Das triste Leben des Jesse Wyatt von Sky- ================================================================================ Kapitel 6: Eine Familientragödie -------------------------------- Schweißgebadet fuhr Jesse aus dem Schlaf und zitterte am ganzen Körper. Der Schreck seines letzten Alptraums saß ihm immer noch in den Knochen und zuerst wusste er nicht, wo er war und presste eine Hand auf seine Brust. Sein Herz raste wie verrückt und sein Atem ging schneller. Noch immer spürte er den entsetzlichen Schmerz in seinem Körper, den er in seinem Traum verspürt hatte, der ihm so real vorgekommen war, als hätte er es in diesem Moment wirklich erlebt. Schon wieder diese Träume, dachte er und erholte sich langsam von dem Schreck. Nicht wieder ausgerechnet dieser Traum, der sowieso nichts Gutes bedeutete. Dabei hatte er gehofft, dass er die nächsten Nächte verschont blieb, aber offenbar hatte er sich geirrt. Seine Träume holten ihn langsam wieder ein und er musste sich überlegen, was er tun konnte. Egal was er auch versuchte, vor ihnen weglaufen konnte er nicht, sondern sie nur unterdrücken, wenn auch nur vorübergehend, solange der Rausch noch anhielt. Wie sehr er diese Träume doch hasste. Genauso wie er fast alle seine Träume hasste. „Hey, es ist alles in Ordnung, du hattest nur einen Alptraum.“ Sein Blick wanderte zu Charity, die gerade das Fenster geöffnet hatte, um etwas frische Luft hereinzulassen. Langsam schaffte er es, seinen Herzschlag zu senken und wieder ruhig zu atmen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und merkte in dem Augenblick, dass seine Kleidung schweißdurchnässt war und wie eine zweite Haut an ihm klebte. Aber dafür fühlte er sich schon mal wesentlich besser als gestern. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass es bereits Mittag war. Offenbar hatte er schon wieder den halben Tag geschlafen. „Wenn du willst, kannst du ja schon mal ins Bad gehen. Oma hat ihre berühmte Hühnersuppe gekocht, die bringt jeden Kranken wieder auf die Beine. Ich hoffe, du bist kein Vegetarier.“ „Nein, bin ich nicht…“, murmelte er und stand langsam auf, musste sich aber kurz abstützen, da ihm wieder schwindelig wurde. Schon eilte sie zu ihm und wollte ihm helfen, aber er hielt sie auf Abstand. „Erklär mir mal eines“, sagte er und sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, der sich nur sehr schwer deuten ließ. „Nach dem, was ich gestern gesagt habe, willst du immer noch nicht aufgeben. Wieso?“ Einen Moment lang schaute ihn die Studentin an, als hätte sie keine Ahnung, wovon er da sprach, aber dann schien es bei ihr Klick zu machen. „Nun, solange ich die ganze Geschichte nicht kenne, kann ich mir auch kein Urteil darüber bilden.“ So war das also, dachte Jesse und schnappte sich seine Sporttasche, wo er seine Sachen aufbewahrte, die er gestern schnell noch zusammengepackt hatte, bevor er abgehauen war. Sie hält mich nicht für einen Mörder, dabei hat sie mich doch gestern entsetzt angesehen, als hätte sie Angst um ihr Leben. Woher denn dieser plötzliche Sinneswandel? So ganz verstehen konnte er das nicht. „Du bist wirklich ganz schön gutgläubig.“ „Das hat nichts mit Gutgläubigkeit zu tun. Ich stehe zu meinen Worten, dass jeder eine zweite Chance verdient, wenn er aufrichtige Reue zeigt.“ Ohne dazu etwas zu sagen, ging Jesse nach oben ins Bad und ließ Charity zurück. Nach knapp einer halben Stunde kam er wieder herunter und ging in die Küche, wo seine Gastgeberinnen gerade dabei waren, den Tisch zu decken. Er war für drei Personen gedeckt und sofort erkundigte sich die pensionierte Lehrerin nach seinem Befinden. Tonlos, ohne sichtliche Gefühlsregung und mit einem gleichgültigen Schulterzucken sagte er kurz und knapp „Besser.