Mallory von Sky- ================================================================================ Kapitel 2: Das Geheimnis hinter der Maske ----------------------------------------- Die Nacht hatte Mallory kein Auge zugekriegt und war dementsprechend am nächsten Tag todmüde. Zumindest hatte sie für die Nacht ein weiches Bett gehabt und musste nicht, wie zuerst befürchtet, im Wagen übernachten. Erst, als sie aus dem Bad zurückkam, fiel ihr noch ein, dass sie völlig vergessen hatte, ihren Eltern Bescheid zu sagen, dass sie angekommen war. Sie holte ihr Handy raus und schrieb in einer kurz gehaltenen SMS, dass sie für die Nacht ein Zimmer gefunden hätte und es ihr gut ging. Trotzdem wünsche sie keine Anrufe, weil sie keine Lust darauf habe. Damit hatte sie ihre Pflicht getan und konnte guten Gewissens in den Tag starten. Gerade wollte sie hinunter ins Erdgeschoss gehen, da kam ihr Lewis entgegen, der offenbar an ihre Tür klopfen wollte. Sein Lächeln war so herzlich und seine Augen glänzten ungewöhnlich hell, dass sie wieder ganz rot wurde. „Guten Morgen Mallory, hast du gut geschlafen?“ „Nun ja, ich hab ehrlich gesagt kaum ein Auge zugekriegt.“ „Kann ich mir vorstellen. Die erste Nacht im fremden Bett ist immer unruhig und die Aufregung mit Dean war auch nicht ohne. Ich wollte gerade auf die Dachterrasse und das Frühstück vorbereiten. Wenn du möchtest, kannst du ja mitkommen.“ Wow, sogar eine Dachterrasse, dachte Mallory und folgte ihm. Sie war noch nie auf einer Dachterrasse gewesen, so traurig das auch klang. In Hansington gab es hauptsächlich Einfamilienhäuser und die wenigsten hatten eine Dachterrasse. Und da das Wetter draußen schön sonnig und fast wolkenfrei war, klang das Angebot verlockend. Also folgte sie ihm die Treppen hoch bis ins oberste Stockwerk und insgeheim fragte sie sich, wieso ein Arzt alleine in einer vierstöckigen Pension mit Dachterrasse wohnte. Als sie ihm die Frage stellte, lachte Lewis etwas schüchtern und erklärte „Das Haus war einfach so schön, genauso wie der Garten. Und ich habe mir schon immer ein Haus mit Dachterrasse gewünscht. Ich finde, es gibt nichts Schöneres, als einen freien Blick auf den Himmel und das Gefühl von Freiheit zu haben.“ Die Dachterrasse, die Lewis’ persönliches Reich war, glich einer Art märchenhaften Garten. Überall war alles mit Blumen dekoriert worden und in einer sehr gemütlich eingerichteten Ecke standen ein paar Stühle um einen gedeckten Tisch herum. Mallory blieb der Mund offen stehen, als sie das sah. „Hast du das alles selbst eingerichtet?“ „Zugegeben, ich bin ein Pflanzenfreund und dieser Ort hier ist sozusagen mein ganz persönliches Reich und ganzer Stolz.“ Mallory fiel auf, dass der Tisch nur für zwei Personen gedeckt war und für einen Moment kam ihr der leise Verdacht, dass Lewis sie rumkriegen wollte. Ach was, sie steigerte sich doch bloß in etwas rein. „Wir sind alleine?“ Lewis wartete, bis sie sich hingesetzt hatte, bevor er selbst Platz nahm. „Ja, Ilias ist schon heute früh raus, weil er noch ein paar Medikamente liefern musste und Dean ist bei Anna und Josephine. Die anderen Bewohner essen meistens auswärts, das erspart mir auch ein klein wenig Arbeit. Und außerdem möchte ich mich auf diese Weise für meine Worte letzte Nacht entschuldigen. Ich wollte dich nicht erschrecken, oder dir Angst einjagen.“ Offenbar meinte er damit diese unheimliche Warnung, dass sie schnell wieder gehen und Dark Creek verlassen sollte. Tatsächlich hatte sie das eine ganze Weile wach gehalten und sie hatte sich immer wieder gefragt, was er damit sagen wollte. In diesem Moment war er ihr irgendwie unheimlich vorgekommen. „Warum hast du das eigentlich gesagt?