugier in ihr weckte. Vorsichtig probierte sie ein Stück, ließ es auf ihrer Zunge zergehen und überlegte einen Moment, bis ihr endlich die passende Frucht einfiel: „Ist das Melonenkuchen?“ Runa und Bernadette, die beide neben ihr stehengeblieben waren, als machten sie sich besondere Sorgen um sie, nickten lächelnd. „Ich wollte einmal etwas Neues probieren“, erklärte Bernadette, sichtlich stolz auf ihre Backkunst. „Ich habe den Vorschlag für Melonen gemacht, als Detty nach einer Frucht suchte“, ergänzte Runa, „und dann die Melonen gekauft.“ Bernadette machte eine ausholende Handbewegung. „Das reicht für all meine Lieblinge hier~.“ Morte spürte bereits einen Knoten in ihrer Kehle, der neue Tränen bringen wollte, wenngleich diesmal vor Rührung. Um dem zu entgehen, nahm sie schnell noch einen Bissen und versicherte den beiden Frauen dann, dass es wirklich köstlich war, worauf die anderen am Tisch sitzenden Schüler zustimmten. „Dann hat es sich wirklich gelohnt“, sagte Bernadette lächelnd. „Lasst es euch noch schmecken.“ Runa entfernte sich damit bereits vom Tisch, um bei den anderen nach dem rechten zu sehen. Bernadette blieb dagegen noch ein wenig bei ihr stehen. „Ich habe gehört, dass Ro dir vorhin wieder das Leben schwer gemacht hat.“ Sie nannte Rowan immer so – und er hasste es. Morte spielte deswegen mit dem Gedanken, ihn auch so zu nennen, bevorzugte es aber doch, ihn gar nicht erst anzusprechen. „Ich komme schon klar“, versicherte Morte. „Ich habe schon Schlimmeres durchgestanden.“ Und eigentlich verdiente sie es doch auch, so behandelt zu werden. Sie hatte unzählige Welten zerstört, zahllose Leben vernichtet, das war nicht wiedergutzumachen. Hastig nahm sie noch einen Bissen, um die eiskalte Hand wieder von ihrem Herzen zu vertreiben, ehe ein neuer Anfall kommen konnte. Die natürliche Süße der Melone besänftigte ihre Nerven und schaffte einen angenehm warmen Schutzschirm um ihr Herz. Bernadette tätschelte ihre Hand. „Nur Mut, Liebes. Irgendwann hört er damit bestimmt wieder auf.“ Nachdem Morte sich lächelnd dafür bedankt hatte, wuselte Bernadette wieder davon, um auch anderen Schülern ihre Mütterlichkeit zuteil werden zu lassen. Morte sah ihr hinterher, bis sie aus ihrer unmittelbaren Sicht verschwunden war, dann konzentrierte sie sich auf das lockere, lebhafte Gespräch ihrer Tischgenossen, um ein Teil von ihnen zu werden. Runa und Bernadette verstanden es wirklich, Menschen zu vereinen. Egal, womit sie es verdient hatte, hier zu landen und diese Zuneigung zu erhalten, sie würde sich des Vertrauens würdig erweisen, indem sie ein gutes Mädchen war. Ein Mädchen, auf das ihr Großvater stolz sein könnte. Kapitel 3: Dann gilt die Wette. ------------------------------- Nach diesem Anfall kam tatsächlich erst einmal kein weiterer, so dass Morte nichts im Weg stand, an dem nächsten nächtlichen Übungseinsatz, eine Woche später, teilzunehmen. Wie üblich gab es vor dem Einsatz noch eine Besprechung – die wieder einmal aus einer längeren Diskussion zwischen den Lehrern bestand. Ausgelöst worden war sie von Rowan, der mit Bernadette, Nevin und auch Vane zusammenstand und sich lautstark darüber ausließ, dass Morte an dieser Mission teilnahm. Einige andere Traumbrecher standen abseits, beobachteten, wie die anderen Lehrer auf Rowan einredeten und kümmerten sich um nichts weiter. Dieser verteidigte seine Argumente lautstark, während er Morte mit seinem Blick fixiert hielt, als wolle er sie wirklich jeden Moment einfach töten. Eine Weile erwiderte sie ihn mit ausdrücklich gelangweilter Miene, aber da er nicht damit aufhörte, wurde es ihr zu lästig und sie wandte sich ab. Die anderen Schüler standen ebenfalls in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich lachend. Zumeist waren die Partner aber schon gemeinsam zu sehen. Jeder Traumbrecher hatte einen Partner, der ihn entweder von seinen Fähigkeiten oder der allgemeinen Art zu kämpfen ergänzte. Jeder, außer Rowan, mit dem – welch Überraschung – niemand zusammenarbeiten wollte, und Morte, die noch zu neu war, um einen Partner zu erhalten. Normalerweise kümmerte sie das aber nicht weiter. Sie hatte genug Kontakte und unterhielt sich oft mit Naola, der Assistentin von Vane, deswegen wartete sie weiterhin geduldig bis jemand sich anbot, ihr Partner zu werden. Ihre Aufmerksamkeit wandte sich zwei anderen Schülern zu, die ein wenig abseits von den anderen standen. Der eine schwarzhaarig, der andere braunhaarig, aber beide mit dem etwa selben gelangweilten Blick. Morte kannte sie, der Schwarzhaarige war Ciar und der Braunhaarige Kian – der letzte Weltenbrecher dieser Welt. Genau wie ihre Mutter damals, war er gescheitert, weil er sich verliebt hatte. Ironischerweise eben in Ciar, der ihn eigentlich darin unterstützen wollte, alles zu vernichten. Mehr noch, Ciar war das menschliche Ich des Kierans dieser Welt gewesen. Das alles hatte sie von den Träumen erfahren, die noch immer über Ciars und Kians Verrat lamentierten, ein Schmerz, den sie dazu verwenden wollten, einen neuen Weltenbrecher zu schaffen – irgendwann einmal. Sie erinnerte sich daran, gegen die beiden gekämpft zu haben, bevor sie zu einer der Guten geworden war, mit reichlich unfairen Mitteln, weswegen sie beide nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen waren. Über Ciars Gesicht huschte ein spöttisches Lächeln, als er ihren Blick bemerkte. „Hey, Zerstörerin.“ Kian rollte mit den Augen und stahl damit bereits Mortes Erwiderung, weswegen ihr nichts anderes übrig blieb, als ein genervtes „Was?“ an ihn weiterzugeben. Allerdings stellte sie erst sicher, dass Vane weiterhin in seine Diskussion mit den Lehrern vertieft war. „Ich habe gehört, du hast den letzten Albtraum nicht kleinbekommen“, fuhr Ciar schadenfroh fort. „Und? Du ja offensichtlich auch nicht.“ Leider ließ er sich davon nicht im Mindesten beeindrucken. „Ich war nicht einmal in seiner Nähe, wir haben einen anderen Albtraum gejagt.“ Morte beherrschte sich, nicht zu schnauben, das hätte nur gezeigt, dass er im Recht war und das wollte sie ihm nicht gönnen. „Wie wäre es dann mit einer Wette?“ Sein sichtbares braunes Auge – das andere war stets von seinem Haar verdeckt – schien aufzuglühen. „Was für eine Wette?“ Selbst Kian wirkte nun ein wenig interessierter, er hielt die Arme zwar vor der Brust verschränkt, sah aber auch zu ihr hinüber. Noch ein letztes Mal stellte sie sicher, dass Vane nicht zuhörte, dann unterbreitete sie ihren Vorschlag: „Wir wetten, wer von uns beiden diesen Albtraum zuerst besiegt.“ Ciar zog die Brauen zusammen, er wirkte angetan von diesem Vorschlag. „Und was kriege ich, wenn ich gewinne?“ „Was du willst.“ Sie hob gleichgültig die Schultern, da sie ohnehin nicht davon ausging, zu verlieren. „Du musst es mir nicht mal im Vorfeld sagen, ich gehe auf alles ein.“ Seine Mundwinkel zuckten, als wolle er auf diese Worte etwas sagen, aber er überlegte es sich wohl noch einmal anders. „Umgekehrt gilt dasselbe, ich darf von dir verlangen, was ich will“, führte sie aus. „Deal.“ Er ging wohl ebenfalls nicht davon aus, dass er verlieren könnte, aber davon ließ sie sich nicht beeinflussen. „Dann gilt die Wette.“ Und sie würde dafür sorgen, dass er bereute, darauf eingegangen zu sein. Manchmal, wenn Morte in der dunklen Stadt unterwegs war, um Albträume zu jagen, konnte sie Gesprächsfetzen hören, die der Wind ihr zutrug. Sie wusste nicht, ob es sich dabei um andere Schüler, die Lehrer oder einfach nur normale Menschen handelte, aber das war auch einerlei. Es deprimierte sie, zu wissen, dass sie ganz allein unterwegs sein musste und in den windstillen Momenten lastete die Stille schwer auf ihren Ohren und trübte ihre Stimmung mit jedem Schritt weiter. Das ging so lange, bis sie sich nach jeder Interaktion sehnte, selbst einen Streit mit Rowan hätte sie vorgezogen, nur um nicht ganz allein zu sein. Allein, so wie damals, nachdem ihr Vater sich geopfert hatte, um den Weltenbrecher zu vernichten, bevor dieser sein Werk vollenden konnte, aber erst nachdem es ihm gelungen war, alles Leben, abseits ihr und ihrem Vater, auszulöschen. Sie spielte mit dem Gedanken, stehenzubleiben, sich in eine Ecke zu setzen und ihren trüben Überlegungen nachzuhängen, aber zum einen musste sie wieder an ihre Wette denken und zum anderen wurde sie beobachtet. Eine falsche Tat könnte ihr als negativ angelastet werden und sie wollte keinesfalls einen solchen Eindruck erwecken. Was sie schließlich innehalten ließ, war ein leises Flüstern, das nicht aus dieser Realität stammte. Sie erkannte die Sprache, in der geflüstert wurde, als jene wieder, in der Albträume zu kommunizieren pflegten. Die Stimmen klangen ein wenig nach verstimmten Gitarrensaiten, die immer wieder gezupft wurden, manche wohlklingender als andere, aber allesamt mit Bosheit erfüllt. Sie verdankte es den Genen ihrer Mutter, einer Weltenbrecherin, die aus Albträumen geboren worden war, dass sie diese verstehen konnte. Wenngleich sie besonders in der letzten Zeit gelernt hatte, diese Fähigkeit