“ „Dann setz dich schon mal, damit wir zusammen essen können.“ Zusammen eine Mahlzeit einnehmen? Jesse konnte sich nicht daran erinnern, dass er überhaupt mal zusammen mit seiner Familie bei Tisch gesessen hatte. Meist war er immer alleine und die Gesellschaft seines Onkels hatte er auch immer vermieden. Wozu saßen Menschen überhaupt noch mal zusammen beim Essen? Wegen der Kommunikation wahrscheinlich. Ob sie von ihm erwarteten, dass er seine jetzt ganze Lebensgeschichte offen darlegte? So ganz war er sich noch nicht sicher und insgeheim traute er dem Braten nicht. Aber als sich die beiden dazu setzten und kurz darauf über Graces Treffen mit ihren Freundinnen sprachen, da merkte er, dass es auf einmal eine ganz andere Atmosphäre war, als wenn er immer allein saß. Es fühlte sich angenehmer an und nicht ein einziges Mal wurde Jesse auf seine Vergangenheit angesprochen. Noch nicht mal auf seine Narben und die blauen Flecken. Sie wollten ihn offenbar tatsächlich nicht bedrängen und respektierten seine Entscheidung, wenn er nicht darüber reden wollte. Aber trotzdem konnte er es noch nicht wirklich verstehen, wieso sie ihn aufgenommen hatten und dann letzten Endes nicht mal wissen wollten, wieso er ein 23-jähriger Obdachloser mit Alkoholproblem war. Und ebenso schleierhaft war ihm, wieso sie so viel Wert darauf legten, zusammen bei Tisch zu sitzen und ihn dabei zu haben. Nach einer Weile des Schweigens fragte er schließlich „Esst ihr immer zusammen?“ „Natürlich“, antworteten beide unisono und Grace erklärte „Wenn Charity nach dem College erst spät zurückkommt, wird das Mittagessen immer auf Abend verschoben, damit wir gemeinsam zusammen sitzen und über den Tag reden können. So etwas ist doch viel schöner, als allein zu essen. In einer Familie ist so etwas eben sehr wichtig.“ „Ach so…“, sagte er tonlos und dachte darüber nach. Nach einer Weile beschloss er, einen simplen Selbstversuch zu wagen, und als er die leicht trübe Suppe sah, kam ihm eine Idee und sagte nach einigem Zögern „Wissen Sie übrigens, wie man eine klare Brühe hinbekommt? Sie müssen das Huhn im kalten Wasser langsam auskochen. Dann tritt das Eiweiß nicht aus, wodurch sonst alles trüb wird.“ Es war ein ganz simpler Test, um zu prüfen, ob er das auch konnte, diese „Konversation“. Und Grace zeigte sich erstaunt und fragte positiv überrascht „Du kannst kochen?“ „Natürlich kann er das. Jesse hat gestern sogar gebratene Nudeln gemacht, als ich unterwegs zum Einkaufen war.“ Dieser Versuch schien gut gelungen zu sein, vielleicht sollte er das Spiel ja mal weiterspielen. „Ich hab es mir selbst beigebracht. Das Meiste hab ich aus Kochbüchern oder Sendungen.“ „So etwas findet man ja heutzutage auch nicht mehr so oft. Die Jugend von heute denkt ja auch nur ans Feiern und nicht einmal die Mädchen schaffen es, eine einfache Pasta zu machen. Wirklich traurig so etwas. Ich sag dir eines, Charity: Such dir bloß keinen Mann, der nichts alleine kann! Glaub mir, ich hab mich jahrelang über das Talent deines Großvaters geärgert, dass er sogar Wasser anbrennen ließ!“ Offenbar schien sein Konversationstest auf positive Resonanz zu stoßen und wurde mit Begeisterung aufgenommen. Sie hatten ihn einfach mit ins Gespräch aufgenommen, wodurch er jetzt ein Teil der kleinen Gesprächsrunde wurde. Also wagte er einen zögerlichen weiteren Schritt. „Meine Mutter hat sich nie um den Haushalt gekümmert, deshalb habe ich das übernommen. Bei meinem Onkel war das nicht anders. Ich habe gekocht, mich um den Haushalt gekümmert und nebenbei noch im Laden gearbeitet.“ Nun war die Resonanz nicht mehr ganz so positiv, da sich auch negative Gefühle beimischten, als ihnen klar wurde, dass er im Prinzip die ganze Zeit nur arbeiten war. Vielleicht sollte er wieder einen Schritt zurückgehen, bevor die Stimmung endgültig kippte. „Als was hat deine Mutter denn gearbeitet?