Salzwasser von Votani ================================================================================ Kapitel 1: Salzwasser --------------------- I Salzwasser. Irgendwo hat Hunter einmal gelesen, dass wenn jegliches Wasser auf der Erde urplötzlich austrocknen würde, sie auf fünfzig Trillionen Tonnen Salz sitzen würden. Obwohl es anzuzweifeln ist, ob es dann noch Menschen gibt. Ohne Wasser können sie nicht überleben. Eigentlich kein Wunder, da der eigene Körper aus siebzig Prozent der lebenswichtigen Flüssigkeit besteht. Vielleicht ist Wasser der wirkliche Lebenssaft, nicht Blut. Hunter winkelt in seinen Überlegungen das Bein an und lehnt den Kopf nach hinten gegen die Rücklehne des Liegestuhls. Der Himmel über seinem Kopf ist strahlend blau, auch er sieht aus wie Wasser. Wie Salzwasser. Wie der atlantische Ozean, der sich vor Hunter erstreckt, soweit das Auge reicht. „Hunter!“ Seine innere Ruhe zerbricht und Hunter blinzelt hinter der Sonnenbrille auf seiner Nase. Die Realität kehrt mit einem Mal zu ihm zurück, ebenso wie das Meer es bei der Flut tut. Das Stimmengewirr der Strandbesucher erfüllt wieder seine Ohren, ebenso wie das Rauschen der Wellen und die Brise, welche die Blätter der Palmen rascheln lässt. Ein Blick geht über seine Schulter zurück zu der kleinen Bar, die einige Meter weiter höher am Strand steht. Emma ist durch die angesammelte Menschenmenge nicht zu sehen, doch es ist eindeutig ihre Stimme gewesen. Er hebt den verschlissenen Strohhut von seinem Schoß, steht auf und schlendert zur Strandbar herüber. Mehr als den überdachten Tresen, von dem bereits die hellblaue Farbe abblättert, und die Liegestühle gibt die Bar nicht her. Mit den schicken und überteuerten Lokalen weiter den Strand hinauf kann das Salt Water nicht mithalten, doch es hat genug Kundschaft, damit sie sich über Wasser halten können. Genau so ist es vorgesehen gewesen. Hinter den Tresen schlüpfend nimmt Hunter die Bestellung des nächsten Kunden auf, während seine braunhaarige Kollegin einige Drinks mixt. Lange ist sie noch nicht dabei, sondern ist erst vor ein paar Wochen aus irgendeinem Städtchen aus Wyoming heruntergekommen. „Ich dachte schon, du willst da einpennen und verschläfst meine Pause gleich mit“, sagt sie, aber ihr schiefes Grinsen nimmt ihren Worten die Ernsthaftigkeit. „Ich muss nämlich ganz dringend mal.“ Hunter holt ein Glas unter dem Tresen hervor und hockt sich hin, um etwas Eis aus einer der Kühlboxen hineinzuschaufeln. „Tu dir keinen Zwang an.“ Sie nimmt ihn beim Wort. Sobald die zwei Getränke dem Pärchen gereicht wurden und sie das Geld abkassiert hat, schlüpft sie aus der Bar. Für einen Moment sieht Hunter ihr nach und betrachtet ihre Beine, die in den kurzen Shorts besonders gut zur Geltung kommen. Sie sind gebräunt und muskulös, so wie sich das für eine ehemalige Profischwimmerin gehört. Das nimmt Hunter jedenfalls an. Viele Profischwimmer sind ihm noch nicht begegnet, dabei soll man meinen, dass das Meer sie anzieht. Andererseits ist Nyle Beach ein ruhiges Fleckchen. Hunter erlaubt es sich das batteriebetriebene Radio einzuschalten, das neben ihm auf dem Tresen steht. Der Sender schnarrt, doch er dreht trotzdem die Lautstärke hoch. Ein männlicher Sänger, den er nicht zuordnen kann, singt vom unglücklichen Erwachen am Morgen und dem Existieren anstatt dem Leben, von verpassten Dingen und dem Loslassen von anderen. Der Drink mischt sich derweil von selbst. Irgendjemand in der Schlange vor dem Tresen summt die Melodie mit, während