zu hassen. Nach dem Tod ihres Vaters waren sie ihr die einzige Gesellschaft gewesen, doch seit sie beschlossen hatte, eine von den Guten zu werden – und dann auch noch Traumbrecherin – waren sämtliche Vergünstigungen verwirkt, die Albträume hassten sie und bemühten sich auch stets, sie das wissen zu lassen. Im Moment verrieten sie ihr aber unwillentlich eines: Einer der zu jagenden Albträume war ganz in der Nähe. Da sie nichts sehen konnte, holte sie ihre Taschenuhr hervor. Kaum ruhte diese auf ihrer Hand, legte sich ein hellblauer Farbschleier auf die Umgebung. Wellen zeigten, dass eine gewisse Unruhe auf dieser Ebene herrschte, Morte folgte diesen Bewegungen mit den Augen, um herauszufinden, wo die Quelle war – und sie wurde bald fündig. An der nächsten Häuserecke fiel eine Dose zu Boden, allerdings vollkommen lautlos, ein langgezogener Schatten wurde auf die Straße geworfen. Lange, schwarze, spinnenartige Finger griffen um die Ecke, dort, wo sie das Gemäuer berührten, zogen sich dunkel glühende Adern durch das Gestein, die in einem unheimlichen Takt pulsierten. Einen Moment später trat das Wesen in ihr Blickfeld. Es war eine Gestalt, die entfernt an einen Menschen erinnerte, aber Rumpf, Arme und Beine wirkten gestreckt und waren grotesk gekrümmt. Aus seinem Rücken ragten unzählige schwarze Hände, die wie Federn in einem nicht spürbaren Wind tanzten, als wollten sie Morte oder jedes zufällig getroffene Opfer hypnotisieren. Der Kopf bestand aus weißem Traumsand, verfügte allerdings über kein Gesicht. Die Einkerbungen der Augen waren durchaus da, aber es gab schlicht und ergreifend keinerlei Mimik – bis das Wesen grinste. Auf seinem Gesicht öffnete sich ein Spalt, der zwei Reihen rasiermesserscharfe Zähne enthüllte. Bei jedem anderen hätte es möglicherweise Furcht ausgelöst, Morte konnte aber nur humorlos lächeln. Sie öffnete den Sprungdeckel der Taschenuhr, worauf sich ein helles Licht direkt darüber materialisierte. Noch bevor ihre Form gefestigt war, ergriff Morte die Pistole und feuerte einen ersten Schuss auf den Albtraum ab. Das Wesen gab einen Schrei von sich, im nächsten Moment stürmten ihr die Arme entgegen, griffen nach ihr, um sie von weiteren Angriffen abzuhalten. Morte wich aus, sprang auf eine der Mülltonnen und von dort aus, direkt auf den Albtraum zu. Er streckte die eigenen zwei Arme aus, um sie angemessen zu begrüßen, aber sie feuerte ihm eine weitere Kugel entgegen, um einer tödlichen Umarmung zu entkommen. Dann nutzte sie den Körper des zusammengekrümmten Wesens, um erneut abzuspringen und hinter ihm zu landen. Noch bevor es sich ihr zuwenden oder seine Hände koordinieren konnte, um erneut nach ihr zu greifen, zielte sie erneut auf ihn, dabei konzentrierte sie sich aber länger, um eine größere Kugel abzufeuern. Doch bevor sie überhaupt soweit kam, wurde sie von etwas am Fuß gepackt und gegen die Wand geschleudert. Sie hörte ein ekelhaftes Knacken, als ihre Schulter in Kontakt mit der Mauer kam, verkniff sich aber jeden Schrei und hielt die Pistole weiterhin fest umklammert. Wieder griff der Albtraum nach ihr, sie konnte ein leises, hallendes Lachen hören – dann schrie das Wesen schmerzerfüllt auf, als mehrere wolfsähnliche Tiere aus dem Nichts erschienen und nach den einzelnen geisterhaften Armen schnappten. Morte nutzte diese Gelegenheit, um sich wieder auf ihre Pistole zu konzentrieren. Sie spürte, wie die Energie von ihr auf die Waffe überfloss, die Uhr wurde dabei als Katalysator gebraucht. Je mehr auf die Pistole überging, desto schwächer fühlte sie sich, weswegen sie an einem bestimmten Punkt die Verbindung kappte – und den Abzug betätigte. Eine hellblaue Energiekugel in der Größe eines Basketballs jagte aus ihrer Waffe auf den Albtraum zu. Sie traf ihren Gegner direkt in die Brust, zersetzte die Dunkelheit aus der er bestand und löste ihn innerhalb weniger Sekunden vollkommen auf. Morte lächelte zufrieden und auch stolz auf sich selbst. Sie schloss die Uhr wieder und deaktivierte sie damit, worauf auch die Pistole verschwand. Die Traumfresser, so der Name der Wesen, die ihr geholfen hatten, setzte sich alle vor sie hin, so dass sie diese tätscheln konnte. „Danke euch~.“ Früher hatten sie mehr nach Raubkatzen ausgesehen, aber seit Morte friedlich geworden war, erinnerten sie eher an Wolfshunde und sie verhielten sich in ihrer Gegenwart auch wie solche … nur vielleicht ein wenig zahmer. Mortes Schulter, die vorhin arg in Mitleidenschaft gezogen worden war, fühlte sich schon wieder viel besser an, als wäre dieser Unfall gar nicht geschehen. Es war eben äußerst praktisch, einen Dämonenjäger als Vater zu haben. Erst als sie ein langsames Klatschen hören konnte, blickte sie sich wieder um – und entdeckte Ciar, der sie spöttisch ansah. Sofort kehrte ihr Stolz zurück und sie stellte sich aufrecht hin. „Bist du hier, um mir zu gratulieren?“ Nur wenige Schritte hinter ihm konnte sie Kian entdecken, der sich beim Anblick der Traumfresser wohl lieber auf Abstand hielt. Jedenfalls waren seine Augen direkt auf diese Wesen gerichtet. „Ganz bestimmt nicht“, sagte Ciar und deutete auf die Wölfe. „Du hast den Albtraum vielleicht zuerst besiegt, aber nur weil du Hilfe hattest. Und das ist ja nun wirklich nicht fair.“ Sie wiederum deutete auf Kian. „Du hättest auch Hilfe gehabt. Warum ist deine fairer als meine?“ „Er ist was komplett anderes als Traumfresser – von denen du noch dazu ganze sechs Stück hier hast. Kian ist nur ein einzelner.“ „Kian ist stärker als ein Traumfresser. Du willst nur nicht zugeben, dass du die Wette verloren hast!“ „Nur weil du mit unfairen Mitteln gespielt hast!“ Wütend starrte sie ihn an, während er ihren Blick mit kühler Überheblichkeit erwiderte. Wie lange dieser Zustand so anhielt, wusste sie nicht, aber als Kian näherkam, war ihr sofort klar, dass die Traumfresser verschwunden waren. „Statt hier zu diskutieren, sollten wir lieber endlich gehen“, klagte er. „Ich bin müde.“ Das war er wohl nach jedem Einsatz, wie sie mitbekommen hatte. Aber sie musste zugeben, dass sie langsam auch müde wurde und nur noch ins Bett wollte. Die Suche nach dem Albtraum hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als ihr bewusst gewesen war. Noch dazu maß Kian sie weiter mit misstrauischen Blick, als glaube er, sie könnte jeden Moment wieder Traumfresser beschwören. Morte hob die Hände und wich zurück, um zu zeigen, dass sie keine Gefahr darstellte. „Gut, dann geht ihr da lang und ich nehme die andere Richtung.“ Glücklicherweise gab es nach den Aufträgen keinen Sammelzwang, so dass jeder seinen eigenen Weg in die Schule zurücklegen konnte. Ciar und Kian ergriffen diese Gelegenheit auch sofort und gingen davon. Dabei hörte sie beide noch darüber murren, dass es ihr nur dank unfairer Mittel gelungen war, zu gewinnen. Sie schüttelte nur mit dem Kopf und fuhr er herum, um in die andere Richtung zu gehen. Nach wenigen Schritten hielt sie noch einmal inne. Sie glaubte, eine leise Stimme zu hören, die ihren Namen flüsterte, sehnsuchtsvoll, als strecke jemand gleichzeitig die Arme nach ihr aus, um sie wieder an sich zu drücken. Doch als sie sich umsah, war sie immer noch allein in dieser Gasse, es war auch nichts zu spüren. Also verwarf sie den Gedanken wieder, schob ihn auf ihre Müdigkeit und ging weiter, um wirklich endlich ins Bett zu kommen. Kapitel 4: Ist das so schlimm? ------------------------------ Die Mahlzeiten in Mortes Familie waren schon immer in Ruhe eingenommen worden. Von klein auf war ihr beigebracht worden, dass während des Essens nicht zu sprechen sei, dafür war Zeit, sobald der eigene Teller geleert war. Lediglich die Hintergrundgeräusche unterschieden sich je nach Tageszeit. Beim Frühstück lief dabei eine Nachrichtensendung im Radio, die mit einem monoton sprechenden Mann über die Ereignisse der letzten Nacht berichteten. Mittags lief im Nebenzimmer der Plattenspieler ihres Großvaters, dem es irgendwie immer gelang, die leichten Geigenklänge durch die Luft zu tragen, als stünde der Violinist direkt neben ihnen. Abends war lediglich das Klirren des Bestecks zu hören, hin und wieder unterbrochen von dem Ticken einer großen Standuhr, das alle paar Sekunden stärker in den Vordergrund zu treten schien als es sollte. An diesem Abend herrschte noch dazu eine bedrückte Stimmung im Haus, die Morte natürlich auffiel. Sie wagte nicht, nachzuhaken, woher diese rühre, ließ aber immer wieder den Blick schweifen. Ihr Vater blickte wie immer neutral auf seinen Teller hinab, ihre Mutter konzentrierte sich heute besonders stark darauf, das Essen sorgfältig zu schneiden und ihr Großvater schien aggressiver zu kauen als sonst, seine Kiefer mahlten mit wesentlich mehr Wucht. Da sie selbst noch mit Essen beschäftigt war, wagte sie nicht, etwas zu sagen oder gar zu fragen, warum alle so schlecht gelaunt waren. Doch schließlich beendete ihr Großvater seine Mahlzeit, legte Messer und Gabel fein säuberlich auf dem Teller ab und lehnte sich dann zurück. Dabei bemerkte sie noch einmal seine Unruhe, die sich besonders durch seine leicht gehobenen Schultern bemerkbar machte. „Es kam heute zu einer Sichtung.