Vergeltung von Nochnoi (Version II) ================================================================================ Kapitel 5: Ein freier Tag ------------------------- London, England (2012):     Eve kuschelte sich erleichtert seufzend in die bequemen Kissen ihrer Couch. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie sich auf ihren freien Abend überaus gefreut. Seit Seth vor fünf Tagen zum ersten Mal aufgetaucht war, hatten die Jäger keine ruhige Minute mehr gehabt. Man hatte flüchtenden Vampiren aufgelauert, um aus ihnen herauszuquetschen, wovor genau sie eigentlich flohen und was zur Hölle überhaupt los war in London. Doch die Informationen waren äußerst spärlich gewesen, die Untoten selbst schienen nicht mal genau zu wissen, was ihnen so viel Angst machte, dass sie panisch die Stadt verlassen mussten. Ebenso die Spitzel aus dem Untergrund hatten keine brauchbaren Hinweise liefern können, außer der Tatsache, dass auch andere übernatürliche Kreaturen London den Rücken kehrten beziehungsweise schon landesweit davor warnten, sich in die Nähe der Hauptstadt zu begeben. Viele Magier, die eng mit den Jägern zusammenarbeiteten, hatten verlautbaren lassen, dass sie schon mehrmals aus verschiedenen Ecken darauf angesprochen worden waren. Es konnte zwar niemand genau sagen, wieso, aber offenbar waren alle alarmiert genug, um die Drohung ernst zu nehmen. Die Jäger standen zumindest trotz intensiver Nachforschungen vor einem Rätsel. Das Auftauchen Seths hatte zwar zunächst eine neue Spur hervorgebracht, aber sie war schnell derart kalt geworden, dass es wenig erfolgsversprechend schien. Es war unklar, ob die Vampire vor ihm flohen oder vielleicht vor etwas Größerem. Man konnte sich nur einig sein, dass es nichts Gutes bedeutete. Diese Spurensuche der letzten Tage hatte Eve auf jeden Fall mehr ausgelaugt, als sie es für möglich gehalten hätte. In ihrem Kopf schwirrten irgendwelche Daten und Zahlen herum, die sie aus über hundert Büchern aufgesaugt hatte. Inzwischen wusste sie unglaublich viel über die Geschichte Englands von der Antike bis zur Neuzeit, aber Seth und den mysteriösen Umständen in London hatte sie das kein Stück näher gebracht. Sie traten nur noch auf der Stelle. Eve griff nach der Tüte Chips und schaltete den Fernseher ein. Sie wollte sich einfach nur entspannen und fürs erste alle Vampire und merkwürdige Männer mit wirren Haaren vergessen. Heute war ihr freier Tag und den würde sie sich sicher nicht vermiesen lassen. Das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür ließ sie kurz aufblicken. Eine blonde, hochgewachsene Schönheit kam hereingetreten und balancierte auf ihren Armen zwei riesige Einkaufstüten, die anscheinend kurz davor standen, mit dem Boden Kontakt aufzunehmen. Eve seufzte schwer und hievte sich mühevoll von der gemütlichen Couch hoch, um ihrer Mitbewohnerin zur Hilfe zu eilen. „Du bist hier?“, fragte Tiffany überrascht, als Eve ihr die Tüten entriss und sie in die Küche trug. „Ich dachte, du müsstest arbeiten?“ „Heute nicht.“ Eve genehmigte sich ein Lächeln. „Liam hat mir freigegeben.“ Tiffany fuhr sich durch das lange Haar und schnaubte empört. „Da hätte er wirklich früher drauf kommen können. Du schuftest dich schon seit Tagen zu Tode. Am Ende hast du noch einen Bandscheibenvorfall, bevor du dreißig bist.