Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 9: Dämon ---------------- Rashitar, Frankreich (825 v. Chr.):     „Hast du gesehen, wie blass er war? Er sieht echt nicht gut aus.“ Catha saß Neyo gegenüber und beugte sich weiter vor, damit er sie besser verstehen konnte. Sie befanden sich in der Küche, hatten auf den unbequemen Holzbänken Platz genommen und versuchten hartnäckig, den Trubel und den Lärm, der rings um sie herrschte, zu ignorieren. Doch dies war, so bemerkte Neyo, ein schier unmögliches Unterfangen. Küchenjungen klapperten mit Töpfen und Geschirr, die Mägde schrien unaufhörlich Kommandos und Gyr, der Koch, grölte wie so üblich ein äußerst anzügliches Lied, das von schönen Frauen, Alkohol und den allgemeinen Freuden des Lebens handelte. Neyo musste grinsen. Es mochte alles absolut chaotisch und wirr wirken, dennoch stimmte es ihn heiter. Er vergaß Reanns arroganten Gesichtsausdruck und all die anderen Sorgen und Probleme, die ihn zurzeit beschäftigen, und verlor sich ganz im Trubel dieser Menschen. Menschen, die über die Jahre hinweg zu guten Freunden geworden waren. Neyo spießte sich ein Stück Lammfleisch auf und schob es sich in den Mund, wo es langsam auf der Zunge zerging. Gyr hatte ihm zunächst nichts von seinem vorzüglichen Mahl abgeben wollen, doch nachdem seine reizende Tochter Catha ihn mit Worten und einem geradezu hinreißenden Augenaufschlag betört hatte, war jeglicher Widerstand versiegt. Neyo musste zwar zugeben, dass er eigentlich keinen sonderlichen Appetit hatte, aber hätte er das Essen hier und jetzt tatsächlich auch noch verschmäht, hätte ihn Gyr ohne großes Zögern den Kopf abgerissen. Catha saß Neyo nun gegenüber und in ihren Augen konnte er deutlich lesen, dass sie eine Art Wiedergutmachung von ihm erwartete. Sie war achtzehn, ohne Zweifel eine wahre Augenweide und sie wusste es, ihre Reize perfekt einzusetzen. Im Gegensatz zu der zugeknöpfen Reann hatte sie stets offenherzige Kleider bevorzugt, die mehr zeigten als verhüllten. Ihr tiefschwarzes Haar trug sie offen und schüttelte es dann und wann, um die willenlose Männerwelt gefügig zu machen. Einzig die Erinnerung an ihren herrischen und temperamentvollen Vater hielt die Herrschaften davor zurück, wie wilde Tiere über sie herzufallen. Neyo konnte sehr gut verstehen, dass viele ihr Herz an Catha verloren hatten, doch er gehörte ganz sicher nicht dazu. Er hatte sie als kleines Kind kennengelernt und fühlte sich immer noch wie ein großer Bruder für sie. Die Vorstellung, ihren Annäherungsversuchen entgegenzukommen, widerte ihn geradezu an. Dennoch, obwohl sie seine Zurückhaltung eigentlich bemerken musste, ließ sie nicht locker. Anstatt sich den Männern hinzugeben, die schon bei ihrem Anblick absolut den Verstand verloren, hatte sie sich einem Mann verschrieben, der in dieser Hinsicht gar nichts von ihr wissen wollte. Aber das war schlichtweg Cathas Natur, sie liebte Herausforderungen. „Wer ist blass?“, fragte Neyo derweil verwirrt nach. Er hatte das Gefühl, irgendetwas Entscheidendes verpasst zu haben. „Na, Jyliere!“, erklärte Catha. „Ich glaube, er wird krank. Oder alt.“ Neyo runzelte die Stirn. Er hatte Jyliere die letzten Tage eigentlich gar nicht wirklich zu Gesicht bekommen, ständig war er unterwegs gewesen. Einer Andeutung Reanns zufolge hatten er und Te-Kem offenbar gerade viel zu besprechen. Was genau vonstattenging, schien keiner zu wissen, es war jedoch allgemein bekannt, dass der Obere seinen jahrelangen Freund nicht nur bei politischen Fragen zurate zog, sondern seinen Rat in so gut wie allen Lebenslagen suchte. Es war demnach möglich, dass sie kurz vor einem Krieg standen oder dass Te-Kem einfach keinen passenden Mantel zu seiner neuen Hose fand. „Bei allen Göttern, stell dir vor, er würde ernsthaft krank.