“ Sein dunkler Bass erfüllte das gesamte Speisezimmer, verdrängte sogar das Ticken und verwies es auf seinen Platz. Ihre Eltern reagierten sofort, hielten beim Essen inne und sahen zu ihm hinüber. Dabei wirkte ihre Mutter zerknirscht, fast schon schuldbewusst, ihr Vater blickte weiterhin gleichgültig als ginge ihn dieses Gespräch eigentlich gar nichts an. „Dabei wurde niemand getötet“, fuhr ihr Großvater fort, „aber es kam zu Verletzten bei einer Explosion.“ Den Seitenblick ihres Vaters, den er in ihre Richtung warf, konnte sie direkt deuten: Er fragte sich, ob das überhaupt ein angemessenes Gesprächsthema für sie war. Aber ihr Großvater nahm darauf keine Rücksicht und sie beklagte sich mit Sicherheit auch nicht darüber, konnte sie so doch immerhin den Stimmen aller lauschen. „Es ist vermutlich ein neuer Weltenbrecher“, sagte ihr Großvater. Kaum war dieses Wort ausgesprochen, hing es wie ein Unheilsbringer in der Luft. Seine Stimme echote im Raum, als wolle sie die Anwesenden nicht verlassen und ihnen stattdessen pausenlos vor Augen führen, welche Fehler sie gemacht hatten. Jedenfalls wenn sie die erschrockenen Blicke ihrer Eltern dabei betrachtete. Ihr Vater sah aber eher so aus, als wüsste er bereits davon und könne es nur nicht glauben, dass es ausgesprochen worden war. „Sind wir denn sicher, dass es ein Weltenbrecher ist?“, fragte ihre Mutter sofort, ihre Stimme gefüllt mit Besorgnis und schleichender Panik. Mortes Vater schüttelte mit dem Kopf. „Wie er bereits sagt, wir können es nur vermuten. Sein Muster stimmt mit deinem von damals überein – und selbst bei dir konnten wir es erst wissen, nachdem du es uns offenbart hast.“ „Vielleicht sollte ich dann-“ „Nein!“ Es genügte ein einziges, emotional ausgesprochenes Wort ihres Vaters, um ihrer Mutter alle weitere abzuschneiden. „Es ist besser, wenn du dich da heraushältst. Parthalan vermutet bereits, dass der neue Weltenbrecher eigentlich nach dir sucht.“ „Verständlich“, schloss sich ihr Großvater der Aussage an. „Für die Weltenbrecher und Albträume giltst du als Verräterin. An dir ein Exempel zu statuieren, dürfte ihr höchstes Ziel sein.“ Morte verstand zwar nicht, was diese Worte bedeuten sollten, aber da ihre Mutter erblasste, musste es sich um etwas wirklich Schlimmes handeln. Das Essen war für Morte inzwischen vollkommen in den Hintergrund getreten, so dass sie immer wieder erst verspätet bemerkte, dass das Essen von ihrer Gabel gefallen war und sie lediglich Luft zu kauen versuchte. Die anderen schienen sich darum glücklicherweise aber nicht zu kümmern, so sehr waren sie in diese Unterhaltung vertieft. „Wir werden uns darum kümmern“, versicherte ihr Vater. „Kein Weltenbrecher soll es jemals schaffen, dieser Welt zu schaden. Auch dieser hier nicht.“ Dabei blickte er ihre Mutter allerdings mit derart glühenden Augen an, dass es für Morte offensichtlich war, dass er ihr mitteilen wollte, dass er vor allem nicht zuließ, dass ihr geschadet würde. Als Reaktion darauf lächelte ihre Mutter und legte ihre Hand auf die ihres Vaters, worauf sich ihre Finger ineinander verschränkten. Als ihr Großvater das beobachtete, musste sogar er lächeln – nur um daraufhin ein leises Seufzen auszustoßen. „Ich sehe schon, ihr werdet euch darum kümmern. Dann verlasse ich mich darauf.“ Er wandte Morte endlich seine Aufmerksamkeit zu. „Du bist dann auch fertig mit Essen, wie ich sehe.“ Erst als er das erwähnte, bemerkte sie selbst, dass nicht nur ihre Gabel, sondern auch ihr gesamter Teller leer waren. Sie legte das Besteck säuberlich auf dem Teller ab und nickte ihm zu. „Wollen wir dann zusammen ins Bücherzimmer?“ „Oh ja~.“ Hastig erhob sie sich von ihrem Platz, ihr Großvater ließ sich derweil wesentlich mehr Zeit. „Erzählst du mir dann die Geschichte von dem Felsenmann weiter?“ „Natürlich.“ Er ergriff ihre Hand und strebte mit ihr in Richtung Ausgang. „Du musst mir vorher nur sagen, an welcher Stelle ich letztes Mal war.“ Mit einem strahlenden Lächeln versicherte sie ihm, dass sie genau das täte, während sie das Esszimmer verließen und damit ihre auch ihre Eltern ihrer Zweisamkeit überließen, die für viele Wochen erst einmal die letzte sein sollte. Selbst am Tag danach war Morte immer noch der Meinung, dass sie die Wette mit Ciar glasklar gewonnen hatte. Egal wie er sich das schönzureden versuchte, sie war diejenige gewesen, die den Albtraum vernichtet hatte. Ganz allein. Ohne Partner. Aber sie empfand es als lästig, ihm deswegen hinterherlaufen zu müssen, also ließ sie es einfach gut sein, machte sich aber bereits Gedanken, wie sie zukünftig verhindern könnte, dass er sie noch einmal derartig über das Ohr haute. Bei einer weiteren Wette – die sicher käme, immerhin kannte sie Ciar gut genug, um einschätzen zu können, wie groß sein Stolz war – müsste sie Konditionen klarstellen, die ihr garantierten, dass sie ihren Gewinn auch wirklich bekäme. Dementsprechend nachdenklich war sie auch, als sie sich auf der Krankenstation einfand. Sie war nicht krank, aber sie hatte auch nicht viel anderes zu tun, also war sie wie üblich dort, als es auf die Mitagessens-Zeit zuging. Sie wollte nie direkt fragen, ob sie mit seiner Familie essen dürfte – aber sie war überzeugt, dass er durch ihr Erscheinen ohnehin schon immer wusste, was sie eigentlich wollte. Und wenn es ihm leichter fiel, sie zu fragen … „Stimmt heute etwas nicht mit dir?“, fragte Vane mitten in ihre Gedanken hinein. Sie blinzelte und wandte ihm dann den Blick zu. Bislang war ihr gar nicht aufgefallen, dass er ebenfalls im Vorzimmer war, sonst hätte sie ihn zuerst angesprochen. „Nein, alles okay. Ich war nur gerade ein wenig nachdenklich.“ Sie sah seinen skeptischen Blick, spürte sein Bedürfnis, sich eine Notiz zu machen und bemerkte auch seine zusammengezogenen Brauen, als er bemerkte, dass er nichts zum Schreiben bei sich hatte. Wo er wohl sein Klemmbrett abgelegt hatte? Vielleicht sollte sie ihm zu Weihnachten kleine, handliche Blöcke und jede Menge Kugelschreiber schenken. Schließlich verwarf er das aber wohl wieder. „Aber gut, dass du da bist, ich wollte ohnehin noch mit dir reden.“ „Worum geht es?“ So ernst wie er dreinblickte, konnte es sich jedenfalls um nichts Schönes handeln. Dennoch erwiderte sie seine gerunzelte Stirn mit einem Lächeln, gab es ihr doch die Gelegenheit, weiterhin seiner Stimme zu lauschen, die sie immer an ihren Großvater denken ließ, von dem sie immerhin sogar geträumt hatte. Seit sie in dieser Welt war, träumte sie angenehm oft von ihrer Familie. „Ich habe mitbekommen, dass du mit Ciar gewettet hast.“ Ihr Innerstes gefror augenblicklich. Gerade er hätte das nie erfahren sollen, eben wegen diesem Blick, den er ihr auch in diesem Moment widmete. Aber sie wollte auch nicht einfach kleinbeigeben und fuhr sich deswegen mit der Hand durch das Haar, um den Eindruck zu erwecken, dass es ihr nichts ausmachte. „Und? Ist das so schlimm?“ „Finde ich schon“, antwortete er ernst. „Morte, das hier ist kein Spiel, selbst wenn du es aufgrund deiner Fähigkeiten vielleicht für ein solches halten magst.“ Sie schwankte zwischen zerknirscht und geschmeichelt sein und entschied sich dann dafür, ein wenig das Gesicht zu verziehen, um es nicht zu deutlich zu machen. „Ich weiß, dass es kein Spiel ist. Das musst du mir nicht erst sagen. Diese Wette war ja auch nicht zum Spaß gedacht. Aber Ciar reizt mich einfach immer so ...“ Auch wenn sie kaum erklären konnte, weswegen das so war – und Vane schien das auch nicht einfach akzeptieren zu wollen: „Du kannst nicht einfach umhergehen und auf jeden reagieren, der dich reizt. Du musst lernen, dich zu beherrschen und deine Arbeit ernstzunehmen. Sie ist gefährlich, und ich will nicht, dass dir etwas dabei passiert, nur weil du wegen solchen Dingen abgelenkt warst.“ Auch wenn er streng dreinblickte, wurde durch seine Stimme mehr als nur deutlich, dass er wirklich besorgt war. Genau wie ihr Großvater damals. Nur für einen kurzen Atemzug erlaubte sie sich die Illusion, dass es sich bei ihm wirklich um ihren geliebten Großvater handelte, der sich noch immer um sie sorgte, dann zerfiel das Bild vor ihren Augen allerdings direkt wieder, ehe es Wurzeln in ihrem Herzen schlagen konnte. „Ich verstehe. Es wird nie wieder vorkommen, ich verspreche es.“ Sie begegnete seinem prüfenden Blick mit einem zerknirschten – und atmete erst auf, als sich seine Stirn wieder glättete und er ihren Kopf tätschelte. „So ist es gut“, sagte er dabei. „Ich bin froh, dass wir das klären konnten.“ „Ich auch.“ Denn gerade mit Vane wollte sie es sich nicht verscherzen. „Willst du dann mit zum Mittag essen kommen? Konia und die Kinder freuen sich bestimmt auch.“ Mortes Herz machte einen freudigen Sprung, um das auch nach außen zu zeigen, klatschte sie in die Hände. „Da kann ich wohl kaum Nein sagen~. Ich komme gern mit.