Lust'n'Needs von Anemia ================================================================================ Kapitel 93: Hushed Whispers --------------------------- Hushed Whispers     Das Rauschen der Wellen hatte sie schon bald die Sorgen und Nöte des Alltags vergessen lassen. Sanft umspielte das lauwarme Wasser das kleine Boot, auf dessen Deck sie es sich bequem gemacht hatten, mit einem Kasten kühlen Bieres und diversen Kippen. Oft lebten sie derart ausschweifend, Cari, Jamie und ihre Freundinnen, doch selten saßen die beiden Paare in trauter Viersamkeit zusammen. Den Männern fehlte meistens die Zeit für solche Aktionen, da sie mit ihrer Musik beschäftigt waren, und auch, wenn Mädelsabenden hin und wieder auch ein gewisser Reiz inne wohnte, so schätzten die Frauen unter ihnen es trotz allem, wenn sie ihre Liebsten mal wieder aus den Fängen der Pflichten reißen konnten. Sie kannten sich seit Jahren, was hin und wieder dazu führte, dass der Gesprächsfaden abriss und sie schweigend die glitzernden Reflexionen der Sonne auf dem Wasser bewunderten, ohne an irgendetwas zu denken. Zumindest schien es so. Einigen Personen ging nämlich in Wirklichkeit sehr viel durch den Kopf, während sie da saßen und rauchten, an der Bierflasche nippten oder einfach nur das Gesicht gen Sonne reckten. Vielleicht lag auch hierin der Hund begraben und der Grund für die allgemeine, ungewöhnliche Schweigsamkeit. Es war, als hätte der eine unter ihnen sie alle mit seiner seltsamen, nicht erklärlichen Bedrücktheit unbewusst angesteckt. Cari jedoch war im Gegensatz zu seinem besten Kumpel an diesem Tag guter Dinge und hatte die Stille, welche höchstens von dem Krächzen ein paar Möwen untermalt wurde, satt. "Erzählt mal einen Schwank aus eurer Jugend", forderte er die drei anderen auf, und zumindest die Mädels blinzelten ihn daraufhin geblendet und gleichzeitig etwas faul an, wodurch er sich dazu berufen fühlte, seine Worte zu präzisieren. "Jeder erzählt jetzt mal eine Story, von der die anderen bisher noch nichts wissen. Und sie darf gerne peinlich sein" Er grinste. "Nennen wir es 'Bereinigung unseres Sündenkontos'." Caris Freundin lächelte zwar, doch es wirkte im ersten Moment etwas hilflos. Jamies Liebste hingegen beschäftigte sich gerade mit ihrem Freund, oder versuchte zumindest, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Fürsorglich strich sie ihm über die Wange und sagte etwas zu ihm, was die anderen jedoch nicht verstehen konnten. Dass ihr gutes Zureden allerdings nicht fruchtete, zeigte sich daran, dass Jamie noch immer nicht mehr tat, als die Bodenbretter des Bootes zu begutachten. Selbst Cari konnte es sich nicht verkneifen, seinem besten Kumpel einen etwas besorgten Blick zuzuwerfen, doch Sekunden später lächelte er schon wieder fröhlich in die Runde, schien verdrängt zu haben, dass es Jamie aus irgendeinem Grund nicht so gut ging. "Kommt, Mädels, tut nicht so, als wärt ihr die reinsten Engel", neckte er die anwesenden Damen und zog an seiner Zigarette. An das Ausblasen des Rauchs dachte er allerdings nicht, so dass er qualmend wie eine Dampflock und mit der Sonne im Rücken, die ihm auf den nackten Buckel brannte, unbekümmert weitersprach. "Na gut, ist egal, ich fang an, denn ich hab eigentlich ne Menge Geschichten in petto, die niemand kennen sollte." Er warf den Zigarettenstummel über seine Schulter hinweg in die Fluten und räusperte sich dann. Zeit, die stumme Meute mal ein wenig aufzumischen und Emo-Jamie den Wind aus den Segeln zu nehmen. Emo-Jamie. Er wischte den nagenden Gedanken beiseite und setzte zu seiner Geschichte an. "Früher, als ich so zehn, elf war, hab ich in so nem verkackten Häuserblock gewohnt. Das ganze Viertel schien aus so akkuraten Reihen zu bestehen", er verdeutlichte mit den Händen ihre Anordnung, "wodurch man keine Probleme hatte, in das Fenster der Leute zu glotzen, die einem direkt gegenüber wohnten." Selbst Jamie schaute nun, wenn auch mit ausdrucksloser Miene, zu ihm rüber, wohingegen ihm die Mädels längst an den Lippen hingen. Allen voran natürlich seine Freundin, die den schmutzigen, wenn auch manchmal etwas seltsamen