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Unter einem Mond

Wichtelgeschichte für Erenya
von

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Ein Blick

Es war ein endloser Weg, hinein irgendwo ins Nirgendwo – wenn man es denn überhaupt als Weg bezeichnen konnte. Sie hätten schon seit Stunden von ihm abgekommen sein können, nur um ziellos und verloren durch die Wildnis zu irren, so wenig ließ sich der überwucherte Trampelpfad von der restlichen Umgebung unterscheiden. Trotzdem hielt Shinpachi unumstößlich an seiner Abkürzung fest und zur Bewahrung des Friedens – naja, und vielleicht auch, weil er selbst nicht besser wusste, wo es langgehen sollte – folgte Harada nun dem Rücken seines Freundes einen steilen Höhenzug hinauf.
 

Zu ihren Füßen funkelten die letzten Strahlen der Abendsonne durch das noch spärliche Blätterkleid des Waldes, bevor die Dämmerung sie in graues Zwielicht verwandeln würde. Ein Fuchs, aufgeschreckt von den schweren Schritten der Männer, floh raschelnd ins Dickicht, aus den Kronen der Bäume erklang das tosende Spektakel unzähliger Vögel, doch einer anderen Menschenseele waren sie schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr begegnet. Die Luft war warm und schwer vom Blütenduft, den der Frühling mit sich brachte. Harada fühlte seine Kleidung unangenehm schwitzig am Körper kleben und zu allem Überfluss taten ihm allmählich die Beine weh. Es war ein langer und beschwerlicher Marsch gewesen und bisher, obwohl der Tag sich nun dem Ende neigte, war noch keine Bleibe für die Nacht in Sicht.
 

Umweg hin oder her, er hätte auf zwei Pferde und die befestigte Hauptstraße bestehen sollen, dachte er verdrossen, wo man wenigstens genug Platz hatte, um auch mal nebeneinander herzugehen.

„Im nächsten Tal gibt es eine Herberge“, sagte Shinpachi schon leicht außer Atem, als habe er die Gedanken seines Gefährten lesen können. „Vom Gipfel aus kannst du sie sehen.“

„Ich will es hoffen“, gab Harada keuchend zurück und sammelte seine verbliebenen Kräfte für die letzten paar Meter des Aufstiegs. Im Allgemeinen hatte er keine schlechte Kondition – ganz im Gegenteil – doch diese Wanderung zwang ihn langsam aber sicher in die Knie. Was hätte er jetzt nicht alles für ein heißes Bad gegeben, um die müden Muskeln zu entspannen!
 

Wortlos erklommen die beiden den wildbewachsenen Hügel und während Haradas Blick an Shinpachis Hinterkopf hängenblieb, fragte er sich, was in ebendiesem wohl gerade vorgehen mochte. Dieser kurze Dialog war das einzige gewesen, was das vorangegangene lange Schweigen durchbrochen hatte und Harada ahnte, dass dieser Umstand nicht der Anstrengung ihrer Reise geschuldet war. Nein, Shinpachis Laune hatte schon in den letzten Tagen weit hinter dem zurückgelassen, was Harada sonst von ihm gewohnt war. Und obwohl er immer geglaubt hatte, alle Facetten seines besten Freundes zu kennen, war er von dieser fremden, ständig grübelnden Seite überrascht. Normalerweise hätte er keinen Moment lang gezögert, Shinpachi direkt anzusprechen, worin das Problem bestand, hätte er sich nicht denken können, was ihn zu beschäftigen schien.
 

„Ich bin nicht wie Kondo-san oder Hijikata-san. Ich bin wahrscheinlich nicht dazu geeignet, ein Samurai zu sein. Einem Herren zu folgen, den ich nicht gewählt habe und für ihn mein Leben zu riskieren, ist nichts für mich.“
 

Es lag bereits zwei Wochen zurück, dass diese Aussage getroffen worden war und Harada mit Shinpachi die Shinsengumi verlassen hatte. Er bereute ihre Entscheidung mit keiner Sekunde, hatte er doch seine eigenen Überzeugungen – und Shinpachi niemals alleine gehen lassen wollen – zweifelte aber mittlerweile daran, ob sich sein Begleiter der ganzen Tragweite im Vorfeld ebenso bewusst gewesen war. Ja, zwischenzeitlich fragte er sich sogar, ob Shinpachi überhaupt einen Plan hatte und nicht bloß so tat als ob. Denn was wurde aus einem Samurai, der ebensolcher nicht mehr sein wollte? Den sozialen Stand zu wechseln war ein Ding der Unmöglichkeit, aber auch um eine neue Anstellung schien er nur wenig bemüht. Harada hoffte inständig, dass es sich bloß um eine Phase der Selbstfindung handelte, die nicht mehr allzu lange andauern konnte, denn langsam wurden ihre finanziellen Ressourcen knapp.
 

Würde Shinpachi zu den Shinsengumi zurückkehren wollen und ihm klar und deutlich sagen, dass es eine Fehlentscheidung und er mit diesem neuen Leben überhaupt nicht zufrieden war – niemals hätte Harada ihm je einen Vorwurf gemacht. Wenn er nur endlich mit der Sprache herausrücken würde! Wenn er es nur selbst endlich merken würde! Harada hatte sich eigentlich vorgenommen, das Thema sensibel anzugehen und noch zu warten bis Shinpachi von sich aus zu der Erkenntnis kam, doch wenn es so weiterging wie jetzt, würde er irgendwann ein echtes Machtwort sprechen müssen.
 

Auf der anderen Seite der Anhöhe wand sich der Pfad in schlangenförmigem Zickzack wieder den Hang hinab und mit Erleichterung erblickte Harada unter sich die matten Laternenlichter eines kleinen Dorfes. Es konnte aus kaum mehr als einem Duzend einfacher Häuser bestehen und nur die Herberge mit ihren angrenzenden Ställen stach ein wenig imposanter daraus hervor. Kirschbäume in voller Blütenpracht zierten die breite Hauptstraße, die aus südlicher Richtung gen Norden am Dorf vorbeiführte und sich irgendwo in der Ferne zwischen Wäldern und Reisterrassen verlor. Harada und Shinpachi rochen die Düfte von warmen Abendessen, je dichter sie der Zivilisation kamen und plötzlich erinnerten ihre Mägen sie wieder daran, wie lange die letzte Mahlzeit bereits her war.
 

Sie hatten die Hauptstraße fast erreicht, als Shinpachi so abrupt stehen blieb, dass Harada scharf abbremsen musste, um nicht in ihn hinein zu stolpern. „Was ist los?“, fragte er irritiert und Shinpachi gebot ihm durch das Heben seiner Hand zu schweigen.

„Hör mal!“

Gedämpfte Schreie, Hilferufe und das ihnen so vertraute Klirren von Stahl auf Stahl drangen von rechts des Weges, ganz aus der Nähe an ihre Ohren. Ohne zu zögern schob Harada sich an seinem Freund vorbei, rannte durchs Unterholz den Geräuschen entgegen – alle Sinne in höchste Alarmbereitschaft versetzt und jegliche Erschöpfung vergessen – und hörte hinter sich, wie Shinpachi es ihm gleichtat.
 

Tiefhängende Zweige und undurchdringliches Gestrüpp machten ein schnelles Vorankommen unmöglich und Harada befürchtete schon zu spät zu sein, als er die Böschung hinab schlitterte, auf die Straße trat und etwas Kleines ihm hart gegen die Brust prallte. Bevor das Geschöpf – nein, ein Mädchen! – rücklings zu Boden fiel, streckte er rasch seine Hand aus, packte sie am Ärmel und zog sie auf die Beine. Ängstliche rehbraune Augen musterten ihn in der Unsicherheit, ob er Freund oder Feind war, in ihrem Blick lag ein stummes Flehen. Schnell versuchte Harada einen Eindruck von der vorherrschenden Situation zu gewinnen, doch die Szene war sehr unübersichtlich.
 

Ein vollbepackter Ochsenkarren stand schräg auf der Straße, die Plane war heruntergerissen worden und etliche Güter lagen verstreut auf dem Boden. Männer, in dreckige Lumpen gekleidet, standen in wildem Durcheinander um den Wagen herum und schienen ihn zu plündern, während einer – offensichtlich der Besitzer, denn er trug die traditionelle Tracht eines Kaufmannes – mit über dem Kopf gefalteten Händen niederkauerte. Und dann waren da noch etliche weitere, die mit dem Gesicht nach unten lagen, in der Pfütze ihres eigenen Blutes.
 

Zorn pulsierte durch Haradas Venen wie glühende Lava und bevor sich die Diebesbande seiner und Shinpachis Gegenwart überhaupt gewahr wurde, hatte sich der Speer durch die Brust des ersten gebohrt, den er erreichen konnte. Es folgte ein kurzes Handgemenge, doch die Schwerter der Banditen waren stumpf und ihr Widerstand währte nur so lange, bis drei weitere der ihren den Tod gefunden hatten. Dann flohen sie Hals über Kopf hinein in den Wald und ließen den Großteil der Beute, aber auch eine Spur der Verwüstung zurück.
 

Harada und Shinpachi ließen ihre Waffen sinken, klopften sich den Schmutz von der Kleidung und wandten sich schließlich dem Kaufmann zu, der in seiner knienden Position verblieben war und sich nun ehrfürchtig vor ihnen verneigte. Er war von kleiner, fast mickriger und sehr dürrer Statur, hatte wenig Haupthaar, obwohl er noch nicht alt zu sein schien, und einen schwarzen Spitzbart.

„Danke, danke! Tausend Dank!“, stammelte er und rief in energischem Ton: „Kommt her ihr zwei und erweist diesen Männern gefälligst Respekt!“

Ein Junge – er konnte kaum sein zehntes Lebensjahr vollendet haben – kam mit weißem Gesicht und zitternden Beinen hinter dem Ochsenkarren hervor und warf sich neben dem Händler in den Staub. Ebenso das junge Mädchen, das zuvor versehentlich in Harada hineingelaufen war. Sie musste in Chizurus Alter sein, doch es fiel auf, dass sie im Gegensatz zu dem Jungen, der unverkennbar der Sohn des Kaufmannes war, ganz anderes aussah. Sie ist nicht von hier, stellte Harada interessiert fest, und noch dazu sehr hübsch!
 