“ Er nickte ihr lächelnd zu, ehe er herumfuhr, um vorauszugehen, worauf sie sich ihm sofort anschloss. Dabei nahm sie sich innerlich vor, auch ein wenig ruhiger werden zu wollen, egal wie. Sie wollte Vane keine Sorgen bereiten, also musste sie sich einfach mehr darum bemühen, ein gutes Mädchen zu sein – und sie wusste, dass sie das schaffen konnte, wenn sie nur wollte. Das würde sie jedem beweisen, der an ihr zweifelte, auch sich selbst. Kapitel 5: Wie komme ich hierher? --------------------------------- Nur wenig später erfolgte der nächste Einsatz für die Traumbrecher in Ausbildung. Diesmal hielt Morte sich bei der Vorbesprechung fern von Ciar und Kian, aber auch weit weg von allen anderen. Sie lehnte an einer Wand, abseits der anderen Schüler und vermied auch jeden Blick in Richtung der Lehrer. Sie hielt die Augen gesenkt, blendete alle Unterhaltungen aus und versuchte, an nichts zu denken – was gar nicht so einfach war, wie sich herausstellte. Im Gegensatz zu anderen Menschen, deren Köpfe in solchen Momenten von den unterschiedlichsten Gedanken gefüllt wurden, befand sich in ihrem nur ein schwarzer Sog, der sie mit in die Verzweiflung reißen wollte. Es war auch ein Überbleibsel ihrer Mutter und ein Teil der Rache der Albträume für ihren Verrat. Die Verzweiflung war dunkel, kalt, kein Ort, an dem man sich lange aufhalten wollte, egal unter welchen Umständen. Sie konnte gut verstehen, dass auch die Albträume dort weg wollten und den Wunsch nach Zerstörung entwickelten. So viel Verzweiflung musste irgendwann einfach in Hass umschlagen, wenn sie den Wirt nicht vorher vernichtete. Erst als sie eine Bewegung bei den Schülern bemerkte, fand sie die Kraft, sich aus dem Sog herauszuziehen, ehe ein Anfall auftreten könnte. Die Mission war offensichtlich eröffnet. Also schloss sie sich dieser rasch an, um sich endlich etwas anderem widmen zu können. Es war wieder eine abgelegene Gegend, in die der Auftrag sie führte. Hohe, gesichtslose Gebäude, deren einstmals strahlende Fassaden inzwischen von Graffiti getrübt waren, säumten ihren Weg. Im Erdgeschoss der Gebäude befanden sich Ladenlokale, manche waren geschlossen, andere standen leer, in einem konnte sie eine Ansammlung von Akten sehen, deren Sinn sich ihr nicht erschlossen. Einfache Straßenlampen mit einem hässlichen orange-farbenen Schein. Müll, der direkt neben den Mülleimern lag. Nichts, was sie wirklich von ihren Gedanken ablenken könnte. Einstmals mochte es ein interessantes Viertel für junge Familien gewesen sein, vielleicht hatte man sich sogar etwas davon erhofft. Ein Ort, an dem sich möglicherweise eines Tages sogar die Schickeria treffen könnte. Aber irgendwann musste auch der letzte eingesehen haben, dass diese Träume lediglich Schäume waren – und nun trieben sich Albträume hier herum. Wie passend. Sie ging mit langsamen Schritten voran, entdeckte einige erleuchtete Fenster, aber viel mehr Dunkelheit. Möglicherweise standen manche der Wohnungen auch leer. Es gab nichts, was die Verzweiflung ablenken könnte, nichts, was die Einsamkeit vertrieb. Sie war dieser Situation vollkommen ausgesetzt, ohne die Möglichkeit, davor zu fliehen. Was für eine dumme Idee von mir, Traumbrecher werden zu wollen. Selbst wenn es einem höheren Zweck diente, da sie immerhin Ärztin werden wollte, um Vane abzulösen, erschien es ihr gerade absolut unsinnig, wenn sie dafür immer allein unterwegs sein musste. Kein anderer Traumbrecher, außer Rowan, war allein bei seinen Aufträgen. Sie alle waren zu zweit, so dass sie sich aufeinander verlassen konnten. Rowan benötigte niemanden, auf den er sich verlassen musste. Kräftemäßig gesehen brauchte sie auch niemanden, aber für ihre Psyche wäre jemand vielleicht doch ganz sinnvoll. Sie musste einfach darauf hoffen, dass sich irgendwann noch jemand für sie fand. Sie machte einen weiteren Schritt – und fand sich plötzlich auf der Blumenwiese ihrer alten Heimat wieder. Irritiert blieb sie stehen, starrte auf die Stadt vor sich, beleuchtet durch die Scheinwerfer einer Lichtanlage. Selbst die nahen Geräusche waren genau wie früher – und der schwere Duft der Blumen, den sie in ihren Träumen normalerweise nie wahrnehmen konnte, ließ ihre Verwirrung nur ansteigen. „Wie komme ich hierher?“ Während sie ihren Blick noch schweifen ließ, hörte sie ein leises Singen, das ihr Herz fast zum Stillstand brachte. Es war eindeutig jenes ihres Großvaters. Sie fuhr herum, suchte nach dem Ursprung des Gesangs – und entdeckte tatsächlich jemanden, der haargenau so aussah wie Vane. Seine große Gestalt überragte alles andere bei weitem, das lange braune Haar fiel ihm offen über die Schultern, er trug sogar eine Brille, aber keinen Arztkittel, sondern nur einfache Kleidung, wobei die feinen goldenen Stickereien auf seinem braunen Mantel auf die Klasse eines Aristokraten hinwies – es war eben genau so wie früher, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er sang mit ausgebreiteten Armen, die Morte einluden, ihn zu umarmen – und dem ging sie auch sofort nach, indem sie auf ihn zustürmte. Nach nur wenigen Schritten drückte sie ihren Kopf an seine Brust und brachte immer wieder angestrengt, zwischen Tränen, hervor, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Vergessen war in diesem Moment, dass er eigentlich nicht hier sein dürfte und es deswegen keine vernünftige Erklärung dafür gab, dass er es doch war. In ihr herrschte einfach nur Freude darüber, dass er entgegen aller Umstände doch zu ihr gekommen war, besonders in dem Moment, in dem sie ihn am meisten gebraucht hatte, in dem ihre Einsamkeit am größten geworden war. Er hörte auf zu singen, strich ihr über das Haar und sagte: „Alles wird gut. Endlich sind wir wieder zusammen, Morte.“ Selbst sein Geruch, angenehm holzig, wie in einem Sägewerk, war derselbe wie damals. Seine Stimme der wohltuend tiefe Bass, der nie gänzlich aus ihrem Gedächtnis verschwunden war. Auch die Wärme seiner Umarmung … einfach alles war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. „Ich werde dich niemals wieder allein lassen“, versprach er. Sie konnte nur mit weiterem Schluchzen antworten, unfähig, noch ein vernünftiges Wort von sich zu geben. Also drückte sie sich einfach weiter an ihn, entschlossen, ihn niemals wieder freiwillig loszulassen. Er war derjenige, der sie endlich aus seiner Einsamkeit befreien könnte. Niemals wieder müsste sie- Ihr Gedanke fand ein abruptes Ende, als sich die friedliche Atmosphäre wandelte. Auf einmal war die Luft gefüllt mit Elektrizität – und Hass. Widerwillig löste sie sich wieder ein wenig von ihrem Großvater, den sie eigentlich nie mehr loslassen wollte, so dass sie sich umsehen konnte. Die Scheinwerfer bewegten sich nun nicht mehr, stattdessen zeigten sie auf einen jungen Mann, der zuvor nicht hier gewesen war. „Faren ...“ Sie wollte nicht, dass er hier war, sie in einem Moment beobachtete, in dem es nur sie und ihren Großvater geben sollte. Dennoch war er unerlaubt einfach eingedrungen. Gerade er! Ihre Brust schmerzte allein bei der Erinnerung daran, wie er einst, in einer anderen Welt, versucht hatte, ihr das Herz herauszureißen. „Du bist hier nicht erwünscht“, sagte ihr Großvater für sie in gebieterischem Ton. Faren schirmte seine Augen mit einer Hand ab, um nicht geblendet zu werden, so dass er sie beide mustern konnte. Etwas, das sie sich noch weniger wünschte, deswegen drückte sie sich wieder an ihren Großvater. Wo war überhaupt sein Partner? Ihr Blick glitt suchend umher – bis sie glaubte, einen Schemen ausmachen zu können, der nicht in diese Welt gehörte. Er tarnte sich wirklich gut, aber es war einfach nicht gut genug. „Ich dachte mir, dass ich mir nicht viele Freunde mache, wenn ich herkomme“, bemerkte Faren. „Mit dem Spotlight habe ich aber nicht gerechnet.“ Sein Blick ging in eine andere Richtung, genau dorthin, wo der Schemen zu sehen war, vermutlich um Ferris irgendetwas mitzuteilen. Ein starker Windstoß befreite die Blumen von ihren Blütenblättern. Für einen kurzen Moment schwebten sie in der Luft – dann wandelten sie sich in scharfe Klingen, die auf Faren zuschossen. Er wich aus, ließ eine Sense in seiner Hand erscheinen, um sie abzuwehren, und schaffte es damit sogar überraschend spielend. Die Klingen lösten sich allesamt auf, wenn sie von seiner Waffe abprallten und ließen einen hochmütig lächelnden Faren zurück. Morte verabscheute dieses Lächeln gerade mehr als je zuvor in ihrem Leben. Sie wollte ihn nur noch fort aus dieser Welt wissen, egal mit welchen Mitteln dies geschehen sollte. Ihr Großvater löste einen Arm von ihr, damit er auf Faren deuten konnte. Ein hoher Pfeifton erklang für einen Sekundenbruchteil in ihren Ohren – im nächsten Moment wurde Faren bereits zu Boden geschleudert, ohne dass er etwas dagegen ausrichten konnte. Aber damit nicht genug, eine Sekunde später begann er bereits grauenvolle Schreie auszustoßen, während er sich den Kopf hielt. Ihr Großvater lächelte zufrieden, Morte dagegen bekam von seinem Geschrei regelrecht Migräne und es wurde nicht besser, als plötzlich auch noch Ferris dazukam. „Schluss damit!