“ „Sie hat im Supermarkt an der Kasse gearbeitet und hatte noch einen Zweitjob als Putzfrau.“ „Und wo ist sie jetzt?“ „Oma!“ rief Charity und warf ihr einen warnenden Blick zu. Sie hatte völlig vergessen, ihr zu sagen, dass Jesses Mutter im Gefängnis saß. Doch Jesses Miene blieb ausdruckslos und eine Weile sagte er nichts. Jetzt abzublocken und sich herauszureden war auch sinnlos. Grace würde sich, egal ob er etwas sagte oder einfach nur schwieg, ihren Teil denken. Es war so oder so zu spät und sicher würden sie ihn schnellstmöglich loswerden wollen, wenn er ihnen verriet, dass seine Mutter eine verurteilte Straftäterin war. So dachten sie doch alle. Die Mutter eine Kriminelle und der Sohn ein Alkoholiker. Gleich darauf kamen sicher die Vorurteile und dann kam die Großmutter auf den Trichter, dass er einen schlechten Einfluss auf ihre Enkelin ausüben würde. Die Menschen waren doch allesamt oberflächliche Egoisten. „Schon gut“, sagte er und starrte auf seinen Teller. „Sie sitzt seit zehn Jahren wegen versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung im Gefängnis.“ Ohne die Reaktion der anderen abzuwarten, stand er auf und verließ die Küche. So, jetzt war es endgültig raus. Nun wussten sie, dass seine Mutter eine gemeingefährliche Kriminelle war und bevor sie noch anfangen konnten, über ihn irgendwelchen Schwachsinn zu erzählen, war es besser, wenn er freiwillig das Feld räumte. Doch schon hörte er Charitys Schritte und kurz darauf ergriff sie seinen Arm und hielt ihn zurück. „Warte Jesse, es tut mir Leid. Wir wollten dir nicht vor den Kopf stoßen.“ „Wir wollten dir wirklich nicht zu nahe treten“, pflichtete Grace ihr bei. „Wenn du nicht darüber reden möchtest, verstehen wir das natürlich.“ Jesse war nun vollkommen ratlos und wusste nicht, wie er damit jetzt umgehen sollte. Die beiden sahen ihn noch nicht einmal mit diesem typischen herablassenden Blick an, den er bereits gewohnt war wenn man hörte, dass seine Mutter wegen versuchten Mordes im Gefängnis saß. Sie entschuldigten sich sogar noch. Was sollte er jetzt tun oder sagen? Diese Situation war völlig neu für ihn und ein wenig überfordert war er auch. Er spürte, wie sich seine Brust ein wenig zusammenschnürte und sich sein Hals fühlte, als würde da irgendetwas feststecken. Und außerdem bekam er leichte Magenbeschwerden. Ob ihm etwas auf den Magen geschlagen war? Was war nur mit ihm los und wieso hatte er schon wieder diese körperlichen Beschwerden, die er nicht verstehen konnte? Als ihm auch noch wieder schwindelig wurde und er für einen kurzen Moment die Kraft in seinen Beinen verlor, setzte er sich wieder und schwieg. Charitys Blick wanderte abwechselnd von Jesse zu ihrer Großmutter und hatte gegenüber ersterem ein schlechtes Gewissen. Dieser plötzliche Fluchtversuch von ihm hatte deutlich gezeigt, dass er sehr empfindlich auf dieses Thema reagierte und auch nicht darauf angesprochen werden wollte. Sein Blick hatte sich leicht verfinstert und es schien keine gute Idee zu sein, ihn jetzt anzusprechen. Eine unangenehme Stille herrschte am Tisch und schließlich stand Jesse wenig später auf, räumte das Geschirr weg und verschwand wortlos ins Wohnzimmer. Niedergeschlagen blieb die Studentin zurück und fragte sich, ob sie irgendetwas falsch gemacht hatte. War er jetzt irgendwie sauer oder gekränkt, weil sie ihn dazu gebracht hatte, über dieses unangenehme Kapitel seiner Familie zu reden? Nach einer Weile sagte Grace „Der Junge scheint ja eine wirklich schwere Kindheit gehabt zu haben.