„Bitte, steht wieder auf!“, forderte er freundlich von den dreien und zögernd erhoben sie sich und blickten sich in dem Chaos um, das die Diebe hinterlassen hatten. „Ich heiße Harada Sanosuke, das ist Nagakura Shinpachi.“

„Ikura Shinzaburo“, stellte der Kaufmann sich mit einer weiteren Verbeugung vor. „Das sind mein Sohn Kentaro und meine Dienerin Erenya. Wir sind auf dem Weg von Edo nach Nagoya und wollten hier in der Herberge die Nacht verbringen. Wenn es Euch recht ist, würde ich Euch gerne als Dank zum Abendessen einladen, Harada-san, Nagakura-san.“

„Da nehmen wir gerne an“, antwortete Shinpachi, bückte sich nach einem Leinensäckchen und legte es auf den Wagen zurück. „Aber zuerst helfen wir, deine Ware aufzusammeln.“
 

Ikura bestand darauf, dass diese Arbeit eines Kriegers unwürdig war und während er, sein Sohn und seine Bedienstete die Sachen wieder einluden, kümmerten sich Harada und Shinpachi um die Entsorgung der Leichen. Fünf von ihnen gehörten den Plünderern an, die zwei anderen waren die Ronin, die Ikura zu seinem Schutz angeheuert hatte. Sie sahen blutjung aus und konnten kaum Kampferfahrung gehabt haben, sodass sich Harada nicht sonderlich über ihre Niederlage wunderte. Nachdem auch das erledigt war, trieb Ikura seine Ochsen das letzte Stück bis zur Herberge voran und in der alles umfangenen Dunkelheit, die mittlerweile Einzug gehalten hatte, leuchteten die Laternen des Dorfes wie Sterne am Firmament.
 

Harada lauschte mit halbem Ohr den Gesprächen Shinpachis und Ikuras über die Gefährlichkeit der Straße in der heutigen Zeit und beobachtete dabei das Dienstmädchen, Erenya, das ein paar Schritt weiter vor ihm herging und dessen lange gewellte Haare ihr elegant über den Rücken fielen. Schürfwunden an Händen und Knien erzählten von dem kürzlichen Überfall und besorgt schloss Harada zu ihr auf. „Hast du dich vorhin verletzt?“, fragte er sanft und Erenya schaute erst erschrocken, dann beschämt zu Boden und eilte ohne eine Antwort zu geben bis nach vorne zu den Ochsen. Harada blieb verwirrt am Ende des Gespanns zurück, kratzte sich am Kopf und gelangte schlussendlich zu der Annahme, dass dieses Mädchen wohl einfach unglaublich schüchtern sein musste.

Ein Lächeln

Scharf riechende Kräuter und Gewürze, Flaschen aus durchsichtigem Glas, grobkörniger Tabak, seltsam geprägte Kupfermünzen, modernste Feuerwaffen – Ikura war stolz auf sein Sortiment an Ware aus Übersee mit der er, laut eigener Aussage, hierzulande einen recht guten Umsatz erzielen konnte.

„Vor allem die Frauen an den Höfen sind ganz verrückt nach solchen Dingen“, sagte er vergnügt und reichte Shinpachi eine kunstvoll verzierte Lackschatulle.

„Das kann ich mir vorstellen“, antwortete der und nahm das Kästchen fasziniert in Augenschein. „Damit kann man sicher ordentlich Eindruck schinden.“

„Denk gar nicht erst dran, Shinpachi!“, ermahnte Harada ihn. „Ganz abgesehen davon, dass du dir das nicht leisten kannst, gewinnst du keine Frau, nur indem du sie mit irgendwelchen Kostbarkeiten überhäufst.“

„Das hast du vielleicht nicht nötig“, murmelte Shinpachi fast unhörbar, stellte die Schatulle aber wieder an ihren Platz zurück und betrachtete die restlichen Gegenstände. Viele von ihnen waren den beiden bereits bekannt, andere dagegen hatten sie noch nie in ihrem Leben gesehen.
 

Harada konnte die ausgeprägte Neugier seines Freundes nur noch bedingt teilen. Jetzt, wo er in einem Yukata an den behaglich warmen Kohlenfeuern der Herberge saß und sowohl ein heißes Bad als auch ein deftiges Essen genossen hatte, brannte die Müdigkeit ihm hinter den Lidern. Träge verfolgte er, wie Shinpachi neuen Sake in ihre Schalen füllte, um ihn dann kurzerhand zusammen mit Ikura hinunterzustürzen. Seit der Kaufmann seinen Sohn Kentaro ins Bett geschickt hatte, hatten die zwei begonnen, sich zügellos zuzuprosten und waren dabei – zu Haradas Leidweisen – immer munterer geworden. Mittlerweile waren ihre Gesichter so rot wie die von Makakenäffchen und weil Harada rechtzeitig an dem Punkt aufgehört hatte, an dem die Wirkung einsetzte, fühlte er sich nun beinahe wieder nüchtern.
 

„Ich mache Euch einen Vorschlag!“, polterte Ikura plötzlich los und schielte erwartungsvoll in die Runde. „Nagoya ist noch ein paar Tagesreisen von hier entfernt und ich habe niemanden mehr für meinen Geleitschutz. Warum gesellt Ihr Euch nicht zu mir und ich will Euch angemessen dafür entlohnen?“

Sofort warf Harada einen flüchtigen Seitenblick auf Shinpachi, der diese Art von Arbeit bisher so vehement abgelehnt hatte, doch der Alkohol hatte ihn in ausgelassene Stimmung versetzt und außerdem schien er den Händler zu mögen.

„Das ist doch Ehrensache! Wir sind einverstanden, oder was meinst du, Sano?“, sagte er und Harada pflichtete ihm bei, erleichtert, dass Shinpachi offenbar wieder begann, rationale Entscheidungen zu treffen.

„Fabelhaft! Auf die Gemeinschaft!“, rief Ikura laut, hob seine Trinkschale und leerte sie in einem Zug.
 

Harada schwante, dass dieser Abend längst nicht ausgesessen war und bevor er wirklich drohte einzuschlafen, entschuldigte er sich, einen Moment frische Luft schnappen zu wollen. Ganz im Gegensatz zu dem stickigen Raum, aus dem er kam, war es draußen überraschend kühl geworden. Der Mond hatte einen wundersamen Glanz auf die Kirschbäume im Innenhof gelegt, dessen weiße Blütenblätter im Wind zu Boden rieselten wie frisch gefallener Schnee. Bewegungslos stand Harada auf der Veranda und genoss den Anblick und die Stille, als er auf einmal Erenya bemerkte, die am Brunnen inmitten der Bäume stand und einen großen Eimer voll Wasser füllte. Anschließend mühte sie sich, das unhandliche Gefäß in Richtung der Ställe zu tragen, doch es war so schwer, dass sie es immer wieder auf dem Boden abstellen musste und dabei das Wasser an den Rändern überschwappte.
 

„Lass mich das machen.“

Völlig überrumpelt von seiner jähen Anwesenheit ließ sich Erenya den Eimer aus den Händen nehmen und staunte dann mit offenem Mund, wie Harada ihn problemlos an nur einem Arm balancierte.

„Brauchst du noch einen?“, fragte er, interpretierte ihr unsicheres Schulterzucken einfach als Zustimmung und zog einen weiteren vom Grund des Brunnens hinauf. „Ich hoffe, es liegt nicht an mir, dass du nicht reden magst“, setzte er fort, in der ehrlichen Befürchtung, sie zu sehr einzuschüchtern. Doch Erenya starrte nur auf ihre Füße und führte ihn einen von Lampions beleuchteten Kiesweg voran, der bei den Ställen endete. Dort angekommen öffnete sie die sperrige Holztür und ein widerlicher Gestank nach Tieren und deren Ausscheidungen wehte ihnen um die Nase.
 

Harada goss das Wasser in den Trog von Ikuras Ochsen und drehte sich anschließend wieder zu Erenya um, die noch in der Türschwelle stand und sich so lange und so tief verbeugte, dass es fast unangenehm war.

„Du brauchst mir nicht zu danken“, wehrte Harada entschieden ab und sie richtete sich rasch auf und schenkte ihm ein allererstes Lächeln – so strahlend, selbst die Kirschbäume im Garten schienen neben ihr regelrecht zu verblassen. Harada kam nicht umhin, es unwillkürlich zu erwidern, hatte aber keine Gelegenheit mehr, etwas dazu zu sagen, denn da war sie auch schon zum Haupthaus gelaufen und in ihm verschwunden wie eine Maus in ihrem Versteck.
 

Nachdenklich kehrte er zu Ikura und Shinpachi zurück, deren fröhliches Lachen man schon von weitem hören konnte – unterlegt von dem steten Klirren ihrer Trinkschalen – und halb entnervt, halb belustigt schoss Harada durch den Kopf, wie er es anstellen sollte, Shinpachi morgen früh zum Aufstehen zu bewegen. Doch zunächst schob er den Gedanken beiseite und wandte sich stattdessen an den Kaufmann.

„Ikura-san, wäre es möglich, mir etwas über Erenya zu erzählen?“, fragte er, schenkte allen Beteiligten nach und versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen. „Ich habe sie gerade draußen getroffen, aber sie spricht nicht mit mir.“

„Ah, das ist auch kein Wunder“, entgegnete Ikura glucksend. „Sie versteht unsere Sprache nicht.“

„So? Woher kommt sie?“
 

„Zugegeben, ich weiß nicht viel über sie. Sie ist noch nicht lange bei mir, seit einem Jahr gerade mal. Und ich denke, es reicht, wenn sie die wichtigsten Anweisungen kennt, die ich ihr gebe. Schließlich müssen Frauen nicht sonderlich klug sein, sondern sollten nur gehorchen können.“

Harada äußerte sich nicht zu dieser Aussage, die sich mit der Meinung der meisten Männer deckte, für die Frauen nichts als niedere Wesen waren und lediglich zur Erfüllung ihrer Begierden existierten. Ikura schien einer derer zu sein, der nie den wahren Wert einer Frau zu schätzen gelernt hatten und weil er kein weiteres Wort über seine Dienerin verlor, bohrte Harada auch nicht weiter nach.
 