“ Catha wirkte ehrlich besorgt. „Was wird dann aus uns?“ „Sehr feinfühlig“, meinte Neyo kopfschüttelnd. „Nein, ehrlich!“, entgegnete sie vehement. „Ich meine, Jyliere ist doch mindestens ... Hunderte von Jahren alt. Wie alt können Magier nochmal genau werden?“ „Wenn sie mächtig genug sind, können sie viele Jahrhunderte auf der Erde wandeln, mein Schatz“, sagte eine tiefe Stimme direkt hinter Neyo. „Es ist zwar extrem ungerecht, aber wir müssen damit leben.“ Neyo brauchte sich nicht umzudrehen, um seinen alten Freund Calvio wiederzuerkennen. Der bärtige Mann von etwa vierzig Jahren ließ sich ächzend neben Neyo nieder und vergriff sich ungefragt an dessen Essen. Während Catha unwillkürlich das Gesicht verzog, konnte Neyo nur schmunzeln. Es war mehr als typisch für Calvio, irgendwo aufzukreuzen und sich einzumischen, wo es ihm gerade passte. Während die meisten Calvio für etwas suspekt hielten und eine Art Bandit und potenziellen Meuchelmörder in ihm sahen, hatte Neyo in ihm einen Seelenverwandten gefunden. Auch er hatte lange Zeit auf der Straße gelebt, ehe er bei Jyliere ein Dach über den Kopf gefunden hatte. Niemand, abgesehen von den Betroffenen, kannte die genaueren Umstände, wie es dazu gekommen war. Calvio ließ sich zwar nicht zweimal bitten, wenn man ihn aufforderte, etwas Licht ins Dunkel zu bringen, doch seine Geschichten änderten sich jedes Mal auf Neue. Neyo kannte inzwischen mindestens zwanzig verschiedene Varianten – manche ernst und traurig, andere wiederum lustig oder gar völlig wahnsinnig – und er war absolut überzeugt, dass keine davon der Wahrheit entsprach oder ihr wenigstens ansatzweise nahe kam. Keine Menschenseele hatte die leiseste Ahnung, was Jyliere dazu bewogen haben könnte, Calvio bei sich aufzunehmen. Seine menschlichen Qualitäten waren es zumindest sicher nicht gewesen. Calvio war ungehobelt, fluchte ständig, dass sich die Balken bogen, und ließ sich von niemanden etwas vorschreiben. Er beschrieb sich gerne selbst als respektlosen Vandalen, als Pirat und Freigeist, den man nicht in Ketten zu legen vermochte. Und Neyo fühlte sich in diesem Haushalt niemanden näher verbunden als ihm. „Ich schätze mal, man hat dir schon unzählige Male gesagt, dass du dir endlich mal ein paar Manieren zulegen sollst, aber ich finde, das kann man nicht oft genug erwähnen.“ Catha schenkte Calvio ein kaltes Lächeln. „Wir sind gerade mitten in einer Unterhaltung, falls du es bemerkt hast, und anständige Männer mischen sich nicht einfach ein.“ Neyo hob eine Augenbraue. Glaubte Catha tatsächlich, dass Calvio nur über einen kleinen Funken Anstand verfügte? „Du bist solch ein Goldstück“, meinte Calvio belustigt. „So naiv und leichtgläubig. Du wirst bestimmt als erstes auf dem Sklavenmarkt verkauft, wenn Jyliere stirbt.“ Catha schnappte empört nach Luft. „Sag sowas nicht!“, zischte sie. „Außerdem hatte ich nicht vor, auf einem Sklavenmarkt zu landen. Wir sind keine Barbaren.“ Calvio trank ungeniert aus Neyos Becher, der, wie der Mann gleich darauf enttäuscht feststellte, bloß mit Wasser gefüllt war. „Du sagst das, als wäre das etwas Negatives“, erwiderte er. „Ich habe schon ein paar von ihnen getroffen und sie waren eigentlich recht umgänglich und zivilisiert. Na ja, sie haben eine seltsame Sprache gesprochen, haben rumgebrüllt und wollten mich mit ihren Äxten erschlagen, aber abgesehen davon waren sie echt nett.