Blood-red Diamond von MarySae (- Blutrote Seele -) ================================================================================ Kapitel 18: Geschichten ----------------------- Als ich aufwachte grüßte mich ein altbekanntes Gefühl. Ich ahnte, wo ich mich befand, verstand aber nicht, wie ich hierhergekommen war. Mein Kopf war durch dieses Zuckerwatte/Wackelpudding-Gefühl lahmgelegt, auch wenn ich diesmal rein gar nichts Schönes daran erkennen konnte. Automatisch streckte ich meinen Arm aus und stieß gleich gegen eine hölzerne Oberfläche. Ich tastete mich an ihrer Kante entlang, bis ich auf das gesuchte Stück Metall stieß. Einen Moment später wurde der Raum in gelbes Licht getaucht. Ich musste ein paarmal blinzeln, ehe ich halbwegs klar sehen konnte. Mit meinen Fingern wischte ich die letzten Reste der Nacht aus meinen Augen, bevor ich meine Arme wieder seitlich neben mich auf das Bett legte.   Eine Zeit lang lag ich einfach nur da. Doch mit jeder Sekunde wurde das Pochen in meinem Bein penetranter. Erst dieses Gefühl des dumpfen Schmerzes erinnerte mich an die letzten Stunden. Jede Sekunde schlich sich erneut in meinen Kopf und ließ sie mich dort noch einmal erleben. Mit großer Mühe richtete ich meinen Oberkörper auf, in dem jeder Muskel vor Erschöpfung protestierte. Doch die Schmerzen in meinem Bein wurden immer heftiger. Ich schwang die verschwitzte Decke zurück und das erste, was ich sah, war dieselbe verdreckte Kleidung, in der ich zu unserem nicht gerade ungefährlichen Abenteuer aufgebrochen war. Nur der linke Teil der Jeans war nicht mehr vorhanden. Eine ausgefranste Naht zeugte von der Methode, mit der sie dem Stoff zu Leibe gerückt sein mussten. Die Jeans hatte der Schere nicht viel entgegenzusetzen gehabt. Doch es gab etwas viel Wichtigeres, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Erneut bedeckte ein großer, weißer Verband meinen Unterschenkel. Blut und Wundsekret hatten sich bereits an einigen Stellen durch das Material gedrückt und hinterließen an den Stellen dunkle Schatten. Teile eines Blutergusses lugten über den Rand hinaus und ich sah, wie er unter der verbliebenen Jeans verschwand. Nach einer kurzen Berührung meines oberen Schenkels wusste ich, dass der Bluterguss nicht nur den untersten Teil des Beins betraf.   Innerlich blieb ich (zu meiner eigenen Überraschung) komplett ruhig. Jemand hatte sich um die Wunde gekümmert. Wahrscheinlich gleich bei unserer Rückkehr, die ich wohl komplett verschlafen hatte. Aber wenigstens waren sie so nett gewesen, meine Kleidung nicht weiter zu zerschneiden. Meine Mundwinkel zuckten bei dem Gedanken, auch wenn ich nicht wusste, warum ich das so witzig fand. Ich zog den dreckigen Pullover über meinen Kopf, sodass ich nur noch ein T-Shirt trug und meine verschwitze Haut an die frische Luft kam (sofern man die Luft in einem fensterlosen Raum unter der Erde noch „frisch“ nennen konnte). Erschöpft ließ ich mich zurück in die Kissen sinken und legte meinen Arm über die Augen. Ich spürte, wie der Schorf der Wunde, die ich mir damals bei dem Busunfall zugezogen hatte, über meine Haut schabte und seufzte. Schon seit ich klein war verging selten ein Tag, an dem ich mal keinen Kratzer, blauen Fleck oder sonstige Verletzungen an meinem Körper hatte, doch so schlimm wie die letzten Tage war es noch nie gewesen. Es gab kaum eine Stelle, die ich nicht besonders intensiv spürte. Es war beinahe so, als würde ich mich selbst das erste Mal richtig wahrnehmen.   „Na, wieder wach, Prinzesschen?“ Ich wunderte mich eigentlich gar nicht, dass ich ihn hörte. Nicht nach der Standpauke, die er mir nach seiner Rettung gehalten hatte. Ich hatte schon vermutet, dass er früher oder später hier auftauchen würde. Es wunderte mich nur, dass er erst so spät etwas sagte, obwohl ich eigentlich schon eine Weile wach war. Ich bedeckte meine Augen weiterhin und sah ihn nicht an. „Und dich haben sie schon wieder zusammengeflickt?