Noch lange nachdem sie ihr Gelage aufgelöst hatten und er Shinpachis dröhnendes Schnarchen neben sich ertrug, lag er im Dunkeln wach und dachte darüber nach, was Erenya wohl für eine Vergangenheit haben mochte. Welcher Umstand konnte dafür gesorgt haben, dass sie jetzt hier war, in einem Land und bei einem Mann, die ihr beide so fremd vorkommen mussten wie der Mond? Er schloss die Augen und drehte sich auf die Seite, doch obwohl er vorhin noch schrecklich müde gewesen war, fühlte er sich nun ruhelos und sah immerzu Erenyas Gesicht vor sich, als habe es sich hinter seine Stirn gebrannt. Wie gerne er noch ein bisschen mehr über sie in Erfahrung gebracht hätte! Und wie schade, dass sie ihm auf alle Fragen nie würde antworten können.

Ein Gespräch

Der nächste Tag begrüßte sie trüb und regnerisch und tat sein Übriges, um die allgemeine Laune an den Siedepunkt zu bringen. Es war schon fast Mittag und die meisten Gäste hatten die Herberge längst verlassen, als sich Harada, Shinpachi und Ikura zu einem späten, sehr schweigsamen Frühstück einfanden. Sie alle waren nur schwer aus ihren Betten gekommen und vor allem Shinpachi wirkte kreidebleich und rührte keinen Bissen an, massierte sich aber von Zeit zu Zeit die Schläfen. Harada nahm an, dass es an den beträchtlichen Mengen gebrannten Weines aus dem Ausland lag, den Ikura gestern zum Probieren serviert und der seinem Freund scheinbar endgültig den Rest gegeben hatte.
 

In einer der seltenen Trockenepisoden setzten sie das Ochsengespann wieder in Bewegung und rumpelten mit ihrem Karren die schlammgeflutete Hauptstraße entlang, doch das Wetter blieb ein unberechenbares Hindernis. Während es erst bloß leicht zu nieseln begann und sich wenig später sogar die Sonne durch eine Front aus grauen Wolken kämpfte, brach im nächsten Moment der Himmel über ihnen zusammen und durchnässte sie bis auf die Haut. Wenn ihnen – was bei dieser Witterung sowieso eher die Ausnahme war – andere Menschen entgegenkamen, fiel der beiderseitige Gruß nur knapp oder gänzlich aus und es wurde sich bemüht, schnell den nächsten Unterschlupf zu erreichen.
 

Der einzige, den das alles überhaupt nicht störte, war Kentaro. Seit der Junge Vertrauen zu den beiden fremden Männern gefasst hatte, lief er mit funkelnden Augen hinter Harada her, studierte jede seiner Bewegungen, imitierte seinen Gang und seine Sprechweise und trug einen langen Stock mit sich herum, von dem er behauptete, es sei ein Speer. Außerdem schien er erstaunlich wenig atmen zu müssen, denn er redete fast pausenlos und das stundenlang.

„Wisst Ihr, Harada-san, mein Vater nimmt mich auf seinen Handelsreisen mit, seit ich halb so alt bin wie jetzt, aber in Edo bin ich zum ersten Mal gewesen. Das Schloss ist wirklich riesig! Es ist viel beeindruckender als das in Nagoya und es gibt dort auch viel mehr Wachen. Überhaupt habe ich noch nie eine so große Stadt gesehen. Aber ich mag Nagoya trotzdem lieber, schließlich bin ich da aufgewachsen“, sprudelte es aus ihm heraus. „Eines Tages will ich auch die Hauptstadt sehen und den Palast des Kaisers. Seid Ihr schon einmal dort gewesen, Harada-san?“
 

„Ja, aber es ist schon eine Weile her“, antwortete der Angesprochene ausweichend, denn von ihrer Vergangenheit bei den Shinsengumi hatten weder er noch Shinpachi bisher etwas erwähnt.

„Wenn ich könnte, würde ich auch in den Kriegerstand eintreten“, schwärmte Kentaro weiter, „und dann in etliche Schlachten ziehen und ganz viel Ruhm ernten. Habt Ihr schon viele Schlachten geschlagen, Harada-san?“

„Genug jetzt!“, rief Ikura seinem Sohn streng zu und dieser verstummte augenblicklich. „Hab ich dir denn gar nichts beigebracht? Was denkst du dir, ihn dermaßen auszufragen?“

Kentaro ließ verlegen die Schultern hängen und so leid er Harada auch tat, war es ein Segen, seine Stimme eine Zeit lang nicht hören zu müssen. Zumindest Shinpachis Kopfweh konnte er gerade sehr gut nachempfinden.
 

Die Straße führte über offenes Gelände mit weiten Reisfeldern zu beiden Seiten und keiner Möglichkeit, sich irgendwo unterzustellen, als der Regen wieder zunahm und in heftigen Sturzbächen auf die Gruppe herniederging. Gereizt trieb Ikura seine Ochsen zur Eile an, da erzitterte plötzlich die Erde unter ihren Füßen und nahm ihnen das Gleichgewicht. Harada strauchelte und konnte sich nur aufrecht halten, indem er sich rechtzeitig am Wagen festhielt, während Shinpachi neben ihm auf allen Vieren landete. Das Beben war eines von vielen, wie sie die Insel häufig erschütterten, und weder besonders stark, noch dauerte es ungewöhnlich lang. Dennoch bemerkte Harada, als es endlich nachgelassen hatte, dass sich auch Kentaro und Erenya aus dem Matsch erhoben.
 

„Geht’s euch gut?“, fragte er und Shinpachi wischte sich die schmutzigen Hände an seiner ebenso schmutzigen Hose ab.

„Dieser Tag geht eindeutig in die Geschichte der schlechtesten Tage ein“, sagte er mürrisch, doch Haradas Aufmerksamkeit galt bereits Erenya, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht von Kentaro stützen ließ und mit dem linken Bein nicht mehr aufzutreten vermochte.

„Sie ist umgeknickt“, erklärte der Junge, als Harada sich vor ihr hinkniete, um ihren Knöchel zu betasten. Er war schon dick geworden und ein rascher Blick zum vollbeladenen Karren verriet, dass dort unmöglich noch jemand drauf sitzen konnte.

„Ich werde dich tragen“, sagte er kurzerhand und bedeutete ihr, auf seinen Rücken zu steigen. „Wir müssen hier weg, bevor wir uns alle den Tod holen.“
 

Zögernd schlang Erenya ihre Arme um seinen Hals und ließ sich von ihm hinaufheben. Harada spürte die Wärme ihres Körpers unter der triefenden Kleidung und ein Zittern, von dem er nicht wusste, ob es von Kälte, Schmerz oder Aufregung kam. Als Schlusslicht folgten sie den anderen aus der Ebene ins nächste Waldstück hinein, wo es zwar ein wenig trockener, dafür aber auch wesentlich dunkler war. Die Nacht hatte kaum merklich hinter der pechschwarzen Decke aus Wolken Einzug gehalten und zwang Ikura frühzeitig die Laternen an seinem Wagen zu entzünden. Sie fuhren noch fast eine Stunde durch Regen und Finsternis, bis zum Glück am Rande der Straße ein Dörfchen auftauchte, in dem es laut dem Händler auch eine Unterkunft geben sollte.
 

Durchnässt und abgespannt brachten Ikura und Kentaro ihre Tiere im Stall unter und weil Shinpachi im Gebäude Übernachtung und Verpflegung organisierte, hatte Harada einen Moment allein mit Erenya. Er setzte sie unter einem Vordach auf den Stufen zur Veranda ab und zeigte dann auf ihren Fuß, damit sie verstand, worauf er hinauswollte.

„Scheint nicht gebrochen zu sein“, sagte er, nachdem er den Knöchel etwas eindringlicher untersucht hatte. „Das wird bald wieder.“

Verstohlen blickten er und Erenya einander an und aus Sekunden wurden langsam Minuten, bis Harada – mehr zu sich als zu ihr – leise meinte: „Ein Jammer, dass du meine Sprache nicht sprichst, sonst könnte ich dir sagen, was für schöne, braune Augen du hast.“

„Ich danke Euch für das Kompliment.“
 

Harada erstarrte wie vom Donner gerührt und spürte, wie sein Gesicht zu brennen begann.

„Aber-“, setzte er an, suchte vergeblich nach Worten, um seiner Verwirrung Ausdruck zu verleihen und klappte den Mund am Ende resigniert wieder zu.

„Tut mir leid“, sagte Erenya sofort, als habe sie einen großen Fehler gemacht. „Bitte verratet mich nicht an Ikura-san! Er weiß nicht, dass ich japanisch spreche und er will auch nicht, dass ich es lerne. Kentaro-kun hat es mir heimlich beigebracht.“

Sie hatte einen deutlichen Akzent, doch ansonsten war ihre Aussprache klar und fließend. Harada ließ sich neben ihr auf die Stufen sinken und brachte noch immer keinen Ton heraus. Hunderte Fragen wirbelten wie ein Orkan durch seinen Kopf und am liebsten hätte er sie alle zugleich gestellt.
 

„Ich bin Euch ein paar Antworten schuldig“, ermutigte Erenya ihn, „also haltet Euch bitte nicht zurück.“

Den Schreck halbwegs überwunden fiel Harada das erste und simpelste ein, was er überhaupt hätte fragen können: „Wo kommst du denn her?“

„Von einem Kontinent namens Europa“, erwiderte sie. „Ich kam vor einem Jahr mit meinem Onkel auf einem Handelsschiff hierher, als wir vor der Küste von Piraten überfallen wurden. Sie haben die Männer der Crew getötet und nur mich verschont. Dann haben sie mich an Ikura-san verkauft, zusammen mit vielen anderen Dingen, die unser Schiff geladen hatte.“

„Er hat dich gekauft?“ Harada klang entsetzt. „Ist das erlaubt? Hat dir keiner geholfen?“

„Er hat es so gedreht, als würde er mir das Leben retten – und vielleicht hat er das ja sogar. Außerdem verteufeln viele Leute die Menschen aus dem Ausland sowieso. Sie halten uns für Barbaren und wollen uns so schnell wie möglich wieder loswerden, benutzen aber unsere Gewehre zu gerne für ihren Krieg. Das ist so widersprüchlich.“
 

Ihre Stimme hatte eine Spur von Bitterkeit angenommen und obwohl Harada die Einstellung seines Volkes kannte, hatte er keine Ahnung gehabt, dass die Feindseligkeit im Land so weit reichte, ein unschuldiges Mädchen ihrem Schicksal zu überlassen. „Und konntest du nicht fliehen?“

„Es ist schwer, wenn man niemanden versteht, niemanden kennt. Ich war allein und hatte Angst und ich wusste nicht wohin. Also bin ich bei Ikura-san geblieben und Kentaro-kun hatte gleich einen Narren an mir gefressen. Für ihn bin ich wie eine große Schwester geworden. Sein Vater hat ihm zwar verboten mit mir zu sprechen, aber er hat sich einfach darüber hinweggesetzt.“

„Da hat er wirklich ganze Arbeit geleistet“, bemerkte Harada und Erenyas Lippen zeigten den Anflug eines Lächelns.