das Lachen einiger Volleyball-Spieler herüberdringt. Hunter weiß, von was der Kerl dort singt. Er weiß, wie es ist, sich lustlos aus dem Bett zu schälen und so viele Zigaretten zu rauchen, dass es ein Wunder ist, dass man nicht bereits mit fünfundzwanzig an Lungenkrebs erkrankt. Hunter weiß auch von dem gewissen Etwas, was das Leben erst lebenswert macht. Die Finger seiner freien Hand trommeln den Takt der Musik auf dem splittrigen Tresen, als er das Geld entgegen nimmt und sich die nächste Person nach vorn schiebt. Ein faules Lächeln zieht an seinen Mundwinkeln. „Was soll es sein? Und welche Farbe an Schirmchen hättest du gern in deinem Drink? Wir haben pink, rot, gelb und grün zur Auswahl. Die blauen sind immer die ersten, die weg sind.“ Ein Schrei zerreißt die Atmosphäre wie das Geräusch eines schiefgegangenen und schmerzvollen Bauchklatschers es in Schwimmbädern tut. Er wird mit weiteren Schreien beantwortet, anschließend mit einer plötzlichen Stille, die sonst nie am Strand herrscht. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Instinktiv sieht Hunter sich um. Einige andere tun es ebenfalls und die Blicke von Männern und Frauen und Kindern wandern suchend umher. Die Sonnenbrille wird abgenommen, als Hunter jemanden zum Wasser herüberdeuten sieht. Hunter scannt den Horizont, die Augen zu schmalen Schlitzen geformt. Erst nach einigen Sekunden erkennt er eine Person, die sich krampfhaft über der Oberfläche zu halten versucht. Warum tut keiner etwas? Wieso stehen alle nur herum? Bevor Hunter sich die Antworten auf seine Fragen zusammenreimen kann, hat er bereits den Tresen umrundet, die Kunden stehen gelassen und rennt los. Seine Sandalen streift er ab. Der Sand ist heiß unter seinen nackten Fußsohlen, als er sich das offenstehende Hemd von den Schultern schiebt. Auch das bleibt unachtsam zurück, zusammen mit dem Strohhut, und er stürzt sich in die Wellen. Wo ist Emma, wenn man sie braucht? Das ist der letzte Gedanke, bevor ihn das eisige Wasser umschließt, ihm die feinen Härchen im Nacken und auf den Armen aufstellt. Es peitscht ihm ins Gesicht. Sein Blick bleibt dennoch auf die Person geheftet, die gegen die Wellen ankämpft, als seien sie der ultimative Feind. Die Ozeane sind schlummernde, unberechenbare Ungetüme, die einen verschlingen, wenn man sie nicht mit dem nötigen Respekt behandelt. Die Ertrinkende ist eine Frau. Schwarze Haare umrahmen sie wie Tentakel, die sie in die Tiefe zerren wollen. „Hilfe! Hil—“ „Halt still“, presst Hunter atemlos hervor, als er sie erreicht. Sie klammert sich an ihn, versucht an ihm hochzuklettern, als würde sie dann nicht weiter sinken. Hunter schluckt Wasser, das Salz ist unangenehm in seinem Mund und brennt in seinen Augen. Seine Sicht verschwimmt. „Halt still!“, wiederholt er. Zeitgleich windet er sich aus ihrem Griff und schlingt einen Arm um ihren Brustkorb, ehe er den Strand anvisiert wie das Licht am Ende eines Tunnels. Sie hört auf zu strampeln und lässt sich von Hunter mitziehen. Jeder Muskel in seinen Armen und Beinen schreit und der Strand ist weit, viel zu weit, entfernt. Wie er ihn erreicht, weiß Hunter nicht. Irgendwann finden seine Füße den sandigen Boden, reißt er sich die Haut an einem Stein auf. Strauchelnd werden er und die Frau von fremden Händen aus dem Wasser gezogen. Besorgte Gesichter sind über ihn gebeugt und neben ihm hustet sich jemand die Seele aus dem Leib, als schwarze Punkte vor Hunters Augen tanzen. Nur mühselig streicht sich Hunter die dunkelbraunen Haare aus der Stirn. „Oh mein Gott, bist du in Ordnung?