“, fauchte er, während er gleichzeitig schon mit der Pistole auf sie beide schoss. Morte fuhr herum und ließ die entstandene Energiekugel mit einem einzigen Wink ihrer Hand sofort verpuffen. Dabei wusste sie nicht einmal, ob sie sich selbst oder doch eher ihren Großvater schützen wollte – oder ob es ein reiner Instinkt war, der sie hatte handeln lassen. Sie spürte Ferris' von glühendem Hass erfüllten Blick auf sich, aber da deutete Vane auch bereits auf ihn und im nächsten Moment lag er genau wie Faren auf dem Boden, schrie allerdings nicht, sondern rollte sich zusammen und wimmerte so klagend, dass es Mortes Herz schmerzen ließ. Mit hämmerndem Kopf und brennender Brust, schmiegte sie sich wieder an ihren Großvater – nur um festzustellen, dass das wohltuende Gefühl vollkommen verschwunden war. Es war ihr, als umarme sie einen Fremden, der noch dazu eine Gefahr darstellte. Sie spürte deutlich, wie sich jedes noch so feine Haar auf ihren Armen und ihrem Nacken aufstellte, gleichzeitig wandelte sich die Gestalt ihres Großvaters, wurde zu einer metallenen Konstruktion, deren Zweck und genaue Figur sich ihr nicht erschloss. Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, aber in dem Moment wickelte sich Stacheldraht um ihren Körper, ihre Arme, schnitt ihr so tief in die Haut, dass sie zu bluten begann und sie einen leisen Schmerzenslaut von sich gab. „Ich habe dich so lange gesucht.“ Die Stimme, die zu ihrem Großvater gehören musste, klang plötzlich verzerrt, als fiele es ihm schwer, überhaupt noch zu sprechen und er unfähig war, seine Tonlage aufrechtzuhalten. „Ich werde dich niemals wieder gehenlassen.“ Morte wollte sich losreißen, dieses Wesen dafür auslöschen, dass es sich anmaß, die Rolle ihres Großvaters zu imitieren, aber bei jeder Bewegung schnitt der Stacheldraht tiefer in ihre Haut, forderte mehr Blut von ihr und lähmte ihre Versuche. Sie hatte bereits mehr Schmerzen hinter sich, wusste, wie es sich anfühlte, Opfer zu bringen, egal wie schrecklich sie auch waren, aber in diesem Moment erschien es ihr wie der absolut passende Zeitpunkt, all ihre Qualen endlich hinter sich zu lassen. Wenn sie nun ihr Leben losließ, könnte sie sterben – oder zumindest mit diesem Albtraum – um einen solchen musste es sich einfach handeln – leben, so wie es sich für jemanden ihrer Art gehörte. Doch gerade in dem Moment, in dem sie ihr Aufgeben bekunden, versprechen wollte, für immer bei diesem Wesen zu bleiben, egal in welcher Form, zersplitterte der Traum, die gequälten Schreie verstummten. So gut es ihr möglich war, wandte Morte den Kopf und entdeckte, zu ihrer Überraschung, Rowan, der mit seinem üblichen grimmigen Gesichtsausdruck nicht weit entfernt stand. In seiner Hand hielt er einen Hammer, der eigentlich viel zu schwer erschien, von ihm aber stets spielend geführt wurde. „Warum funktioniert es bei dir nicht?“, fragte die verzerrte Stimme, ein Hauch Frustration war deutlich wahrzunehmen. Rowan ließ sich aber auch davon nicht beeindrucken und deutete stattdessen mit dem Kopf seiner Waffe auf das Wesen. „Deine Tricks kannst du dir bei mir sparen, Albtraum!“ Es stieß tatsächlich ein wütendes Fauchen aus, alles andere als erfreut über dieses unvorhergesehene Ereignis. Herausgerissen aus seiner Illusion, unfähig diese Beeinflussung durchzuführen … Morte war derart auf Rowan und dessen Anspannung gegenüber dem Wesen fixiert, dass sie kaum bemerkte, wie der Schmerz in ihren Armen, der Druck auf ihren Körper nachließ. Erst als sie plötzlich gepackt und von dem Albtraum fortgerissen wurde, fiel ihr auf, dass der Stacheldraht in Stücke zerschnitten auf dem Boden lag. Diese Erkenntnis sickerte nur langsam in ihr Gehirn, das noch immer bereit war, einfach aufzugeben, wenn es sein musste. Aber kaum war die Information endlich verarbeitet worden, ruckte ihr Kopf abrupt herum, damit sie sehen konnte, wer sie da eigentlich gerade mit sich zog. Alles in ihr protestierte schmerzhaft, als sie feststellte, dass es Faren war, der sie einfach hinter sich herschleifte, näher in Richtung Ferris, der sich auch bereits wieder aufgerichtet hatte. Ihr Brustkorb füllte sich mit einer zornigen Hitze, als sie daran dachte, dass beide jeweils versucht hatten, sie einmal umzubringen, wenn auch in anderen Welten und wenn auch aus sehr guten Gründen. Sie wollte sich losreißen, ihm sagen, dass er nicht einfach so mit ihr umspringen konnte, aber ihr Kopf war immer noch darauf eingestellt, einfach aufzugeben und akzeptierte bereits, dass die beiden sie töteten, sobald sie bei Ferris wäre. Der Albtraum akzeptierte das aber offenbar nicht so einfach. Sie hörte ihn, wie er hinter ihr voller Verzweiflung einen gurgelnden Schrei ausstieß, in dem sie ihren Namen erkennen konnte. Aber sie wandte nicht den Kopf, drehte sich nicht um, damit sie sehen könnte, was aus ihrem Großvater geworden war, nur um auch zu beobachten, wie Rowan gleich darauf seinen Hammer auf das Wesen niederfahren ließ. Ihr genügte der dumpfe Laut, dem sich sofort ein schriller Schmerzensschrei anschloss, um zu wissen, was geschehen war. Heiße Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie sich vorstellte, wie ihr Großvater spätestens nach einem solchen Hieb wohl aussehen mochte. Aber sie sah sich nicht um, auch nicht mit der verschwommenen Sicht, auch nicht um sich nur davon zu überzeugen, dass dieses Etwas nicht ihr Großvater war, der schon vor langer Zeit von einer viel größeren Bedrohung als Rowan sie jemals sein könnte, getötet worden war. Nur undeutlich hörte sie, wie Faren etwas zu ihr sagte, ohne die Worte wirklich zu verstehen, weswegen er es wohl aufgab. Aber immerhin kamen sie endlich bei Ferris an. Dieser wirkte ungesund blass, für einen kurzen Moment flackerte sogar Mitleid in ihr auf, aber es war auch fast genauso schnell wieder erloschen. „Fertig jetzt?“, fragte Ferris, wie sie undeutlich verstehen konnte. Farens Erwiderung blieb ihr dagegen wieder vollkommen fern, aber sie sah, wie er mit dem Kopf nickte. Ferris' Uhr, die er sich um den Hals gehängt hatte, leuchtete auf, worauf sie sofort wusste, dass er sie alle drei teleportieren wollte. Im selben Atemzug wusste sie, dass sie sich einfach nochmal umdrehen musste. Doch genau in dem Moment, in dem sie den Kopf wandte, setzte die Teleportation ein und so war das letzte, was sie sah, nur noch Rowan, der ihr über diese Entfernung hinweg einen wütenden Blick zuwarf, der sie mit ziemlicher Sicherheit direkt getötet hätte, wenn das möglich wäre. Dann übernahm ein blauer Schleier ihr Sichtfeld und erlöste sie von dem Anblick, den ihr der niedergeschlagene Albtraum möglicherweise geboten hätte – auch wenn sie nach wie vor Reue darüber spürte, nicht einfach mit ihm gegangen zu sein. Kapitel 6: Das ist absolut nicht möglich. ----------------------------------------- „Ich kann mir das absolut nicht erklären.“ Jii hatte die Stirn gerunzelt und lief dabei unruhig immer wieder einige Schritte. „Bislang ist das noch keinem anderen Traumbrecher geschehen. Jedenfalls nicht, solange ich Direktor von Athamos bin.“ Im Gegensatz zu seinem Freund saß Vane auf einem Stuhl im Direktorat, war aber dank seiner Größe dennoch eine imposante Erscheinung. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt, der Gesichtsausdruck so ernst wie eh und je. „Es ist nur natürlich, dass Albträume andere Menschen vereinnahmen. Und auch, dass sie die Erinnerungen und Gedanken der entsprechenden Person in eine symbolhafte Form umwandeln – aber eben nicht, dass sie dabei selbst die Form eines Menschen annehmen. Sie hassen diese immerhin. Wenn überhaupt, wählen sie eine Gestalt, die das höhnische Abbild eines solchen ist.“ Wie der Albtraum zuvor, durchzuckte es Morte, dabei dachte sie wieder an dieses gesichtslose Wesen mit den unzähligen Armen zurück. Sie saß ebenfalls auf einem Stuhl, ein wenig abseits allerdings, und hielt sich ihren rechten Arm. Nachdem sie erfolgreich entkommen war, hatte sie den Rest der Nacht geweint, besonders wenn Vane ihr zu nahe gekommen war. Deswegen war diese Aufgabe netterweise von Bernadette übernommen worden. Es waren Stunden gewesen, bis sie sich wieder einigermaßen hatte beruhigen können. Inzwischen war es früher Morgen, Jii war von allem in Kenntnis gesetzt worden und hatte deswegen ein Treffen mit ihr und Vane anberaumt, um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. Aber bislang sprachen sie nur darüber, dass es eigentlich nicht möglich sein dürfte, dass ein Albtraum derart viel aus ihren Erinnerungen ziehen und es so getreu wiedergeben konnte, ohne jedes Symbol, ohne einen klaren Drang, sie zu töten. Ich war bereits bei ihm. Ich misstraute ihm nicht. Er hätte mich jederzeit töten können. Stattdessen war seine gänzliche Gewalt nur auf Faren beschränkt gewesen, den er als unerwünscht bezeichnet hatte. Vielleicht aber auch nur wegen meiner Abneigung ihm gegenüber. Sicher, damals war es durchaus verständlich gewesen, dass dieser Faren einer anderen Welt sie zu töten versuchte, aber dennoch konnte sie nicht anders als es ihm nachzutragen. Aber warum sollte er jemandem schaden, nur weil ich ihn nicht mag? Und warum hat es dann bei Rowan nicht funktioniert? Den hasse ich noch mehr. Besonders nachdem er den Albtraum, auch wenn er ein Feind gewesen war, zerschmettert hatte, so dass es ihr vorkam als hätte er ihren Großvater höchstselbst getötet, brodelte ihr Zorn auf ihn. Am liebsten hätte sie Rowan einfach selbst auseinandergenommen. Sie beherrschte sich nur, weil sie wusste, dass man diese Zurückhaltung von ihr verlangte. Man erwartete, dass sie sich fügsam und gehorsam zeigte und niemandem Schaden zufügte, nicht einmal wenn diese Person sie derart hasste, verachtete und mit Beleidigungen und Vorwürfen traktierte. Nein! Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, den aufkeimenden Wunsch nach Zerstörung wieder dorthin zu verbannen, wo er keinerlei Schaden anrichten konnte. Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich wieder auf das Gespräch zwischen den beiden anwesenden Männern. „Die Wirkung seiner Angriffe war also nur auf Faren und Ferris beschränkt“, fasste Jii gerade zusammen. „Warum hat er Morte nicht getötet, wenn sie schon in seiner Nähe war?“ Die Aussage Weil er mein Großvater ist lag ihr bereits auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter. Dieses Ding, worum auch immer es sich handelte, war nicht ihr geliebter Großvater gewesen. Sie hörte noch immer die verzerrte Stimme, die am Ende zu ihr gesprochen hatte, und in der nichts mehr von seiner einstmaligen Magie gelegen hatte. Vane warf einen kurzen Blick zu Morte hinüber, die diesen allerdings nicht erwiderte, stattdessen starrte sie konzentriert auf den Boden hinab. Da sie sich nicht an dem Gespräch beteiligen wollte, übernahm Vane das für sie: „Ich denke, er wollte sie behalten und mit sich nehmen.“ „In sein Refugium?“ „Ich gehe davon aus.“ Vermutungen. Das waren alles nur Vermutungen, ohne jede Substanz. Deswegen empfand Morte dieses ganze Gespräch als vollkommen sinnlos. Genausogut hätten sie über die Wahrscheinlichkeit von erfolgreich bepflanzten Maisfeldern auf dem Mond sprechen können. Wahrscheinlich wäre diese Unterhaltung sogar wesentlich ertragreicher. Jii sah ebenfalls zu ihr hinüber, sie spürte seinen Blick unangenehm schwer auf ihr liegen. „Du solltest dich lieber ausruhen. Bernadette sagte, du seist die ganze Nacht wach gewesen.“ „Ja, vielleicht.“ Sie strich sich das Haar aus der Stirn und bemerkte dabei, dass es bereits strähnig zu werden begann; statt zu schlafen sollte sie vielleicht lieber duschen gehen. „Dann bist du für heute entlassen“, sagte Jii zu ihr. „Heute Nacht haben die Schüler keinen Einsatz. Also nutze die Zeit, um dich zu beruhigen. Falls irgendetwas sein sollte, kannst du mit einem von uns oder eben Bernadette oder Runa sprechen.“ Den Rest des Tages bemühte Morte sich, nicht mehr über die Vorfälle der letzten Nacht nachzudenken. Die durch den Stacheldraht verursachten Wunden an ihren Armen waren dank ihrer Lane-Gene bereits wieder verheilt, aber noch immer hörte sie die Verzweiflung dieses Bildes, als er zum Schluss nach ihr geschrien hatte, in ihrem Inneren widerhallen. Etwas in ihr sehnte sich danach, wieder bei ihm zu sein, selbst wenn er eine Fälschung war. Aber der lautere, vernünftigere Teil, sagte ihr glücklicherweise, dass es unsinnig war. Sie musste normal weiterleben, darüber hinwegkommen, selbst wenn es schwer war. Nach der Dusche begab sie sich direkt in ihr Zimmer, wo sie sich auf ihr Bett sinken ließ. Sie war nicht müde, aber auch nicht in der Stimmung, um irgendetwas anderes zu tun. Sie glaubte nicht, die dafür notwendige Konzentration aufbringen zu können. Also lag sie nur auf dem Rücken und starrte an die Decke. Das Licht bildete seltsame Schatten auf dem weißen Untergrund, die sich zu bewegen schienen, je länger sie dort hinaufsah. Die Konturen wandelten sich zu menschengleichen Gestalten, die ein Schattenspiel aufzuführen schienen. Sie kannte das Stück nicht und ohne jegliche Erklärung oder irgendeinen Text war es ihr auch nicht möglich es zu verstehen. Genausowenig wie sie den Grund dafür kannte, dass sie das alles beobachten konnte. „Ich bilde mir das nur ein“, murmelte sie. „Das ist absolut nicht möglich.“ Sie schloss die Augen, zählte bis zehn – und als sie die Augen wieder öffnete, waren die Schatten glücklicherweise verschwunden. Vermutlich bin ich wirklich übermüdet. Und ich denke zu viel über diese Sache nach. Es führt doch zu nichts. Gäbe es die Möglichkeit, diesem Abbild noch einmal zu begegnen, wäre sie nicht mehr so überwältigt. Sie würde Fragen stellen. Was er damit bezweckte. Woher es ihren Großvater kannte. Warum es gerade hinter ihr her war und nicht hinter jemand anderem. Womit ich das verdient habe. Auch wenn das vielleicht eine überflüssige Frage war. Wenn man jahrelang Welten zerstörte, hatte man mit Sicherheit noch mehr verdient als nur einen Albtraum, der einen mit sich nehmen wollte. Egal, was bislang geschehen war, sie hatte noch nicht genug gesühnt. Noch lange nicht. Der innere Drang sich zu verletzen kehrte an die Oberfläche zurück, wo er wie ein wilder Wolf wütete und grollte, begierig darauf, nach draußen zu kommen. Mit einem gequälten Stöhnen drehte sie sich auf die Seite, presste sich ihr Kissen auf das noch freie Ohr, zog die Beine an und schloss die Augen wieder. Bitte, hör auf. Bitte. Ich will das alles nicht mehr. Sie musste an ihren Vater denken, der gestorben war, um sie zu retten. Gerade wegen ihm durfte sie das nicht tun. Sein Opfer wäre vollkommen umsonst, wenn sie sich nun einfach selbst zerstörte. Aber vielleicht sollte ich auch nicht mehr existieren. Vielleicht hätte er mich einfach nicht retten dürfen ... Sie atmete tief durch, um diese finsteren Gedanken abzuschütteln, ehe sie doch noch etwas tat, das sie bereuen könnte. Es wäre besser, wenn sie schliefe. Jii hatte recht, sie war nur müde, ausgelaugt und benötigte einfach eine Nacht voller Schlaf, um wieder klar im Kopf zu werden. Was auch immer es mit den Ereignissen der vorigen Nacht auf sich hatte, könnte sie erst dann wirklich ergründen. Sie gab sich Mühe, sich zu entspannen und konzentrierte sich auf das Schlaflied, das ihr Großvater ihr stets vorgesungen hatte. Sie glaubte sogar, seine Stimme hören und seine Anwesenheit neben sich spüren zu können, während sie in einen tiefen Schlaf sank. Es nahm nicht viel Zeit in Anspruch, bis sie sich wieder auf der ihr vertrauten Blumenwiese wiederfand. Allein. Von ihrem Großvater oder gar einem Bild desselben, war nichts zu sehen. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich einfach zu setzen und wieder mit dem Flechten einer Blumenkette zu beginnen, so wie sie es immer getan hatte. Aber sie wollte gerade nicht allein sein. Selbst in ihrem Traum spürte sie den Drang, sah ihn personifiziert in einer Dornenhecke, die kriechend die Blumenwiese zu umrunden begann. Riesige Dornen, fast schon Schwertern gleich, wuchsen an schwarzen Ästen, deren Umfang etwa dem einer menschlichen Hüfte entsprach. Nein, sie konnte hier nicht bleiben. Nicht so allein, wie sie es im Moment war. Also konzentrierte sie sich, legte eine geballte Hand auf ihr Herz und streckte die andere aus. Sie fand in ihrem Inneren den Faden, der sie mit den Fähigkeiten ihrer Mutter verband, berührte ihn sanft, worauf er zu schwingen begann und ein Geräusch erzeugte, das einer Melodie ähnelte. Energie floss durch ihren Körper, trat an ihren Händen aus und formte ein kreisrundes Portal, in dem ein grau-violetter Nebel waberte. Morte zögerte nicht, einfach hindurchzugehen, um einen Tunnel zu betreten, als die Dornen bereits ihre Füße erreichten. Sie schabten an ihren Schuhen, anders wäre sie nicht darauf aufmerksam geworden. Der Tunnel schloss sich hinter ihr wieder, um die Hecke davon abzuhalten, ihr zu folgen. Dann machte sie einige Schritte, um sich an den Nebel und die eingeschränkte Sichtbarkeit zu gewöhnen. Als sie diese Fähigkeit das erste Mal genutzt hatte, war sie bei einem Versuch, einfach draufloszulaufen, mehrmals ins Stolpern geraten, wodurch sie sich rasch verlaufen hatte. Es war kein angenehmes Gefühl gewesen, zwischen den Träumen umherzuwandeln, ohne zu wissen, ob man unter diesen Umständen je wieder erwachen könnte. An diesem Tag, dank ihrer gesammelten Erfahrung, funktionierte es tadellos, und so gelangte sie rasch an jenen Ort, an dem sie mehrere weitere Portale finden konnte. Jedes davon war, wie sie wusste, mit einem anderen Traum einer Person verbunden, die sie kannte. Sie musste sie nicht gut kennen, aber ihr zumindest einmal begegnet sein – und sie musste sich zufällig zur selben Zeit in diesem Korridor aufhalten, zu der die Person gerade träumte. Es war unmöglich, bereits im Vorfeld zu wissen, welches dieser Portale zu welcher Person führte. Meist stellte sich das für sie erst im Inneren des Traumes heraus oder auch nie. Es war schon oft genug vorgekommen, dass sie sich in einem derart bizarren Traum wiedergefunden hatte, dass ihr nie klar geworden war, zu wem