„Das Lernen war eher spielerisch“, sagte sie, „und ich hab viel zugehört.“
 

Sie schwiegen einen Augenblick und Harada versuchte, die ganzen neuen Informationen irgendwie zu verarbeiten, doch je angestrengter er sie sortieren wollte, desto ungeordneter kamen sie ihm vor. Ganz abgesehen davon, dass immer noch Fragen offen geblieben waren.

„Warum sträubt sich Ikura-san so dagegen, dass du die Sprache lernst?“

Erenya zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich will er verhindern, dass ich zu selbstständig werde und dann doch noch fliehe. Dabei möchte ich so gern wieder nach Hause. Ich möchte meine Eltern wiedersehen.“ Tränen glitzerten in diesen wundervollen braunen Augen und Harada zerriss es beinahe das Herz.
 

„Du wirst bestimmt nach Hause kommen“, sagte er zuversichtlich, aber Erenya begegnete ihm mit unerwarteter Heftigkeit.

„Nein, Ihr versteht das nicht! Ikura-san wird mich niemals gehen lassen. Er ist ein Sammler und ganz besessen von exotischen Dingen. Und leider gehöre auch ich dazu.“

Sie zog die Beine eng an ihren Körper und vergrub das Gesicht in den Knien. Harada wusste nichts, was sie hätte trösten können. „Darf ich dir noch eine Frage stellen? Eine letzte?“, bat er und sie drehte den Kopf, sah ihn an und gab ihm so ihr stilles Einverständnis. „Warum hast du dich entschieden, jetzt doch mit mir zu sprechen?“

Erenya lächelte und es war dasselbe anmutige Lächeln, das ihr schon gestern unter den Kirschbäumen so gut gestanden hatte.

„Ich weiß nicht genau“, sagte sie. „Ich hab es wohl einfach nicht mehr ausgehalten.“

Ein Schritt

Am nächsten Morgen ging die Sonne hinter den Bergen an einem strahlend blauen Himmel auf, als wäre das vorangegangene Unwetter niemals gewesen, hätten nicht massenweise umgestürzte Bäume es bezeugt. Auf den Feldern war der Schaden zwar gering geblieben, da der jährliche Reisanbau noch nicht begonnen hatte, doch die Dörfer waren stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Überall sah Harada Menschen, die sich gegenseitig beim Wiederaufbau ihrer unterspülten Häuser halfen, während er neben Ikuras Wagen weiter der Hauptstraße folgte. Zwei Tage lang blieb die Lage so frühlingshaft und stabil, dann tauchten vor ihnen die weißen Mauern und olivfarbenen Zinnen des Schlosses Nagoya auf, auf dem hoch oben die zwei Kinshachi – goldene Fischstatuen – thronten. Darunter erstreckte sich die belebte Hafenstadt kleiner, aber ebenso geschäftig wie Edo.
 

Kentaro wurde immer hibbeliger vor Vorfreude, je näher sie seiner Heimat kamen und lief zum Schluss so weit voraus, dass sein wütender Vater ihn mit ein paar Ohrfeigen wieder einfangen musste. Haradas Eindruck von Ikura war gekippt, seitdem Erenya ihm sein wahres Wesen enthüllt hatte, ohne dass er sich dies groß anmerken ließ oder weniger höflich mit ihm umging. Trotzdem wartete er auf einen passenden Moment, mit dem Kaufmann über dessen Dienerin zu sprechen. Bisher hatte sich das leider einfach nicht ergeben wollen und auch die Situationen, in denen Harada und Erenya ungestört reden konnten, waren rar gesät gewesen, denn Ikura schien ständig präsent zu sein.
 

In Nagoya führte er sie geradewegs ins Händlerviertel, wo sich Geschäft an Geschäft reihte, und schließlich zu seinem Haus, das vorne den Laden und im hinteren Teil den Wohnraum beherbergte. Seine Gattin, eine kleine füllige Frau, bereitete ihrer Familie und den Gästen einen herzlichen Empfang und tischte ein reichhaltiges Mittagessen auf. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass Ikura es mit seinem Handel importierter Produkte zu einigem Wohlstand gebracht hatte, der nicht jedem seines Ranges vergönnt war. Diese Tatsache verlieh ihm einen ausgeprägten Hang zur Prahlerei und als alle aufgegessen hatten, zeigte er Harada und Shinpachi ein Geheimfach im Hinterzimmer, in dem er seine seltensten – und natürlich unverkäuflichen – Stücke aufbewahrte. Da kam auf einmal seine Frau herein.
 

„Hat jemand Kentaro gesehen?“, fragte sie und die Männer schüttelten die Köpfe. „Dieser schreckliche Bengel ist schon wieder verschwunden.“

„Schick Erenya! Sie soll ihn suchen“, schlug Ikura vor. „Er kann sich nicht dauernd herumtreiben und seine Aufgaben vernachlässigen.“

„Ich werde mitgehen“, kam es prompt von Harada. Nicht nur, dass er sich auf diese Weise von den langweiligen Vorträgen des Händlers über seine vermeintlichen Schätze loseisen konnte, hatte er auch noch die Möglichkeit, sich mit Erenya alleine zu unterhalten. Shinpachi warf ihm einen vielsagenden Blick zu und hob schon zum Sprechen an, als Harada warnend hinzufügte: „und mir die Stadt anschauen!“
 

Das Bild auf den Straßen Nagoyas war friedlich und unauffällig: Frauen, die mit Reisigbesen vor ihren Hütten kehrten und sich über den neusten Klatsch austauschten, Kaufleute in energischer Verhandlung mit ihren Kunden, spielende Kinder und bellende Hunde. Von den Auseinandersetzungen der alten und neuen Regierung, welche weiter nördlich Japans bereits in vollem Gange waren, merkte man hier noch nichts und die einzigen Patrouillen sah Harada lediglich am Schlossgrund streifegehen. Er überlegte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis das ganze Land heillos im Krieg versank und hoffte, dass Erenya bis dahin längst weit fort sein mochte.
 

„Machst du dir gar keine Sorgen um Kentaro?“, fragte er sie, nachdem sie schon eine Weile gegangen waren und von dem Jungen noch immer jede Spur fehlte.

„Nein, überhaupt nicht“, antwortete Erenya unbekümmert. „Er schleicht sich oft davon, um mit seinen Freunden zu raufen. Spätestens zum Abendessen taucht er wieder auf.“

Sie schlenderten an einem Stand vorbei, an dem Dango verkauft wurden und Erenya blieb neugierig stehen und begutachtete die bunten, aufgespießten Klößchen.

„Was ist das?“, fragte sie Harada, der sich zu ihr gesellt hatte.

„Dango. Sag bloß, die hast du noch nie gegessen? Sie schmecken süß, fast jede Frau mag sie.“
 

Er bestellte jeweils einen Spieß für sie beide und Erenya verbeugte sich abermals so tief, dass es lächerlich wirkte für diesen simplen Gefallen.

„Wenn du nicht zu viel Aufmerksamkeit willst, reicht es, wenn du nur den Oberkörper neigst“, riet Harada diskret und drückte ihr die Leckerei in die Hand. „So macht es eher den Eindruck, als gehöre mir dein Leben.“

„Oh.“ Erenya blickte recht verlegen drein. „Das wusste ich nicht. Bei uns zuhause bedankt man sich nicht auf diese Weise.“

„Nein? Was macht man stattdessen?“, wollte Harada wissen und sie setzten sich zum Essen auf eine nahegelegene Holzbank. Ausschweifend erzählte Erenya von den Gepflogenheiten aus ihrer Heimat, dann von den Tieren und Pflanzen, den Speisen und den Festen und auch von der Sprache, die in Haradas Ohren nicht nur ungewohnt, sondern auch furchtbar kompliziert klang.
 

Die Zeit raste wie ein Blitz an ihnen vorbei und sie hatten beinahe den Grund vergessen, weshalb sie eigentlich losgezogen waren, als eine Straße weiter ein kleiner Tumult ausbrach. Angelockt von den hysterischen Schreien bogen Harada und Erenya in den Hafen ein und entdeckten eine Menschentraube, die sich um einen der Stege tummelte. Zuerst vermutete Harada einen Streit unter Fischern, bis ein Junge mit aschfahlem Gesicht sich zu ihnen umdrehte, Erenya erkannte und hilfesuchend auf sie zustürmte.

„Kentaro ist ins Wasser gefallen!“, rief er verzweifelt und sie fasste ihn grob bei den Schultern.

„Was sagst du da? Er ist reingefallen?“, wiederholte sie mit Bestürzung. „Ihr wisst doch, dass er nicht schwimmen kann!“
 

Harada hörte keine Sekunde länger zu. Er lief zum Hafenbecken, drängte die Leute beiseite, die schaulustig um den Steg herumstanden, aber nichts unternahmen – vielleicht, weil sie den Mut nicht aufbrachten oder, was sehr viel wahrscheinlicher war, auch nicht schwimmen konnten – und spähte ins dunkle Wasser. Kentaros Umrisse trieben nur eine Handbreit unter der Oberfläche und die aufsteigenden Luftblasen zeigten an, dass er noch immer wild um sich schlug. Ohne Umschweife sprang Harada ihm hinterher, tauchte ab und schlang die Arme um Kentaros Bauch. In seiner Panik klammerte der Junge sich an ihm fest und drückte ihn unter, sodass Harada Mühe hatte, ihn Richtung Ufer zu ziehen und dabei selbst genug Luft zu bekommen. Doch als er den Steg endlich erreichte, erwarteten ihn dutzende Hände, die die beiden wieder an Land hievten.
 

Hustend und spuckend krümmten sie sich auf dem Boden und wurden von einer unbekannten Frau in wärmende Decken gehüllt. Dann lag Kentaro, der am ganzen Leib schlotterte, in Erenyas Armen.