“ Eve lächelte amüsiert. Manchmal konnte Tiffany ein wenig melodramatisch werden, aber in der Tiefe ihres Herzens meinte sie es immer nur gut. Die beiden Frauen hatten sich vor gut drei Jahren bei den Dämonenjägern kennengelernt. Tiffany war in der Informationsabteilung der Organisation tätig und war dazu in der Lage, Dinge aus ihrem Computer herauszuholen, die Eve nie für möglich gehalten hätte. Sie hatte schon immer einen Faible für Elektronik und das ganze Drumherum gehabt, sodass sie ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht hatte. Sie war durch und durch ein Computerfreak, auch wenn sie eher nach einem Supermodel aussah. Zusammengezogen waren sie kurz nach ihrem Kennenlernen. Tiffany war damals nach ihrem Informatikstudium aus Frankreich zurückgekehrt und hatte dringend nach einer Unterkunft gesucht. Da Eves Wohnung ausreichend Platz besaß und sie sowieso immer Probleme gehabt hatte, alleine zu leben, hatte sie Tiffany kurzerhand zu sich eingeladen. Seitdem wohnten die beiden unter einem Dach und hatten ein paar Sorgen weniger. „Aber es passt wunderbar, dass du heute frei hast“, meinte Tiffany erfreut. „Dann kannst du mich begleiten.“ Eve stöhnte bereits innerlich. „Wohin?“ „Na, zum Club“, sagte ihre Freundin wie selbstverständlich. „Ich wollte Robin heute noch sehen und das wäre doch die passende Gelegenheit, um für dich auch einen netten Typen rauszusuchen. Dort laufen wirklich hübsche Männer rum. Wenn ich nicht schon mit Robin zusammen wäre, hätte ich mir den ein oder anderen sicher nicht durch die Lappen gehen lassen.“ Eve seufzte. Wieso war diese Frau nur so erpicht darauf, sie andauernd zu verkuppeln? Nichts schien sie unversucht zu lassen, um Eve immer wieder mit neuen Männern bekannt zu machen. Eve war sich sicher, inzwischen kannte sie fast die Hälfte der männlichen Bevölkerung Londons. „Ehrlich gesagt wollte ich mich einfach ein bisschen entspannen“, meinte Eve. Sie wusste, dass es eigentlich nicht viel bringen würde, sich herauszureden, dennoch ließ sie es auf einen Versuch ankommen. Sie deutete demonstrativ auf die Chipstüte und den Fernseher, auf dem irgendein alter Schinken aus den Fünfzigern zu sehen war. Tiffany zog daraufhin nur ihre Mundwinkel nach unten. „Willst du hier etwa versauern? Sag mal, Süße, wann bist du das letzte Mal wirklich ausgegangen, um Spaß zu haben?“ Eve hütete sich davor, ihrer Freundin die Wahrheit zu sagen. Tiffany wäre wahrscheinlich vor Schock nur ohnmächtig geworden. Stattdessen murmelte sie: „Ist schon was her.“ „Siehst du?“ Tiffany stemmte die Hände in die Hüften. „Dann wird es mal Zeit. Möchtest du den Rest deines Lebens etwa alleine verbringen?“ Ehe sich Eve versah, hatte Tiffany sie in ihr Zimmer bugsiert und ihr ein passendes Outfit aus dem Schrank geholt, das ihrer Aussage nach alle Männer verrückt machen würde. Eve starrte skeptisch auf die paar Fetzen Stoff, die mehr offenbarten als verdeckten, doch trotz ihres Missmuts widersprach sie nicht. Mit Tiffany in solch einer Situation zu diskutieren war beinahe so, als wollte man eine Steinstatue dazu bewegen, mit den Augen zu zwinkern. Es war einfach nicht besonders erfolgversprechend. Nachdem Eve sich umgezogen hatte, hatte Tiffany sie auch schon gepackt und aus der Wohnung gezogen. Während ihre Freundin davon schwärmte, wie schön es doch wäre, dass sie beide endlich mal wieder zusammen unterwegs wären, ging Eve nur stillschweigend nebenher und versuchte mühevoll, ihre üble Laune zu unterdrücken. Immerhin meinte es Tiffany nur gut mit ihr. Ihr Ziel war der Nachtclub Red Foxy. Tiffany hatte dort in jüngeren Jahren als Kellnerin gearbeitet und deswegen ausgesprochen gute Kontakte. Ohne großes Hin und Her ließ Barry, der breite Türsteher, die zwei Frauen eintreten. Im Inneren war es dermaßen stickig und warm, dass Eve sofort ihren Mantel abstreifte und ächzend aufstöhnte. Sie war nie eins dieser Mädchen gewesen, dass jeden Abend mindestens eine Party besuchen musste, um glücklich zu sein, dennoch machte sie Tiffany zuliebe gute Miene zum bösen Spiel. Vielleicht würde sie sich sogar wirklich amüsieren, wenn sie erst einmal ein paar Drinks heruntergespült hatte. Robin erwartete sie bereits. Er hatte einen gemütlichen