“ „Ja“, murmelte die Studentin und musste in dem Moment an die Verletzungen denken, die sie bei Jesse gesehen hatte. Die blauen Flecken und die alten Narben. Er wollte sie vor anderen verstecken, weil er nicht wollte, dass man über ihn redete. Sie dachte daran, dass er die Schule wechseln musste, weil er massiv gemobbt wurde und fragte sich, ob es mit seiner Mutter zu tun hatte. Womöglich war er deswegen schikaniert worden. Das würde zumindest erklären, wieso er jedes Mal so abweisend reagierte und sich immer so quer stellte: Er hatte Angst, dass sich das Ganze für ihn wiederholen könnte und er wieder das Opfer wäre. „Oma, ich geh noch mal kurz mit ihm reden.“ Sie ließ ihre Sachen stehen und ging ins Wohnzimmer. Jesse saß auf der Couch und starrte ins Leere, während er wohl über irgendetwas nachdachte und gar nicht auf ihr Erscheinen reagierte. Sie setzte sich zu ihm, doch er bemerkte sie gar nicht. „Tut mir Leid, wenn wir dich irgendwie verletzt haben. Ich kann gut verstehen, wenn du nicht gerne darüber reden willst.“ Immer noch reagierte er nicht, sondern wirkte vollkommen abwesend, als wäre er völlig weggetreten. Aber dann kehrte er wieder ins eigentliche Geschehen zurück und bemerkte erst jetzt, dass Charity neben ihm saß. „Was ist?“ „Ich wollte mich nur noch mal entschuldigen. Ich hoffe, du bist nicht sauer, weil Oma dich darauf angesprochen hat. Hätte sie gewusst, dass dir das unangenehm ist, dann hätte sie auch nicht gefragt.“ „Nein, ich bin nicht sauer.“ Insgeheim war sie zuerst erleichtert, aber dann kam ihr der Gedanke, dass Jesse es vielleicht nur wieder sagte, um sie ruhig zu stellen. „Wirklich? Du bist wirklich nicht wütend?“ Er schüttelte den Kopf, immer noch waren keine Gefühle bei ihm zu erkennen. Es war wirklich schwierig nachzuvollziehen, wie es in ihm drin aussah. Wieder war er für einen Moment mit den Gedanken ganz woanders und so wartete Charity geduldig, bis er schließlich sagte „Es ist okay.“ Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es für ihn nicht okay war. Es waren keine Gefühlsregungen bei ihm zu sehen, so als ob sein Innerstes bereits tot war. Eher ungewollt nahm sie seine Hand und hielt sie fest. Diese Geste bedachte er mit einem zweifelnden Blick, als könne er nicht verstehen, wieso sie das tat, aber er zog seine Hand nicht weg. „Die Narben, die du gesehen hast“, sagte er nach einigem Zögern und wandte wieder den Blick von ihr ab. „Die stammen von meiner Mutter, als sie vor zehn Jahren sechs Mal mit einem Küchenmesser auf mich eingestochen hat.“ Entsetzt ließ Charity seine Hand wieder los und sie fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Jesses Mutter hatte versucht, ihn zu töten? Das konnte doch nicht wahr sein. Welche Mutter tat ihrem Kind denn so etwas an? Nun hatte sie erst recht ein schlechtes Gewissen und fühlte sich furchtbar. Die Tränen in ihren Augenwinkeln ließen ihre ganze Sicht verschwimmen und fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Mein Gott…“ „Vorgestern an meinem Geburtstag bin ich sie im Gefängnis besuchen gegangen, um Frieden zu schließen. Dabei hat sie mir gesagt, dass sie mich noch nie geliebt hat und ich an der Stelle meines Bruders hätte sterben sollen. Und sie hat es bedauert, dass sie es nicht geschafft hat, mich umzubringen. Sie gibt mir die Schuld, dass sie im Gefängnis sitzt und mein Bruder tot ist.“ „Hattest du dich deshalb so betrunken?“ Er nickte und immer noch war sein Gesicht starr und sein Blick etwas abwesend. Selbst seine Stimme blieb ruhig und es war weder Traurigkeit, noch Wut oder etwas anderes zu hören, so als kümmere es ihn nicht. Was war nur mit ihm los? Wenn ihr so etwas passiert wäre und sie würde darüber sprechen, dann wäre sie in Tränen ausgebrochen. Aber Jesse sprach so, als würde es ihn überhaupt nicht bewegen oder als wäre ihm das völlig egal. „Tut mir wirklich Leid, Jesse. Das muss wirklich schlimm für sein, oder?