„Was hast du dir dabei nur gedacht?“, schalt sie ihn mit dünner Stimme und vergewisserte sich gleichzeitig über seine Schulter, ob auch Harada wohlauf war. „So einen Blödsinn darfst du nie, nie wieder machen!“

„Es tut mir so leid“, wimmerte Kentaro, durch seine Schluchzer kaum zu verstehen. „Wir haben gespielt. Es war ein Unfall.“

Die gaffende Menge bildete eine Gasse, nachdem sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen waren und sich für den Heimweg erhoben und bis Ikuras Haus in Sicht kam, liefen unaufhörlich Tränen über Kentaros blasse Wangen. Natürlich hatte die Nachricht seine Eltern längst erreicht und als der Kaufmann den Ausreißer erblickte, schlug er ihm hart ins Gesicht, nur um ihn kurz darauf fest an seine Brust zu pressen und minutenlang zu halten.
 

„Harada-san, ich stehe tief in Eurer Schuld“, sagte er demütig und übergab Kentaro an seine weinende Mutter. „Ich weiß nicht, was ohne Euch gewesen wäre. Ihr habt meinen Sohn nun schon zum zweiten Mal gerettet.“

Er ließ Erenya trockene Kleidung bringen und nachdem Harada sich umgezogen hatte und in den Hauptraum zurückgekehrt war, warf sich das Händlerpaar ihm ergeben zu Füßen.

„Worte reichen nicht für das, was Ihr für uns getan habt“, brachte Ikura seine Dankbarkeit vornehm zu Ausdruck. „Nehmt Euch, was immer Ihr begehrt! Ich gebe Euch alles!“

„Ich will deinen Besitz nicht“, entgegnete Harada aufrichtig, denn tatsächlich bot dieser Haushalt nichts, was er gerne gehabt hätte. Und doch war da etwas…

„Das Einzige, worum ich dich bitte“, sagte er, „ist Erenya aus deinen Diensten zu entlassen.“
 

Für den Hauch eines Wimpernschlags schien ein Schatten Ikuras Gesicht zu verdüstern, aber es verflog ebenso schnell, wie es gekommen war und er antwortete mit schmalen Lippen: „Selbstverständlich. Wie Ihr wünscht.“

Im Hintergrund hatte Erenya die Augen vor Erstaunen weit aufgerissen, versuchte vor ihren Herren jedoch zu verbergen, dass sie wusste, was vor sich ging – vermutlich um Kentaro weiteren Ärger zu ersparen – und hielt unterwürfig den Kopf gesenkt. Harada nickte zufrieden, stand auf und ließ Ikura und seine Frau allein, damit sie sich mit der Lage arrangieren konnten. Draußen lehnte Shinpachi an der Hauswand neben dem Eingang und hatte allem Anschein nach auf ihn gewartet.

„Reife Leistung, du bist ja ein richtiger Held“, sagte er grinsend. „Hast du vielleicht Lust, mit mir was trinken zu gehen? Nur wir zwei?“

Er deutete an, ihm die Straße hinunter zu folgen und Harada war das nur mehr als recht.
 

Der fortgeschrittene Abend hatte die Lichter Nagoyas gelöscht und einen Mantel der Ruhe über die schlafende Stadt gelegt, doch im Vergnügungsviertel war es so laut und hell wie sonst am Tage. Harada und Shinpachi nahmen in einem mehrstöckigen Wirtshaus Platz und Shinpachi orderte bei einer Geiko den Sake.

„Keinen Branntwein heute?“, stellte Harada mit vorgetäuschter Entrüstung fest und beide mussten lachen.

„Ich glaube, ich bleibe besser bei den einheimischen Getränken“, sagte Shinpachi in schlechter Erinnerung an seine jüngsten Experimente. „Da weiß ich wenigstens, worauf ich mich einlasse.“

Sie ließen sich ihre Schalen füllen, tranken aus und lauschten dem Flöten- und Lautenspiel der Künstlerinnen, bis Harada plötzlich eine ernste Miene aufsetzte.
 

„Ich muss etwas mit dir bereden“, sagte er.

„Ja, ich mit dir auch“, erwiderte Shinpachi keineswegs überrascht. „Es hat ein bisschen gedauert, aber ich habe mich entschieden, zu den Shinsengumi zurückzukehren.“

„Ich bin froh, dass du das sagst.“

„Du kommst nicht mit, nehme ich an.“

„Nein, ich fürchte nicht.“

„Und was hast du vor?“

Harada betrachtete die klare Flüssigkeit, die ihm nachgeschenkt worden war und die durch die Bewegungen seiner Hand leichte Wellen warf. „Ich muss ihr helfen, wieder nach Hause zu kommen“, gestand er und Shinpachi wusste sofort, von wem er sprach. „Dafür fühle ich mich irgendwie verantwortlich.“

„Dann trennen sich unsere Wege?“

„Sieht so aus.“
 

Sie leerten die Trinkschalen erneut und Harada wurde mit einem Schlag bewusst, wie merkwürdig es werden würde, Shinpachi ab jetzt nicht mehr um sich zu haben. Immerhin war er in den letzten Jahren sein engster Vertrauter geworden und sie waren fast ständig am selben Ort gewesen. Und auch der Gedanke an die anderen – an Kondou, Hijikata, Chizuru, vor allem Heisuke – versetzte ihm auf einmal einen schmerzhaften Stich, der so viel deutlicher war, als an jenem Tag, an dem er der Shinsengumi den Rücken gekehrt hatte. Dennoch, sein Entschluss blieb unwiderruflich, damals wie heute, und zudem gab es da nun auch die Sache mit Erenya, die er sich zur Aufgabe gemacht hatte.
 

„Ich werde mir ein paar Männer suchen und mit der Gruppe nach Norden ziehen. Gerüchten zufolge soll die Shinsengumi Edo verlassen haben und auf kurz oder lang wird es wohl auf einen Kampf in Aizu hinauslaufen. Also gehe ich dorthin“, erklärte Shinpachi. „Was ist dein Ziel?“

„Ich will ein Schiff finden, das so bald wie möglich ablegt“, antwortete Harada. „Hier in Nagoya geht das nicht, weil der Hafen zurzeit für den Außenhandel nicht zugelassen ist, aber in Edo liegen einige große Schiffe vor Anker.“

„Ich verstehe.“ Seufzend nahm Shinpachi die Flasche Sake vom Tisch und goss Harada ein. Dann sagte er so leise, dass es durch den Lärm des Wirtshauses um sie herum kaum zu vernehmen war: „Du wirst mir fehlen, Sano.“

„Nun mach mal halblang!“, empörte sich Harada, verblüfft über einen solch ungewohnten Satz aus dem Mund seines besten Freundes. „Du tust ja gerade so, als würden wir uns nie wiedersehen, dabei treffen wir uns doch später in Aizu.“

„Ja, richtig“, murmelte Shinpachi in dem Versuch, ein wenig überzeugter zu klingen. „Trinken wir! Darauf, dass das alles hier noch ein gutes Ende nimmt!“

Eine Berührung

Edo hatte sich verändert. In Haradas Abwesenheit war das Shogunat gefallen und nun ließ die neue Regierung in allen Straßen ihre Truppen patrouillieren und versetzte die Bürger damit in eine ängstliche, misstrauische Grundhaltung. Zwar ging jeder weiterhin seiner gewohnten Arbeit nach, doch die meisten Gespräche fanden nur noch hinter vorgehaltener Hand oder verschlossenen Türen statt. Selbst das Schloss Edo war von der kaiserlichen Streitmacht besetzt worden. Harada hatte die Wachen gesehen, die vor dem Herrenhaus des Tosa-Clans postiert waren, kurz nachdem er und Erenya gestern in der Stadt angekommen waren. Dort hatte er, wie der Zufall es wollte, auch Shiranui wiedergetroffen – einen Oni, mit dem ihn eine schon lange währende Rivalität verband, er aber dennoch in Koufu Seite an Seite gekämpft hatte. Und dessen Information war nicht gerade leicht verdaulich gewesen:
 

„Kodos Armee trainiert so intensiv, als hätte sie vor, bald in den Krieg einzugreifen. Um die Rasetsu am Leben zu erhalten, ist eine große Menge an Blut nötig.“
 

Die Worte hallten in Haradas Kopf nach wie ein Echo und gaben seiner Wut mit jedem Mal ein klein wenig mehr Auftrieb. Nicht nur, dass es fatal war, das künstlich erschaffene Heer von Oni noch zu stärken und zu vergrößern, indem man es in die Schlachten der Menschen schickte, würde Kodo dabei auch das Leben unzähliger Zivilisten gefährden. Ganz abgesehen von dem Leid, das er seiner Tochter Chizuru mit diesem Verhalten bereitete. Harada konnte das unmöglich zulassen und plante zu handeln, sobald die rechte Zeit dafür gekommen war, doch im Moment galt seine oberste Priorität allein Erenya. Zu Pferd hatten die beiden sechs Tage von Nagoya bis Edo gebraucht und weil sie das Reiten nie gelernt hatte, hatte sie die ganze Zeit hinter Harada im Sattel gesessen und sich an ihn geschmiegt, wie ein hilfloses Kätzchen. Er wusste, dass er ihr einziger Schutz und ihre einzige Hoffnung war – und er würde ihr Vertrauen niemals missbrauchen!
 

Weil Edo kein sicherer Ort mehr war, seit die Shinsengumi ihre Stellung als Hüter für Recht und Ordnung hatten aufgeben müssen, war Harada nachmittags ohne Erenya zum Hafen gegangen, um sich einen groben Überblick über die Handelsflotten – die sogenannten Schwarzen Schiffe – zu verschaffen. Doch schnell war ihm klar geworden, was für ein schwieriges Unterfangen es werden würde, dem Mädchen eine Heimreise zu organisieren: Geschäfte mit ausländischen Seeleuten wurden von der Regierung streng überwacht, viele japanische Kaufleute hatten keinen Kontakt zu ihnen, weil sie nur inländische Produkte vertrieben, und mit den Fremden selbst konnte Harada sich natürlich nicht verständigen. Ohne Erenyas Sprachkenntnisse scheiterte jeder Versuch einer sinnvollen Kommunikation und gegen Abend gab er es schließlich auf und kehrte erfolglos ins Gasthaus zurück.
 

Das Zimmer, in dem Erenya eigentlich auf ihn hatte warten sollen, war leer und die Tür zur Veranda einen Spalt geöffnet. Als Harada nachschaute, fand er sie draußen auf einem Kissen sitzend, mit verträumtem Blick in den sternenklaren Himmel, an dem der Vollmond riesengroß und blendend hell auf sie hinab schien.