“ Emma schiebt sich durch die Menge und fällt neben ihm auf die Knie. Sie packt ihn bei den Schultern und schüttelt ihn, was nichts gegen den Schwindel tut, der Hunter erfasst hat. Im nächsten Moment drückt sie ihn bereits so fest an sich, so dass sie ihm die wenige Luft raubt, die er gerade erst in die Lungen gesogen hat. „Da lässt man dich mal fünf Minuten aus den Augen...“ Ihre Stimme ist ein Flüstern an seiner Schulter und er tätschelt ihren Rücken. Sein Kopf dreht sich zur Seite, auf der er die Frau vermutet und doch nur einen nassen Fleck auf dem Sand vorfindet. „W-Wo ist...?“ Einer der Herumstehenden deutet mit dem Finger über seine Schulter. „Sie ist gerade gegangen.“ „Meinte, sie braucht keinen Notarzt und ihr ginge es gut“, fügt ein anderer hinzu. „Wir wollten sie aufhalten, aber...“ Hunter runzelt die Stirn, auch nachdem Emma längst von ihm abgelassen hat und ihm stattdessen auf die Beine hilft. II Schatten flackern an diesem Abend über den Sand, über die lachenden Gesichter und über die überdachte Bar. Sie ist zusätzlich von Lampions links und rechts auf dem Tresen erleuchtet, während Margaritas und Sundancers gemischt werden. Musik dringt vom Lagerfeuer herüber, deren Flammen sich zum sternenklaren Firmament empor strecken. Bei Tag bedient Oliver Daye den Steingrill, der nun nichts weiter als ein Umriss in der Dunkelheit ist, und in der Nacht holt der ehemalige Elektriker aus New York seine Gitarre hervor. Seine Finger sind geschickt; sie spielen nicht nur mit Kabeln. Die Töne sind langsam, jeder mit Bedacht ausgewählt. Sie hallen die Gehörgänge hinauf und die in Bikinis und Shorts gekleideten Körper bewegen sich in seinem Rhythmus. „Hunter?“, fragt Emma und tippt auf ihre Armbanduhr. „Ja, ich weiß, Happy Hour.“ „Happy Hour“, echot einer der Kunden. „Genau.“ Ein Grinsen zeigt sich auf Hunters Gesicht und gibt seine Grüppchen preis. „Happy Hour!“ Sein Ausruf wird mit Grölen und Jubeln beantwortet. Der Ansturm ist groß. Unterhaltungen und Lachen und Leben liegen in der Luft, sind förmlich greifbar, während Oliver spielt und spielt und spielt. „Du hast mich gerettet“, sagt irgendwann eine Stimme. Hunters Blick hebt sich abrupt, als er die junge Frau vor sich mustert. Schwarze Haare werden mit einer Klammer aus ihrem Gesicht gehalten und dunkle Augen bohren sich in ihn hinein. In dem wenigen Licht wirkt sie blass, weiß wie ein Stück Papier. Verständnis erhält Einzug in Hunters Gesicht. „Du bist es. Von vorhin“, erwidert Hunter. „Ich dachte nicht, dass du noch mal zurückkommst, nachdem du so schnell verschwunden bist.“ Ein Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus. „Ich habe mich nicht bedankt.“ „Was ist mit meinem Drink?“, fragt der Kerl neben ihr und Hunter blinzelt einige Male. „Sorry, Kumpel.“ Die Olive landet in dem Cocktailglas und Hunter reicht es herüber. Das Geld wird unter dem Blick der jungen Frau eingesammelt. „Keine Sorge, ich bin nicht ins Wasser gesprungen, um ein Danke zu hören“, richtet Hunter das Wort wieder an sie. Ein Zwinkern folgt. „Das ist nicht mein Stil.“ „Dachte ich mir schon. Solche Menschen wären nicht so mutig.“ Kein Muskel zuckt, als sie das sagt. Nur das Lächeln verweilt, als sei es auf ihrem Gesicht eingefroren. Es hat an Wärme verloren und wirkt seltsam freudlos. Das Licht spielt Hunter einen Streich. Die Dunkelheit macht aus jedem Schatten ein Monster, das lernt man bereits im Kindesalter. Hunter ist nicht das erste Kind gewesen, das ein Ungetüm unter seinem Bett und hinter der angelehnten Kleiderschranktür vermutet hat. „Willst du etwas trinken?