kleinen Tisch in einem etwas abgelegenen Teil des Clubs besetzt und winkte die Frauen zu sich her, als er sie erspähte. Tiffany begrüßte er mit einem leidenschaftlichen Kuss, während Eve mit einem Händedruck vorlieb nehmen musste. Robin Whitacker war Jurastudent im letzten Semester mit dem wohl warmherzigsten Lächeln, das Eve je bei einem Mann gesehen hatte. Sie konnte sehr gut nachempfinden, wieso sich Tiffany in diesen Kerl verliebt hatte. Er wirkte wie jemand, mit dem man getrost Pferde hätte stehlen können. Er und Tiffany waren sich vor sechs Monaten zufällig in der Stadt begegnet und sofort beide voneinander fasziniert gewesen, wie Eves Freundin niemals müde wurde zu erzählen. Eins hatte zum anderen geführt und seitdem waren die beiden unzertrennlich. Anfangs fühlte sich Eve in ihrer Gegenwart wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen, aber je mehr Zeit verging, desto lockerer wurde sie. Nicht ganz unschuldig daran waren sicherlich die wohlschmeckenden Drinks, die sie sich zur Gemüte führte. Irgendwann ließ ihre Anspannung nach und auch ihre Müdigkeit verflog ein wenig. Einige Männer forderten sie zum Tanz auf – einer sogar ganz galant mit Handkuss –, doch Eve lehnte jedes Mal dankend ab. Ihr war nicht so sehr nach Bewegung, immer noch schmerzten die Muskeln von der tagelangen Anstrengung, die sie über sich hatte ergehen lassen müssen. Außerdem war keiner der Kerle dermaßen ansprechend, dass sie wegen ihm einen Krampf im Bein riskiert hätte. Da blieb sie lieber auf ihrem Stuhl sitzen und unterhielt sich angeregt mit Robin, während Tiffany ganz offensichtlich darüber nachdachte, wie sie am besten ihre Freundin dazu überreden konnte, sich ein bisschen mit einem Mann zu amüsieren. „Lass es einfach sein, Tiff, okay?“, meinte Eve schließlich, als sie Tiffanys männersuchenden Blick eine Weile ertragen hatte. „Ich werde hier sicher nicht meinen Traummann finden. Dafür hätte ich im Moment sowieso keine Zeit.“ „Und direkt im Anschluss käme die nächste Krise“, entgegnete Tiffany. „Du hast einfach niemals Zeit, das ist dein Problem. Wann willst du endlich mal so richtig leben?“ Eve war kurz davor, darauf hinzuweisen, dass viele Jäger sowieso keine hohe Lebenserwartung hatten, aber sie ließ es bleiben. Tiffany hatte auf dieses heikle Thema noch nie besonders freudig reagiert – tatsächlich versuchte sie schon seit geraumer Zeit, Eve dazu zu überreden, in eine weniger gefährliche Abteilung zu wechseln – und Robin, der annahm, Eve wäre eine gewöhnliche Büroangestellte, hätte solch eine Aussage nur sehr verwirrt. Tiffany seufzte derweil theatralisch auf. „Na fein. Könntest du mir dann vielleicht wenigstens eine riesige Portion Alkohol holen, damit ich meinen Frust runterspülen kann?“ Eve grinste. „Sicher.“ An der Bar war wie üblich Hochbetrieb, sodass Eve erst einmal etwas Geduld aufbringen musste, ehe sie ihre Bestellung aufzugeben vermochte. Der junge Barkeeper nickte daraufhin eifrig und machte sich sofort an die Arbeit. Eve lehnte sich währenddessen an den Tresen und seufzte. Im Grunde verspürte sie keinerlei Lust, noch länger als nötig in diesem Club zu verweilen. Es war zu laut, zu heiß, zu stickig und viel zu eng, als dass sie sich irgendwie hätte entspannen können. Und genau das war es, was sie eigentlich so dringend brauchte: Entspannung. Doch Tiffany würde dies nicht ohne weiteres gelten lassen. Sie würde darauf bestehen, dass Eve zumindest eine Telefonnummer von einem halbwegs gutaussehenden Mann einstrich, ehe sie überhaupt darüber nachdenken durfte, sich wieder nach Hause zu begeben. Tiffany hatte in dieser Hinsicht eiserne und unerschütterliche Prinzipien. Eve hatte lange gebraucht, um sich daran zu gewöhnen. Anfangs hatte sie es für einfache Rücksichtlosigkeit