„Ich bin wieder da“, sagte er und sie zuckte so heftig zusammen, dass er schuldbewusst hinzufügte: „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Ist nicht schlimm“, entgegnete sie und er ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. „Habt Ihr schon jemanden finden können, der mich mitnehmen will?“ Ihre Stimme klang unsicher und nervös, als wolle sie die Antwort hören und gleichzeitig lieber nicht hören.

„Erenya, du musst nicht so förmlich sein“, warf Harada ein, was er schon lange hatte anbringen wollen. „Du bist keine Bedienstete mehr und schon gar nicht meine.“

Auf Erenyas Wangen zeichneten sich dunkelrote Flecken ab und sie korrigierte hastig: „In Ordnung. Hast d-du jemanden gefunden?“

„Leider nein, ich habe alles versucht, aber wahrscheinlich bleibt uns nichts anderes übrig, als dass du selbst mit den Seeleuten sprichst und ich nur mitkomme, um aufzupassen, dass dir nichts geschieht.“
 

Erenya schlug frustriert die Augen nieder und Harada streichelte ihr zärtlich übers Haar.

„Keine Sorge, wir finden schon eine Lösung“, sagte er aufmunternd. „Wir gehen morgen einfach noch mal gemeinsam zum Hafen.“

„Es ist ja nicht nur das“, gab sie leise zu. „Ich bin gerade so schrecklich durcheinander und weiß gar nicht, was ich fühlen soll. Einerseits freue ich mich auf Zuhause und auf meine Eltern und andererseits habe ich ein schlechtes Gewissen wegen Kentaro-kun. Ich hab ihn wirklich sehr lieb gewonnen und er hat so geweint bei unserem Abschied, dass ich plötzlich gar nicht mehr weggehen mochte.“

Harada berührte mit den Fingern ihr Kinn und hob sacht ihren Kopf an. „Siehst du den Mond?“, fragte er. „Bei genauerem Hinsehen kannst du die Form eines Hasen erkennen, der Reiskuchen macht. Das geht auf eine uralte Legende zurück.“

„Davon hab ich noch nie was gehört“, meinte Erenya, doch tatsächlich waren da auf einmal Ohren, ein Körper und sogar ein Bottich, die sich auf der Oberfläche des Mondes zu einem Bild einten.

„Wann immer du in deiner Heimat auf den Mond blickst und den Hasen siehst“, sagte Harada, „musst du daran denken, dass Kentaro ihn auch sehen kann. So bleibt ihr für immer miteinander verbunden, egal wo ihr seid.“
 

Für einen kurzen Augenblick wurde es ganz still um sie herum – so still, als gäbe es außer ihnen nicht einen einzigen Menschen auf der Welt – und Erenya atmete die kühle Nachtluft in tiefen Zügen ein.

„Das ist eine schöne Vorstellung“, wisperte sie. „Kannst du mir die ganze Geschichte vom Hasen erzählen, Harada?“

„Nun ja“, begann er, „sie handelt von einem Fuchs, einem Affen und dem Hasen, die vor langer Zeit befreundet in den Wäldern lebten. Eines Tages begegneten sie einem alten Wanderer, in Wirklichkeit dem Herrn des Himmels, Taishakuten, der sie-“

Doch er verlor den Faden, denn Erenyas Körper hatte sich entspannt, ihre Augen hatten sich geschlossen und ihr Kopf war an seine Schulter gesunken. Stocksteif saß Harada da, wagte nicht sich zu rühren – aus Angst, er könne sie wieder aufwecken – und ertappte sich bei dem Wunsch, dieser Moment möge auf ewig währen.
 

Vorsichtig, als könne sie unter seinen Händen zerbrechen, nahm er Erenya auf, trug sie ins Haus und legte sie auf ihrem Bett ab. Dann breitete er die Decke über ihr aus und wollte sich gerade erheben, um das Licht zu löschen, als er ihre Finger spürte, die den Saum seines Ärmels fest umschlossen hatten. Ihr Gesicht wirkte unendlich friedlich im Schlaf und Harada schaffte es nicht, sich wieder von ihrem Anblick zu lösen. Noch bis spät in die Nacht saß er bei ihr, bis ihn die Müdigkeit doch noch übermannte und er mit dem bedrückenden Gefühl einschlief, dass es bald nicht nur Kentaro betraf, dessen einzige Verbindung zu ihr nur der Mond sein würde.
 

Am darauffolgenden Tag machten die zwei sich bereits mit den ersten Sonnenstrahlen auf den Weg zur Bucht von Edo, wo der Horizont seine roten und goldenen Farben in die schimmernde See mischte. Kleine Fischerboote, gewaltige Handels- und vereinzelt sogar kanonenbewehrte Kriegsschiffe schaukelten sanft in der meerwärts wehenden Brise. Schäumende Gischt peitschte am Kai hoch und das Kreischen der Möwen verlor sich zwischen den Rufen der Männer, die schon zu so früher Stunde über die Planken liefen und Kisten verluden. Harada und Erenya hielten Ausschau nach westländischen Schiffen und sehr bald trat Erenya auf einen der Matrosen zu und sprach ihn an. Es wurde nur eine kurze Unterhaltung und nach vielem Kopfschütteln wandte sie sich wieder Harada zu und sagte: „Keine Ahnung, wo der herkommt, aber er versteht kein Wort.“
 

So ging das noch eine ganze Weile weiter und als fast die Hälfte aller anliegenden Schiffe abgearbeitet war, wirkte Erenya doch reichlich enttäuscht.

„Wenn ich bloß jemanden von der Flotte meines Onkels finden könnte“, sagte sie. „Die pflegen seit Jahren Beziehungen zu Japan, da kann es gar nicht sein, dass niemand hier ist.“

„Wo du davon sprichst, fällt mir ein, du hast nie erwähnt, warum dein Onkel dich auf seinem Schiff mitgenommen hat“, bemerkte Harada. „Für ein Mädchen ist das sehr ungewöhnlich.“

„Ja, das haben meine Eltern auch gemeint“, erwiderte Erenya düster. „Sie wollten, dass ich studiere oder heirate, dabei wollte ich mir viel lieber die Welt ansehen, schon seit ich ein kleines Kind war. Deshalb hab ich mich einfach heimlich an Bord geschlichen und als sie mich entdeckten, war es zu spät zum Umkehren.“

„Und bereust du, dass du das damals getan hast?“

Sie legte die Stirn in Falten, überlegte und sagte dann lächelnd: „Nein, jetzt nicht mehr.“
 

Schweigend passierten sie eine Ansammlung Ruderboote, aus denen ein paar Fischer den ersten Fang des Morgens in ihre Handkarren verfrachteten, um ihn zum Verkauf auf den Markt zu bringen, da führte Erenya die Konversation überraschend fort.

„Was ist mit dir, Harada? Über deine Vergangenheit weiß ich überhaupt nichts. Was hast du gemacht, bevor du uns mit Nagakura-san begegnet bist?“

Mit aufmerksamem Blick nahm Harada die Soldaten der neuen Regierung wahr, die das Treiben am Hafen überwachten und sagte zögerlich: „Darüber reden wir nachher. Hier gibt es zu viele neugierige Ohren, immerhin habe ich nicht für die Seite gearbeitet, die gegenwärtig an der Macht ist.“
 

Sie ließen die Fischerboote hinter sich und erreichten wieder ein Handelsschiff – diesmal einen Sechsmaster – so gigantisch, dass alle anderen neben ihm den Eindruck von Nussschalen erweckten und vorbeiströmende Menschen ehrfurchtsvoll zu ihm hinaufschauten. Auf dem Steg gestikulierte ein dickbäuchiger, in hübsche Seide gekleideter Mann, offenbar mit dem Ziel, die Mannschaft zu koordinieren, die gerade seine Ladung löschte. Wie angewurzelt war Erenya stehengeblieben, hatte gelauscht und hielt anschließend auf ihn zu. Harada beobachtete, wie sie den Kaufmann ansprach und ihre Miene sich erhellte, als er in der gleichen Sprache zu antworten schien. Doch dann grinste er anzüglich, packte sie am Handgelenk und zog sie nah an sein widerliches, unrasiertes Gesicht. Sofort versuchte Erenya sich loszureißen, kam aber nicht gegen seine Stärke an und drohte stattdessen ins Wasser zu fallen. Innerhalb von Sekunden war Harada an ihrer Seite und hielt dem Händler die Spitze seines Speers unters Kinn.
 

„Lass sie los, wenn du am Leben hängst!“, verlangte er in gefährlichem Ton. Der Mann konnte die Worte nicht verstanden haben, wohl aber die Geste, denn er wirkte recht erschrocken und wich mit erhobenen Händen zurück. In einer einzigen fließenden Bewegung schob Harada Erenya an sich vorbei und lenkte sie, ohne sich von dem Händler abzuwenden, runter vom Steg und an Land.

„Was hat er zu dir gesagt?“, fragte er dort, während sie ihren zitternden Knien nachgab und auf eine niedrige Mauer sank.

„Das übersetze ich besser nicht.“ Fahrig rieb sie die roten Striemen auf ihrem Unterarm und Harada fiel auf, dass ihre Augen feucht waren, obwohl sie sich bemühte, ihn nicht anzusehen und stur zu Boden starrte.
 

„Lass dich von sowas nicht entmutigen“, riet er ihr mitfühlend. „Gib jetzt nicht auf!“

„Ich gebe nicht auf!“, sagte Erenya entschlossener als erwartet. „Wie könnte ich, wo wir schon so weit gekommen sind.“

„Das ist die richtige Einstellung“, bekräftigte er sie. „Aber vielleicht sollten wir trotzdem erst eine Pause einlegen und uns danach weiter umhören. Es ist bald Mittag und ich kriege langsam Hunger. Gibt es etwas, das du gerne essen möchtest?“

„Dango“, murmelte sie dumpf und Harada lachte.