“ Doch als er mit den Schultern zuckte, fühlte sich Charity irgendwie hilflos. Was war nur mit ihm los? War er etwa so verschlossen, dass er nicht einmal Gefühle zeigen konnte? Warum nur tat er so gefühlskalt? Insgeheim wünschte sie sich schon, dass er wenigstens ein bisschen Gefühl zeigte, damit sie wenigstens wusste, woran sie gerade bei ihm war. „Im Grunde bin ich selbst Schuld an der Situation. Hätte ich damals nicht besser auf meinen Bruder aufgepasst, dann wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Aber was geschehen ist, das ist geschehen und man kann es nun mal nicht ändern.“ „Aber deine eigene Mutter hat versucht, dich umzubringen!“ rief Charity und ergriff wieder seine Hand, nur hielt sie diese nun fester, während ihre Tränen in Sturzbächen flossen. Sie verstand einfach nicht, wie Jesse so dermaßen gleichgültig bleiben konnte, wenn seine eigene Mutter mit einem Messer auf ihn eingestochen hatte, als er gerade mal 13 Jahre alt war. Immer noch sah er sie nicht an und hatte diesen völlig gleichgültigen Gesichtsausdruck. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, um ihm zu zeigen, dass sie ihm beistand, aber ganz offensichtlich verstand er nicht, was sie da machte und war irritiert. „Wie kommt sie nur dazu, so etwas Furchtbares zu machen und dir dann auch noch die Schuld zu geben?“ „Sie hat meinen kleinen Bruder sehr geliebt und seinen Tod nie verkraftet. Und trauernde Menschen, die ihre Angehörigen auf eine solche Art und Weise verlieren, suchen sich eben einen Sündenbock. Und da ich an diesem Tag nicht genug auf meinen Bruder aufgepasst hatte, gab sie eben mir die Schuld, um mit dem Verlust klar zu kommen.“ „Wie… wie ist er denn gestorben?“ „Er wurde im Alter von 5 Jahren ermordet. Den Mörder hat man bis heute nicht identifizieren können.“ Absolute Fassungslosigkeit bei Charity, als sie auch noch das hörte. Aber nun verstand sie auch die Worte, die Jesse an der Unterführung gesagt hatte, als sie ihn betrunken auf dem Boden liegend gefunden hatte. „Ich wollte nicht, dass das passiert.“ Er machte sich schwere Vorwürfe, weil er im richtigen Moment nicht aufgepasst hatte und sein kleiner Bruder dann getötet wurde. In diesem Moment war sie einfach nur von ihren Gefühlen überwältigt. Es tat ihr in der Seele weh, dass Jesse so furchtbare Dinge widerfahren waren und so nahm sie ihn in den Arm. Er selbst erwiderte die Umarmung nicht, sondern saß regungslos da, als wäre er erstarrt. Sie selbst konnte nicht aufhören zu weinen und hatte das Gefühl, als müsste sie getröstet werden und nicht er. „Du kannst doch nichts dafür, dass das passiert ist. Dich trifft keine Schuld.“ „Doch“, erwiderte er tonlos und befreite sich aus ihrer Umarmung. „Ich hatte die Aufgabe, ihn zu beschützen weil ich wusste, dass sonst etwas passieren würde. Aber ich habe es nicht geschafft und deshalb macht es keinen Unterschied, ob ich ihn nun selbst getötet habe oder nicht.“ Damit erhob er sich und verließ das Wohnzimmer. Er schnappte sich seine Jacke und ging nach draußen. Zunächst fürchtete Charity, dass er wieder abhauen würde, aber als sie ihm nacheilte sah sie, dass er sich auf die Stufen gesetzt hatte und sich eine Zigarette anzündete. Zuerst überlegte sie, ob sie bei ihm bleiben sollte, aber sie merkte, dass er jetzt lieber allein sein wollte, um sich zu sortieren. Also ließ sie ihm seine Ruhe und ging wieder ins Haus. Auf dem Flur kam ihr bereits ihre Großmutter entgegen, die sofort sah, dass ihre Enkelin geweint hatte. „Ist alles in Ordnung mit dir, Cherry? Und wo ist Jesse?“ „Draußen und raucht. Komm, wir reden in der Küche weiter. Ich brauch jetzt dringend einen Kaffee.