Darker than you think von Nordwind ================================================================================ 13 -- 13| Weißer Dampf hatte sich in dem kleinen Badezimmer gebildet und die Wände waren hinter dem dichten Dunst kaum mehr sichtbar. Das laute Rauschen des Wassers dämpfte alle anderen Geräusche. Tala schob mit beiden Händen die nassen Strähnen roten Haars aus seiner Stirn zurück und hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen der Brause entgegen. Es war beinahe, als wäre die Welt um ihn herum verschwunden. Als wäre sie im Dunst und Rauschen zu einer weißen Masse verschmolzen. Tala ließ das kochend heiße Wasser auf seinen Körper fallen, wo es rote Flecken auf der bleichen Haut hinterließ. Er spürte die Hitze, wie ein brennendes Beißen, doch die Wärme drang nicht bis in sein Inneres vor. Es war als hätte sich die Kälte tief in seine Knochen gefressen, als wäre seine Knochen selbst zu Eis geworden. Er froh erbärmlich und musste sich dazu zwingen das Zittern zu unterdrücken. Die Kälte war so lange schon ein Teil von ihm gewesen, dass er sich kaum mehr daran hatte erinnern können, wie es war zu frieren. Tala tastete in seinem Geist nach Wolborg, doch der Wolf entwich seinem Griff wie ein kalter Hauch, ein leises Wispern. Tala ballte die Hand zur Faust. Brennende Wut spülte über ihn hinweg, riss ihn hinfort und ließ ihn die Faust hart gegen die Fliesen rammen. Der Schmerz schoss durch seinen Arm in seine Schulter hinauf, doch Tala biss nur die Zähne zusammen und zwang sich langsam und tief zu atmen. Mit jedem Atemzug schwand der Zorn ein wenig mehr. Einatmen, Ausatmen. Schließlich lehnte sich Tala nach vorne, bis seine Stirn den kalten Fliesenspiegel berührte. Alle Energie war mit einem Mal aus ihm gewichen. Gewöhnlich spürte er in jedem Augenblick die Anwesenheit des Wolfs, dessen feine Instinkte ihn warnten, ihn Dinge hören und riechen ließ, die kein anderer Mensch wahrnehmen konnte. Wolborg war immer an seiner Seite gewesen. Beruhigend, wenn Tala drohte die Geduld zu verlieren, standhaft, wenn er drohte zu schwanken, und zuverlässig, wenn er niemandem hatte trauen können. Aber nun hatte sich der Wolf sich zurückgezogen. Tala drehte das Wasser ab, stieg aus der Dusche und nahm ein Handtuch vom Haken, das er sich um die Hüften wickelte. Er trat an das Waschbecken hinüber und wischte mit der Hand über den Spiegel, um einen kritischen Blick auf sein Ebenbild zu werfen. Der junge Mann, der aus dem Spiegel zurückblickte, sah müde aus. Erschöpft, mit dunklen Schatten unter den Augen, die sich in starkem Kontrast von der bleichen Haut absetzten. Er sah aus, als hätte er seit Wochen nicht geschlafen. Eine herbe Bitterkeit umspielte seine Mundwinkel. Das rote Haar fiel ihm nass in die Stirn und verdeckte teilweise die klaren, blauen Augen, die trotzig zurückblickten. Er war nicht ungewöhnlich groß und robust wie Spencer oder muskulös und breitschuldrig wie Bryan, sondern im Vergleich eher schmal. Manch einer, der nicht genau hinschaute, würde ihn vielleicht als hager bezeichnen. Seine Muskeln waren subtiler, zeichneten sich aber fein unter der hellen Haut ab, die mit alten Narben übersät war. Lange und schmale, solche die nahezu verblasst waren, als stammten sie aus einem vergangenen Leben, und solche, die noch immer deutlich sichtbar waren. Es war ihm kein ungewohnter Anblick. „Mir geht es gut,“ erklärte Tala seinem Spiegelbild, doch es klang noch nicht einmal in seinen eigenen Ohren überzeugend. Der Mann im Spiegel blickte ebenfalls skeptisch zurück. Tala fuhr sich mit der Hand durchs rote Haar und wandte sich resignierend ab. Er fühlte sich noch nicht einmal ansatzweise