gehalten und in Tiffany eine Frau gesehen, die an und für sich recht nett und umgänglich war, aber ab und zu viel zu sehr an sich selbst dachte und sich nicht darum scherte, was andere interessierte. Schließlich aber hatte Eve erkannt, dass Tiffanys Verhalten nicht vordergründig egoistischer Natur war, sondern dass es ihr tatsächlich darum ging, ihre Mitmenschen glücklich zu machen. Und das genau auf die Art und Weise, die sie eben für die beste hielt. Betrachtete man es von ihrer Warte, hatte sie vielleicht auch gar nicht so unrecht. Eve wurde in letzter Zeit immer öfters von einem nagenden Gefühl der Einsamkeit heimgesucht, weswegen sie sich stets bemüht hatte, sich in ihrer Arbeit zu verkriechen und einfach nicht darüber nachzudenken. Es eben zu ignorieren, so gut es nun mal ging. Doch wenn sie Tiffany und Robin beobachtete, wie sie derart verliebt und vertraut miteinander umgingen, zog sich unweigerlich ihr Herz zusammen und eine Sehnsucht erfüllte sie, von der sie gar nicht gewusst hatte, dass sie da war. „Du siehst aus, als wäre dein Hund gestorben“, vernahm sie plötzlich eine Stimme von der Seite. Eve drehte sich um und sah sich einem Mann gegenüber, der halb auf einem Barhocker saß und sie mit einem schiefen Lächeln musterte. Er war vielleicht Ende zwanzig bis Anfang dreißig, hatte dunkles Haar, einen leichten Bartschatten und Augen, die in dem besonderen Licht des Nachtclubs ungewöhnlich leuchteten. „Tut mir leid, falls ich dir zu nahe getreten bin“, fuhr er fort, nachdem Eve keine Anstalten erkennen ließ, auf seinen Kommentar zu antworten. „Du siehst nur irgendwie deprimiert aus.“ Eve versuchte, ihre Mundwinkel wenigstens halbwegs nach oben zu ziehen, um nicht wie ein melancholisches Mauerblümchen zu wirken, das nichts von Partys und Vergnügung verstand, doch es gelang ihr nicht. Stattdessen ruhte ihr Blick unverwandt auf diesem mysteriösen Mann, dessen Augen sie sofort in ihren Bann schlugen. Auf eine seltsame Art hatte sie das Gefühl, in ihnen ertrinken zu können, wenn sie nicht höllisch aufpasste. Als könnte sie sich selbst verlieren und daraufhin für immer von der Bildfläche verschwinden. Ihre Jägerinstinkte meldeten sich unvermittelt. Nie schaffte sie es, sie völlig abzustellen und einfach einmal eine Situation unvoreingenommen zu genießen. Stattdessen fühlte sie sich unbehaglich und fragte sich unweigerlich, wie es ihm gelungen war, sich ihr unbemerkt zu nähern. Selbst die Tatsache, dass es in dem Club ziemlich voll war und sich gar Hunderte Menschen durch die Menge quetschten, beruhigte sie in keinster Weise. „Ich bin nicht deprimiert“, erklärte sie aber schließlich. Mit aller Mühe versuchte sie, ihre leicht schrillenden Alarmglocken zu ignorieren. „Nur etwas überarbeitet.“ Wie von selbst glitt ihre Hand über den kleinen Anhänger an ihrem Hals, den sie vor vielen Jahren von Liam überreicht bekommen hatte. Er war aus Silber, oval, relativ klein und mit einem Zauber belegt, den ein Magier der Organisation ausgesprochen hatte. Immer, wenn sich etwas Übernatürliches näherte, verfärbte er sich rot und machte somit auf die nahende Gefahr aufmerksam. Auch als sie nur wenige Tage zuvor Walker gestellt hatte, hatte er augenblicklich reagiert. Nun aber blieb er silbern und völlig unbeteiligt. Und dennoch vermochte Eve ihr ungutes Gefühl einfach nicht abzustellen. Seth spukte ihr noch immer in den Gedanken herum und machte es ihr somit offenbar unmöglich, ein harmloses Gespräch zu führen, ohne dass gleich irgendwelche Verdächtigungen in ihr hochstiegen. „Ach ja, die Arbeit kann einen manchmal auffressen.“ Verständnisvoll nickte der Mann, während er nach seinem Bier griff und einen kurzen Schluck davon nahm. „Im Grunde schade, wenn man bedenkt, worauf es im Leben eigentlich ankommt.