Darker than you think von Nordwind ================================================================================ o6 -- o6| Tala bereute bereits eine halbe Stunde nachdem sie in den Kleinbus gestiegen waren, dass er sich von Kai hatte herumkommandieren lassen, statt einen Flug zurück nach Moskau zu buchen. Er saß in der hinteren der beiden Sitzreihen des Fahrzeugs, ganz außen rechts am Fenster neben seinem ehemaligen Tag-Team-Partner und konnte beim besten Willen nicht begreifen, wie es diesem gelang Tysons lautes Geschwätz so vollkommen auszublenden. Musste wohl das Ergebnis jahrelanger Übung sein. Tala musterte Kai, der die Arme vor der Brust verschränkt und die Augen geschlossen hatte, mit argwöhnischem Blick. Oder tat er vielleicht nur so? Man konnte sich bei Kai da nie so ganz sicher sein. Vielleicht bereute er auch bereits, dass er statt den Kleinbus zu akzeptieren, den Mr. Dickenson ihnen für die Reise zum Trainingscamp zur Verfügung stellte, nicht auf zwei Autos bestanden hatte. Eines für ihn und eines für Tyson. Tala jedenfalls hätte diese Art der Reise bei weitem bevorzugt. „Mir ist so laaaangweilig,“ rief Tyson, der in der vorderen Reihe zwischen Hilary und Kenny saß, laut, obwohl der Kleinbus gerade einmal sechs Plätze bot und er von jedem aus gut und deutlich zu hören war. Tala unterdrückte den Drang die Augen zu verdrehen, er hatte diesen Satz bereits acht mal von Tyson gehört, zuletzt in immer kürzer werdenden Abständen. „Hey Chef, wie weit ist es eigentlich bis zu diesem Haus?“ Kenny zuckte nur mit den Schultern. „Schätze das weiß nur Kai,“ erwiderte er und Hilary wandte sich in ihrem Sitz um einen Blick nach hinten zu werfen. „Sieht aus als würde er schlafen.“ Tala unterdrückte ein schnauben. Auf keinen Fall schlief Kai bei dieser Lautstärke, obwohl er sich alle Mühe gab es so aussehen zu lassen. Tyson beugte sich ebenfalls nach hinten, doch Hilary packte ihn am Arm und zerrte ihn zurück. „Auf keinen Fall wirst du ihn jetzt wecken, Tyson!“ „Ja, Tyson,“ stimmte ihr Ray, der ebenfalls hinten neben Kai saß, grinsend zu. „Du weißt doch, dass wir ihm die nächsten Wochen total ausgeliefert sind!“ „Na toll.“ Tyson zog eine Grimasse und ließ sich in seinen Sitz zurückfallen. „Und ich dachten, wir fahren weg um Urlaub zu machen.“ Ray lachte leise. „Mit Kai wird es wohl eher ein Bootcamp.“ „Jetzt übertreibt mal nicht,“ warf Hilary ein, klang jedoch ganz und gar nicht überzeugt. „Wie wär es mit einem Spiel, um die Zeit zu vertreiben? Ich habe Karten dabei.“ Sie kramte einen Stapel Spielarten aus den Untiefen ihrer Handtasche hervor und hielt ihn triumphierend in die Höhe. Ray, beugte sich über die Rückenlehnen der Sitze nach vorne zu seinen Teamkollegen. „Aber wir haben keinen Platz und wir können von hier hinten nicht mitspielen,“ Tala sah darin kein Problem und Kai sicherlich auch nicht, doch für seine Mitreisenden hatte sich der Vorschlag mit dieser Ungerechtigkeit erledigt. „Wie wäre es dann mit: Ich sehe was, das du nicht siehst und das ist, äh,“ begann Kenny daraufhin und sah sich suchend um. „Gelb!“ vervollständigte Tyson den Satz schnell und blickte seine Teamkameraden herausfordernd an, worauf Kenny, Hilary und Ray begannen sich im Innenraum des Busses umzuschauen. Tala verzog missmutig das Gesicht. Er war sich sicher, dass Bryan und Spencer ihn lauthals auslachen würden, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. „Die Punkte auf den Sitzpolstern,“ schlug Ray vor, doch Tyson schüttelte den Kopf. „Dein T-Shirt,“ versuchte Kenny sein Glück und deutete auf Tyson, doch dieser verneinte erneut. „Rays Augen,“ rief Hilary und ihre Wangen färbten sich ein wenig rot, als Kenny und Tyson ihr ratlose Blicke zuwarfen. „Äh nein,“ antwortete Tyson schließlich und unterdrückte ein Kichern, woraufhin ihn Hilary böse ansah. „Aber sonst gibt es nichts Gelbes hier im Bus,“ keifte das braunhaarige Mädchen zurück. „Wer sagt denn, dass es hier im Bus ist?