“ Nachdem sich Charity einen Kaffee gemacht hatte, setzte sie sich zu ihrer Großmutter an den Tisch und erzählte ihr davon, was sie von Jesse erfahren hatte bezüglich seiner Vergangenheit. Sie war geschockt, als sie das hörte und musste das auch erst mal verarbeiten. Aber zumindest verstand sie nun, wieso Jesse sofort die Flucht ergreifen wollte, als sie auf seine Mutter angesprochen hatte. Über so etwas Furchtbares sprach niemand wirklich gerne. Nach einer Weile fragte sie aber schließlich „Und wie geht es ihm dabei?“ Sie schüttelte nur den Kopf und trank einen Schluck. „Er verhält sich so, als wäre das nichts und als würde es ihm überhaupt nicht nahe gehen.“ „Womöglich ist er eben nicht der Gefühlsmensch oder es ist ihm unangenehm, vor anderen Menschen Gefühle zu zeigen. Lassen wir ihm erst einmal seine Ruhe. Ich hab mir übrigens die Sache auch bereits durch den Kopf gehen lassen, Cherry. Wenn du ihm helfen willst, werde ich dich unterstützen, denn alleine wirst du das sicher nicht schaffen.“ „Danke Oma.“ Damit umarmte sie die Pensionärin und war unendlich froh, dass sie ihre Großmutter hatte, die ihr immer helfend zur Seite stand und sie nie allein gelassen hatte. Noch nie war Charity so dankbar und froh wie heute, dass Grace sie damals nach dem Tod ihrer Eltern aufgenommen und großgezogen hatte. Sie hatte wirklich unglaubliches Glück im Leben gehabt und Jesse hingegen hatte so eine schreckliche Kindheit durchleben müssen. Von der Mutter nie geliebt und fast getötet, vom Vater im Stich gelassen und vom Onkel ausgenutzt und misshandelt. Und dann war auch noch sein kleiner Bruder getötet worden. Kein Wunder, dass Jesse niemandem vertraute und ein Alkoholproblem hatte. Die ganze Zeit hatte er niemanden gehabt, der ihm Liebe und Zuwendung gegeben hatte. Deshalb war er auch ein strikter Einzelgänger, weil er schon sehr früh lernen musste, ganz alleine klar zu kommen. „Was mich noch beschäftigt“, sagte sie schließlich, als sie sich wieder von Grace gelöst hatte. „Jesse wurde an seiner alten Schule massiv gemobbt und hat daraufhin die Schule gewechselt. Was, wenn es mit seiner Mutter in Verbindung steht?“ „Das ist gut möglich“, stimmte die alte Dame zu und faltete die Hände. „Ich habe es während meiner Lehrerlaufbahn schon mal erlebt, dass gewisse Schüler wegen ihrer problematischen Familienverhältnisse schikaniert wurden. Und wenn sich herumgesprochen hat, dass Jesses Mutter wegen versuchten Mordes an ihrem eigenen Sohn verurteilt wurde, wird es sicherlich genug Schüler gegeben haben, die das zum Anlass nahmen, um sich über ihn lustig zu machen.“ „Aber wie kann man nur so etwas Gemeines und vor allem Geschmackloses machen?“ „Du wurdest selbst gemobbt und kannst es deswegen nicht verstehen. Es gibt nun mal Schüler, die selbst unzufrieden sind und einfach Dampf ablassen müssen, indem sie andere schikanieren, die schwächer sind und für sie perfekte Zielscheiben darstellen. Viele sind einfach nur Mitläufer und manche haben eben ein Vergnügen daran, andere zu quälen, weil sie sich selbst dadurch besser fühlen.“ Doch Charity konnte es trotzdem nicht verstehen. Dass man sich über ihren Glauben und ihre Gutgläubigkeit lustig machte, konnte sie ja noch nachvollziehen. Aber dass man einen Jungen drangsalierte, der beinahe von seiner eigenen Mutter umgebracht wurde und der zudem noch seinen kleinen Bruder verloren hatte, war für sie unbegreiflich. Aber sie verstand jetzt nun, wieso Jenna kaum etwas über Jesse gewusst hatte und warum die Lehrer allesamt dichtgehalten hatten. Sie wussten, weshalb er an seiner alten Schule gemobbt wurde und hatten alles geheim gehalten, damit sich das nicht wiederholte. Grace betrachtete ihre Enkelin nachdenklich und nahm schließlich ihre Hand. „Cherry, dass du diesem Jungen helfen willst, ist wirklich lobenswert und ich werde dich auch unterstützen, wenn ich es kann. Aber trotzdem möchte ich dich warnen: Solange Jesse selbst nichts an seinen Problemen ändern will, kannst du nichts bei ihm erreichen und wirst nur auf taube Ohren stoßen. Ich sage das nicht, weil ich etwas gegen ihn habe, sondern weil ich dich vor einer großen Enttäuschung bewahren will. Du kannst ihn nur zur Tür bringen, aber hindurchgehen muss er selbst.