“ Eve bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Tiffanys Blick auf ihr ruhte. Sie strahlte förmlich, anscheinend zutiefst befriedigt, dass ihre Freundin nun doch jemanden gefunden hatte, den sie nicht sofort wieder loswerden wollte. Eve wiederum überlegte bereits, ob sie den Mann einfach stehenlassen sollte. Ihr stand nicht der Sinn nach einem Flirt oder vielleicht sogar nach mehr. In London spielten sich gerade sonderbare Dinge ab, sodass sie für solche Banalitäten überhaupt keine Zeit aufbringen konnte. Aber sie brachte es nicht übers Herz, ihn fortzuschicken, viel zu sehr fühlte sie sich von ihm angezogen. Er hatte einfach etwas an sich, dass ihren Puls automatisch in die Höhe trieb, sosehr sie sich auch dagegen wehrte. Er war durchaus ansehnlich, wenn nicht zu sagen attraktiv, und hatte etwas Schelmisches an sich, als würde ihm der Schabernack direkt im Nacken sitzen. Auf der anderen Seite war da aber auch etwas Düsteres. Es lag nicht nur an seinen dunklen Haaren und seiner schwarzen Kleidung, sondern vielmehr an seiner Ausstrahlung. Ihn umgab eine geheimnisvolle Aura, die Eve sofort stutzig gemacht hätte, wenn ihr Talisman in irgendeiner Art darauf reagiert hätte. „Freunde von dir?“, fragte er plötzlich nach. Eve blinzelte und wunderte sich zunächst, worauf er überhaupt ansprach. Dann aber bemerkte sie, dass seine Aufmerksamkeit auf Tiffany und Robin ruhte, die wieder dazu übergegangen waren, sich innig gegenüber ihre Empfindungen zu demonstrieren. „An guten Tagen schon“, gab Eve zu. Ein Grinsen zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „Und im Moment?“ Eve wiegte ihren Kopf leicht hin und her. „Nicht so sehr.“ Er lachte kurz auf. Ein wunderbares Geräusch, das die Musik zu übertönen schien, Eve aber gleichzeitig einen Schauer über den Rücken jagte. „Verrate mir deinen Namen“, forderte er sie auf. „Eve“, stellte sie sich vor. Er schwieg einen Moment und schloss kurz die Augen, als müsste er diese Information erst einmal verdauen. „Eve“, flüsterte er daraufhin ihren Namen auf eine Art und Weise, wie die Jägerin es noch nie vernommen hatte. Er umschmeichelte dieses eine Worte, umhüllte es, machte es zu etwas ganz Besonderem. Eve konnte nicht verhindern, dass sie automatisch erschauerte. „Ein wundervoller Name“, sagte er schließlich nach einer Weile, die Eve wie eine Ewigkeit vorzukommen schien. „Fast schon vergeudet für jemanden wie dich.“ Eve runzelte verwirrt die Stirn. „Was?“ Er lächelte daraufhin geheimnisvoll, antwortete aber nicht. Eve spürte erneut, wie sich ihre Instinkte meldeten. Wie sich ihr Magen zwangsläufig zusammenzog, als würde eine große Gefahr direkt über ihr schweben, die kurz davor stand, sie gnadenlos zu attackieren. „Ich verstehe nun allmählich ein bisschen, wie alles zusammenhängt“, erklärte der Fremde grinsend. „Sag, stehst du mit ihm im Bunde? Dein Geruch lässt schließlich kaum einen anderen Schluss zu.“ Eve blinzelte verdutzt. „Mein Geruch?“, fragte sie, während sie mit aller Macht den Drang zu unterdrücken versuchte, an sich selbst zu schnuppern. „Ich bin dir hierher gefolgt, weil du wirklich ganz abscheulich nach Asche und Tod riechst“, fuhr der Mann in einem viel zu heiteren Tonfall fort. „Sei jetzt nicht gekränkt, das ist einfach eine Tatsache, an der du eh nichts ändern kannst. Selbst fünfhundert Duschen würden keinen Unterschied machen.“ Eve trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie hatte schon viele sonderbare Gestalten in Clubs und Bars getroffen – manche harmlos, andere wiederum besorgniserregend –, doch dieser Kerl war ganz eindeutig kein gewöhnlicher Staatsbürger, der abends unschuldig mit fremden Frauen über Hygiene diskutierte. Ganz im Gegenteil. „Wie lautet dein Name?