„Davon wirst du nicht satt, dir wird höchstens schlecht.“
 

Sie waren schon zum Verlassen des Hafens aufgebrochen, als eine unbekannte Stimme jäh Erenyas Namen rief. Perplex drehten die beiden sich zu dem Urheber um und entdeckten einen älteren Mann mit ergrautem Haar, aber verblüffend jungenhaften Zügen, der sie ungläubig musterte. Noch bevor Harada dazu kam, eins und eins zusammenzuzählen, hatte Erenya sich ihm überglücklich in die Arme geworfen und redete sehr schnell und sehr hastig in ihrer Sprache auf ihn ein. Er reagierte sowohl bestürzt, als auch erleichtert und nach langem Dialog führte sie ihn zu Harada herüber und verkündete freudig: „Das ist Bram, ein guter Freund meiner Familie. Ich kenne ihn schon eine Ewigkeit. Er sagt, sein Schiff habe gerade erst hier angelegt und er will auch erst in einem Monat wieder zurück, wenn alle Geschäfte erledigt sind, aber dann wird er mich mit nach Hause nehmen!“

Harada schmunzelte angesichts ihrer unbändigen Begeisterung und konnte sich gleichzeitig nicht erklären, woher mit einem Mal diese innere Betroffenheit kam, die sich wie ein Brennen in seinem Bauch über den ganzen Körper ausbreitete.

Ein Leben

Das Donnergrollen über ihren Köpfen klang wie ein ferner Kanonenschlag. Seit gestern schon kannte der Himmel nur das Grau des Tages und das Schwarz der Nacht. Sehnsüchtig blickte Harada auf, vermisste die Wärme der Sonne und verfluchte das stete Rauschen des Regens, das ihn mit seinem nervtötenden Trommeln auf den Dächern allmählich in den Wahnsinn trieb. Wenn es nicht bald nachließ, stand in Frage, ob die Schiffe den Hafen von Edo überhaupt verlassen konnten und damit auch, wann sich Erenya auf dem Heimweg befinden würde. Der Gedanke weckte in Harada eine Hoffnung, die ihm so egoistisch erschien, dass er sich fast dafür schämte. Natürlich wünschte er ihr die Abreise aus Japan – nicht bloß, weil es in diesen kriegerischen Zeiten das Beste für sie war, sondern vor allem, weil sie allein die Vorstellung an Zuhause so glücklich machte, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Doch genauso, wie es Sekunden gab, die ein ganzes Leben zu dauern schienen, war dieser eine Monat mit ihr flüchtiger gewesen als ein einziger Windstoß und jetzt war ihnen nur noch der heutige Tag geblieben, bevor Bram im nächsten Morgengrauen ablegen wollte.
 

Harada stand unter dem Vordach des Gasthauses und verfolgte, wie ein Rinnsal auf der Straße nach und nach zu einem kleinen Bach anschwoll. Die meisten Passanten rannten durch den Schauer eilig an ihm vorbei oder – wenn sie etwas mehr Zeit hatten – stellten sich ebenfalls unter und so kam er nicht umhin zu hören, wie der Mann neben ihm einem anderen berichtete: „Die Streitkräfte der neuen Regierung scheinen schließlich doch die Shougitai-Gruppen anzugreifen, die am Kan‘ei-Tempel in Ueno stationiert sind.“

Was für ein sinnloses Blutbad das geben wird, dachte Harada missmutig und wie aufs Stichwort erinnerte er sich wieder an Shiranuis Aussage, Kodo habe mit den Truppen des Kaisers ein Bündnis geschlossen, um seine Rasetsu mit Blut zu versorgen. Wenn dem wirklich so war, würden sie sich nun ebenfalls in Ueno aufhalten, da ging Harada jede Wette ein.
 

Hin- und hergerissen zwischen der Entscheidung, Kodo direkt zu stoppen und größeren Schaden zu verhindern oder Erenya morgen zum Schiff zu bringen und ihr Lebewohl zu sagen, suchte er nach einem Kompromiss und wusste doch längst, dass manche Pflichten eben einen hohen Tribut zollten. Schweren Herzens betrat er das Gasthaus und traf Erenya in ihrem Zimmer an, wo sie auf den Matten hockte, die Haare noch nass vom Baden, und dabei war, Tee zuzubereiten. „Das passt ja gut“, sagte sie lebhaft und schob Harada einen Becher hin. „Ich wollte dich gerade holen.“

Er setzte sich ihr gegenüber und nippte an dem bitteren Getränk, unschlüssig, wie er die Angelegenheit beginnen sollte, bis sie misstrauisch die Brauen hob.

„Stimmt irgendwas nicht?“
 

Sorgfältig platzierte Harada den Tee wieder zwischen ihnen und sagte dann: „Erenya, ich fürchte, wir müssen unseren Abschied vorverlegen. Es gibt da in Ueno eine sehr wichtige Sache, die ich erledigen muss und die keinen Aufschub duldet.“

Im prasselnden Regen, der ihnen laut in den Ohren dröhnte und jegliche Geräusche verschluckte, ging Erenyas zaghafte Frage beinahe unter. „Wann musst du fort?“

„Am besten jetzt gleich.“

Harada wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen, weil er glaubte, die Enttäuschung in ihrem Blick nicht ertragen zu können. „Verzeih mir“, fügte er hinzu. „Ich hätte gerne noch einen letzten Abend mit dir verbracht.“

„Nein, es soll dir nicht leidtun. Es ist in Ordnung“, sagte sie mild und als er sie doch ansah, zeigte sie ihm ein ehrliches Lächeln. „Ich war eben nur ein bisschen überrumpelt, aber du hast so unglaublich viel für mich getan und es steht mir nicht zu, noch mehr zu verlangen. Außerdem muss es dir wirklich wichtig sein, denn so ernst hab ich dich bisher nicht erlebt.“
 

Eigentlich wollte er Erenya für ihr Verständnis danken und ihr sagen, dass er ihr gerne geholfen hatte. Er wollte ihr sagen, wie schlimm die Gewissheit an ihm nagte, dass er sie niemals wiedersehen würde, was für eine fantastische Frau sie war und noch tausend andere Dinge. Doch Harada brachte keinen Ton über die Lippen, so groß war der Kloß in seinem Hals.

„Wie verabschiedet man sich in deinem Land von einander?“, fragte er schließlich, vor allem um das unangenehme und quälend lange Schweigen zu beenden.

„Man gibt sich die Hand“, antwortete Erenya mit gebrochener Stimme und streckte ihm ihre eigene entgegen. Harada ergriff sie und umschloss ihre zarte, warme Hand mit seiner großen, kräftigen. Sie hielten einander fest, Minute um Minute, als wolle keiner den anderen als erstes loslassen, während die Tränen haltlos über Erenyas Gesicht strömten.

„Ich versuche morgen früh am Hafen zu sein“, versicherte Harada ihr. „Ich beeile mich, versprochen.“
 

Das Wetter war ungnädig wie eh und je und helle Blitze zuckten wie ein Inferno durch die aufgewühlten Wolkentürme. Harada nahm es als Ironie des Schicksals, dass der Himmel genau die Unruhe spiegelte, die gerade in seinem Inneren tobte. Ob sie nun Nachsicht gezeigt hatte oder nicht, bedauerte er dennoch, Erenya so mir nichts, dir nichts zurückzulassen. Es fiel ihm schwer, mit der Erkenntnis abzuschließen, dass all ihre gemeinsamen Momente nun unwiederbringlich der Vergangenheit angehörten und er klammerte sich an die winzige Chance, sie vor Auslaufen des Schiffes noch einmal sehen zu können. Vielleicht würde es ihm dann auch möglich sein, die Notwendigkeit der Trennung ihrer beider Leben zu akzeptieren, die sich einfach auf zu unterschiedlichen Pfaden bewegten.
 

Über eine Stunde sprintete er durch Pfützen und Schlick und erreichte Ueno pünktlich zu Einbruch der Dunkelheit. Mit einem kläglichen Grummeln zog das Gewitter weiter in den Westen und erlaubte der Erde, sich endlich von den starken Regenfällen zu erholen. An einem Gewässer machte Harada Halt, um etwas zu trinken, neuen Atem zu schöpfen und auf Kodo und die Rasetsu zu lauern, die keinen anderen Weg einschlagen konnten, als den, der an ihm vorbeiführte. Leise und versteckt wartete er auf ein Zeichen, dass die Armee im Anmarsch war, bis etliche rote Augen in der Finsternis glommen – und sich noch eine andere Person urplötzlich zu ihm gesellte.
 

„Du hast diesen Ort also wirklich gefunden, Harada.“

Shiranui schien denselben Plan gehabt zu haben wie er, denn mit einem breiten Grinsen stand er auf einmal hinter ihm.

„Um eine große Menge Blut für die Rasetsu zu bekommen, hat Kodo-san sich mit den Extremisten der neuen Regierung verbündet“, meinte Harada. „Hast du das nicht gesagt, Shiranui?“

„Ist das so?“

„Nun ja, nach diesem großen Kampf werden sie sich versammeln und nach Blut suchen. Und weil ihre Erscheinung zu auffällig ist, werden sie nur bei Nacht losziehen.“

„Deine Waffe mag alt sein, aber du hast einen scharfen Verstand.“
 

Schwungvoll stellte Shiranui seine Tasche ab und zeigte Harada die Silberkugeln, mit denen er seine Pistole lud, um die Rasetsu zu töten, da ein einfacher Speer dafür angeblich nicht ausreichte. Doch Harada dachte nicht im Geringsten daran, sich deshalb aus der Schlacht herauszuhalten und trat mit ihm zusammen Kodo und dessen Heer entgegen. Mochte Shiranuis Intention – zu beweisen, dass ein echter Oni einer Imitation immer überlegen war – von Haradas auch noch so abweichen, war die Rückendeckung des einen für den anderen trotzdem eine unverzichtbare Stütze, als die Rasetsu unter tosendem Gebrüll auf sie zustürmten. Für jeden Gegner, den Harada besiegte, tauchten zwei weitere auf, sodass er manchmal kaum wusste, in welche Richtung er zuerst schlagen sollte. Nebenher hörte er die trommelfellzerfetzenden Schüsse Shiranuis, die über die Lichtung hallten und zwischen den Bäumen des Waldes verklangen.
 

Ein Rasetsu nach dem anderen fiel den Männern zum Opfer und es waren kaum noch welche übrig geblieben, da traf ein Schwert Harada längs in die Seite. Der stechende Schmerz jagte unkontrolliert durch seine Glieder und er keuchte auf, ging in die Knie und fühlte das Blut rasch durch seine Kleidung sickern. Verschwommen nahm er wahr, wie nur noch Shiranui und Kodo sich inmitten der Leichen gegenüberstanden, wie Shiranui seine Waffe abdrückte, doch keine Patrone mehr übrig hatte und Kodo bereits eine Bombe zündete. Mit letzter Kraft warf Harada seinen Speer und traf das Oberhaupt des Yukimura-Clans in die Schulter. Die Bombe fiel ihm aus der Hand und explodierte mit einer Wucht, die die Erde erzittern ließ und seinen Körper einige Meter weit in den Fluss schleuderte.
 