“ Die Minuten verstrichen und Jesse kam nicht wieder zurück. Charity begann sich schon Sorgen zu machen und überlegte schon, ob sie ihn suchen gehen sollte, aber da kam er auch schon wieder zurück. Er hatte eine Tüte vom Supermarkt bei sich, in welcher sich ein paar Flaschen Bier befanden. Für Hochprozentiges war er offenbar noch nicht fit genug. Ohne zu grüßen oder überhaupt etwas zu sagen, ging er ins Wohnzimmer. Mit gemischten Gefühlen sah die Studentin ihm nach, was ihrer Großmutter nicht entging. „Erwarte keine Wunder, okay? Von einer Sucht loszukommen, ist ein unglaublich schwieriger Prozess. Glaub mir, ich weiß es am Besten. Ich hab in meinem Leben schon zehn Mal mit dem Rauchen aufgehört. Als allererstes muss er ein Ziel finden und die nötige Motivation aufbringen, sein Leben zu ändern. Das ist der erste Schritt. Denk daran Cherry: Wer zwei Stufen auf einmal nimmt, riskiert damit, auf die Nase zu fallen.“ Sie nickte und atmete tief durch. „Ich glaub, ich gehe noch eine Runde spazieren.“ Frische Luft und Bewegung war jetzt genau das, was sie jetzt am Besten gebrauchen konnte, um auf andere Gedanken zu kommen. Charity ging in ihr Zimmer, holte ihre Jacke und wollte schon ihre Laufschuhe anziehen, musste aber feststellen, dass sie gar nicht an ihrem Platz waren. Auch unter ihrem Bett waren sie nicht und so rief sie „Oma, hast du meine Laufschuhe gesehen?“ „Die sind doch immer in deinem Zimmer. Ich hab sie jedenfalls nicht weggeräumt.“ Na super, dachte sie und verdrehte mit einem Seufzen die Augen. Und schon wieder verschlampte sie alles. Das durfte doch nicht wahr sein, wo hatte sie denn nur ihre Laufschuhe hingeräumt? Die standen doch immer an derselben Stelle, damit sie sie auch jedes Mal wieder fand. Sie wusste genau, dass ihre Laufschuhe immer unter dem Bett oder im Kleiderschrank waren und sie hatte sie auch dorthin zurückgestellt, als sie Jesse vorgestern hierher gebracht hatte. Doch egal wie viel sie auch suchte, im Zimmer waren sie nicht. Also ging sie im Flur nachsehen, aber auch dort fand sie die Laufschuhe nicht, selbst auf der Terrasse waren sie nicht. Nun gut, dachte sie und gab die Suche schließlich auf. Dann ziehe ich eben die Sneakers an. Wenigstens weiß ich, wo die immer sind. Also ging sie zum Schuhschrank hin und suchte nach, aber sie musste feststellen, dass diese ebenso unauffindbar waren wie ihre Laufschuhe. Und in ihren High Heels konnte sie unmöglich spazieren gehen. Da brach sie sich doch die Knöchel! Aber wieso waren denn plötzlich ihre Laufschuhe und ihre Sneakers nicht mehr da, wo sie sein sollten? Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Mit einem entnervten Seufzer ging sie in die Küche zu ihrer Großmutter und holte sich den Teller mit den Cupcakes aus dem Kühlschrank. Bei so viel Frust brauchte sie jetzt was Süßes und da kamen ihr die Schoko-Kirsch Cupcakes gerade recht. „Gehst du jetzt doch nicht raus?“ „Ich finde weder meine Laufschuhe, noch meine Sneakers und ich kann ja wohl schlecht in High Heels spazieren gehen. In den Dingern halte ich keine zehn Minuten durch und breche mir noch die Knöchel.“ „Die Sachen werden sich schon wieder finden, wenn dir wieder eingefallen ist, wo du sie hingetan hast. Aber sag mal Cherry, hast du schon die Tageszeitung aus dem Briefkasten geholt? „Ach Mist, das hab ich ja total vergessen! Ich geh sie eben holen. Bist du so lieb und bringst Jesse auch noch einen von den Cupcakes? Vielleicht mag er ja einen.