“ „Ich habe kein Geld bei mir...“, antwortet die namenlose Frau, die in einem sommerlichen Kleid auf der anderen Seite des Tresens steht. Hunter zuckt mit den Schultern. „Es ist Happy Hour, da sollte jeder etwas trinken, womit er zufrieden ist. Und ich bin zufällig auch der Besitzer.“ Er holt ein weiteres Cocktailglas hervor, füllt es mit dem Rest des frischgemischten Sundancers und schiebt es zu ihr herüber. „Eine eigene Kreation von mir.“ Sie ist die letzte Kundin für den Moment und fällt mit ihrer geraden Haltung und ihrem ordentlichen Aussehen bei der lässigen Strandparty furchtbar aus dem Bild. Es tut Hunter in der Seele weh. Sein Blick wandert zu Emma herüber, die gerade die Pappbecher herausholt, da sie kaum noch saubere Gläser haben. „Kann ich dich allein lassen?“ Skeptisch schaut sie zwischen Hunter und der Frau hin und her. „Du wirst ja morgen sehen, ob es ein Fehler war oder nicht.“ Was genau sie damit meint, weiß er nicht. „Ist das nicht immer so?“, fragt Hunter. Er schiebt seinen Strohhut etwas weiter die Stirn hinauf, ehe er den Tresen umrundet. Die junge Frau wendet sich wie auf Kommando in dieselbe Richtung und hakt sich ungefragt bei ihm ein. Hunter schaut ihr nicht ins Gesicht; er möchte gar nicht wissen, ob er da noch immer das Lächeln einer Porzellanpuppe vorfindet. Der Sand ist kühl. Auch die Temperaturen sind gefallen, doch so nah am Lagerfeuer ist es warm genug, um zu schwitzen. „Machst du hier Urlaub?“ Seine Frage gilt der schwarzhaarigen Frau, die neben ihm Platz genommen hat. Sie nippt gedankenverloren an ihrem Getränk, ohne dass es weniger zu werden scheint. „Wenn dir der Sundancer nicht schmeckt, musst du ihn nicht austrinken. Kostenlos hin oder her.“ Bei ihrem fragenden Blick nimmt Hunter ihr das Cocktailglas aus den Händen und stellt es in den Sand. „Ich bin neu, ja. Feiert ihr oft hier?“, antwortet sie schließlich, ihr Blick auf Oliver Daye gerichtet. Die blonden Haare wirken im Licht der Flammen wie flüssiges Gold. Er ist ein hübscher Kerl, der die Blicke der Frauen in seiner Konzentration und mit seiner ruhigen Persönlichkeit kaum bemerkt. Um ehrlich zu sein, sieht Hunter ihn selten mit jemandem außer Emma, den Kunden oder ihm kommunizieren. Die faulen Tage am Strand werden mit Fischen und Grillen und Gitarre spielen verbracht. Beinahe so, als müsste er Jahre an Großstadttrubel exorzieren. „So gut wie jeden Abend“, sagt Hunter und stützt einen Arm auf das angezogene Bein ab. Seine Augen gleiten zum Meer hinaus, das pechschwarz ist und irgendwo in der Ferne mit dem ebenso farbigen Nachthimmel verschmilzt. „Es sind auch meistens dieselben Leute. Das Meer zieht einfach an, wenn du mich fragst. Wenn es nicht gerade jemanden zu ertrinken versucht, versteht sich.“ Sein Gegenüber lacht nicht. Ob sie den Witz nicht unterhaltsam findet oder nicht versteht, kann Hunter nicht sagen. Ihr Blick richtet sich jedoch auf ihn. Suchend und abschätzend. Nach einigen Sekunden steht sie unbeholfen auf, doch von nur einem Schluck von einem Cocktail kann man nicht der Trunkenheit erliegen. Mit nackten Füßen und muskulösen Beinen, die ihn an Emma erinnern, wandert sie davon und entweicht dem Lichtkreis, der das Lagerfeuer wirft. In der Dunkelheit dreht sie sich um und gestikuliert mit einem Finger, dass Hunter ihr folgen soll. Kurz schaut er zum Salt Water herüber, an dessen Tresen sich Emma mit jemandem