“ Catha musterte ihn, als wüsste sie nicht, ob sie diese Geschichte glauben sollte oder nicht. Auch Neyo war in dieser Hinsicht unsicher. Solange niemand seine Besitztümer oder seine Frauen stahl, bezeichnet er fast jeden Menschen als ‚nett‘. „Und Jyliere wird uns sowieso alle überleben“, fuhr er fort. „Er ist einer der mächtigsten Magier dieses gottverdammten Stücks Erde. Wenn jemand sein Leben unendlich verlängern kann, dann ist er es.“ Er zuckte mit den Schultern. „Na und, dann sieht er eben was blass aus. Wir alle haben mal einen schlechten Tag.“ Es klang beinahe so, als wollte er nicht nur Catha, sondern auch sich selbst davon überzeugen. Als würde er sich insgeheim doch etwas Sorgen machen oder sich zumindest genug für das Thema interessieren, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. „Was würdest du denn tun, wenn du von jetzt auf gleich das Haus verlassen müsstest?“, hakte Neyo nach. Gedankenverloren stocherte er in seinem Essen herum und musterte seinen Freund interessiert. Calvio grinste breit, ehe er seinen Dolch, den er ständig bei sich trug, hervorholte und damit ungeniert den Dreck unter seinen Fingernägeln abkratzte. „Ich würde vielleicht aufs Meer. Oder Richtung Süden. Dort soll es Länder geben, die nur aus Sand und Sonne bestehen und wo es Hunderte von Bauwerken wie Te-Kems hübsches Häuschen gibt.“ Er sprach in einer Art und Weise davon, als hätte er dies tatsächlich schon einmal zu Gesicht bekommen. Und Neyo musste zugeben, dass es ihn nicht einmal überrascht hätte, wenn es wirklich so gewesen wäre. „Würdest du mich mitnehmen?“, fragte Neyo daraufhin mit einem schiefen Lächeln. Calvio klopfte ihm auf die Schulter. „Mein Freund, ich würde es gar nicht anders haben wollen. Es wäre sterbenslangweilig ohne dich.“ Er lachte auf. „Vielleicht wird das alles sogar schneller geschehen, als dir lieb ist. Ich fürchte, in Rashitar wird’s schon sehr bald ungemütlich.“ Neyo runzelte verwirrt die Stirn und warf Catha einen fragenden Blick zu, die jedoch nur ahnungslos mit den Schultern zucken konnte. „Was meinst du damit?“ Calvio schmunzelte bloß geheimnisvoll und meinte: „Ich werdet es schon bald sehen.“ *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  * London, England (2012): Die Straßen waren wie ausgestorben. Obwohl es gerade erst nach zehn Uhr abends war, fand sich unterwegs so gut wie keine Menschenseele. Sharif verwunderte dies nur wenig. Menschen mochten vielleicht über sehr stümperhafte Sinne verfügen, aber selbst sie nahmen unterschwellig wahr, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Anwesenheit solch mächtiger Vampire und eines Mannes, der munter in ihrer Stadt Feuer legte, verleitete sie unbewusst dazu, abends lieber zu Hause zu bleiben und sich bei Nacht nicht mehr auf den Straßen herum zu treiben. „Und ihr habt nicht die geringste Ahnung, warum dieser Seth auf der Jagd nach Vampiren ist?“ Sharif musterte die beiden Untoten, die ihm direkt gegenüber standen, an ein Geländer gelehnt, das sie davor bewahrte, in die kalte Themse zu stürzen, und bei seiner Frage unisono ihre Köpfe schüttelten. „Er hat schon so viele vertrieben“, erklärte Natalia. „Nicht nur Vampire, auch Wölfe, Formwandler, Hexen. Niemand kann mehr die Atmosphäre in dieser Stadt ertragen.