“ Auf Tysons Bemerkung folgte allgemeines Gestöhne. „Es war das Verkehrsschild an dem wir vor 5 Minuten vorbei gefahren sind.“ Tyson prustete los, während Kenny seufzte, Ray nur den Kopf schüttelte und Hilary zu einer Schimpftirade ansetzte. Tala wiederum hatte die Grenze dessen, was er zu ertragen bereit war, erreicht und zog seinen MP3-Player aus einer Tasche hervor. Er zog sich die Kopfhörer über die Ohren, während er sich mit dem Kopf an das Fenster lehnte und die rasch vorbeiziehende Landschaft beobachtete. Der Himmel war blau und beinahe wolkenlos. Das düstere Wetter der letzten Tage hatte sich vollkommen verzogen und war einer warmen, sanften Spätsommerbrise gewichen. Bestimmt bereute Kai inzwischen auch, dass er Tala den Platz am Fenster überlassen hatte. Was machst du hier nur, Tala? dachte er resigniert und war beinahe sicher, dass sich jeder im Bus Anwesende, vom Fahrer, der ihn nicht kannte, vielleicht einmal abgesehen, dieselbe Frage stellte. Warum saß er mit dem kläglichen Rest der G-Revolution – oder nannten sie sich nun wieder Bladebreaker? – in diesem dämlichen Kleinbus, um in ein dämliches Trainingscamp in den Bergen zu fahren, an dem er nicht einmal vor hatte wirklich teilzunehmen? Gab es wirklich einen Grund? Vielleicht war ein wenig Abwechslung von seiner alltäglichen Routine und der immer gleichen Umgebung Grund genug. Vielleicht hatte Spencer ihn einmal zu oft gefragt, ob alles in Ordnung war, und vielleicht hatte ihm Bryan einen argwöhnischen Blick zu viel aus seinen wachsamen Augen zugeworfen. Wann hatten sie angefangen sich um ihn zu sorgen? So war es nicht immer gewesen. Oh, aber Tala wusste sehr gut, warum er in diesem Moment in diesem Kleinbus saß und nicht in einem Flugzeug zurück nach Moskau. Er war nur noch nicht ganz davon überzeugt, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Verdammt, wann hatte er nur begonnen an seinen eigenen Entscheidungen zu zweifeln? Tysons wehmütige Stimme riss Tala aus seinen Gedanken. „Wenn Max jetzt hier wäre, hätte er bestimmt eine Idee.“ Nur wenige Sekunden nachdem er die Worte laut ausgesprochen hatte, hellte sich Tysons Gesicht plötzlich auf. „Oh, ich hab eine Idee. Wenn ihr euch eine Superkraft aussuchen könntet, was wäre das?“ Dem folgenden Schweigen nach zu urteilen vermutete Tala, dass sämtliche Anwesenden, Kai einmal ausgenommen, nun damit beschäftigt waren alle möglichen Comics, Fernsehserien und Kinofilme nach möglichen Fähigkeiten zu durchforsten, die ihnen das Leben erleichtern und sämtliche Probleme lösen würden. Tala lehnte sich in seinem Sitz zurück und unterdrückte ein Gähnen. Er hatte niemals den Sinn darin gesehen über Möglichkeiten zu fantasieren, die niemals wahr werden konnten. Was brachten ihm Träume, wenn sie am Ende doch nur an der Realität zerschellten? Was waren Wünsche wert, die niemals in Erfüllung gehen konnten? Tala hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sie ihm nichts weiter einbrachten als die schmerzvolle Erkenntnis, dass keiner davon jemals mehr sein würde als das was er war, ein Traum. Nur ein nutzloser, wertloser Traum. „Also, wenn ich mich für eine entschieden müsste, dann wäre es übermenschliche Schnelligkeit,“ antwortet Ray schließlich als erster auf Tysons Frage. „Damit könnte ich in Sekundenschnelle überall auf der Welt sein,“ Wie passend, dachte Tala. So musste man niemals eine Entscheidung treffen, wo man letztendlich leben wollte. „Ich wäre super klug,“ überlegte Kenny, „und könnte alles um mich mit reiner Gedankenkraft kontrollieren!