gut. Im Gegenteil, ihm war, als hätte er einen Teil seiner selbst verloren, als wäre er nicht mehr er selbst. Er war sich selbst fremd und er wusste noch nicht einmal weshalb. Er wusste nicht, warum der Wolborg sich plötzlich gegen ihn wandte. All die Jahre, seit er mit Wolborg Frieden geschlossen hatte, seit sie von Feinden langsam mit viel Geduld zu Partnern geworden waren, hatte das Bitbeast nicht mehr versucht Tala aus seinem eigenen Bewusstsein zu drängen. Es war ein schwieriger Weg gewesen, den keiner von ihnen freiwillig beschritten und sie beide bis an ihre Grenzen getrieben hatte. Er hatte geglaubt, dass er und Wolborg diesen Teil ihrer gemeinsamen Geschichte lange hinter sich gelassen hatten. Seit jener verhängnisvollen Nacht damals vor sieben Jahren, als er mit aller Kraft und Verzweiflung um das letzte bisschen an Selbstbeherrschung gekämpft hatte, das ihm noch geblieben war. Es hatte ihn beinahe alles gekostet, doch es hatte ihn auch stark gemacht. Es hatte sie beide gestärkt. Nicht, dass man ihnen jemals eine Wahl gelassen hatte. Über die Jahre hin hatte er einen tiefen Respekt für den Wolf entwickelt und geglaubt, dass dieser Respekt auf Gegenseitigkeit beruhte. Doch nun hatte sich etwas geändert und ohne dass es Tala bewusst gewesen war, hatte der kräftezehrende Kampf erneut begonnen. Er verlor allmählich die Kontrolle über seinen eigenen Körper und Teile seines Geistes. Das sanfte Licht der Sonne fiel durch das weit geöffnete Fenster, als Tala auf den Flur hinaustrat und lauschte. Er hörte die kleinen Vögel draußen auf den dünnen Zweigen leise zwitschern und das sanfte Rascheln der Blätter in der warmen Herbstbrise. Es war bereits Mittag und das Haus lag still da. Der Wind trug Stimmen von der Wiese herauf. Da war Tysons laute, penetrante Stimme und Max Lachen. Ray und Hilary waren ebenfalls dort unten und noch jemand, eine weibliche Stimme, die Tala nicht zuordnen konnte. Etwas an dieser Stimme war ihm vertraut, obwohl er sie mit beinaher Gewissheit noch niemals zuvor gehört hatte. Es dauerte eine Weile ehe im klar wurde, woran es lag. Es war der leichte russische Akzent. Nicht ganz so stark ausgeprägt wie sein eigener aber dennoch deutlich erkennbar. Als Tala die Treppe zum Wohnbereich hinunterging, sah er, dass die Vordertüre offenstand. Tala ging auf die Terrasse hinaus und fand Kai auf den Stufen sitzen, die von der Veranda auf die Wiese hinunterführten. Ohne jeden Gruß setzte er sich neben seinen ehemaligen Tag-Team-Partner. Kai reagierte in keiner Weise auf Talas Anwesenheit, sondern hatte seine Aufmerksamkeit auf die Gruppe von Leuten drüben bei der Beyarena gerichtet. Tala sah ihm an, dass er mit den Gedanken irgendwo anders war. Sie saßen beide eine ganze Weile schweigend da. Der Wind trieb eine angenehme warme Herbstböe durch das Gras. Ein letztes Aufbäumen des Sommers, ehe der Winter ihn vollkommen vertreiben würde. Tyson und die anderen unterhielten sich drüben bei der Beyarena mit einer fremden jungen Frau. Sie war nicht groß, aber dünn, beinahe schon mager, doch sie trug weite Hosen und eine Jacke um darüber hinwegzutäuschen. Die Knochen zeichneten sich deutlich über der bleiche Haut ihres Gesichts ab. Das lange, feine blonde Haar hatte sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Züge waren eindeutig nicht asiatisch und entsprachen dem russischen Akzent, den Tala identifizierit hatte. Ein Lächeln lag auf den blassen Lippen der jungen Frau, doch etwas daran passte nicht recht ins Bild. Etwas an diesem Lächeln störte Tala, ohne dass er genau sagen konnte was es war. Es blieb ihm auch keine Zeit weiter darüber nachzudenken, den mit einem Mal spürte er Wolborgs unruhige Präsenz in seinem Geist. Beinahe als hätte etwas den Wolf aus einem tiefen Schlummer geweckt. Was auch immer ihn dazu gebracht hatte hervorzukommen, machte ihn ungewöhnlich nervös und seine Unruhe übertrug sich unwillkürlich auf Tala. Alle seine Sinne waren mit einem Mal geschärft und er spannte unbewusst die Muskeln an. „Wer ist das?