“ Damit schnappte sich die Studentin den Schlüssel für den Briefkasten und währenddessen verschwand ihre Großmutter mit dem Cupcaketeller ins Wohnzimmer. Im Briefkasten befand sich die eine oder andere Rechnung und die Zeitung. Nachdem sie sich einen kurzen Überblick verschafft hatte, ging sie wieder zurück und wenig später kam auch Grace wieder in die Küche. Während diese die Rechnungen bekam, überflog Charity kurz die Zeitung und las dort den üblichen Klatsch und Tratsch und was es sonst noch so für Probleme in der Welt gab. Aber als sie den Lokalteil überflog, wich ihr das Blut aus dem Kopf und ihre Augen weiteten sich. Was sie dort las, erschreckte sie zutiefst. Die pensionierte Lehrerin bemerkte die Reaktion ihrer Enkelin und fragte „Was ist los? Steht da etwas Interessantes drin?“ Doch Charity brauchte eine Weile, um zu verdauen, was sie da gelesen hatte und ließ dann langsam die Zeitung sinken. Sie war geschockt und das ließ nichts Gutes erahnen. „Ist jemand aus unserem Bekanntenkreis gestorben?“ Ein Kopfschütteln war die Antwort und dann sagte die Studentin „Erinnerst du dich noch an den Tag, als mir die Handtasche geklaut wurde, während ich dem einen Mann in dem schwarzen Van den Weg erklären wollte?“ „Ja… ist da irgendetwas passiert?“ „Hier drin steht, dass diese Männer im Van polizeilich gesuchte Menschenhändler sind, die junge Frauen entführen und dann im Ausland an Bordelle verkaufen. Zu ihrer Masche gehört es, sie am Straßenrand anzusprechen und nach dem Weg zu fragen.“ Ein entsetztes Schweigen herrschte auf beiden Seiten und nun sah Grace genauso geschockt aus wie ihre Enkelin. Schließlich aber sprach Charity das aus, was sie beide erst nicht auszusprechen wagten. „Weißt du, was das bedeutet, Oma? Hätte Jesse mir die Handtasche nicht geklaut, dann hätten mich diese Männer ebenfalls entführt und verkauft!“ Ihr Gesicht war kalkweiß als ihr bewusst wurde, welchem furchtbaren Schicksal sie da eigentlich entronnen war. Und das nur, weil man ihr die Handtasche geklaut hatte. Jesse hatte ihr quasi das Leben gerettet. War das noch Zufall, oder steckte wirklich so etwas wie ein Plan dahinter? Konnte es vielleicht tatsächlich möglich sein, dass Jesse ihr vielleicht bewusst die Tasche geklaut hatte, weil er wusste, wer diese Männer waren? Unfassbar. Er hatte nicht nur ihre Großmutter gerettet, sondern auch sie. Das konnten doch alles keine Zufälle sein, oder doch? Nun überflog auch Grace den Zeitungsartikel und konnte ebenfalls kaum glauben, was dort geschrieben stand. „Wenn das tatsächlich die gleichen Männer waren, dann hast du wirklich großes Glück gehabt.“ Charity musste sich wieder die Szene durch den Kopf gehen lassen, als der Van mit den getönten Scheiben an der Straße gehalten und der Fahrer sie nach dem Weg gefragt hatte. Wäre Jesse nicht im entscheidenden Moment aufgetaucht, was wäre dann noch alles auf sie zugekommen? „Diese Zufälle sind wirklich unglaublich“, sagte ihre Großmutter nach einer Weile, als sie sich von der Nachricht erholt hatte. Ohne darauf etwas zu erwidern, stand Charity auf und ging ins Wohnzimmer, um mit Jesse darüber zu reden. Er lag jedoch schon auf dem Sofa und schien bereits zu schlafen und da wollte sie ihn nicht stören. Also ging sie wieder und verschob das Gespräch mit ihm auf morgen. Ihre Laufschuhe und ihre Sneakers tauchten am nächsten Tag überraschend wieder an ihrem eigentlichen Platz auf, wo Charity sie zuletzt hingestellt hatte. Zuerst ging sie davon aus, dass sie die Schuhe einfach nicht gesehen hatte, aber so langsam beschlich sie das Gefühl, als wären diese Schuhe nicht zufällig verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)