“ Lewis goss sich Tee in seine Tasse und gab zwei Löffel Zucker hinzu. Sein Blick nahm etwas Melancholisches an und er schwieg eine Weile, um sich eine gute Antwort zu überlegen. „Ich weiß es selbst nicht genau. Ich lebe hier schon einige Zeit und obwohl ich über mein Leben nicht klagen kann, ist mir dieser Friede nicht geheuer. Wie soll ich es am Besten beschreiben? Du kannst es nicht greifen oder anfassen, es ist bloß ein Gefühl. Die Leute selbst sind alle in Ordnung, ich mag sie alle und besonders Dean, Finny und Ilias sind mir sehr ans Herz gewachsen. Ich lebe glücklich und zufrieden in diesem Haus und tue das, was mir am meisten Freude bereitet. Aber trotzdem ist da dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz richtig ist und als würde etwas fehlen. Als würdest du auf ein Bild sehen und wissen, dass ein Fehler verborgen ist, aber du kannst ihn nicht finden.“ Irgendwie verstand Mallory nicht so wirklich, was Lewis ihr damit sagen wollte, aber sie hatte das Gefühl, als wüsste oder ahnte er etwas, das vielleicht wichtig sein könnte. „Und was genau hast du damit gemeint, als du sagtest, ihr würdet alle hier festsitzen? War das ernst gemeint?“ Wieder machte Lewis eine längere Pause und sein Blick wanderte zur Seite. „Auch das ist nicht einfach zu erklären und ich bin mir nicht sicher, ob es an mir selbst lag. Jedenfalls hatte ich eines Tages den Entschluss gefasst, Dark Creek zu verlassen. Ich stieg in den Wagen und fuhr los. Dark Creek kann man nur nach Ost und West über die Landstraße verlassen, die hier auch quer durch den Ort führt. Der Wald umgibt die Stadt wie einen dichten Ring. Die ganze Zeit bin ich in eine Richtung gefahren und dennoch bin ich wieder in Dark Creek gelandet, aber von der anderen Seite. Das gleiche Phänomen wiederholte sich immer und immer wieder, egal was ich tat. Selbst zu Fuß oder mit dem Rad verhielt es sich nicht anders. Egal in welche Richtung ich Dark Creek verließ, ich kehrte immer wieder zurück.“ „Das verstehe ich nicht. Wie kann man denn auf etwas zugehen, wenn man davon weggeht und sich darauf zu bewegen, wenn man die ganze Zeit geradeaus läuft?“ „Man geht um die Welt herum.“ Aus dieser Antwort wurde Mallory auch nicht schlauer und sie fragte sich, ob dieser Arzt ihr da gerade einen Bären aufband. Aber warum sollte er so einen Schwachsinn erfinden? „Wenn das stimmt, was ist mit den anderen?“ „Sie denken einfach nicht darüber nach und verschließen unbewusst die Augen vor der Wahrheit. Und solange alle hier glücklich sind, hat auch niemand ein Interesse daran, Dark Creek zu verlassen. Niemand will von hier weg und gleichzeitig kann niemand von hier weg und genau das ist es, was hier falsch läuft. Wir sind alle wie Goldfische in einem Glas und wollen nicht sehen, dass uns etwas Unsichtbares von der Außenwelt trennt. Ilias ist glücklich mit seinem Leben hier und er hat Dean, um den er sich kümmert. Im Grunde ist Finny der Einzige, der hier noch schlechter dran ist, als wir alle. Denn er ist in einer Welt gefangen, die sogar noch kleiner ist, als Dark Creek selbst. Seit ich gemerkt habe, dass mir etwas fehlt und ich deshalb nicht auf die Illusion einer perfekten Welt hereinfalle, suche ich nach Antworten auf die Fragen, wieso wir nicht weg können und was genau uns hier festhält.“ Lewis’ Blick wanderte zum Horizont und er schien die Wolken zu betrachten. Mallory wurde ein wenig unwohl und sie spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Erst jetzt merkte sie auch, wie ausgehungert sie eigentlich war und so belud sie erst einmal ihren Teller und schüttete sich Kaffee ein. „Wie lange bist du eigentlich schon in Dark Creek?