“ fragte Tala und zwang sich zur Ruhe. Unter normalen Umständen vertraute er den Instinkten des Wolfs blind und ohne nachzudenken, doch in letzter Zeit war Wolborg alles andere als zuverlässig gewesen. Tala zweifelte daran, ob tatsächlich Gefahr drohte oder ob der Wolf nur seinem Unmut Ausdruck verlieh, wie so oft in den letzten Wochen. Es war schwer geworden die Launen des Wolfs richtig einzuschätzen – oder überhaupt in irgendeiner Weise zu verstehen. Kai, der neben ihm saß, schien jedoch gar nicht auf ihn zu achten und machte auch keine Anstalten auf Talas Frage zu antworten. Tala war sich nicht sicher, ob sein ehemaliger Tag-Team-Partner ihn nicht gehört hatte oder ihn schlichtweg ignorierte. Andererseits wiederum war es möglich, dass Kai die Antwort ebenso wenig kannte wie Tala. Es gab ohnehin wichtigere Dinge – Dinge von größerer Bedeutung, die Tala zu klären beabsichtigte. Er drängte Wolborg und dessen Nervosität aus seinem Bewusstsein und hoffte, dass sich der Wolf zurückziehen würde ohne einen größeren Aufstand zu machen. Dann wandte er sich Kai zu. „Heute Nacht habe ich geträumt, ich wäre in der Abtei,“ sagte er und beobachtete aus dem Augenwinkel zufrieden wie Kai fragend eine Braue hob. Zumindest hatte Tala nun seine Aufmerksamkeit, wenn auch nur die geteilte. „Höchstwahrscheinlich ein unbewusster Versuch, deine tragische Kindheit zu verarbeiten,“ erwiderte Kai schließlich ohne einen Hauch von Amüsement in seiner Stimme und ohne den Blick abzuwenden. „Danke für die Diagnose, Dr. Freud,“ gab Tala trocken zurück. „Wirklich sehr hilfreich. Wie wär‘s wenn du mich einfach ausreden lässt?“ Kai zuckte nur mit den Schultern, den Blick hatte er noch immer auf die kleine Gruppe bei der Arena fixiert. Sein Gesicht war blank wie eine leere Seite, die nicht verriet, was genau seine Aufmerksamkeit auf sich zog und nicht mehr losließ. Tala folgte seinem Blick. Tyson hatte sich inzwischen an einer Seite der Arena platziert, während die junge Frau ihm gegenüberstand. Beide machten sich bereit ihre Beyblades zu starten. Offenbar hatte Tyson ein neues Opfer gefunden um schamlos seine Überlegenheit zu demonstrieren. „Es war kein Traum, zumindest glaube ich das nicht,“ fuhr Tala schließlich ernst fort. „Ich war in der Abtei, in Boris geheimen Raum. Du weißt schon, wo er Black Dranzer gefangen hielt. Ich muss nach dem Einbruch dort gewesen sein.“ Tala beobachtete Kais Reaktion scharf aus dem Augenwinkel. Doch was immer er sich auch erhofft hatte, blieb aus. Nicht einmal ein kleines Zucken wies darauf hin, dass Kai auch nur gehört hatte, was Tala ihm erzählte, geschweige denn darauf, dass er von dem Einbruch wusste. „Der Raum war vollkommen leer.“ Kais Augen folgten den raschen Bewegungen des Matchs, das inzwischen in vollem Gang war, nachdem Ray den Countdown gezählt hatte. Tala hingegen achtete nicht mehr darauf. Es ärgerte ihn, dass Kai es nicht für nötig hielt ihm zuzuhören. „Da waren Fußspuren im Staub auf dem Boden. Jemand war vor mir erst dort unten,“ fügte Tala hinzu, doch Kai zeigte noch immer keine Reaktion. Zumindest nicht auf Talas Worte. Offenbar war Tysons Match gegen irgendeinen Amateur weit spannender als alles was Tala zu sagen haben könnte. Die Bewegungen der beiden Beyblades, die einander umkreisten, verfolgte Kai jedenfalls