“, zischte Eve. Die unterschwellige Anziehungskraft war mit einem Schlag verschwunden, kaum dass ihr gewahr wurde, dass es sich bei ihm nicht um einen normalen Menschen handelte. Nur ein übernatürliches Wesen hätte den Geruch von Feuer und Asche, der durch Seth und seine Magie entstanden war, selbst noch nach Tagen an ihr wahrgenommen. „Du kannst mich nennen, wie du willst“, bot er belustigt an. „Namen sind sowieso völlig bedeutungslos.“ Eves Augen huschten unruhig hin und her. Normalerweise hätte sie keinerlei Problem damit gehabt, sich ohne Rücksicht auf Verluste auf dieses Geschöpf zu stürzen. Die meisten waren sowieso viel zu überheblich und dementsprechend stets aufs äußerte perplex, wenn Eve ohne jede Vorwarnung Hals über Kopf auf sie zustürmte Das Moment der Überraschung hatte ihr schon oft gute Dienste geleistet. Aber nun befand sie sich an einen öffentlichen Ort. Niemand hätte sicherlich tatenlos dabei zugesehen, wie sie dieser Kreatur, die einem Menschen so täuschend ähnelte, ein Messer in die Halsschlagader rammte. Darüber hinaus war es viel zu gefährlich, den ersten Schritt zu wagen, solange der Gegenüber keine Anzeichen von Gewalt erkennen ließ. Am Ende hätte Eve unter Umständen bloß eine Massenpanik erzeugt und unschuldige Menschen wären zu Schaden gekommen. „Du bist ein Vampir, nicht wahr?“, fragte sie zähneknirschend. Mehr als je bereute sie es, nicht auf ihre inneren Alarmglocken gehört zu haben. Es schien wohl im Laufe der Zeit geschehen zu sein, dass sie sich, ohne es wirklich zu merken, immer stärker in die Abhängigkeit ihrer magischen Spielzeuge begeben hatte, die sie eigentlich vor solch einer Situation hätten schützen sollen. „Ein schlaues Kind“, lobte das Wesen sie höhnisch. „Wie dumm, dass du trotz alledem nicht mehr lange leben wirst.“ Eve blieb nicht mal Zeit, bei diesem letzten Satz zusammenzucken. Denn mit einer Schnelligkeit, die wirklich  absolut nicht menschlich sein konnte, packte er sie plötzlich an der Schulter und schleuderte sie gegen die nächstgelegene Wand. Eve war viel zu überrascht, um angemessen zu reagieren oder sich auch nur ansatzweise zu verteidigen. Zumindest schaffte sie es einigermaßen, ihren Kopf aus der Schusslinie zu halten, sodass er nicht gegen das harte Mauerwerk prallte. Stattdessen knallte sie unangenehm mit ihrem Rücken dagegen, sodass ihr gleich alle Luft aus der Lunge gepresst wurde und sie keuchte wie ein Fisch an Land. Unheilvolle Sternchen begannen, vor ihren Augen zu tanzen, während sie mühevoll versuchte, ihre Benommenheit abzuschütteln und einen klaren Kopf zu behalten. „Es ist wirklich süß, wie leichtgläubig ihr manchmal seid“, vernahm sie die Stimme des Mannes, als er sich ihr mit raubtierhaften Bewegungen näherte. „Ihr glaubt, alles zu wissen, alles unter Kontrolle zu haben, und merkt dabei nicht, wie furchtbar falsch ihr doch eigentlich liegt.“ Eve spürte, wie er seine Finger um ihren Hals legte. Er hätte nur einmal fest zudrücken müssen und schon wäre ihr Genick gebrochen gewesen. Bloß ein kleiner Ruck und ihr Leben wäre vorbei gewesen. Die umgebenden Menschen schienen hingegen von dem ganzen Szenario nichts mitzubekommen. Keiner würdigte sie auch nur eines Blickes, während sie weiterhin fröhlich lachten, tranken und tanzten und sich ihres Lebens erfreuten. Selbst eine Gruppe von aufgeregt schwatzenden Frauen, die derart nah an ihnen vorbeiging, dass sie den Vampir fast schon streiften, nahm überhaupt keine Notiz. Als wären sie vollkommen unsichtbar. Der Untote schaute ihnen grinsend hinterher. „So dumm und so blind.