“ So dass niemals etwas Unvorhergesehenes geschehen konnte, komfortabel. Ein Leben ohne Angst. „Ich könnte mich unsichtbar machen und durch Wände gehen!“ Tyson grinste breit. „Dann könnte ich überall hingehen und müsste nicht trainieren.“ Tala hob eine Augenbraue. Seltsam, dabei war Tyson eigentlich nicht der Typ, der Problemen aus dem Weg ging oder vor einer Herausforderung davon lief. Das ließ nur zweierlei Schlüsse zu: Entweder Tyson log oder er hatte seine eigene Frage nicht ernst genug genommen um ehrlich darauf zu antworten. „Das ist aber mehr als eine Fähigkeit,“ warf Kenny ein und Ray fügte lachend hinzu: „Ich glaube, Kai würde dich selbst unsichtbar finden und zum Training schleifen, da hilft dir keine Superkraft der Welt.“ „Da könntest du allerdings Recht haben,“ stimmte ihm Tyson grinsend zu, dann wandte er sich plötzlich durch die Sitze hindurch nach hinten um und sah von Kai zu Tala. „Hey, was ist mit euch? Was wäre eure Superkraft?“ Tala tat so als hätte er die Frage nicht gehört und starrte weiter unbeirrt aus dem Fenster, während Kai noch immer nicht reagierte. Dann sagte er so leise, dass es außer Tala neben ihm unmöglich jemand gehört haben konnte und ohne die Lippen zu bewegen: „Andere Leute zum Schweigen bringen.“ Talas Lippen verzogen sich, verborgen hinter dem Kragen seiner Jacke, zu einem schmalen Grinsen, während er weiter die grünen Wiesen und Bäume beobachtete, die an ihnen vorbeihuschten, während sie die letzten Ausläufe der Großstadt hinter sich ließen und in Richtung der Berge fuhren. „Ich wette Tala wäre unverwundbar,“ überlegte Tyson schließlich, als ihm klar wurde, dass keiner der beiden Russen vorhatte ihm zu antworten. Nun, wäre das nicht praktisch, überlegte Tala Dann könnte er einfach aus dem fahrenden Bus springen und diesem albernen Kindergarten entkommen ohne dabei sein Leben zu riskieren. „Wie Wolverine!“ Talas Miene verfinsterte sich mit einem Mal. Wie war diese Assoziation denn zustande gekommen? „Ähm Tyson,“ räusperte sich Kenny, „du weißt aber schon, dass Wolverine der englische Begriff für Vielfraß ist und nichts mit einem Wolf zu tun hat, oder?“ Ray lachte. „Das würde besser zu dir passen als zu Tala“, bemerkte der Chinese grinsend und ging in Deckung, als Tysons Arm zwischen den Sitzlehnen hindurch schoss und spielerisch nach seinem Teamkameraden langte. „Klar weiß ich das! Ich dachte nur, dass es passt, weil beide so äh cool sind!“ „Wäre Kai dann unsterblich, weil Dranzer ein Phönix ist?“ überlegte Kenny währenddessen laut und Tala nahm neben sich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Als er sich ein wenig drehte um seinen Nebensitzer besser sehen zu können, bemerkte er, dass der Ausdruck in Kais Gesicht sich kaum merklich verhärtet hatte. Gefiel ihm die Aussicht auf Unsterblichkeit nicht oder hatte etwas anderes das Missfallen seines Tag-Team-Partners erregt? Es hatte eine Zeit gegeben, da war es ihm leichter gefallen Kais Gemütslagen einzuschätzen und seine Gedanken zu erraten, doch diese Tage waren längst vergangen. Das war Tala nicht zuletzt während Kais Zeit bei den Blitzkrieg Boys immer wieder bewusst geworden. „Wie könnt ihr alle nur so egoistisch sein?“ rief mit einem Mal Hilary dazwischen, die bisher nur ungewöhnlich still und nachdenklich zugehört hatte, woraufhin sich Tyson, Ray und Kenny überrascht zu ihr umwandten. „Wieso,“ keifte Tyson zurück. „Was wäre denn deine Superkraft, Frau Ich-Weiß-Sowieso-Alles-Besser?