mit größter Konzentration. Tala warf einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel hinüber zur Arena. Ein Wirbelsturm hatte sich in der Vertiefung gebildet und wies unmissverständlich darauf hin, dass Tyson Dragoon zu Hilfe gerufen hatte. Es sah ganz danach aus, als würde dieses Match doch nicht so einseitig verlaufen, wie Tala zunächst angenommen hatte. Das konnte nur bedeuten, das Tyson entweder ordentlich Eindruck schinden wollte oder aber, dass seine Gegnerin ebenfalls ein Bitbeast besaß. Die junge Frau aber schien zu zögern. Ihr Beyblade begann zu schwanken. Was auch immer der Fall sein mochte, es interessierte Tala nicht. Er musste wissen, was Kai über den Einbruch in der Abtei wusste. Musste es unbedingt wissen. Tala verspürte mit einem Mal das dringende Bedürfnis Kai an seinem Schal zu packen und ihn herumzureißen. Ihn zu zwingen ihm zuzuhören. Ein tiefes Knurren vibrierte irgendwo in einem Winkel seines Geistes, drohend, zornig. Tala ignorierte den Wolf und drängte dessen beharrliche Präsenz zurück, weg aus seinem Bewusstsein. Unbewusst ballte er die Hand zur Faust, so fest, dass sich die Fingernägel tief in seine Handfläche bohrten. Den Schmerz jedoch spürte er kaum. Er hatte genug von Wolborg und dessen unberechenbaren Launen. Und er hatte genug davon ignoriert zu werden. Niemand ignorierte ihn. Kalter Hass erfüllte ihn mit einem Mal. Leise und unbemerkt schlich er sich in Talas Gedanken und hüllte ihn ein wie Frost an einem kalten Wintermorgen. Blinder Zorn erfasste ihn und spülte über ihn hinweg wie eine Welle. „Verdammt Kai, warst du es, der in die Abtei eingebrochen ist? Hast du Black Dranzer geholt?“ Zu spät bemerkte Tala, dass er plötzlich stand, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, sich überhaupt bewegt zu haben. Er hört seine eigene Stimme, laut und voller Zorn. Zorn und Hass. Wo kam all dieser Hass her? Hass auf denjenigen, dem er blind vertraut hatte, dem er sein Leben anvertraut hatte. Der ihn enttäuscht hatte, so bitter. Bitterkalt. Der ihm misstraute, der ihn wütend machte, so unendlich wütend. Wut. Wut auf Kai? Nein, dieser plötzliche Hass richtete sich nicht gegen Kai. Nur langsam wurde Tala bewusst, dass etwas nicht stimmte. Warum war er so wütend? Wieder erfüllte das tiefe, drohende Knurren Talas Gedanken, überblendete alles andere. Waren es überhaupt noch seine eigenen Gedanken? Sie fühlten sich nicht richtig an, unpassend, fremd und doch vertraut zugleich. Aber nicht vertraut genug. Er konnte die Gefühle nicht nachvollziehen, die Gedanken nicht auf sich selbst zurückführen. Es waren nicht die seinen. Tala spürte wie er am ganzen Körper zitterte. Warum war es so bitterkalt? Träge, wie in Zeitlupe hob Tala den Kopf und sah sich um. Er sah Kai neben sich aufspringen, doch etwas stimmte nicht mit seinen Augen. Er sah seinen ehemaligen Tag-Team-Partner wie durch einen weißen Vorhang. Talas Sichtfeld war verengt und an den Rändern sah er nichts als undurchdringliches weiß. Er hörte eine Stimme etwas rufen und wie jemand seinen Namen sagte, doch der Ton war seltsam gedämpft, als hätte Tala Watte in den Ohren. Das Weiß breitete sich aus, nahm ihm mehr und mehr von seiner Sicht. Er konnte sich nicht mehr bewegen, jeder Muskel in seinem Körper war gelähmt, als wäre er im Eis erstarrt. Er spürte, wie sein Bewusstsein schwand, wie es langsam davongeschwemmt, wie er wegdämmerte. Ein Gefühl wie kurz vor dem Einschlafen. Leise wie ein Windhauch drang ein sanftes Lied an Talas Ohren. Es war so leise, dass er nicht sagen konnte, wie lange es schon spielte. Die träge Melodie umschmiegte sein Bewusstsein und dämpfte alles andere um ihn herum. Stimmen