“ Nun schielte ich doch unter meinem Arm hervor und sah verschwommen, dass er auf dem Stuhl am anderen Ende des Raums saß. „Da gab es nichts zum Zusammenflicken. Das waren nur Kratzer.“ Ein leiser Zweifel schlich sich in meinen Kopf und ich hob den Arm soweit hoch, dass ich einen richtigen Blick auf ihn werfen konnte. Jaden saß lässig auf dem einzigen Stuhl in diesem Zimmer und hatte ein schiefes Grinsen im Gesicht. Schmutz, Dreck und Schweiß waren von Haut und Haaren verschwunden und stattdessen war ein Großteil seiner Haut unter weißen Verbänden und Pflastern verschwunden. Und das war nicht zu übersehen, da er nur Shorts und ein T-Shirt trug. Ich erschauderte. „Und dein Kälte- und Wärme-Empfinden haben sie gleich mit abgeklemmt, oder?“ Schon beim Hinsehen begann ich zu frieren und spielte mit dem Gedanken, mir die Bettdecke wieder über den Kopf zu ziehen. Warm oder gar heiß war es hier nun wirklich nicht. „Mit so einem Kleinkram halte ich mich bestimmt nicht auf.“ Ich hörte das Schmunzeln in seiner Stimme und konnte das Seufzen nicht mehr zurückhalten. Erneut legte sich mein Arm über die Augen und ich genoss die Schwärze. Eine ganze Weile schwiegen wir einfach nur.   „Du traust mir immer noch nicht wirklich, hab ich recht?“ Ich zuckte zusammen. Schwerfällig richtete ich mich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Meinen Blick hatte ich auf die Hände in meinem Schoß gerichtet. Seine Stimme war ruhig und ich hörte weder Wut, noch einen Vorwurf heraus. Trotzdem fühlte ich mich ertappt und hatte das starke Bedürfnis mich zu Verteidigen. „Jemandem zu vertrauen, fällt mir derzeit etwas schwer. Vor allem wenn ich sehe, wie hier mit Menschenleben umgegangen wird.“ Ich war mir sicher, er verstand den Wink in Richtung Aurelia und McSullen. Wieso sollte ich jemandem trauen, wenn den meisten hier nur ihre eigenen Ziele wichtig waren? Plötzlich erschien es mir wieder wie ein Fehler hierhergekommen zu sein. „Meine Eltern sind vor zwei Jahren gestorben. Direkt vor meinen Augen“, begann er, ohne auf meine Worte eingegangen zu sein. Warum erzählte er mir das plötzlich einfach so, nachdem ich ihn bei unserem ersten Treffen beinahe zwingen musste, damit er mir wenigstens seinen Namen verriet? „Wir hatten gemeinsam im Wohnzimmer gesessen und uns einen Film angesehen. Einfach als kleine Feier, weil mein Vater gerade zum Polizeikommissar befördert worden war. Wir hatten es nie besonders leicht gehabt. Meine Mutter hatte als Kind einen schweren Unfall gehabt und konnte deshalb nicht arbeiten gehen und die Familie meines Vaters hatte sich von uns abgewandt. Wir waren immer auf uns alleine gestellt.“ Ich saß ganz still da. Wagte es nicht mich zu bewegen. Ich wäre sowieso nicht in der Lage dazu gewesen. Mein Körper fühlte sich an wie aus Stein. „An diesem Abend hörten wir plötzlich ein lautes Geräusch aus der Küche. Wie klirrendes Glas. Natürlich ging mein Vater sofort dorthin, um nachzusehen, doch noch bevor er seine Waffe holen konnte, wurde er erschossen. Meine Mutter bekam Panik und schrie mich an, ich solle zur Hintertür verschwinden. Ich war vor Angst wie gelähmt, erinnerte mich aber an die vielen Übungen, die ich zusammen mit meinem Vater gemacht hatte. Es war immer mein Traum gewesen ein so toller Polizist zu werden, wie er es war.“ Der Traum eines Jungen, der seinen Vater wohl innig geliebt und bewundert hatte. Plötzlich sah ich Jaden in einem ganz anderen Licht. „Noch bevor ich in den Garten fliehen konnte, ertönte der Schrei meiner Mutter. Sie konnte sich wegen ihrem Handikap nicht so schnell bewegen. Sie hatte keine Chance. Ich wusste sofort, dass nun auch sie tot war. Ich wusste, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte und lief einfach weiter. Verzweifelt versuchte ich den Fluss zu erreichen, der an unseren Garten grenzte. Ich bildete mir ein, dass sie mich im Wasser nicht treffen konnten, doch soweit kam es gar nicht.