“ „Seit fast drei Jahren. Ich hab zuvor in einem Krankenhaus als Assistenzarzt gearbeitet, aber meine Gesundheit hatte stark darunter gelitten, weshalb ich meinen Job gekündigt und ein etwas ruhigeres Leben gesucht habe. Da Dark Creek keinen Arzt hat, kümmere ich mich um die medizinischen Fälle. Zum Glück passiert hier so gut wie nie etwas und wenn ich nicht als Arzt tätig bin, dann bin ich eben Vermieter und schreibe hin und wieder Liebesromane. Ein kleines Hobby von mir.“ Das sah ihm schon ähnlicher, das wusste Mallory sofort, obwohl sie ihn im Grunde gar nicht kannte. Er sah wirklich wie jemand aus, der Liebesromane schrieb, nicht wegen seinem Aussehen, sondern allein wegen seiner Ausstrahlung und seiner verträumten Art. „Wie kommt man als Arzt dazu, Schriftsteller zu werden?“ „Ehrlich gesagt war es immer mein Traum gewesen, solche Romane zu schreiben. Ich hab mich aber entschieden, Arzt zu werden, weil ich Menschen helfen wollte. Und während meiner Zeit als Assistenzarzt habe ich meine eigentliche Leidenschaft ziemlich vernachlässigt und stand andauernd nur unter Stress. Aber seit ich hier lebe, habe ich für beides Zeit und Ruhe.“ Mallory musste ungewollt schmunzeln. Irgendwie fand sie es süß, dass ein Mann Liebesromane schrieb, dabei war das doch meistens Frauensache. Und obwohl sie es eigentlich für sich behalten wollte, rutschte es ihr dann doch versehentlich heraus. „Das muss doch der Traum jeder Frau sein, wenn ihr Freund oder Mann solche Romane schreiben kann.“ Mit einem Male veränderte sich plötzlich Lewis’ Gesicht und sein Lächeln und seine Verträumtheit waren vollständig verschwunden. Was er gerade dachte oder fühlte, ließ sich schwer erkennen und Mallory fürchtete zunächst, sie könnte ein unangenehmes Thema angestoßen haben. Womöglich hatte Lewis gerade eine Trennung hinter sich und war deshalb hergekommen und nun war sie so dumm gewesen und riss diese Wunde wieder auf. Oder noch schlimmer: Seine Frau war verstorben! Mein Gott, was war sie doch für ein Esel. Sofort entschuldigte sie sich, aber da kehrte wieder dieses herzliche Lächeln in sein schönes Gesicht zurück. „Da gibt es nichts zu entschuldigen. Zurzeit bin ich Single, wenn das deine Frage beantwortet.“ Zwar strahlte Lewis übers Gesicht und es wirkte so warmherzig und freundlich, aber irgendwie erschien es Mallory mit einem Male aufgesetzt. Verschwieg er etwas vor ihr oder erinnerte er sich an irgendetwas Bestimmtes? Offenbar schien er nicht darüber reden zu wollen und da sie ihn eigentlich sowieso nicht kannte, stand es ihr auch nicht zu, nachzufragen. Um diese unangenehme Situation zu bereinigen, wechselte sie das Thema. „Hast du vielleicht irgendwo einen Anhaltspunkt, wo ich vielleicht jemanden finden könnte, der mir etwas über meine Vergangenheit sagen könnte?“ „Tja, da fragst du leider den Falschen. Ich komm nicht gerade viel in der Stadt herum, weil ich die meiste Zeit beschäftigt bin. Eigentlich wären Finny und Ilias die besten Ansprechpartner, weil sie sehr viel in der Stadt unterwegs sind und die Leute viel besser kennen als ich. Besonders Finny treibt sich häufig herum und kennt jeden Quadratmeter der Stadt. Er hat einen Musikladen ein paar Straßen weiter von hier, dort müsstest du ihn eigentlich antreffen können. Wenn nicht, dann wird er sich entweder zuhause oder in der Stadt aufhalten.