unterhält. Hunter meint ihr Lachen trotz Olivers Gitarrenspiel hören zu können. Zögernd erhebt er sich und schlendert in die Richtung der anderen Frau. Wie ein Gespenst läuft sie nahe des Wassers entlang, weiter und weiter entfernt sie sich vom Lagerfeuer und den Menschen, von dem Leben, das dort herrscht. III Ein Träger ihres Kleids wird von ihrer blassen Schulter geschoben, bevor Hunter sie erreicht hat. Seine Schritte werden schneller, hastiger. Sie sind gehetzt. Er holt mit ihr auf, umrundet sie, hält jedoch den Abstand zwischen ihnen aufrecht. „Hey, hey...“, sagt er und seine Stimme ist nicht mehr als ein heiseres Flüstern in der Dunkelheit. Ein Blick an ihr vorbei genügt, um zu erkennen, dass sie zu weit von der Strandbar entfernt sind. Das Licht des Lagerfeuers ist nicht mehr sichtbar, der Anblick der feienden Leute von Palmen und anderem Gestrüpp versperrt. Sie sind weiter gegangen, als Hunter beabsichtigt hat. „Wenn du denkst, was ich denke, dann hast du das falsch verstanden.“ Sie hält inne und schaut zu ihm auf. Sie weiß nicht, was er meint. Er kann es an ihrem Blick ablesen. Hunter hätte ihr nicht folgen sollen, auch wenn er ihr nur hatte erklären wollen, dass er nicht interessiert ist. Nicht auf diese Art und Weise. „Was ich meine ist, dass ich nicht an... Sex oder etwas dergleichen interessiert bin. Freundschaft ja, alles andere nein.“ Hunter entzieht ihr seine Hand, als sie nach ihr greift und sie zu ihrer Brust hebt. Ein Kopfschütteln seinerseits folgt und seine Hände vergräbt er in den Taschen seiner Shorts. „Lass uns zurückgehen.“ Sich von ihr abwendend, damit sie nicht weitere Versuche starten kann, die unangenehm für sie beide enden, schlendert er zurück. „Ich spendiere dir einen anderen Drink. Den wirst du bestimmt—“ Etwas kollidiert von hinten mit Hunter und holt ihn von den Füßen. Er landet mit dem Gesicht im Sand, ein Gewicht landet auf ihm und presst ihm auch die restliche Luft aus den Lungen. Hustend atmet er Sandkörner ein, wird in der nächsten Sekunde jedoch an der Schulter herumgerissen und auf den Rücken gedreht. Sein Strohhut liegt gequetscht unter seinem Kopf. Sie setzt sich auf seine Hüfte und starrt ausdruckslos auf ihn herab, als Hunter die Augen öffnet. Ihr Gesicht ist schattenbesetzt, von jeglicher Emotion verlassen. Es ist offenbar Schluss mit den Verführungsversuchen, wird Hunter schmerzlich bewusst. Ebenso, dass sein Instinkt ihn nicht betrogen hat. Dass er auf ihn hätte hören sollen. „W-Was machst du?“ Seine Stimme bebt, seine Finger und Stirn sind klamm. Trotzdem taucht ein wackliges Lächeln auf seinen Lippen auf, an das sich ihr starrer Blick heftet. Hat sie schon die ganze Zeit über nicht geblinzelt? Hunter erinnert sich nicht. Plötzlich sind alle Details der Rettung und ihrer Begegnung verschwommen, so undeutlich, als läge das alles bereits Jahre zurück. Jahrzehnte. Sie legt den Kopf schief. „Ich werde dich fressen.“ Finger wandern hauchzart über seinen Brustkorb und schieben das offenstehende Hemd beiseite. Hunter sieht zu ihnen herunter, bemerkt die Fischhäute zwischen ihnen, die harten Schuppen, die sich ihren Armen hinaufziehen. Gerade eben hatte sie die noch nicht gehabt, das wäre ihm aufgefallen. „Das Salzwasser macht die Beute im Meer ungenießbar. Das weiß jeder.