“   Ich schreckte auf, als ein weiteres Gewicht die Matratze beschwerte und schielte durch meine Haare hindurch. Der Rothaarige saß am Fußende des Bettes und zum ersten Mal sah ich ihn: seinen Segensstein. In einem Band aus Leder, das er an seinem rechten Oberarm trug, war ein tiefschwarzer, runder Stein, der mit dutzenden farbigen Einschlüssen durchzogen war, eingelassen. Die Punkte glänzten in allen nur erdenklichen Farben des Regenbogens. Es war ein wunderschöner, schwarzer Opal. Etwas in mir wollte diesen Stein unbedingt berühren. Seine glatte Oberfläche spüren. Die vielen, einzelnen Einschlüsse genauer betrachten und alle Farben, die sie besaßen, zählen. Doch bevor ich mich gegen diesen Drang überhaupt wehren konnte, umfasste er mit seiner anderen Hand das Lederband, öffnete den Verschluss und hielt es zwischen seinen Fingern. Mir stockte der Atem, als ich sah, was darunter lag. Eine große, runde Narbe hatte sich dort tief in sein Fleisch gefressen. Die Haut war an dieser Stelle etwas dunkler, als auf dem Rest seines Körpers und ich erkannte einige Dellen und Erhebungen. Nach seiner Geschichte musste ich nicht lange überlegen, was diese Verletzung verursacht hatte. „Ich hatte das Gewässer noch nicht erreicht, als ein weiterer Schuss durch die Luft schoss und mich zum Glück nur am Oberarm traf. Doch der Schmerz raubte mir alle Sinne und ich fiel einige Meter einen Abhang hinunter, ehe ich im Fluss landete. Die Strömung war stark gewesen an diesem Tag. Es hatte vorher immer wieder heftig geregnet, was den Pegel hatte steigen lassen. Ich war zu schwach gewesen, um mich dagegen zu wehren und wurde sehr bald von der Strömung mitgerissen und unter Wasser gedrückt.“ Ich hielt den Atem an und spürte eine eisige Gänsehaut auf meinem Körper. Obwohl ich wusste, dass er nicht gestorben sein konnte, weil er gerade neben mir saß, ließ sich die aufkeimende Übelkeit in meinem Magen nur schwer unterdrücken. „McSullen muss alles beobachtet haben. Als ich aufwachte, hatte er mich bereits hierher in das Bergwerk gebracht. Der Doc konnte die Wunde versorgen und heute kann ich den Arm wieder problemlos bewegen. Die Leichen meiner Eltern wurden am nächsten Tag von der Polizei entdeckt. Ihre Segenssteine fehlten jedoch.“   Das erste Mal, seit wir beide hier zusammen saßen, sah er nun in meine Richtung. Ich wusste nicht, was er in meinem Gesicht sehen konnte, doch was es auch war, er ging nicht darauf ein. „Du darfst ihm seine Art nicht übel nehmen. Er ist eigentlich ein guter Mensch, der aber schon viel Schlimmes erlebt hat. Er hat seine Familie und viele Menschen sterben sehen. Seitdem ist er versessen darauf das Blutvergießen endlich ein für alle Mal zu stoppen. Er hat schon einige Kämpfe selbst bestritten und ist mehr als einmal dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen. Er hat sich stark verändert in der Zeit, in der ich ihn kenne. Manchmal macht der Krieg Menschen zu etwas, was sie vorher nie hätten werden können.“   Der Kloß in meinem Hals ließ mich würgen. Er schien mir beinahe alle Luft zu rauben. Jadens blaue Augen blickten direkt in meine. Trotz der Horrorstory, die er mir gerade erzählt hatte, waren sie ruhig und unbewegt. Er zeigte seine Gefühle nicht, auch wenn ich ahnte, dass sie da waren. Im Gegensatz zu mir konnte er das. Mir war das alles zu viel. Diese Geschichten … Dieses Leid … Wie konnten sie bloß alle weitermachen als wäre nichts gewesen? Warum konnten sie dennoch kämpfen, obwohl sie bereits so viel in diesem Kampf verloren hatten?   Wieso hatte ich das Gefühl, ich würde ertrinken?   