“ Finny… das war doch der Kerl von gestern, der ihr nicht die Hand geben wollte und ständig ihren Blicken ausgewichen war. Sie hatte ein seltsames Gefühl bei ihm gehabt und dass er in dieser heruntergekommenen Bruchbude zusammen mit seinem kleinen Bruder lebte, behagte ihr auch nicht so ganz. „Ich weiß nicht… er kommt mir irgendwie seltsam vor…“ Lewis lachte nicht, seine Augen nahmen einen traurigen Glanz an und er schwieg erst mal dazu, bevor er schließlich sagte „Finny ist ein guter Junge, auf ihn kann man sich verlassen. Es ist nur so, dass er es in der Vergangenheit nicht immer einfach hatte. Genaueres weiß ich nicht darüber und selbst Ilias sagt er kaum etwas. Man muss ihn mit seinen Eigenheiten einfach so nehmen wie er ist, er tut es ja nicht aus Boshaftigkeit, oder weil er jemanden nicht mag.“ „Meinst du damit etwa diese Angewohnheit, dass er nie Augenkontakt hält und auch anderen nicht die Hand gibt?“ „Ganz richtig. Wie gesagt, er ist eigentlich ein echt netter Kerl. Wenn irgendetwas ist, dann ist er sofort zur Stelle und im Grunde hat er genauso ein schlimmes Helfersyndrom wie ich… Aber er hält seine Mitmenschen auf Abstand und das wird sicher seinen Grund haben.“ „Und wieso lebt er in dieser verfallenen Bruchbude?“ Auf diese Frage wusste Lewis auch keine Antwort, oder zumindest wollte er sie nicht nennen. Irgendwie schien er nicht mehr so redselig zu sein wie vorhin. Nein, seit Mallory das Thema Beziehung angesprochen hatte, war Lewis offenbar darauf aus, sie auf freundliche und diskrete Weise abzuwimmeln. Und er wusste offenbar noch einige andere Dinge bezüglich Dark Creek oder diesem Finnian, die er ihr verschwieg, aus welchem Grund auch immer. Da sie merkte, dass es nicht mehr viel Sinn machte, mit Lewis weiterzureden, aß sie schnell ihr Frühstück und verabschiedete sich. Gerade, als sie die Dachterrasse verlassen wollte, hielt Lewis sie noch kurz zurück. „Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, Mallory: An deiner Stelle würde ich nicht in die Nähe des Vergnügungsparks gehen.“ Mallory war aber so in Gedanken versunken, dass sie diese Warnung nur mit einem Ohr aufnahm und sich erst später wieder daran erinnerte. Sie verließ die Dachterrasse und ging die Treppen hinunter, bis sie das Erdgeschoss erreichte. Von dort aus ging sie nach draußen auf den Parkplatz, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte und überlegte erst, ob sie mit dem Auto fahren, oder doch lieber zu Fuß gehen sollte. Da es aber in Dark Creek wenig Verkehr gab, entschied sie sich für die erste Option und fuhr los. Ihr Ziel war der Vergnügungspark von Dark Creek. Zwar hatte Lewis sie gewarnt, aber sie war einfach zu neugierig. Ohnehin fragte sie sich, warum zum Teufel man einen Vergnügungspark so weit abgeschieden in einer Kleinstadt erbaut hatte und wieso sie nicht dorthin gehen sollte. Lewis wusste etwas und wollte nicht mit der Sprache so ganz herausrücken. Bezüglich ihrer Vergangenheit konnte sie ja später nachforschen, dieser Vergnügungspark war erst einmal interessanter. Mallory fragte sich unterwegs durch und brauchte dementsprechend eine Weile, bis sie endlich die Stelle erreicht hatte, wo sich einst ein Teich befand. Tatsächlich war er gänzlich verschwunden und an der Stelle war eine riesige Anlage erbaut worden. Fahrgeschäfte, Achterbahnen, ein Riesenrad, der Traum eines jeden Kindes. Und trotzdem war der Park komplett verwaist und wirkte total verfallen, als wäre er schon seit einer Ewigkeit geschlossen. Überall wuchs Unkraut aus den Ecken und Fugen und schwere Gewitter hatten in der Vergangenheit die Fahrgeschäfte schwer beschädigt und teilweise waren die Geräte verrostet. Die Drehtür, die den einzigen Eingang darstellte, war vergittert und daneben hing ein Schild mit der Aufschrift „Betreten Verboten“. Es mochte daran liegen, dass der Park schon so verfallen war und sich keine Menschenseele dort befand, aber Mallory überkam ein eiskalter Schauer. Totenstille herrschte, nicht einmal Naturgeräusche aus der Umgebung waren zu hören. Irgendwie hatte dieser Ort etwas Unheimliches an sich… „Ich an deiner Stelle würde da nicht reingehen. Man sagt, dort lebt eine menschenfressende Hexe!