“ Auch seine Stimme hatte sich nun verändert. Zuvor noch verführerisch, aber gleichzeitig auch normal, hatte sie inzwischen etwas Unmenschliches an sich. Obwohl er in einer gewöhnlichen Lautstärke sprach, konnte Eve ihn trotz des allgemeinen Lärms bestens verstehen. Als befänden sie sich in einer schallgeschützten Luftblase. Ihr Blick fiel auf ihre Handtasche, die sie angesichts des ersten Schrecks hatte fallenlassen und die nun auf dem Boden neben einem bereits ramponierten Barhocker lag. Es befanden sich zwar keine offensichtlichen Waffen wie Pistolen oder Messer in ihr – schließlich wäre sie damit niemals in einen öffentlichen Club gekommen –, aber dafür trotzdem einige Spielereien und Überraschungen, die magische Wesen aus dem Gleichgewicht bringen konnten. Neben einer kleiner Apparatur, die von außen wie ein USB-Stick wirkte und in Wahrheit einen derart hohen Ton erzeugte, dass er alle Geschöpfe mit überempfindlichen Sinnen aus dem Konzept bringen konnte, war auch eine Flüssigkeit, versteckt in einer handelsüblichen Sprühdose, in ihrem Besitz, die ähnlich wie Pfefferspray die Augen des Angreifers vorübergehend schwer schaden konnte. Doch gerade lag die Tasche viel zu weit weg, um ihre Waffen benutzen zu können. So vermochte sie nichts weiter zu tun, als sich von diesem Wesen gegen die Wand drücken zu lassen und sich zu fragen, wie es soweit hatte kommen können. Ihr Anhänger hatte auf diesen Mann nicht reagiert, sodass sie sich in Sicherheit gewähnt hatte, auch wenn ihre inneren Instinkte sie von Anfang an vom Gegenteil zu überzeugen versucht hatten. Aber Eve war viel zu betört von dem Fremden gewesen und hatte sich überdies viel zu sehr auf ihren magisch versehenen Talisman verlassen, um darauf zu achten. Und nun war sie hier, in der Gewalt einer Kreatur, die sicherlich keinerlei Probleme damit haben würde, ihrem Leben ein Ende zu setzen. „Du hast mich gleich von Anfang durchschaut, nicht wahr?“, fragte er nach. Er klang sogar richtiggehend überrascht, als wäre er tatsächlich beeindruckt, dass ihre menschlichen Instinkte zu so etwas überhaupt fähig waren. „Du hättest auf dich selbst hören sollen anstatt auf diese dummen Kinkerlitzchen.“ Sanft fuhr er mit der Fingerspitze über ihren Anhänger, während sich Eve nur noch weiter verkrampfte, als er auch ihre Haut streifte. „Sowas wirkt bei mir nicht“, erklärte er lächelnd. „Zumindest nicht so etwas winziges.“ Seine Augen blitzten übernatürlich auf, wie es Eve zuvor bisher nur bei Raubkatzen und Vampiren gesehen hatte. Unwillkürlich musste sie wieder daran denken, wie Seth sie eindringlich davor gewarnt hatte, dass die Sieben auf dem Weg nach London waren. Vampire, die anders als ihre Artgenossen waren. Die sicherlich einen kleinen Zauber, verborgen an einem Anhänger, mühelos umgehen konnten. Eves Herz schlug noch schneller. Konnte das tatsächlich sein? Hatte sie jemand überwältigt, von dem sie bisher nur gehört und in alten Texten gelesen hatte? Der kaum mehr war als eine bedrohliche, aber gleichzeitig auch irgendwie irreale Legende? „Ich …“, brachte Eve mühsam hervor. Der Untote schnürte ihr zwar nicht völlig die Luftzufuhr ab, machte es ihr aber äußerst schwer, zu atmen. Ein intensives Gespräch war auf diese Weise zumindest nicht möglich. „Was willst du wissen?“, erkundigte sich der Vampir belustigt. „Warum ich dir ausgerechnet hier in diesem überfüllten Club auflauere, anstatt dich einfach auf deinem Heimweg in eine verlassene Gasse zu zerren? Wieso ich mir überhaupt die Mühe mache? Was ich eigentlich von dir will?“ Eve versuchte, bei der letzten Frage zu nicken, doch er hielt sie derart stark fest, dass es ihr unglaublich schwerfiel. Dennoch schien er ihre Geste zu verstehen. „Wie ich bereits sagte: Du stinkst!“ Er verzog demonstrativ sein Gesicht. „Und du scheinst mir die erste richtige Spur zu sein. Ich war einfach neugierig, was du mit diesem Feuerteufel zu tun hast.