und Töne, Bilder und Farben, die Kälte und den Hass. Tala ließ sein Bewusstsein davontreiben wie ein Blatt im Wind. Um ihn herum waren plötzlich sanfte, schneebedeckte Hügel und in der Ferne zeichneten sich Nadelwälder wie dunkle Schatten am Horizont ab. Wo die Welt in das ewige Grau des Himmels überging. Es war als wäre die Zeit stehen geblieben. In Kälte und Eis erstarrt. Nur der Wind wisperte leise und trug einen frostigen Hauch über die weiten, weißen Ebenen. Tala starrte regnungslos auf das endlose Weiß hinaus, als er mit einem Mal eine Präsenz unmittelbar hinter sich spürte. Langsam drehte er sich um und war sicher Wolborg zu finden, doch es war nicht der Wolf, der dort stand, sondern ein großer Fuchs. Das Fell des Tiers war von der Farbe frischgefallenen Schnees und seine wachsamen Augen funkelten im sanften Honiggold von Bernstein. Das Besondere an dem Fuchs jedoch waren die beiden Schwänze, die unruhig zuckten. Tala öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch da zerriss eine laute Stimme plötzlich die Stille. „Tala!“ Tala verspürte einen heftigen Ruck, als er mit einem Mal am Arm gepackt und zurückgerissen wurde. Alles um ihn herum begann sich zu drehen und er spürte wie er schwankte. Wie er drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Das Weiß um ihn herum begann sich zu drehen und sich mit dem sanften Grau des Himmels zu vermischen. Der Fuchs war verschwunden. Talas Hand fand Halt in etwas weichem – Stoff – und krallte sich darin fest. Er schmeckte Galle in seinem Mund spürte wie sein Magen sich krampfhaft zusammenzog. Er drängte den Würgereiz zurück und hörte sich selbst Husten, während das Weiß langsam zurückwich und die Welt sich mit all ihren Farben um ihn herumdrehte. Langsamer und langsamer, bis er schließlich Bäume und Gestalten erkennen konnte. Tala taumelte zurück und ließ Kais T-Shirt los. Seine Beine knickten unter ihm weg und er sackte haltlos mit den Knien ins Gras. Seine Augen erhaschten einen kurzen Blick auf die anderen, die noch immer drüben bei der Beyarena standen, nun jedoch zu ihm hinüberschauten. Die Gefühle in ihren Gesichtern waren unmaskiert. Tala erkannte Sorge und Überraschung überschattet von Angst und Schrecken. Er schloss die brennenden Augen. Es passierte schon wieder. Wieder und wieder. Er konnte nicht zulassen, dass die Vergangenheit sich wiederholte. Er durfte nicht zulassen, dass Wolborg ihn überrumpelte, ihn aus seinem eigenen Geist verbannte. Was vor sieben Jahren geschehen war, durfte nicht noch einmal passieren. Er musste es um jeden Preis verhindern. Tala ballte die Hand zur Faust und schlug sie mit solcher Wucht gegen die Erde, das dem Schmerz, der seinen Arm emporschoss, sogleich Taubheit folgte. Er kannte sie nur zu gut, diese Blicke. Sie hatten sich so tief eingebrannt, dass er sie nach all den Jahren sofort wiedererkannte. Es hätte niemals wieder passieren dürfen. Es durfte nicht wieder passieren. Wolborg sollte es besser wissen. Hatten sie den beide verdammt nochmal nichts aus den Geschehnissen beim letzten Mal gelernt? „Tala.“ Es war Kais Stimme, ruhig und kühl, die ihn aus seinen Gedanken riss. Der warnende Unterton, der unter dem Klang seines Namens mitschwang entging Tala nicht. Er stand schwankend auf und brauchte einen Augenblick um sein Gleichgewicht zu finden, dann sagte er ohne Kai anzusehen: „Halt sie von mir fern.