“ Erschrocken drehte sich Mallory um und sah einen Mann, der eine weiße Maske mit einem Grinsgesicht trug. Lachend kam er näher und steckte die Hände in die Jackentaschen. „Nur keine Panik, ich bin es nur!“ „F-Finnian?“ „Kannst mich auch Finny nennen, das tun alle hier. Sorry übrigens, ich wollte dich nicht gleich zu Tode erschrecken. War ja auch bloß ein Scherz.“ Er schien ziemlich gut gelaunt zu sein und Mallory versuchte, sich zu einem Lachen zu zwingen, aber so wirklich gelingen wollte ihr das nicht. Warum zum Teufel trug Finny eine Maske am helllichten Tag? Irgendwie war er seltsam, aber das wusste sie ja vorher schon. Da er offenbar bemerkte, dass ihr irgendwie unwohl war, lachte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Hey, wie wäre es mit einer kleinen Rundführung? Ich hab sowieso im Moment nichts Besseres vor und dann lernst du die Stadt auch besser kennen.“ „Musst du nicht arbeiten?“ „In Dark Creek ist sowieso nicht viel los, da hat man oft genug Zeit für sich selbst. Und wenn jemand was will, krieg ich ne Mitteilung auf meinem Smartphone.“ Da Lewis ja gesagt hatte, dass Finnian jeden Winkel von Dark Creek kannte, nahm Mallory das Angebot an und fragte zuerst, was es mit dem Vergnügungspark auf sich habe und wieso er geschlossen war. „Tja“, murmelte er, ohne seinen heiteren Ton zu verlieren. „Der Park steht hier eigentlich schon seit einer Ewigkeit, soweit ich richtig gehört habe. Er wurde vor knapp 16 oder 17 Jahren erbaut, hatte aber nie genug Besucher und wurde deshalb geschlossen. Die Menschen in Dark Creek haben allesamt Angst vor dem Park, weil er ihnen nicht geheuer ist. Selbst Ilias und ich waren nie da drin, aber Dean geht da oft in Begleitung der beiden Schwestern rein, weil die dort leben. Die beiden und ihr komischer Butler gehen dort ständig ein und aus. Anscheinend wohnen sie dort und sie kommen eigentlich kaum heraus. Zumindest Josephine sieht man so gut wie nie, Anna kommt hin und wieder zu Besuch, weil sie mit Dean sehr gut befreundet ist.“ „Wer sind die Zwillinge überhaupt?“ „Das weiß ich nicht so genau. Sie haben schon hier gelebt, als ich und Keenan nach Dark Creek gekommen sind. Sie leben sehr zurückgezogen und vor allem vor Josephine haben alle hier Schiss. Man erzählt sich allerhand gruseliger Gerüchte über sie und sie zählt auch nicht gerade zu den freundlich gesinnten Individuen hier. Im Grunde hasst sie andere Menschen, aus welchem Grund auch immer. Anna hingegen ist da etwas umgänglicher, aber auch nicht gerade die einfachste Sorte Mensch.“ Gedankenverloren betrachtete Mallory den Park und fragte sich, was wohl zwei Mädchen dazu veranlasste, sich ausgerechnet hier niederzulassen. Und wie lange sie schon hier lebten? Da es sonst in der Nähe nichts Interessantes gab, gingen sie gemeinsam in Richtung Stadt, wobei ihr Finnian allerhand erzählte. Wie sich herausstellte, war er erst vor knapp acht Monaten nach Dark Creek gekommen, nachdem er sich mit seinem Vater gestritten hatte. Dieser war Alkoholiker gewesen und konnte sich nicht vernünftig um seine Kinder kümmern. Irgendwann hatte Finnian genug gehabt und war zusammen mit seinem kleinen Bruder nach Dark Creek gekommen mit dem Entschluss, nie wieder nach Hause zurückzukehren. Außerdem erzählte er, dass seine Eltern aus Irland eingewandert seien und er oft selbst fälschlicherweise für einen Iren gehalten wurde, obwohl er eigentlich amerikanische Staatsbürgerschaft besaß und Irland auch nie zu Gesicht bekommen hatte. Er entsprach auch überhaupt nicht dem stereotypischen Iren. Er hatte mit der Kirche rein gar nichts am Hut, vertrug nicht mal ein Glas Bier und er hasste den Regen. Aber zumindest war er auf seinen Namen Finnian McKinley stolz, denn er hatte einen schönen Klang und war außergewöhnlich. „Außergewöhnliche Namen zeugen von außergewöhnlichen Menschen, so hab ich zumindest gehört. Mallory und Ilias sind ja auch ziemlich seltene Namen.