Ich schlug meine Hände vor das Gesicht und begann hemmungslos zu schluchzen. Ich spürte wie mein Körper bebte und heiße Tränen meine Haut benetzten. Bilder von glücklichen Familien, die plötzlich ohne Vorwarnung für immer auseinander gerissen worden, flammten vor meinen Augen auf. Das war ungerecht, so ungerecht!   Die Tür öffnete sich, doch ich bemerkte es kaum. Auch, dass das Deckenlicht eingeschaltet wurde, sah ich nicht. Nur die Stimme des Neuankömmlings erkannte ich, doch ich blickte nicht auf. Ich sackte noch weiter in mich zusammen. „Lina? Lina, was ist denn los? Hey!“ Seine Hände umfassten meine Handgelenke, wahrscheinlich, um sie ein Stück von mir wegzuziehen, doch ich zuckte vor seiner Berührung zurück, weshalb er wieder von mir abließ. „Jaden, du Hornochse! Was zum Geier hast du mit ihr gemacht?“ Die Wut in seiner Stimme war kaum zu überhören. „Geh nicht gleich durch die Decke, Di Lauro. Ich habe gar nichts gemacht.“ „Ach wirklich? Und sie sitzt nur da apathisch rum und heult sich die Augen aus, weil es ihr Spaß macht, ja?“ „Gut möglich.“   Ich hörte die beiden streiten und ich konnte mir nicht erklären warum, doch das Geräusch ihrer Stimmen beruhigte mich allmählich. Als ich wieder Luft bekam, ließ ich – unbemerkt von den Jungs – die Hände sinken und wischte mir mit dem T-Shirt-Saum die Tränen von den Wangen. Meine Augen brannten, als ich mich hinter dem Vorhang aus schwarzen Haaren versteckte. Meiner sicheren Festung. „Ich habe damals meinen Bruder verloren und es war meine eigene Schuld.“ Obwohl ich mir selbst nicht sicher war, ob überhaupt ein Ton meine Lippen verlassen hatte, stoppte das Streitgespräch augenblicklich. Ich sah nicht zu ihnen hinüber, sondern schloss meine Augen, als all die Erinnerungen erneut auf mich einströmten. „Wir waren noch Kinder. Meine Eltern mussten sehr kurzfristig verreisen. Sie hatten keinen Babysitter mehr für uns auftreiben können, also überließen sie das Aufpassen mir. Natürlich war ich stolz, dass sie mir das zutrauten, doch ich hatte auch Angst vor der Verantwortung. Wir wussten alle, dass mein Bruder ein ziemlicher Rabauke war und gerne Unsinn anstellte. Doch sie waren sich sicher, dass das schon gehen würde, wenn wir einfach nur das Haus nicht verließen. Kurz darauf brachen sie auf.“ Ich schluckte schwer. Mein Körper begann erneut zu zittern, doch zumindest die Tränen konnte ich zurückhalten. „Mein Bruder war kaum zu bändigen gewesen. Selbst Erwachsene hatten Schwierigkeiten damit, und ich war erst recht überfordert. Und als er dann auch noch darauf beharrte draußen zu spielen, wurde mir das alles zu viel. Ich verbot es ihm, doch er hörte nicht. Ich lief ihm noch hinterher, war aber nicht schnell genug. Er fiel von einer Brücke, auf dessen Geländer er kletterte, und wurde von dem Gewässer verschluckt. Er konnte nicht schwimmen. Ich war gerade erst dabei gewesen, es zu lernen. Trotzdem sprang ich hinterher. Anwohner hatten alles beobachtet und kamen uns zur Hilfe. Durch für meinen Bruder war es zu spät. Ich überlebte, er nicht.“   Noch nie hatte ich jemandem diese Geschichte erzählt. Nicht einmal meinen besten Freundinnen. Ich hatte mich immer dafür geschämt, was für ein grauenvoller Mensch ich war. Ich hatte Angst, dass jeder mich hassen würde, wenn er davon erfuhr. Doch plötzlich … kam ich mir lächerlich vor. „Aber … Wenn ich die Geschichten eurer Vergangenheit so höre, komme ich mir wirklich blöd vor. Ihr habt alle so viel mehr verloren, so viel Schlimmeres erlebt. Ich habe eine Familie, Freunde und ein Zuhause. Und ich bin noch am Leben. Ich habe gar keinen Grund …“   „Hör auf!“, unterbrach mich Jaden so scharf, dass ich zusammenzuckte. Ein wenig eingeschüchtert blickte ich auf und wandte mich ihm zu. Er saß noch immer neben mir. In seinen Augen lag ein harter Ausdruck und ich sah an seinen Gesichtszügen, dass er wirklich wütend war. „Hör auf so zu tun, als wäre dein Verlust gar nichts! Du hast deinen Bruder geliebt und durch einen Unfall verloren! Natürlich wünscht du dir, du hättest mehr tun können und natürlich trauerst du ihm heute noch nach! Nur weil deine Eltern noch leben macht das die ganze Sache nicht weniger schlimm!