“ Sie lächelt. Trotz der Dunkelheit kann Hunter die Fangzähne sehen, wie sich ihr Kiefer weiter öffnet als es einem Menschen möglich ist, als er sich auszurenken scheint. Wie eingefroren liegt Hunter unter ihr, hört das eigene Blut in den Ohren rauschen, wehrt sich nicht einmal, als sie seine Handgelenke packt und über ihn herfällt. Scharfe Zähne graben sich in das Fleisch seiner Schulter und Schmerz setzt seine Nervenstränge unter Strom – und der Schrei in seiner Kehle ist nur ein ersticktes Keuchen. Eine Hand rüttelt energisch an seiner Schulter. Hunter schlägt mit einem scharfen Lufteinziehen die Augen auf, presst die Lider aber sogleich wieder aufeinander. Es ist zu hell. Er hebt eine Hand, um das Gesicht von der Sonne abzuschirmen, die unbarmherzig auf ihn niederbrennt. Das Rütteln der fremden Hand verwandelt sich derweil in ein Tätscheln und Hunter zwingt sich zu der Person aufzusehen, die neben seinem Liegestuhl hockt. Emmas braungebranntes Gesicht ist nur einen halben Meter von ihm entfernt und sie sieht ihn mit einem neckischen Schmunzeln an. „Du siehst aus wie ein Krebs. Ich wusste, dass du hier einschlafen wirst.“ „Sonnenbrand?“, fragt Hunter benommen. Seine Augen wandern wachsam umher, doch es ist Tag und der Strand ist gut besucht. Es ist keine Spur von einer dunkelhaarigen Frau zu sehen, die Fischhäute zwischen den Fingern trägt, die man erst bemerkt, wenn man wie auf dem Präsentierteller vor ihr liegt und zerrissen werden soll. Hunter schluckt, bemerkt nur im Hintergrund, wie Emma ihm gegen den Arm boxt. „Was denkst du denn, du Spinner? Du hast meine Pause übrigens gleich mit verschlafen. Ich verlange Entschädigung in Form von Geld, mein Lieber.“ Was er denkt? Dass es ein Alptraum gewesen ist, der nun ein Ende genommen hat. Dass Meerwesen, denen der Fisch zu salzig ist, nicht existieren. Oder dass es sie zumindest in Florida nicht gibt. Was es in den tiefen Stellen inmitten der Ozeane gibt oder nicht gibt, ist ein Mysterium, das Hunter nicht lösen möchte. Sein Blick wandert zu seiner Bar, von der die hellblaue Farbe abblättert und die aussieht, als würde sie bei dem nächsten Sturm wie ein Kartenhaus in sich zusammenklappen. Sie stellt ein vertrautes Bild dar. Sein Herzschlag verlangsamt sich und sein Puls pocht nicht mehr in seiner Halsschlagader, als würde sie jede Sekunde explodieren. „Bist du in Ordnung, Hunter?“, fragt Emma, die neben ihm verweilt. Die Heiterkeit ist inzwischen aus ihren Zügen gewichen. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“ „Mir geht’s gut. Nur ein Traum.“ Mit steifen Muskeln steht Hunter auf und streckt sich. Emma hebt derweil den in den Sand gefallenen Strohhut auf, ehe sie ihm diesen aufsetzt. „Was hast du geträumt? Dass du wie Butter geschmolzen bist?“ „Witzig...“, kommentiert Hunter. „Nein, eigentlich—“ Schreie erfüllen mit einem Mal die Luft. Beide Köpfe rucken herum. Jemand deutet auf das Meer hinaus und Emma hat bereits die Beine in die Hand genommen, ehe Hunters Augen die Gelegenheit haben, sich auf das Etwas zu richten, das im Wasser erkennbar ist. Es ist ein Mensch am Ertrinken. Hunter meint schwarze Haare und ein weißes Porzellangesicht auszumachen, doch es ist zu weit weg. Es ist ein Streich seiner Fantasie. Ganz sicher. Trotzdem sackt Hunter zurück auf den Liegestuhl, als Emma auf die Person zuschwimmt. Weiter und weiter. Als Profischwimmerin überbrückt sie schneller den Abstand als er. Doch Hunter ist auch nie wirklich hinausgeschwommen, denn das alles war nur ein Traum. Keine Vision. Nur ein Traum, dessen Ecken bereits verschwimmen wie die Tinte auf einem Blatt Papier, wenn ein Tropfen Wasser drauffällt. Ein Tropfen Salzwasser. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)