“ Hilary warf ihm einen bösen Blick zu, ehe sie die Arme verschränkte und zu einer Erwiderung ansetzte. „Wenn ich eine Superkraft hätte, dann eine mit der ich anderen helfen könnte,“ antwortet sie erläuternd und man könnte ihrer Stimme leicht anhören, dass sie eingeschnappt war. „Wie zum Beispiel alle Krankheiten heilen zu können oder allgemeinen Frieden zu stiften.“ „Langweilig,“ kommentierte Tyson flüsternd, woraufhin ihm Hilary eins mit dem Buch überzog, dass sie gelesen hatte. Als Tyson zu einer schnippischen Antwort ansetzte, beschloss Tala, dass er genug gehört hatte und schloss die Augen. Missmutig verzog er das Gesicht, Spencer und Bryan würden sich sowas von auf dem Boden kringeln, wenn sie jemals von dieser Reise erfuhren. Nun ja, vielleicht nicht unbedingt im wörtlichen Sinne. Vielleicht war das seine Strafe dafür, dass er seinen beiden Teamkameraden nichts von seinem Vorhaben erzählt hatte. „Also, warum ist Maxi nicht hier, um uns mit seiner Dauerfröhlichkeit zu belästigen,“ fragte er schließlich leise auf Russisch, so dass keiner der anderen ihn verstehen konnte und ohne sich zu Kai umzudrehen. „Und was ist mit eurem prähistorischen Kampfaffen-Maskottchen passiert, wurde er endlich von den Zoowärtern eingefangen?“ Es dauerte eine Weile, ehe Kai beschloss in derselben Sprache zu antworten. „Du meinst den, gegen den du zweimal verloren hast?“ Autsch. „Das zweite Mal war es ein Unentschieden,“ stellte Tala klar und bereute bereits, dass er überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Kai war ihm noch nie eine Nettigkeit schuldig geblieben. Immerhin darauf konnte man sich noch verlassen. „Warum interessiert dich das?“ „Tut es nicht.“ Tala lehnte sich in seinem Sitz zurück und konnte die Frage, die sich in Kais Gedanken bildete, praktisch hören: Warum fragst du dann? „Du hast vergessen das Ding anzuschalten,“ bemerkte Kai jedoch stattdessen flach. Tala öffnete ein Auge und bemerkte, dass Kai zu ihm hinübersah. Argwohn blitzte in den amethystfarbenen Augen, als Kais Blick unter einer hochgezogenen Augenbraue demonstrativ auf den leeren Bildschirm des Mp3-Players in Talas Hand fiel. Tala zuckte nur mit den Schultern, hängte sich die Kopfhörer um den Hals und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Ray ihm plötzlich zuvor kam. „Wisst ihr beiden eigentlich, dass es unhöflich ist, sich neben anderen in einer fremden Sprache zu unterhalten,“ mischte sich er witzelnd ein. Tala wandte sich zu ihm um, die blauen Augen mit einem Mal klirrend kalt. „Du willst also, dass wir uns in einer Sprache unterhalten, die du verstehst?“ Tala bedachte ihn mit einem langen, frostigen Blick. „Wozu? Damit du uns belauschen kannst?“ „Das habe ich nicht gemeint,“ erwiderte Ray, hob abwehrend die Hände und sah im Angesicht der plötzlichen Kälte, mit der Tala ihm geantwortet hatte, hilfesuchend zu Kai, der jedoch bereits wieder die Augen geschlossen hatte und keine Anstalten machte sich einzumischen. Tala entschied sich Ray nicht weiter zu beachten, stattdessen setzte er die Kopfhörer wieder auf, schaltete den Mp3-Player an und wandte sich erneut dem Fenster zu. Die Landschaft zog an ihm vorbei, wie ein ewiges Band an grünen Feldern und blauem Himmel. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen sich den G-Revolution anzuschließen. Sie waren viel zu neugierig als gut für sie sein konnte. Tala lehnte sich mit dem Kopf gegen die Scheibe und schloss die Augen. Als er die Augen wieder öffnete, stand er im Freien und alles um ihn herum war weiß. Tala blinzelte. Schneeflocken schwebten sanft und langsam vom grauen Himmel herab und verfingen sich in seinem roten Haar und seinen Wimpern. War das ein Traum? Tala ging in die Hocke und berührte mit seinen Fingern den knöchelhohen, frisch gefallenen Schnee, der den Boden bedeckte und sich wie ein weißer Teppich bis zum Horizont hin erstreckte wo das Weiß in helles Grau überging. Tala spürte, dass der Schnee kalt war, doch die Kälte erreichte ihn nicht.Sie ließ sein Gesicht nicht erstarren oder seine Hände zittern. Weiße Wölkchen bildeten sich vor Mund und Nase, als er langsam ein- und ausatmete. Ihm war nicht kalt, doch das überraschte ihn nicht, denn er konnte sich kaum mehr daran erinnern, wann er zum letzten Mal gefroren hatte. Vielleicht in jenen frühen Jahren in der Abtei, als das Eis noch nicht sein Element gewesen war. Tala sah sich um. Weit und breit gab es nichts außer Schnee und Himmel, beides erstreckte sich in unendliche, unwirklich Weite. Um ihn herum war es vollkommen still, als hätte das endlose Weiß alle Geräusche verschluckt. Nur das Knirschen des Schnees unter seinen Schuhen wenn er sich bewegte und sein leises Atmen waren zu hören. Die Luft war wie erstarrt. Es gab keinen Wind, noch nicht einmal eine sanfte Brise. Plötzlich vernahm Tala ein leises, kaum hörbares Knirschen im Schnee hinter sich. Er fuhr herum und nahm dabei eine halb gebückte, defensive Haltung ein. Jeder Muskel in seinem Körper war gespannt und bereit auf jede mögliche Situation in sekundenschnelle zu reagieren. Als er den weißen Wolf entdeckte, der etwa zwanzig Schritte von ihm entfernt im Schnee stand, entspannte sich Tala ein wenig und richtete sich langsam auf. Das Tier war mit seinem dichten, weißen Fell trotz seiner ungewöhnlichen Größe kaum im Schnee auszumachen, bis auf die stechend blauen Augen, so kalt und tief wie Gletschereis, die starr auf Tala fixiert waren. „Wo bin ich hier?“ Talas Stimme klang laut in der endlosen Stille, lauter als er beabsichtigt hatte. Ratlos breitete er die Arme aus. „Hast du mich hier her gebracht?“ Der Wolf reagierte nicht, folgte jedoch jeder von Talas Bewegungen mit wachsamen Blick. Erst als Tala einen Schritt in seine Richtung machen wollte, senkte das Tier den Kopf ein wenig, legte die Ohren an und fletschte die spitzen Fangzähne. Ein tiefes, kehliges Knurren erfüllte die Stille und ließ Tala in der Bewegung erstarren. Plötzlich spürte er beunruhigt, dass die Kälte sich um seinen Körper legte wie ein eisiges Tuch. Seine Hände begannen zu zittern, als sie über die Fingerspitzen seine Arme empor kroch und beißender Frost glitzernde Eiskristalle auf seiner Haut hinterließ. Die Muskeln in seinen Armen, Beinen und seinem Gesicht erstarrten langsam bis sie nahezu vollständig gelähmt waren. Er versuchte seine Lippen zum Sprechen zu bewegen, 'Hör auf!' wollte er rufen, 'Was soll das?' doch es gelang ihm nicht. Sein Gesicht war bereits taub von der klirrenden Kälte. Glitzernde, weiße Dunstwolken bildeten sich vor seiner Nase und seinem Mund. Sein Atem wurde flach und keuchend und er spürte mit jedem bebendem Zug einen tiefen, stechenden Schmerz in der Brust. Mit wachsender Panik stellte Tala fest, dass er erfrieren würde, wenn ihn die Kälte nicht bald freigab. Diese tiefe, eisige Kälte, die bis in seine Knochen vordrang und ihn fest umklammert hielt. Ein plötzlicher Schmerz breitete sich in seinem Bein aus, als hätte ihm jemand gegen das Schienbein getreten und Tala riss die Augen auf. Der Schnee war verschwunden und die Kälte aus seinen Gliedern gewichen. Er saß wieder auf seinem Platz im Kleinbus und das warme Licht der Sommersonne fiel durch das große Fenster, gegen das er seinen Kopf gelehnt hatte. Er blinzelte und starrte geradewegs in Tysons große, braune Hundeaugen. Tala hob eine Augenbraue, verbarg seine noch immer zitternden Hände in den Taschen seiner Jacke und sah dann irritiert von einem seiner Mitreisenden zum nächsten. Tyson hatte sich über die Rückenlehne hinweg zu ihnen nach hinten gebeugt, während Hilary und Kenny durch die Spalten zwischen den Sitzen spähten. Sogar Ray hatte die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf auf seine Hände gestützt um Tala mit offener Neugier zu betrachten. Nur Kai saß mit typisch verschränkten Armen und geschlossenen Augen neben ihm. Was um alles in der verdammten Welt war hier los? „Habt ihr alle gefunden wonach ihr gesucht habt?