“ Erneut sammelten sich Tränen in meinen Augen, als Jadens Worte zu mir durchsickerten. Doch der Kloß in meinem Hals weigerte sich zu verschwinden. Ein weiteres Gewicht drückte plötzlich auf die Matratze und ich bemerkte, wie sich Adelio auf meiner anderen Seite niederließ und seine Hand auf meinen Arm legte. Ernst sah er mich an. „Jaden hat recht, Lina. Jeder geliebte Mensch ist es Wert um ihn zu trauern. Du und deine Eltern werdet deinen Bruder nie vergessen und das ist gut so.“ Er lächelte leicht. „Aber deine Eltern lieben dich. Und darum ist es jetzt umso wichtiger dieser Bande von Verbrechern schnellstmöglich das Handwerk zu legen, damit sie nicht auch noch dich verlieren. Dein Bruder würde nicht wollen, dass du deine Familie und Freunde alleine lässt. Ich bin mir sicher, er wäre froh, dich noch eine ganze Weile nicht wiedersehen zu müssen. So sind kleine Brüder eben!“   Was war dieses angenehme Gefühl, das mein Herz in diesem Moment umschloss? Dieses wohlig warme und vertraute Gefühl? Ich schloss meine Augen und sah ihn vor mir. Wie er mir fröhlich zuwinkte und meinen Namen rief. Sein helles Lachen erklang, als er mir vorwarf mal wieder zu langsam gewesen zu sein. Ja. Mein Bruder war ein lebenslustiger Mensch gewesen. Er hätte es nicht gewollt, dass ich einfach so aufgab, wenn es mal ein kleines Problem gab. Er wäre sofort voran geprescht und hätte die Sache erledigt. Das war mein kleiner Bruder. Und ich werde ihn nie vergessen. Ich werde für ihn leben. Für ihn und all die Menschen, die ich liebe.   Noah.   +++++   Obwohl meine Augen geschlossen waren, spürte ich das Brennen in ihnen. Wahrscheinlich sah ich aus, als hätte ich zu lange im salzigen Meerwasser rumgeplantscht. Rot und angeschwollen, wie ich war. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen, ehe ich sie vorsichtig öffnete. Das Licht neben mir war ausgeschaltet. Die Jungs waren wohl gegangen, denn außer meinen eigenen regelmäßigen Atemzügen, war nichts zu hören. Die Stille war beinahe schon etwas unheimlich.   Ich drehte mich auf die Seite und beschloss einfach weiter zu schlafen, als meine Hand gegen etwas Hartes stieß. Erst da fiel es mir wieder ein. Jaden hatte es dagelassen, bevor ich eingeschlafen war, doch ich war zu müde gewesen, um in diesem Moment etwas damit anzufangen. Darum hatte ich das kleine metallische Ding einfach neben mich gelegt und dann völlig vergessen. Tastend suchte ich nun zwischen all dem Stoff nach dem kleinen Gerät und als ich es zu fassen bekam, erwachte es zum Leben. Das helle Licht blendete meine verschlafenen Augen und ich musste ein paar Mal blinzeln, ehe ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Eine lange Zeit sah ich es einfach nur an. Mein Smartphone. Das Bild von einer roten Rose leuchtete mir entgegen. Nur verdeckt von der aktuellen Uhrzeit. 02:34. Es war mitten in der Nacht. Hier unten in der Dunkelheit des Berges verschwammen die Grenzen zwischen Tag und Nacht zu einem untrennbaren Brei. Ich versuchte schon lange nicht mehr meinen Tagesrhythmus wiederzufinden. Ich wusste, dass das keinen Sinn hatte.   Gerade, als das Display erneut in den Ruhemodus ging, berührte ich die Menütaste erneut und entsperrte das Gerät. Mit ein paar schnellen Bewegungen war ich im Bilderordner gelandet und wurde von den lächelnden Gesichtern meiner Freundinnen begrüßt. Sofort schnürte sich meine Kehle zu und ich musste schwer schlucken, als ich die Fotos betrachtete. Auf einem der neuesten Bilder posierten Mary, Tala und ich hinter einem riesigen Berg aus Eiscreme. Wir hatten die Arme umeinander geschlungen und lächelten in die Kamera. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie Noel auf einmal nach meinem auf dem Tisch liegenden Handy gegriffen und bestimmt hatte, dass er nun ein Foto von uns machen würde. Augenblicklich war Mary aufgesprungen und hatte sich direkt hinter Tala und mich gestellt. Ihre Arme lagen über unseren Schultern.   Ich konnte kaum fassen, dass das alles bloß wenige Tage her sein sollte. Damals, als ich noch dachte, ich hätte einfach nur wieder blödes Pech gehabt und dass sehr bald wieder alles gut werden würde.   Ich musste die Augen abwenden. Mit einem Wisch scrollte ich durch die Galerie. Bilder von Mary, Tala und mir, gefolgt von einem grimmig drein guckenden Damian, einem cool posenden Noel (mit und ohne Mary), ein unscharfes Bild meiner Eltern in meiner Küche, zahllose Fotos meiner Wohnung im Baustellenzustand, Blumen, Tiere und so viel mehr huschten vor meinen Augen vorbei. Jedes Bild ließ die Erinnerungen wie Wellen auf mich einstürzen. Und jedes Mal tat es weh. Das Stechen in meiner Brust war kaum zu ignorieren. Doch ich würde es ertragen. Denn das war alles, was ich tun konnte. Ich wusste, dass die Menschen, die mir etwas bedeuteten, ebenfalls litten. Aber das war der Preis, den wir zahlen mussten, um unser Leben weiterleben zu können. Ich konnte nur hoffen, dass dem Ganzen bald ein Ende gesetzt werden würde.   Seufzend schloss ich die Augen. Automatisch drückte ich den Menüknopf des Smartphones, um die Bilder verschwinden zu lassen und es zu sperren. Ich drehte mich um und versuchte das Gerät vorsichtig auf den Nachttisch zu legen. Zunächst hatte ich die leise Befürchtung es neben das Schränkchen zu packen und damit auf den harten Boden fallen zulassen, doch mit ein wenig herumtasten, ertönte gleich das leise Geräusch, als der Gegenstand das Möbelstück berührte. Und auch darauf liegen blieb. Ich starrte noch einige Momente in die undurchdringliche Dunkelheit und genoss es, dass mein Kopf absolut leer war. Kein Gedanke verirrte sich mehr in die wirren Verwickelungen meines Gehirns. Und so blendete ich alles weitere aus und ließ mich wieder tiefer in den Schlaf sinken.   Doch noch ehe ich die Grenze zwischen Traum und Realität überschritten hatte, hörte ich plötzlich ein leises, beinahe lautloses Klicken gefolgt von einem Quietschen und vor meinen geschlossenen Augenlidern wurde es auf einmal heller. Verwundert öffnete ich meine Augen und blickte in Richtung Tür. Mein Herz schlug auf einmal wie wild und meine Hände krallten sich fest in das Bettzeug. Wer bitte hatte einen Schlüssel für mein Zimmer und kam mich nachts um kurz vor drei Uhr besuchen? War das Jaden? Nein. Aber es gab doch nur zwei Schlüssel für diese Tür und einer hing sehr wahrscheinlich friedlich an seiner Aufhängung an der Wand! Irgendwas war doch faul!   Wie in Zeitlupe schien sich die schwere Metalltür zu bewegen. Millimeter um Millimeter öffnete sie sich wie das Maul eines wilden Tieres. Aus dem Spalt drang gedämpftes Licht in das Zimmer, das dunkelgraue Konturen aus der Dunkelheit hervorstechen ließ. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte, doch mein Körper schrie plötzlich nach Sauerstoff. Aber ich wagte es nicht zu atmen. Der Kloß in meinem Hals schnürte mir die Kehle zu.   Erst, als die Tür sich geöffnet hatte und mit einem leisen Rums gegen die Wand sackte, sah ich eine Person im Gang stehen. Doch ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder umso beunruhigter sein sollte.   „Colin?“, hauchte ich tonlos.   Ich traute meinen Augen kaum. Aber trotz des sehr schummrigen Lichts war ich mir sicher, dass er es war. Doch was wollte er mitten in der Nacht in meinem Zimmer? Mein Magen verkrampfte. Das konnte nichts Gutes bedeuten … Gerade als ich ihn fragen wollte, ob etwas passiert sei, erklang seine Stimme wie ein tonloses Hauchen in der Dunkelheit. „Ame-lina. Lauf … weg.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)