Harada stolperte zurück und rutschte am Stamm eines großen Baumes hinab, ohne dessen Halt er nicht glaubte, noch länger aufrecht sitzen zu können. Schwindel und Übelkeit gewannen die Oberhand über seine Sinne und er spürte die Kälte des aufgeweichten Bodens und die harten, knotigen Wurzeln im Rücken, genauso wie das warme Blut zwischen seinen Fingern. Schwerfällig blickte er zum Himmel hinauf und entdeckte den Mond, so voll und schön wie in der Nacht, in der er Erenya die Geschichte vom Hasen erzählt hatte. Und der Gedanke daran, dass er diesen Mond nie wieder mit ihr gemeinsam ansehen würde – sie nie wieder ansehen würde – schmerzte Harada viel mehr als seine eigentliche Verletzung.
 

Wie durch einen Nebelschleier bemerkte er Shiranui, der langsam auf ihn zukam, und er flüsterte schwach: „Die Schuld von Koufu… Ich habe sie zurückgezahlt.“

„Für einen einfachen Menschen schlägt in dir wirklich wahrer Stolz“, entgegnete der Oni und nahm neben Harada Platz, doch sowohl die Stimme als auch die Bewegung konnten ihn kaum mehr erreichen. Einzig die Frage nach seinem nächsten Ziel drang in Haradas Bewusstsein vor und ihm fielen die beiden einzigen Menschen ein, die ihm je etwas bedeutet hatten und die noch immer irgendwo auf ihn warteten: Erenya und Shinpachi. Doch so wie es gerade aussah, würde er keinen von beiden je wiedertreffen. Hatte Shinpachi das bei ihrem Abschied bereits geahnt? Würde Erenyas Schiff ohne Komplikationen ablegen können und sie sicher nach Hause bringen? Eine undurchdringliche Schwärze nahm Harada die Sicht und noch ehe er gegen die Ohnmacht ankämpfen konnte, hatte sie ihn mit ihren Klauen in die Tiefe gezogen.
 

Dann brannte die Welt. Sie brannte scharlachrot und glühend heiß, wie ein Meer aus züngelnden Flammen. Ihre Wellen leckten an Haradas Körper, riefen in ihm Höllenqualen hervor und verzweifelt schnappte er nach Luft, meinte im Qualm zu ersticken und schaffte es weder aus dem Feuer zu entkommen, noch durch Asche und Rauch etwas zu erkennen. Die kühle Hand auf seiner Stirn wirkte wie eine rettende Insel in der unbarmherzig lodernden See und führte ihn sanft wieder hinaus aus Hitze und Leiden. Gleißendes Sonnenlicht drang durch seine geschlossenen Lider und eine Weile blieb Harada still liegen und versuchte zu rekonstruieren, was Wirklichkeit und was Traum gewesen war. Die Schmerzen in seiner rechten Flanke brachten Erinnerungen an die Schlacht gegen die Rasetsu zurück und widersprachen sich mit seiner festen Annahme, in jener Nacht den Tod gefunden zu haben.
 

Mühsam schlug er die Augen auf und erblickte niemand geringeren als Erenya, die sich besorgt und verweint über ihn gebeugt hatte und ihm mit einem kalten Lappen den Schweiß abtupfte.

„Was tust du denn hier?“, fragte er, die Kehle so rau wie Sandpapier, doch sie legte zischend einen Finger an die Lippen.

„Nicht sprechen!“, ermahnte sie ihn. „Du darfst dich nicht überanstrengen. Das Fieber ist immer noch sehr hoch.“

Staunend betrachtete Harada den mit Matten ausgelegten Raum, in den durch eine offene Schiebetür der helle Tag und der Gesang der Vögel hinein fluteten. Unter ihm war ein weicher Futon ausgebreitet, über ihm ein paar leichte Decken. Erenya schien seine verwunderte Miene zu registrieren, denn sie sagte: „Ich hatte so ein schlechtes Gefühl und bin dir nach Ueno gefolgt. Aber ich konnte dich nicht finden, bis ein fremder Mann mit blauem Haar mir den Weg gezeigt hat. Du warst halbtot, also bin ich ins nächste Dorf gerannt und hab um Hilfe gebeten. Da haben sie dich hierher gebracht.“
 

Harada brauchte einen Moment, damit sein Gehirn die Information erfassen konnte. „Wie lange hab ich geschlafen?“, fragte er zerstreut.

„Zwei Tage“, antwortete Erenya auffallend hastig, tauchte den Lappen in einen Eimer voll Wasser und plauderte weiter: „Ein Arzt war bei dir und hat sich die Wunde angesehen. Er sagt, sie sei nicht tief, aber du hast ziemlich viel Blut verloren und-“

„Du hast dein Schiff verpasst.“

Der Eimer kippte um, verteilte seinen Inhalt flächendeckend über den Fußboden und ließ die Matten dunkelgrün anlaufen, doch Erenya richtete ihn erst, als es schon zu spät war.

„Ich habe Bram eine Nachricht für meine Eltern mitgegeben“, sagte sie leise. „Er kommt in einem Jahr wieder und holt mich ab.“
 

Harada richtete sich so schnell auf, dass auch die letzte Farbe endgültig aus seinem Gesicht wich.

„Warum hast du das gemacht?“, fragte er fassungslos. „Warum hast du das für mich gemacht?“

Er konnte förmlich dabei zusehen, wie sie bis unter den Haaransatz errötete.

„Ich möchte bei dir bleiben“, wisperte sie. „Ich bin dort zuhause, wo du bist.“

Und noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er seine Arme um sie geschlungen, ihr den Kopf in den Nacken gelegt und all die tausend ungesagten Dinge, für die es keine Sprache gab und nie geben würde, in einem leidenschaftlichen Kuss vereint.
 

„Womit hab ich dich nur verdient“, murmelte er, lehnte seine warme Stirn gegen ihre wohltuend kühle und strich ihr behutsam eine Strähne hinters Ohr. In Erenyas rehbraunen Augen lag so viel Liebe, wie er nie zu träumen gewagt hatte und zu gerne hätte er sie auf der Stelle noch einmal geküsst – wieder und wieder und rückwirkend für all die Male, die er zu blind gewesen war, um zu erkennen, dass es ihr die ganze Zeit nicht anders ergangen war als ihm. Vielleicht war der Krieg im Land längst nicht gewonnen, doch mit ihr an seiner Seite – da war Harada sich sicher – würde er jedes Hindernis überwinden können.



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Kommentare zu dieser Fanfic (7)

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Von:  Erenya
2018-04-08T21:18:33+00:00 08.04.2018 23:18
Es ist nun über drei Jahre her, dass du diese FF für mich geschrieben hast und heute habe ich so noch einmal gelesen. Und erneut bin ich in Tränen ausgebrochen.
Mein Herz hatte ganz viele Feels und ich weiß wieder warum ich Harada so liebe. Hach dieser Mann ist traumhaft. Und dann mich darin zu lesen XD noch traumhafter.
Ich danke dir erneut für diese tolle FF. Vielen, vielen, vielen Dank.
Von:  Erenya
2015-02-08T22:17:27+00:00 08.02.2015 23:17
Ich liebe das alternative Ende. ;__; ich hatte so geflennt als der Kampf mit Kumpel Shiranui gegen die Rasetsu kam. ich dachte mir so "Nein, ich habs in der Serie schon kaum überstanden, warum, Kunoichi~ Warum tust du mir das an!" und dann... Das Ende und ich dachte "Kunoichi ich hasse und liebe dich gleichzeitig, es ist so schön!" ich heule jetzt noch wenn cih es lese. Deswegen gehe ich.
Von:  Erenya
2015-02-08T22:15:12+00:00 08.02.2015 23:15
Dangos~ Das einzig wahre Lebensmittel. XD Ich glaube alleine für diese Feststellung würde Heisuke sie lieben. Gerüchten zufolge soll er auf Dangos stehen. Beide wären sofort best Buddys, wenn Chizuru nicht wäre. (Danke übrigens, dass du sie so dezent eingebaut hast. ^^)
Von:  Erenya
2015-02-08T22:13:40+00:00 08.02.2015 23:13
Ganz ehrlich, die Stelle hat mich geärgert. Ikura wirkt doch nur unbeständig. Einerseits meinte Eri er würde sie nie gehen lassen weil er exotische Dinge sammelt und dann geht das so ohne Probleme.
Richtig toll auch die Beziehung zwischen Shinpachi und Harada, die ja immer best Buddys waren. Ob es nun ums trinken ging odr ums Prügeln, oder ums Heisuke ärgern.
Von:  Erenya
2015-02-08T22:11:35+00:00 08.02.2015 23:11
Kirschbäume~ Ich liebe sie. *schwärm* Und das auch noch so eingebaut hach ja~
Und warum sollte man nicht mit Harada sprechen. Er ist toll~ Wobei ich glaube ich würde aus Verlegenheit schweigen ;__; Hab Online nur die große Fresse bin in Offline aber total schüchtern. ;___; ich könnte nie mit ihm reden. Und das nicht nur wegen den japanisch Kenntnissen die fehlen.
Von:  Erenya
2015-02-08T22:09:40+00:00 08.02.2015 23:09
Ich möchte Ikura wehtun! Böse Wehtun! Skalpieren! *rage Mode* Ich verstehe sehr wohl ihre Sprache... nicht... verdammt er hat recht... ;___;
Ikura ist so ein wenig der böse Antagonist. Und Eri nyaaaaa~~~ und Harada rawrrrr~
Von:  Erenya
2015-02-08T22:08:27+00:00 08.02.2015 23:08
Ich glaube das nennt man im Womanizer Jargon eiskalt abserviert. XDDD
Aber hey, du hast Eri wirklich gut getroffen. Als ich dieses Kapitel las dachte ich "Moment kommt dir bekannt vor... Ach ja Puppen Eri hat ihn ja auch nicht geantwortet und ist einfach gegangen" XDD So erobert man sich einen schnuffigen Samurai. *nick*


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