“ Er lächelte kalt. „Und siehe da, du bist gar keine Ottonormalverbraucherin. Im Grunde auch nicht weiter überraschend, wenn ich ehrlich bin. Dieser Mistkerl tötet Vampire, sodass es eigentlich logisch ist, dass ihr kleiner Jägerlein auch eure Finger im Spiel habt.“ Eve kam nicht umhin, sich angesichts dieser Aussage gekränkt zu fühlen. So wie es zurzeit den Anschein machte, tötete Seth, ohne dabei großartige Rücksicht auf irgendwelche Verluste zu nehmen, und Eve spürte einen starken Widerwillen, mit solch einer Person gleichgesetzt zu werden. Doch erneut schaffte sie es nicht, ihre Worte richtig zu artikulieren. Stattdessen setzte sie eine düstere Miene auf und hoffte, dass der Vampir es auf diese Weise verstand. „Ich könnte dich jetzt einfach mitnehmen und ausquetschen“, fuhr der Fremde derweil unbekümmert fort. „Niemand würde es mitkriegen. Du könntest hier und jetzt von der Bildfläche verschwinden, als hättest du niemals existiert.“ Eve schaute sich um. All die Menschen, die ihr so nahe standen und sie überhaupt nicht zu bemerken schienen. Tiffany, die ungeniert mit Robin flirtete und sich kein bisschen darum zu sorgen schien, wohin ihre Freundin so plötzlich verschwunden war. Der Untote hatte Recht. Niemanden würde es auffallen. „Weißt du, was dieser Feuerteufel genau ist?“, hakte der Vampir nach. Seine Augen leuchteten bedrohlich auf, als er sie intensiv musterte. Eve schüttelte hastig den Kopf. Zumindest, soweit es ihr möglich war. Der Vampir zögerte einen Augenblick, schien ihr aber zu glauben. Gerade ältere Exemplare hatten die Gabe, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Währenddessen bemerkte Eve, dass die Aufmerksamkeit des Fremden in eine andere Richtung abdriftete. Sein Blick verlor sich im nichts, als würde es intensiv etwas lauschen, dass nur er alleine wahrzunehmen vermochte. Die Jägerin bezweifelte im ersten Moment, dass er tatsächlich bei der lauten Clubmusik irgendetwas anderes hören könnte, aber andererseits gab es so viele erstaunliche Geschichten über die Alten, dass es einen doch nicht so wirklich verwundert hätte. „Hm, ich würde gerne noch plaudern, aber wir müssen es wohl leider verschieben.“ Er lächelte auf eine Art und Weise, die vermutlich charmant gewesen wäre, hätte er nicht seine Finger um ihre Kehle gelegt. „Es hat mich wirklich sehr gefreut, deine Bekanntschaft zu machen, Eve. Und sei dir gewiss, das ist nicht das letzte Mal, dass wir uns sehen.“ Eve lief ein kalter Schauer über den Rücken. Auf eine weitere Begegnung so einer Art konnte sie ehrlich gesagt sehr gerne verzichten. „Und richte deinen kleinen Jäger-Freunden aus, dass sie uns in Ruhe lassen sollen!“, warnte er noch zischelnd. „Wir sind nicht in London, um uns mit euch anzulegen, aber solltet ihr frech werden und uns im Weg stehen, werden wir euch jeden Knochen einzeln brechen, euch die Kehlen aufschlitzen und eure leblosen Körper in der Themse versenken. Ist das klar?“ Eve nickte sofort. Sie hatte keinerlei Grund, diese Drohung in irgendeiner Art und Weise zu bezweifeln. Währenddessen ließ der Vampir plötzlich von ihr ab. Eve saugte sofort automatisch alle Luft in ihre Lunge ein, sodass ihr schwindelig wurde. Doch erfolgreich wehrte sie sich gegen eine Ohnmacht, ebenso wie sie es mehr schlecht als recht verhindern konnte, dass ihre Knie nachgaben und sie auf den Boden sackte.  „Seid einfach schön brav, dann passiert euch nichts“, meinte er. Der Vampir musterte sie noch einen Augenblick, dann wandte er sich von ihr ab. „Wer bist ...  du?“, rief Eve ihm hinterher, ihre letzten Kräfte mobilisierend. Zwar klang ihre Stimme kratzig und angeschlagen, aber nichtsdestotrotz fest und bestimmt. Er lächelte versonnen. Kurz bevor er in der Dunkelheit verschwand und mit den Schatten eins wurde, antwortete er: „Man nennt mich Alec!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)