“ „Ob ich wirklich Mallory heiße, weiß ich ja nicht. Meine Pflegeeltern haben mich immer so genannt. Vielleicht ist es tatsächlich mein Name, oder sie haben ihn mir gegeben.“ „Trotzdem klingt er schön. Ich finde auch die Bedeutung von Namen ziemlich interessant. Mein Name leitet sich von einem blonden irischen Krieger ab. Manchmal sagen Namen etwas über Personen aus, auch wenn man meist die Bedeutung nicht kennt. So hat man mir das zumindest mal gesagt. Ilias ist israelisch und bedeutet „Sonnenkind“. Irgendwie passend für ihn, denn er ist wirklich ein wahrer Sonnenschein. Dean bedeutet witzigerweise „der Älteste“, obwohl er in unserer Runde eigentlich der Jüngste ist. Obwohl… Keenan ist sogar noch zwei Monate jünger als er. Zu guter Letzt haben wir noch unseren romantischen Schönling Lewis: Seiner bedeutet „starker Kämpfer“, wobei ich aber nicht ganz sicher bin, ob das so wirklich zu ihm passt…“ „Und was bedeutet mein Name?“ Hier zögerte Finnian und zuerst sah es danach aus, als wüsste er die Antwort nicht, aber dann beschlich Mallory das Gefühl, er wusste es zwar, wollte es aber nicht sagen. Nach einem Moment des Zögerns erklärte er schließlich „Der Name bedeutet „Unheil“.“ Na große Klasse, dachte Mallory, als sie das hörte. Da hatte sich ihre Pflegemutter ja einen schönen Namen für sie ausgedacht. Warum zum Teufel gab man ihr einen Namen mit einer derart negativen Bedeutung? Finnian bemerkte wohl, dass sie nicht ganz begeistert war und versuchte sogleich, sie aufzumuntern. „Ich denke, dass der Name gut gewählt wurde.“ „Wieso denn das, bitteschön?!“ „Na, manche Eltern geben ihrem Kind extra einen Namen mit negativer Bedeutung, weil sie ihr Kind ganz besonders lieben. Weißt du, wenn Kinder mit Einschränkungen oder Behinderungen zur Welt kommen, dann werden sie ganz anders von den Eltern geliebt, als normale Kinder. Diese Liebe ist viel stärker, weil die Eltern das Kind beschützen und ihm in seinem Leben helfen wollen. Deshalb geben Eltern ihrem Kind manchmal genau aus diesem Grund absichtlich einen Namen mit negativer Bedeutung.“ So hatte Mallory das nie gesehen und diese Sichtweise war auch sehr interessant. Je mehr sie mit Finnian redete, desto sympathischer wurde er ihr. Er war witzig und manchmal auch etwas albern, aber er konnte auch ernst und verständnisvoll sein. Im Grunde war er wie ein großer Bruder. Mallory ließ sich von ihm die Stadt zeigen und erfuhr sogleich, wo es welche Geschäfte gab und wo sie sich bei bestimmten Fragen hinwenden konnte. Auch zeigte er ihr das Stadtarchiv, wo sie vielleicht ein paar Informationen bezüglich ihrer Vergangenheit in Dark Creek finden konnte. Zu guter Letzt gingen sie zum Musikladen, in welchem Finnian arbeitete. Dabei kam ihnen zufällig Ilias mit dem Fahrrad entgegen und er hatte wirklich ein enormes Tempo drauf. Knapp vor der Ladentür bremste er scharf und kam zum Stehen. „Hey ihr beiden! Macht ihr etwa einen Spaziergang?“ „So in der Art. Ich hab Mallory die Stadt gezeigt. Und du? Hast du eine Lieferung für mich?“ „Klar doch. Im Gegensatz zu dir arbeite ich auch!“ Finnian deutete einen freundschaftlichen Schlag auf dem Oberarm seines Freundes an und beide mussten lachen. Aus seinem Rucksack holte er ein kleines Paket, das er dem Maskierten in die Hand drückte. „Mann, du bist so ein Herzchen!