“ Sharif musste zugeben, dass er London schon seit dem Augenblick, als er es vor gut zweitausend Jahren zum ersten Mal besucht hatte, nicht einmal ansatzweise hatte leiden können, aber er behielt seine Gedanken für sich. Londoner hatten die Angewohnheit, es unglaublich persönlich zu nehmen, sobald man etwas Negatives über ihre Heimat äußerte. Natalia und Samuel lebten zumindest, laut eigener Aussage, schon seit über zweihundert Jahren in dieser Stadt. Beide in einem Elendsviertel aufgewachsen, war eine schwere Krankheit der anderen gefolgt und sie waren jämmerlich dahingesiecht, ehe ein Vampir schließlich Mitleid mit ihnen bekommen und sie verwandelt hatte. Der besagte Schöpfer war schon längst Geschichte, ermordet von Jägern, doch das hatte die zwei nicht aus der Stadt treiben können. Aus verschiedenen Quellen war Sharif mitgeteilt worden, dass dieses Pärchen mehr darüber Bescheid wusste, was in London vor sich ging, als die besten Klatschreporter der Welt. Wenn der Premierminister mit einer Prostituierten schlief oder ein Tourist über ein Grasbüschel stolperte, konnte man sicher sein, dass Natalia und Samuel bereits davon gehört hatten. Und so hatte sich Sharif kurzerhand an diesem späten Oktoberabend dazu entschlossen, die beiden aufzusuchen. Alec war wie immer verschwunden gewesen, Oscar hatte nur übellaunig vor sich hingebrummt und wahrscheinlich zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges wieder eine Zeitung in die Hand genommen, um zu erfahren, was in der Welt gerade los war, und der Rest ihrer Gruppe war irgendwo verstreut. Die Zwillinge und Yasmine hatten zumindest noch einen Zwischenstopp in Deutschland erledigt, aus welchen Gründen auch immer, und würden erst in ein paar Tagen in London eintreffen und Necroma befand sich wahrscheinlich gerade in irgendeiner anderen Sphäre oder gar einem Paralleluniversum. Verwundert hätte es Sharif zumindest nicht. Auf jeden Fall hatte er sich nicht dazu verdonnern lassen wollen, in der Wohnung herumzusitzen und Mutmaßungen darüber anzustellen, was überhaupt vor sich ging. „Ihr habt also keinerlei Informationen, die mir irgendwie nützlich sein könnten?“, hakte Sharif nach. „Das haben wir nicht gesagt“, erwiderte Samuel sofort. Er war klein, hager und hatte mehrere tiefen Narben im Gesicht, die wohl von einer lang zurückliegenden Pocken-Infektion oder etwas ähnlichem stammten. „Es gibt Gerüchte, dass er euch sucht.“ Sharif blinzelte einige Male, nicht sicher, ob er das gerade richtig verstanden hatte. „Wie, uns?“ „Die Sieben“, erklärte Samuel mit Nachdruck. „Es würde mich nicht überraschen, wenn er das ganze Theater hier nur veranstaltet, um euch nach London zu locken. Was ja auch sehr gut geklappt hat, wie man merkt.“ Samuel lachte auf, verstummte aber sofort wieder, als er Sharifs kalte Miene bemerkte. „Er sucht uns?“, zischelte er. „Warum hat das bisher keiner erwähnt?“ Samuel schluckte. „Na ja, er hängt es jetzt nicht großartig an die Glocke. Aber er hat wohl hier und da verlauten lassen, dass er sich auf eure Ankunft ... freut.“ Er hob seine Schultern. „Warum auch immer.“ Sharif runzelte die Stirn. Das waren in der Tat Informationen, mit denen er eigentlich nicht gerechnet hatte. Das klang fast, als wären sie direkt in eine Falle gelaufen. Aber mit Asrim, der die Ströme der Welt erkannte, und Necroma, der wahrscheinlich fähigsten Seherin der Welt, war so etwas eigentlich vollkommen unmöglich. Nun ja, zumindest fast. Sharif traute Necroma absolut zu, dass sie einfach ihren Mund gehalten hatte, weil sie das Ganze auf skurrile Art unterhaltsam fand. Unter Umständen hatte sie es sogar erwähnt, aber niemand hatte ihre kryptischen Ausführungen verstanden. Asrim hingegen ... Sharif konnte sich nicht erinnern, wann dieser Mann je in eine Falle gelaufen war. Zumindest unwissentlich. Dem Ägypter lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er daran dachte, wie seltsam sich sein Schöpfer seit einiger Zeit verhielt. Er war wortkarg, sprach in Rätseln und gab sich mysteriös. Und auch wenn dies eigentlich Asrims Art war, war es dieses Mal irgendwie anders. Sharif nagte unruhig auf seiner Unterlippe herum. Er fand das Ganze über die Maßen beunruhigend. Anfangs war er bloß genervt gewesen, dass Asrim sie ins nasse England gezerrt hatte, nun aber wünschte er sich mehr denn je, wieder kehrtzumachen und alles hinter sich zu lassen. Er war gewiss kein Feigling, aber die unterschwellige Angst, die die gesamte Stadt erfasst zu haben schien, machte ihn langsam wahnsinnig, sodass er sich unweigerlich fragte, wie es Vampire wie Natalia und Samuel überhaupt noch an Ort und Stelle aushalten konnten. „Sonst habt ihr keine relevanten Informationen für mich?“, hakte Sharif nach. „Wann ist er das erste Mal aufgetaucht, zum Beispiel?“ Natalia wechselte einen kurzen Blick mit ihrem Gefährten. „Sicher sind wir uns nicht. Wir haben ihn ja noch nicht einmal persönlich zu Gesicht bekommen. Aber die ersten Feuer haben vor gut einem Monat angefangen und seitdem sind immer mehr übernatürliche Wesen aus der Stadt und der näheren Umgebung geflohen.“ Sie verzog ihr Gesicht. „Himmel, selbst mehrere Wolfsrudel haben sich aus dem Staub gemacht und es ist ja allgemein bekannt, wie angriffslustig sie werden können, wenn es um ihr Revier geht.“ Dem vermochte Sharif nicht zu widersprechen. Es brauchte schon einiges, um angesessene Rudel, die dies wahrscheinlich schon seit Generationen als ihre Heimat betrachteten, zu vertreiben wie aufgeschreckte Fluchttiere. „Einige haben in Betracht gezogen, dass es sich um einen Dämon handeln könnte“, meinte Natalia. Samuel schnaubte. „Es gibt einige, die es behaupten. Und es würde wahrscheinlich Sinn machen, wenn man bedenkt, dass ein Großteil von uns noch niemals zuvor einen Dämon getroffen hat und demnach seine Macht für uns etwas absolut neues und furchterregendes sein würde.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir können es nicht beantworten. Ich hatte eigentlich gehofft, niemals einem begegnen zu müssen.“ Sharif konnte es ihm nicht verübeln. Auch er war bisher nur zwei Dämonen begegnet - zur Zeit des Spartacus-Aufstandes in Capua und 1457 in einem kleinen Dorf in Ungarn, dessen Name ihm schon wieder entfallen war - und auf beide Begegnungen hätte er sehr gut verzichten können. Dämonen besaßen eine Macht und eine Ausstrahlung, die einfach nicht von dieser Welt war und selbst einen Vampir wie ihn zu erschüttern in der Lage war. Aber dennoch war Sharif nicht überzeugt, dass es sich um dämonische Aktivitäten handelte. Normalerweise kam mit der Gegenwart solch eines Wesens ein gewisser Geruch einher, den man selbst in den Nachbarstädten noch wahrgenommen hätte. Sharif hatte es nie richtig fassen können, aber er war überzeugt gewesen, dass die Hölle in ähnlicher Weise stinken musste. Schwefel, Rauch und noch allerlei anderes, über das er gar nicht so recht nachdenken wollte. Auch London hatte einen gewissen Eigengeruch, aber es war weit von dem entfernt, was Sharif damals bei den Zusammentreffen mit den Dämonen wahrgenommen hatte. Es passte einfach nicht zu den Erfahrungen, die er und auch die anderen Mitglieder seiner Familie in der Vergangenheit gemacht hatten. „Das letzte Mal gab es vor über einem Jahrhundert eine Dämonensichtung hier in London“, erklärte Sharif. „Seitdem zeigen sich keinerlei Aktivitäten in dieser Richtung, auch wenn während der Zeit des Zweiten Weltkriegs einige verzweifelte Narren dumm genug waren, es in ernsthafte Erwägung zu ziehen.