er eigentlich gehörte. Manchmal konnte sie es aber spüren, wenn sie lange genug vor einem Portal ausharrte – und manchmal geschah es einfach so; als legte man einen Schalter um, der dann einen ganzen Raum erhellte. So war es auch, als sie bei einem bestimmten Portal stehenblieb. Sie wusste sofort, zu wem es gehörte und eigentlich hätte sie einfach weitergehen sollen, aber die Neugier ließ sie doch überlegen, ob sie nicht einfach eintreten sollte. Dieser Traum gehörte einem Menschen, von dem sie nicht einmal geglaubt hätte, dass er noch träumen konnte, schon allein weil er derart unachtsam mit seiner Traumzeit umging. Aber dank der Hexen, die hin und wieder die Zeit einiger Traumbrecher aufluden, im Austausch gegen ihre eigene Kraft, war es vielen von ihnen doch noch möglich, zu träumen. Darunter eben auch Rowan. Offenbar fand er doch noch Zeit zum Schlafen, dann war er wohl glücklicherweise nicht die ganze Zeit damit beschäftigt, sie zu beobachten, damit sie auch ja nichts Misstrauenserweckendes tat. Wenn ich seinen Traum betrete, finde ich vielleicht etwas, das ihn dazu bringt, mich endlich in Ruhe zu lassen. Oder um ihn noch wütender zu machen. Aber so wirkliche Sorge bereitete ihr dieser Gedanke nicht, deswegen streckte sie kurzentschlossen die Hand aus, um durch das Portal einzutreten. Elektrizität schien durch ihren gesamten Körper zu zucken, im selben Moment, in dem sie in Kontakt mit dem Nebel seines Korridors kam. Wie nach einem Schlag zuckte sie zurück und hielt sich die Hand, die noch immer unangenehm kribbelte, während der Rest ihres Körpers sich nur noch an das Gefühl erinnerte. „Was ist das denn?“ In all den Jahren, in denen sie nun schon ihre Träume mit anderen verband, war es ihr noch niemals untergekommen, dass jemand seinen Traum … geschützt hatte, nicht einmal bei anderen Traumbrechern. War das Rowans Tun oder geschah das auch seinerseits nur unbewusst, ohne dass er selbst überhaupt wusste, wie genau er das tat? Vielleicht war es aber auch nur eine einmalige Reaktion? Sie dachte darüber nach, die Hand noch einmal auszustrecken, aber sie wollte nicht einen weiteren elektrischen Schlag erleiden, deswegen beließ sie es nur bei dem Gedanken. Auch wenn sie sich deswegen nun wie ein Versuchstier vorkam, das gerade seine erste Lektion gelernt hatte. Dafür starrte sie wütend das Portal an, im Grunde erleichtert darüber, dass sie nun jemand anderes hatte, auf den sich ihr Zorn konzentrieren konnte, statt auf sie selbst. Mit einem Schnauben fuhr sie wieder herum, damit sie in ihren eigenen Traum zurückkehren und dort darüber nachdenken könnte, was für ein riesiger Idiot Rowan eigentlich war – und wie glücklich sie wäre, wenn sie ihn niemals wiedersehen müsste. Kapitel 7: Ich hatte nicht vor, dir etwas anzutun. -------------------------------------------------- Am nächsten Morgen kümmerte Morte sich schon nicht mehr um das, was geschehen war, als sie versucht hatte, in Rowans Traum einzudringen. Sie war immer noch wütend auf ihn, natürlich, aber nicht mehr wegen eines speziellen Vorfalls, sondern eben allgemein. Alles an diesem Kerl regte sie einfach nur auf, wenn sie an ihn dachte. Um sich von diesen finsteren Gedanken abzulenken, wollte sie eine Person in Athamos besuchen, die ihr gegenüber auf keinen Fall feindlich eingestellt war und die auch in etwa verstand, was sie durchmachen musste. Dafür lenkte sie ihre Schritte in Richtung der Krankenstation. Dort gab es, wenn man die richtige Tür wählte, auch ein Labor, in dem Konia Forschungen betrieb (die sie begrüßte, als sie an ihr vorbeikam). Eine weitere Tür dort führte einen dann zu dem Zimmer des Mannes, der sie zur Zerstörung verführt hatte und sich ebenfalls in dieser Welt hatte bekehren lassen. Sie trug ihm nichts nach, sie wusste, was in seinem Inneren vorgegangen war. Immerhin waren auch seine Träume nicht von ihren Besuchen verschont geblieben. Wer so viel Schmerz und Einsamkeit hatte erleiden müssen, reagierte ihrer Meinung nach verständlicherweise mit Zerstörung. Sie war aber froh, dass er schließlich wieder davon abgekommen war – wenn auch nur in der Hoffnung, dass man ihn hier an diesem Ort endlich töten konnte. Kieran Haze war, wie üblich, mit nichts beschäftigt, als sie ihn aufsuchte. Er lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie sich erschrocken, weil er ihrem Vater so sehr ähnelte. Sein schwarzes Haar fiel ihm über sein linkes Auge, zumindest sein rechtes war auf jeden Fall braun und auch seine leicht androgynen Gesichtszüge schienen ihr dieselben zu sein wie die ihres Vaters, nur eben in jüngeren Jahren. Inzwischen wusste sie ja, woran es lag; ihr Vater war der Kieran ihrer Welt gewesen und Haze jener einer anderen. Und Ares nochmal der einer anderen. Es war interessant zu sehen, wie viele verschiedene Versionen es gab und unter anderen Umständen hätte sie auch gern gewusst, ob es noch mehr von ihr gab – aber andererseits sah sie sich auch gern als einzigartig an. Wer konnte schon von sich behaupten, die Tochter einer Weltenbrecherin zu sein? Haze richtete sich auf, nachdem er sie begrüßt hatte, um zumindest zu sitzen. Dabei verzog er keine Miene, sein Gesicht war emotionslos wie immer, obwohl er gerade durch die Bewegungen Schmerzen erleiden dürfte. Das war, wie sie wusste, der Grund, wegen dem er nicht selten einfach nur dalag. Er war ein Suizid-Dämon. Nach all dem Leid, das er in seinem Leben erlebt hatte, war von ihm der Entschluss gefasst worden, sich umzubringen. Allerdings war er danach nur als Dämon wiedererwacht, um weiter endlose Qualen zu erleiden. Ein weiterer Selbstmord war unmöglich für ihn – und bislang war es noch niemand anderem gelungen, ihn zu töten. Morte setzte sich auf einen Stuhl und lächelte ihn an. „Wie geht es dir heute?“ „So wie immer.“ Er musterte sie. „Stimmt etwas mit dir nicht? Du wirkst aufgewühlt.“ Dabei war sie sich sicher gewesen, dass nichts an ihr zu bemerken gewesen war. Aber entweder war Haze einfach sehr aufmerksam oder sie hatten derart viel Zeit miteinander verbracht, dass er das anhand einiger knapper Merkmale erkennen konnte. Also erzählte sie ihm von den Ereignissen des letzten Trainingseinsatzes und der Begegnung mit ihrem vermeintlichen Großvater. Haze lauschte ihr, ohne sie zu unterbrechen. Erst als sie schließlich fertig war, neigte er den Kopf ein wenig. „Das klingt schlimm.“ Sie war überzeugt, dass er gerade darüber nachdachte, wie es wohl wäre, wenn er seinem Bruder in einem solchen Moment wieder gegenüberstünde. Mitleid war nämlich normalerweise keine seiner besonderen Eigenschaften. „Meine Welt wurde doch zerstört, oder?“ „Nun, der Weltenbrecher hat sich nach der Einverleibung deiner Mutter jedenfalls alle Mühe gegeben, um wirklich alles davon auszulöschen.“ Eine ehrliche, gefühllose Antwort, wie immer. „Dein Vater, der Kieran deiner Welt, hat den Weltenbrecher allerdings aufgehalten, bevor er vollkommen erfolgreich mit seinem Kataklysmus war.“ Und dafür hatte er sein Leben geopfert. „Damit hat er den Untergang aber nur genug verzögert, dass wir dir helfen konnten“, fuhr Haze fort. „Aber inzwischen ist absolut nichts mehr von deiner Welt übrig.“ Anfangs war es schwer gewesen, mit Hazes schonungsloser Ehrlichkeit umzugehen, aber inzwischen konnte sie darüber nur noch lächeln. Er machte es nicht aus Böswilligkeit, deswegen fand sie es vollkommen okay. „Deswegen verstehe ich das alles umso weniger.“ Haze blickte nachdenklich zur Seite. Etwas schien ihm eingefallen zu sein, weswegen sie gespannt darauf wartete, worum es sich handelte und dabei ein wenig den Blick schweifen ließ, um ihn nicht unter Druck zu setzen. Es gab nichts in diesem Raum, das einen ablenken konnte. Haze hatte sich auf eine absolut spartanische Einrichtung eingelassen, mit einem Bett und einem Tisch, sowie dem dazugehörigen Stuhl, auf dem Morte gerade saß, das war alles. Keine Bilder, keine Bücher, nichts zum Schreiben. Es war der Raum eines Mannes, der keinerlei Leben oder Hobbys hatte. „Ich habe da eine Vermutung“, begann Haze, doch bevor er weiterreden konnte, hörte Morte eine Stimme im Labor wüten, die sie nur zu gut kannte. Seufzend griff sie sich an die Stirn. „Auch das noch ...“ Im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen, ein wütender Rowan stand im Rahmen und starrte Morte an als wäre sie für alle Übel dieser Welt verantwortlich. Also so wie immer. Aus dem Labor hörte sie das Jammern und Wehleiden der eingesperrten Dämonen, die es nicht ertrugen, dass jemand mit derart viel Wut in ihrer Nähe war. „Guten Morgen, Rowan“, sagte sie in einem Versuch, ihn zu beruhigen – oder vielleicht, ihn zu verspotten, sobald es um ihn ging, war sie sich da gar nicht so sicher. „Verarsch mich nicht!“, erwiderte er unwirsch. „Was sollte das letzte Nacht?!