“ Seine Stimme klang trocken, als würde sie jeden Moment zerbersten. Er wandte sich ab und stütze sich mit der Hand am Geländer ab, während er die Stufen zum Haus hinaufging. Er musste weg. Weg von den Blicken, die auf seine Brust drückten wie schwere Gewichte. Die ihm die Luft zum Atmen raubten. Er konnte sie nicht ertragen. ~~~ Kai sah Tala wortlos nach, als dieser im Haus verschwand. Seine Lippen bildeten eine grimmige, blasse Linie und er versuchte nicht einmal die Besorgnis zu kaschieren, die sich eindeutig in seinem Gesicht zeigen musste. Tala sah nicht gut aus. Tiefe Schatten hatten unter seinen Augen gelegen, als hätte er länger nicht geschlafen oder zumindest nicht richtig. Ausgelaugt. Es war schlimmer als Kai befürchtet hatte. In diesem Zustand würde Tala nicht lange durchhalten. Er hatte gut daran getan Unterstützung zu holen ehe es zu spät war und jemand verletzt wurde – oder Schlimmeres. Er wandte sich erst um als Tala die Tür hinter sich geschlossen hatte. Tyson, Max und Ray kamen bereits eilig heran, gefolgt von Hilary und der fremden jungen Frau. „Was ist passiert?“ wollte Max wissen. Seine Miene war ungewöhnlich ernst, das charakteristische Lachen von seinen Lippen verschwunden. Hilary fügte besorgt hinzu: „Ist mit Tala alles in Ordnung.“ Kai sah langsam von einem zum anderen. Nichts war in Ordnung. Ganz und gar nicht. Er war sich nicht sicher, wie lange er die Wahrheit noch vor ihnen verbergen konnte oder ob er es überhaupt sollte. Sie mussten wissen, in welche Gefahr sie sich begaben, sobald Tala in der Nähe war. „Irgendwas stimmt hier doch nicht,“ warf Tyson schließlich ein, als ihm klar wurde, dass Kai nicht vorhatte die Situation zu erklären. „Wenn irgendwas mit Tala nicht stimmt, müssen wir ihm helfen.“ Kais Blick verfinsterte sich bei diesen Worten. Genau diese Reaktion hatte er erwarte - und befürchtet. Er wusste, dass er ihnen alles erzählen musste, doch etwas in ihm sträubte sich dagegen. Es war eine lange, dunkle Geschichte, die er geglaubt hatte hinter sich gelassen zu haben. Von der er gehofft hatte, sie niemals erzählen zu müssen. Eine Geschichte ohne Happy End, die niemand hören sollte. Von der niemand wissen sollte. Es war sein dunkelstes Geheimnis, doch es war nicht sein Geheimnis allein und es war nicht an ihm es zu teilen. Noch nicht. „Bleib von ihm weg,“ wies Kai Tyson schließlich kalt an. Die Entscheidung war gefallen. „Das gilt für euch alle. Tala ist gefährlich. Gefährlicher als ihr es euch vorstellen könnt.“ Er konnte die fragenden Blicke der anderen deutlich auf sich spüren, doch er begegnete ihnen mit kalter Entschlossenheit. Sie verstanden nicht. Und wie auch? Sie kannten die Geschichte nicht und er war nicht bereit sie zu erzählen. Noch nicht. Kai beobachtete aus dem Augenwinkel, wie die junge Frau etwas zu Hilary sagte, woraufhin diese nickte und die junge Frau sich von der Gruppe entfernte. Scheinbar hatte sie entschieden, dass es besser war sich aus der Angelegenheit herauszuhalten und sich zu verabschieden. Zumindest eine Person, die eine kluge Entscheidung getroffen und sich stumm zurückgezogen hatte. Ganz im Gegenteil zu Tyson, der inzwischen an Kai herangetreten war und ihn an der Schulter gepackt hatte. „Tala ist unser Freund,“ protestierte Tyson nachdrücklich mit lauter Stimme. Verwirrung und Empörung waren ihm deutlich anzusehen. Kai konnte ihm beides nicht einmal verübeln. „Er ist nicht gefährlich.“ „Du weißt gar nichts, Tyson,“ blaffte Kai und befreite sich mit einer schnellen, groben Bewegung aus Tysons festem Griff. „Du weißt nicht worum es geht und du weißt schon gar nichts über Tala.“ Ehe Tyson, der sich das schmerzende Handgelenk hielt, ihn anfahren konnte, trat Ray ruhig zwischen ihn und Kai. Er wandte sich seinem ehemaligen Teamcaptain zu und Kai entging nicht, dass sich auch in seinen Augen Unsicherheit spiegelte. Dennoch sprach er mit beschwichtigender Stimme. „Du hast Recht, Kai, wir haben keine Ahnung was hier vor sich geht,“ stimmte Ray ihm zu. „Deshalb musst du es uns erklären. Wir können nur helfen, wenn wir wissen, was mit Tala nicht stimmt.