“ Schnell hatte man ihnen daraufhin Einhalt geboten. Viele übernatürliche Kreaturen kamen nur bedingt oder überhaupt nicht miteinander zurecht, doch sobald es um solch einen massiven Eingriff in ihre Lebensqualität ging, waren alle Zwists und Meinungsverschiedenheiten vergessen und man rottete sich zusammen, um eine angehende Katastrophe zu verhindern. Es gab zahllose Berichte von Menschen, die leichtsinnig genug gewesen waren, solch eine Dämonenbeschwörung zu versuchen - meist aus Neugierde oder einfach aus eigenen egoistischen Bedürfnissen -, und es gab ebenso viele Berichte, die deutlich machten, wie die magische Welt dies zu verhindern wusste. Und dies endete selten mit einem mahnend erhobenen Zeigefinger und einer Verwarnung. Durchaus verständlich, wenn man bedachte, welche Geschichten über die Dämonen im Umlauf waren. Es war unglaublich wenig über sie bekannt, selbst Wesen wie Asrim oder Necroma hatten keinerlei Zugang und wussten auch nicht mehr als der ganze Rest. Man hatte keine Ahnung, woher sie stammten, was ihre Intentionen waren, ob sie überhaupt so etwas wie Struktur und Ordnung kannten. Wo sie auftauchten, herrschte meist bloß ein großes Chaos und Zerstörung. So waren etwa fünf Prozent der Toten während der großen Pestwelle im 14. Jahrhundert auf einen Dämon zurückzuführen, der wie ein Berserker in Frankreich gewütet hatte und dann plötzlich spurlos verschwunden war. Man vermochte Dämonen einfach nicht zu fassen. Die große Mehrheit der übernatürlichen Welt war sich bloß einig, es auch gar nicht darauf anzulegen, Näheres über sie zu lernen, sondern sie stattdessen so gut wie möglich fernzuhalten. Glücklicherweise schienen auch die Mehrzahl der Dämonen keinen Wert darauf zu legen, ihre Welt zu verlassen, um die menschliche Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. „Du glaubst nicht, dass es ein Dämon ist, nicht wahr?“, hakte Natalia nach. Offenbar hatte sie Sharifs nachdenkliche Miene richtig gedeutet. „Das ist durchaus eine Erleichterung, auch wenn es wieder die Frage offenlässt, was dieser Seth nun eigentlich ist!“ Sharif wollte gerade zu seiner Antwort ansetzen, als er plötzlich, wie aus dem Nichts, spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Zunächst war es nur ein seltsames Ziehen in der Magengegend, ein Unwohlsein, das man sich nicht recht erklären konnte. Im nächsten Moment merkte Sharif bereits, dass es ungewöhnlich warm war für eine Londoner Oktobernacht und fragte sich unweigerlich, ob dies bereits die ganze Zeit schon so gewesen war und er dem einfach keine Beachtung geschenkt hatte. Und dann sah er, wie Natalia und Samuel beide simultan ihre Augen aufrissen, ihren Blick auf etwas geheftet, das sich hinter Sharif befand. Der Vampir brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, welcher Neuankömmling die beiden von einem Moment auf den anderen sosehr aus der Fassung bringen konnte. Er sah die Angst in ihren Augen, ihre blanke Panik, als sie sich einem Wesen gegenübersahen, das niemand bisher einzuordnen vermocht hatte. Und bevor auch nur irgendeiner von ihnen überhaupt die Gelegenheit erhielt, auf die Situation zu reagieren, hörten sie bereits das bedrohliche Knistern des Feuers. Hosted by Animexx e.V. 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