“ Sie zog ihre Brauen zusammen. Wovon redete er da? Meint er etwa, dass ich versucht habe, mich in seinen Traum zu schleichen? Aber es war nicht gelungen, deswegen dürfte er auch nichts davon wissen. Oft genug vergaßen die Leute sie auch bei einem erfolgreichen Versuch wieder, weil man sich einen Traum nicht immer merken konnte – aber er sollte ihr Scheitern mitbekommen und es sich gemerkt haben? Niemals! „Du weißt genau, wovon ich spreche“, grollte er. „Ich weiß nicht, was du da Seltsames versucht hast, aber du wolltest mir irgendetwas antun, während ich schlafe! Habe ich recht?!“ Wären noch Speicheltropfen geflogen, hätte er den geradezu perfekten Bösewicht dargestellt. Sie spürte seine Kampfbereitschaft, in ihrem Inneren rumorte die Antwort darauf, der Wunsch, ihm einfach das Herz herauszureißen. Nur mühsam gelang es ihr, das niederzukämpfen. Ich bin ein gutes Mädchen. Ich bin vernünftig. Ich werde ihm nichts tun. Sie reckte das Kinn. „Ich bin überrascht, dass du überhaupt etwas mitbekommen hast. Es hat ja nicht einmal funktioniert.“ Sein Zeigefinger deutete sogleich anklagend auf sie – immer noch besser als der Kopf seines Hammers. „Also gibst du es zu!“ „Nein. Ich hatte nicht vor, dir etwas anzutun.“ In seinen grünen Augen schien ein wildes Feuer zu brennen, dem sie nicht wirklich standhalten konnte. Aber sie wollte ihren Blick auch nicht abwenden und ihm damit einen Sieg gönnen. „Ich hab dir schon mal gesagt, du sollst mich nicht verarschen! Die anderen hier glauben dir vielleicht, dass du jetzt lieb und brav bist, aber ich bin nicht so naiv!“ Im Moment war sie froh, dass er kein Schöpfer war. Mit Sicherheit hätte er sonst schon einiges erschaffen, um sie auf der Stelle zu töten, selbst wenn es nicht einmal freiwillig geschehen wäre. Als Koloss hatte er aber sicher den Nachteil, dass er in einem so kleinen Zimmer nicht seine gesamte Kraft einsetzen konnte. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie sie Rowan die Auge auskratzte, ihm die Luftröhre zerfetzte, in seinem Blut badete. Ihre Hände zuckten, um diese Bewegungen zu imitieren und in die Tat umzusetzen, bevor er auch nur daran denken konnte, seinen Hammer zu ziehen. „Sie hatte wirklich nicht vor, dir etwas anzutun.“ Hazes teilnahmslose Stimme riss sie aus ihren finsteren Gedanken heraus. „Sie wollte nur herausfinden, wovon du träumst.“ „Was?“ Rowan stutzte und sah zu Haze hinüber. „Kann sie so etwas wirklich?“ Natürlich kann ich das. Sie sprach das nicht laut aus. Bei Haze schien Rowan aus irgendeinem Grund nicht mehr so hasserfüllt zu sein, nur skeptisch, obwohl sie im selben Verbund gewesen waren – auch wenn das ziemlich unfair war, wie Morte fand. Im Moment war es allerdings eine gute Sache. Haze nickte. „Kennst du das Spiel R.O.O.T.S.?“ „Ich beschäftige mich nicht mit Spielen.“ „Ziel des Spiels ist es, von einem Planeten aus andere zu erobern, indem man Fäden zu diesen spinnt und diese so übernimmt. Dabei gibt es aber nur eine begrenzte Distanz, die ein Faden zurücklegen kann.“ Rowan sah verwirrt aus und Morte war es nicht minder. Bislang hatte noch niemand versucht, ihre Fähigkeiten zu erklären. Weswegen auch, solange sie funktionierten? Haze ließ sich von diesen ratlosen Gesichtern vor sich nicht entmutigen. „Mortes Fähigkeit ist in so etwa wie der Faden. Sie kann ihr Bewusstsein mit dem anderer verbinden, solange diese träumen.“ „Warum hast du es nicht gleich so erklärt?“, brummte Rowan, wobei Morte ihm innerlich zustimmen musste. „Und was macht sie dann?“ „Eigentlich dient diese Fähigkeit dazu, dass sie damit den Willen einer Person unterwandert und ihm eine Idee einpflanzt oder dass sie direkt seinen Körper übernehmen kann.“ Diese Antwort erklärte nicht nur den Spiel-Vergleich, sie gab Rowan auch direkt wieder neue Munition. Finster blickte er Morte an. „Also wolltest du meinen Körper übernehmen?! Oder mir auch einreden, dass du harmlos bist? So wie du es mit den anderen getan hast?!“ Sie rollte mit den Augen. „So ein Schwachsinn kann auch nur von dir kommen.“ „Ja“, stimmte Haze tonlos zu, ehe Rowan das kommentieren konnte. „Morte kann nur in Träume von Personen eindringen, die positiv zu ihr stehen oder denen sie egal ist. Was auch Sinn macht. Wer würde schon jemanden, den er hasst, in seinem Traum haben wollen?“ Das sorgte dafür, dass Rowan ihn nicht finster ansah, sondern stattdessen grimmig nickte. Er wollte Morte ganz offensichtlich nicht einmal in der Nähe seiner Träume haben. Sie wunderte sich dagegen eher, woher Haze so viel über ihre Fähigkeiten wusste, wenn nicht einmal ihr selbst das klar gewesen war. „Ich sagte ja bereits, dass der Faden im Spiel nur eine gewisse Distanz hat, nicht?“ Haze fuhr ohne jedes Zögern fort. „So sieht es auch bei Mortes Fähigkeit aus. Je näher ihr die Person steht, desto einfacher fällt es ihr.“ Gut, das war ihr auch bewusst gewesen, aber nicht, dass jemand, der sie nicht mochte, ihr sogar einen richtigen Schock verpasste. „Woher weißt du eigentlich, dass ich das versucht habe?“ Lauernd sah sie Rowan an, der ihren Blick hasserfüllt erwiderte. „Denkst du, ich bin total blöd? Ich habe genau gemerkt, dass jemand versucht hat, mit meinen Träumen herumzuspielen – und da kommst nur du in Frage!“ Morte verfluchte sich innerlich. Er war also nur deswegen auf sie gekommen, weil er sie hasste und hatte keinerlei Beweise besessen. Und sie war natürlich darauf hereingefallen. Sie schnaubte wütend, wurde aber direkt wieder von Haze abgelenkt: „Und da kommen wir auch schon wieder zu meiner Theorie wegen dem, was bei dem Einsatz geschehen ist.“ Sie wollte ihn fragen, ob sie das vor Rowan erörtern mussten, der nichts mit der ganzen Sache zu tun hatte, aber sie war sehr an dieser Theorie interessiert – und er sah nicht so aus, als wolle er so bald wieder gehen. Haze blickte Morte direkt an. „Ich denke, dieser Albtraum – oder was auch immer das für ein Wesen bei deinem letzten Einsatz gewesen war – verfügt ebenfalls über diese Fähigkeit. Nur in einem stärkeren Ausmaß, so dass er sogar in deinen Traum dringen konnte, während du wach warst.“ Auf diese Weise hatte sie es noch nicht betrachtet. Aber es ergab Sinn, immerhin war die Blumenwiese da gewesen und auch eine Gestalt, die wie ihr Großvater aussah. Wie sollte das möglich sein, wenn nicht dadurch, dass jemand in ihrem Unterbewusstsein und in ihren Träumen herumgestöbert hatte? Rowan verschränkte die Arme vor der Brust, er runzelte seine Stirn; dachte er etwa gerade nach? Skeptisch sah Morte ihn an – und war vollkommen baff, als er tatsächlich einen Schluss zog: „Wenn dieses Wesen das sogar kann, während sie wach ist, muss das bedeuten, dass absolut kein Widerstand da war, also steht dieses Wesen ihr sehr nah?“ Sie wollte dem bereits widersprechen, rein aus Prinzip, weil es von Rowan kam, aber dann fiel auch ihr auf, dass es eigentlich ziemlich sinnvoll klang. Deswegen sah sie zu Haze hinüber, der auch direkt nickte. „Gute Schlussfolgerung. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter mit meiner Vermutung.“ Morte überkam das Gefühl, dass ihr der nächste Satz nicht gefallen würde, deswegen versuchte sie selber erst gar nicht darüber nachzudenken, was es bedeuten mochte und verbannte jeden Gedanken in diese Richtung möglichst weit fort. Rowan dagegen lauerte regelrecht darauf, es zu hören, aber sie weigerte sich, zu glauben, dass er den Schluss allein gezogen hatte. Selbst wenn dieser gegen sie gerichtet war. Haze kümmerte sich aber nicht darum, ob er das besser nicht sagen sollte und sprach seine Vermutung daher wie üblich nonchalant aus: „Dieses Wesen muss auf jeden Fall mit dir verwandt sein, Morte. Vielleicht hat deine Mutter trotz aller Widrigkeiten doch überlebt.“ Sie wollte – nein, sie konnte – es nicht glauben. Noch während sie durch die Gänge Athamos' wieder zu ihrem eigenen Zimmer lief, dachte sie über Hazes Worte nach, wollte aber nicht zulassen, dass sie wirklich ihr Herz erreichten. Sie hatte gesehen, wie ihre Mutter von dem neuen Weltenbrecher, der zu einem riesigen Scheusal angewachsen war, verschlungen worden war. Er hatte sie gefressen, Knochen waren gebrochen und zermalmt worden. Aber bedeutet das wirklich, dass sie tot ist? Ihre Mutter war ebenfalls ein Weltenbrecher gewesen. Ein von verzweifelten Albträumen erschaffenes Wesen, dessen Macht die eines jeden anderen übersteigt. Konnte so eine Existenz überhaupt durch etwas derart Simples ausgelöscht werden? Die in ihren Augen brennenden Tränen waren wohl der einzige Grund, wegen dem Rowan sie direkt nach dieser Enthüllung hatte davonstürmen lassen. Dabei wäre es ihr genau in diesem Moment vollkommen egal gewesen, wenn er sie sogar getötet hätte. Ihre Gedanken drehten sich nur noch um die Identität des Wesens, das die Gestalt ihres Großvaters angenommen hatte, um sie derart zu quälen. Das konnte einfach nicht ihre Mutter gewesen sein. Nein, das konnte nicht sein. Ich weigere mich einfach, das zu akzeptieren! An ihrem Zimmer angekommen, unterstrich sie diesen Gedanken, indem sie die Tür hinter sich zuwarf – entschlossen, erst wieder herauszukommen, wenn es zu ihrem nächsten Einsatz käme und sie dieses fürchterliche Wesen endlich für seine Vermessenheit bestrafen könnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)