“ Der Irritation in seiner frostigen Stimme war kaum zu überhören und scheinbar hatte Tala damit den Bann gebrochen, denn Hilary und Kenny zogen schnell ihre Köpfe ein, während Ray sich mit einem schmalen Grinsen in seinem Sitz zurück lehnte. So blieb ihm nur Tyson um ihn mit klirrend kalten eisblauen Augen anzufunkeln. „Hast du irgendeine Ahnung wie friedlich du aussiehst, wenn du schläfst?“ Tyson grinste ihn breit an, ehe er sich ebenfalls zurückzog um einem möglichen Racheakt zu entgehen, während Hilary vor ihnen leise kicherte und Ray wenig erfolgreich das Lachen unterdrückte. „Der gefürchtete Captain der Blitzkrieg Boys!“ Kam es gedämpft hinter dem Sitz hervor. Tala starrte sprachlos auf die Rückseite des Sitzes, hinter dem Tyson vorsorglich aber völlig überflüssig in Deckung gegangen war. Schließlich schüttelte er leicht den Kopf und wandte seinen Blick wieder aus dem Fenster. Er musste eine ganze Weile geschlafen haben, denn die Landschaft durch die sie fuhren hatte sich verändert. Das flache Land war steilen Felswänden und dicht bewaldeten Berghängen gewichen. Das Zittern seiner Finger ebbte allmählich ab und Tala ballte die Hände zu Fäusten um es vollständig zu unterdrücke. Was für ein bescheuerter Traum. „Du hast kaum noch geatmet,“ bemerkte plötzlich eine gedämpfte, ungerührte Stimme neben ihm in seiner Muttersprache. Tala wandte sich nicht zu Kai um. Wahrscheinlich verdankte er den Tritt gegen sein Schienbein, der ihn geweckt hatte, ebenfalls seinem ehemaligen Tag-Team-Partner. „Red keinen Scheiß,“ erwiderte er leise darauf bedacht das Schaudern aus seiner Stimme zu verbannen. Es war nur ein Traum, mahnte er sich selbst. Kai schwieg daraufhin nur. Kaum eine Stunde später bog der Kleinbus von der Hauptstraße auf eine Landstraße ab und fuhr durch eine kleine Stadt in einem grünen Tal, durch das sich ein breiter, blauer Fluss schlängelte. Die Hänge der Berge waren mit satten grünen Wäldern überzogen. Sie fuhren eine lange Allee entlang, die schließlich auf eine große Lichtung führte, an deren Rand ein recht schlichtes, dreistöckiges Haus stand, dessen Fassade mit weiß gestrichenem Holz verkleidet war. Eine Treppe führte auf die hohe Veranda hinauf, wo sich der Eingang neben einem Wintergarten befand. Der Kleinbus bog in die Auffahrt ab und noch während sie sich dem Haus näherten kam eine blonde Gestalt aus dem Gebäude gerannt und lief wild mit beiden Armen winkend die Treppe hinab. „Max,“ rief Tyson überrascht und ein breites, freudvolles Grinsen bildete sich auf seinen Lippen. Noch ehe der Kleinbus vor dem Haus angehalten hatte, war Tyson bereits aufgesprungen um in jenem Moment, in dem er die Tür öffnen konnte, hinauszustürmen und seinen Freund mit einem euphorischen Jubelschrei zu begrüßen. Der Rest der Gruppe folgte ihm sogleich. „Max,“ begrüßte nun auch Ray den gemeinsamen Freund. „Wie kommst du denn hierher?“ „Hat euch Kai etwa nicht gesagt, dass ich auch hier sein würde?“ Max lachte fröhlich, als er die verdutzten Gesichter seiner Freunde bemerkte. „Ich bin direkt vom Flughafen hergefahren!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)