“ Kai jedoch schüttelte nur den Kopf. „Ihr sollt ihm nicht helfen,“ stellte er klar. Am besten wäre es, sie würden alle nach Hause zurückgehen, doch Kai wusste bereits, dass keiner von ihnen dazu bereit sein würde. Er kannte sie alle gut genug um sich dessen gewiss zu sein. ~~~ Tala nahm ein Glas aus dem Küchenschrank und hielt es unter den Wasserhahn. Es kostete ihn unerwartet viel Mühe das Glas aufrecht unter das Wasser zu halten. Er fühlte sich wie ausgelaugt, als wäre alle Kraft aus ihm herausgesaugt worden und so brachte er kaum die Energie auf, seinen Arm zu heben. Sein Mund war trocken und seine Kehle fühlte sich rau an, wie Schmirgelpapier. Vielleicht wurde er krank, obwohl Tala sich kaum noch daran erinnern konnte, wie sich eine Erkältung anfühlte. Es war alles Wolborgs verdammte Schuld. Tala zuckte zusammen, als mit einem Mal die Türe, die auf die Terrasse hinter dem Haus führte, geöffnet wurde. Das Glas entglitt seiner Hand und landete unter lautem Klirren im Spülbecken. Glücklicherweise ohne zu zerbrechen. Leise fluchend drehte Tala den Hahn ab. Das letzte, das er nun brauchen konnte waren Tyson und die anderen, die Fragen löcherten. Fragen, auf die sie Antworten haben wollten. Antworten, die sie nichts angingen, die er nicht geben wollte. Als Tala sich umdrehte, stand dort jedoch nicht wie erwartet Tyson oder Kai, sondern die fremde junge Frau. Sie starrte ihn verblüfft an, als hätte sie seine Anwesenheit ebenso wenig erwartet. Die Überraschung jedoch schwand schnell aus ihren Augen und wurde zu etwas anderem. Etwas, das Tala nicht recht zuordnen konnte. War es Feindseligkeit? Plötzlich war Wolborg erneut in seinem Geist. Tala spürte die unruhige Präsenz des Wolfs. Als hätte die Anwesenheit der fremden ihn erneut hervorgelockt. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken,“ meinte die Fremde schließlich auf Japanisch. Nun konnte Tala den Akzent deutlich aus ihrer Stimme heraushören und noch etwas war da. Vorsicht oder Argwohn. Tala konnte es ihr nach seinem Auftritt eben kaum verübeln. „Ich bin übrigens Mascha, Ich wohne hier in der Nähe, Tyson hat mich zum Training eingeladen.“ Sie schien auf eine Erwiderung zu warten, doch als ihr schließlich bewusst wurde, dass Tala vorhatte zu schweigen, fügte sie hinzu: „Ich wollte nur meine Jacke holen.“ Ihren Worte Folge leistend ging Mascha zum Tisch hinüber und nahm eine schwarze Jacke von einem der Stühle. Dann wandte sie sich um und ging denselben Weg wieder zurück. Talas Augen folgten jede ihrer Bewegungen prüfend, doch ihm fiel nichts weiter Ungewöhnliches auf. Vielleicht hatte er sich getäuscht, vielleicht ließ er sich zu sehr von Wolborgs Launen beeinflussen. Tala wandte sich wieder der Küchenzeile zu und fischte das Glas aus dem Spülbecken um einen neuen Versuch zu starten es mit Wasser zu füllen. Eine Aufgabe von einem Schwierigkeitsgrad an dem er gewöhnlich nicht scheiterte. Als Mascha an ihm vorbei zur Türe ging, vernahm er plötzlich ein leises Murmeln, als spräche sie zu sich selbst. „Er sieht gar nicht aus wie ein Mörder, Lissa“ Tala erstarrte als wäre ihm mit einem Mal das Blut in den Adern gefroren. Dann wandte er sich langsam um. „Was hast du eben gesagt?“ Mascha, die schon halb durch die Tür war, hielt in der Bewegung inne und sah fragend mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm zurück. „Hm? Ich habe nichts gesagt.“ Dann drehte sie sich um und schloss die Tür hinter sich. „Bis bald, Tala.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)