“ Sie mussten wieder lachen und als sich kurz Ilias’ Blick mit Mallorys traf, wurde er ein wenig rot um die Wangen und wich ihr sofort wieder aus. Konnte es etwa sein, dass er ein wenig schüchtern in ihrer Gegenwart war? Finnian schloss die Ladentür auf und nahm das Schild mit dem Hinweis, dass er auf dem Handy zu erreichen wäre, wieder ab. Während er hineinging, hing er seine Jacke an den Haken, nahm die Maske aber nicht ab. Auch die Handschuhe behielt er an und Mallory war es ein Rätsel, wie ihm mit dem Pullover und der Jacke bei dem warmen Wetter nicht heiß unter den Klamotten wurde. Ihm jedenfalls schien das gar nichts auszumachen und fröhlich pfiff er ein Lied, während er das Paket nach hinten brachte. Mallory sah sich währenddessen ein wenig im Laden um und tatsächlich fand sie hier alles Mögliche. CDs, Hörbücher, Musikvideos, Zubehör und auch Filme und Merchandise. Kurz darauf ging Musik an und leise wurde Porcelain Black gespielt. „Gehört dir der Laden etwa?“ fragte sie, als Finnian wieder nach vorne an den Verkaufstresen kam. „Hab ihn übernommen, als der Besitzer krank wurde. Zwar werde ich damit nicht reich, aber es reicht alle Male, um über die Runden zu kommen. Ich brauch sowieso nicht viel zum Leben. Wichtig ist nur, dass Keenan alles bekommt, was er braucht.“ Mallory fiel auf, dass Finnian oft über seinen kleinen Bruder sprach und seine Stimme dann immer besonders heiter wurde, wenn er das tat. Er schien seinen Bruder wirklich sehr zu lieben, aber wenn er ihm so wichtig war, warum wohnte er dann mit ihm in dieser Bruchbude? Er hatte doch die Möglichkeit, in die Pension zu ziehen. Als Mallory genau das fragte, sah sie für den Bruchteil einer Sekunde etwas Seltsames in Finnians Bewegung, was aber sofort von seinem scherzhaften Lachen überdeckt wurde. „Ich brauch die Hilfe anderer nicht, ich komm ganz gut alleine klar. Wir leben zwar nicht im Luxus, aber bis jetzt sind Keenan und ich hervorragend klargekommen und brauchen keine Unterstützung.“ Ilias wurde mit einem Male ernst und ergriff Mallorys Arm. Er verabschiedete sich von Finnian mit der Ankündigung, dass sie sich am Abend zum Tennisspiel treffen würden und verließ mit ihr den Laden oder besser gesagt: Sie wurde quasi vor die Tür gezogen. Er schloss die Tür hinter sich und ließ sie wieder los. „Sorry, das war gerade etwas ruppig von mir“, entschuldigte er sich sofort und begann sich verlegen am Kopf zu kratzen. „Wieso hast du mich rausgezerrt? Habe ich etwas Falsches gesagt?“ „Nein, es ist nur so, dass es nicht gut ist, Finny auf solche Sachen anzusprechen.“ „Und wieso nicht?“ Er rang mit den Worten, wusste aber nicht, was er sagen sollte und wirkte in dem Moment irgendwie hilflos. Zwar hatte er die Antwort, aber offenbar wollte er sie ihr nicht sagen. Schließlich aber erklärte er „Finny will über bestimmte Dinge nicht reden und auch nicht darauf angesprochen werden. Deshalb möchte ich dich einfach nur bitten, ihn nicht auf so etwas anzusprechen.“ „Was ist mit ihm? Hat er irgendwelche Probleme mit seinem Vater gehabt?“ Doch Ilias schwieg dazu und ihm war anzusehen, dass es ihm selbst ziemlich unangenehm war. Mallory war nicht blöd und merkte, dass wohl einiges vorgefallen sein musste, wenn niemand darüber sprechen wollte. Vielleicht etwas sehr Schlimmes… Sie wollte die Frage aussprechen, die ihr durch den Kopf ging, aber sie ließ sie unausgesprochen. Denn ein Teil von ihr wollte diese Antwort nicht wissen, obwohl sie sie schon im Inneren zu ahnen glaubte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)