Humor ihres Mannes lieben gelernt hatte. "Ja, jedenfalls", fuhr der Schlagzeuger mit einem schiefen Grinsen fort, "hatte ich das große Glück, dass in der Wohnung keine alte Schachtel wohnte, sondern so ne kleine, nette Familie mit einer hübschen Tochter im Teenageralter. Und die hatte ihr Zimmer genau meinem gegenüber." "Sag nichts", unterbrach ihn seine Freundin mit erhobener Hand und dem Anflug eines Lachens in der Stimme. "Nun kommt sowieso nur noch, dass du sie bespannert hast." Cari hob die Schultern. "Klar", brummelte er amüsiert. "Ey, was glaubst du, wie geil so was für nen Elfjährigen ist, der noch nie ne nackte Frau gesehen hat? Und Mann, die war manchmal echt nackt. Richtig nackt!" "Spitzbub", kommentierte Jamies Freundin nicht minder belustigt ob dieser Erzählung über die Entdeckung der Sexualität des kleinen Caris. "Du warst echt schon immer so n kleiner..." "N kleiner was?", hakte Cari keck nach. "Ein Weiberheld", half Caris Holde ihr aus und hakte sich bei ihrem Freund unter, sah ihn aus großen Augen von unten herauf an, wodurch sie für einen Moment lang aussah wie ein kleines Mädchen, das ihren Lieblingsstar anhimmelte. "Aber ich hab ihn gezähmt. Rawr." Als Erwiderung drückte Cari ihr einen behutsamen Kuss auf die Stirn. Mit einem Mal hatte sich eine gewisse Friedlichkeit über die kleine Idylle gelegt, die die beiden Verliebten miteinander teilten. Jamies Liebste weidete sich kurz an dem unverkennbaren Glück ihrer Freunde. Es war bewundernswert, wie zärtlich sie auch nach all diesen Jahren, in denen sie schon zusammen waren, miteinander umgingen. Und wahrscheinlich war es genau dieses Bild, welches ihr ein flaues Gefühl in der Magengegend bescherte. Denn auch sie hatte sich immer so eine Beziehung vorgestellt, mit einem zugänglichen Mann, der wusste, wie er ihr zeigen konnte, dass er sie liebten und begehrte. Sie schaute traurig hinüber zu dem Kerl, in den sie sich vor gar nicht so langer Zeit verliebt hatte, weil er solch eine tosende Leidenschaft versprühte, wenn er auf den Brettern stand. Dies hatte noch vor seiner Schönheit den Auslöser für ihre Gefühle dargestellt, denn es war ein Stück seiner Seele, die sie in ihrem Bann gezogen hatte. Doch von dem Mann, der ihr Freund geworden war, war nicht mehr viel übrig geblieben. Wenn sie es hätte beschreiben sollen, dann hätte sie gesagt, dass er gar nicht wirklich bei ihr war, sondern an irgendeinem Ort in seinen Gedanken. Er saß neben ihr, und trotzdem war er so weit weg. Als sie das Drücken hinter ihren Lidern spürte, beschloss sie, sich von ihren schwelenden Ängsten und Sorgen abzulenken. "Ich gestehe, dass ich schon mal geklaut habe", setzte sie an, wurde aber von Cari vehement unterbrochen. "Klauen ist doch Pipifax!", unterbreitete er seine Meinung, doch seine fuchtelnde Hand wurde von seiner Freundin mit einem mahnenden Blick hinuntergedrückt. "Lass doch", sagte sie nur kurz, und Cari hielt seine vorlaute Klappe. Schon deshalb, weil seine Blicke einmal mehr an Jamie hängenblieben, welcher eine Zigarette zwischen den Fingern hielt, aber diese gar nicht beachtete. Unberührt qualmte sie vor sich hin, während der Sänger hinaus auf die Weiten der See schaute. Wo zum Teufel war sein bester Freund nur? Seine Aufmerksamkeit fokussierte sich schnell wieder auf Jamies Freundin, die ihre Erzählung fortsetzte. "Ich hab ja auch nicht irgendwas geklaut", betonte sie. "Nee, ich hab mir mal eine ganze Handvoll Tangas unters Shirt gestopft, als ich Sechzehn oder so war. Denn meine Mutter hätte es mir nie im Leben erlaubt, solche aufreizende Unterwäsche zu besitzen." "Ah!", rief Cari aus und sah sie gespannt an. "Und? Hat deine Mom die Dinger irgendwann gefunden?" "Nö." Sie lächelte etwas nervös. "Also, irgendwie schon, denn bei dem Diebstahl hat man mich erwischt und na ja...meine Mutter wurde her zitiert und hat die ganze Scheiße natürlich gesehen. Ich schäme mich noch heute irgendwie, wenn ich an ihren Blick zurückdenke. Richtig gruselig." Sie schüttelte sich angewidert, doch Cari lachte nur, während dessen Freundin, die noch immer an der Schulter ihres Mannes lehnte, ein erheitertes Lächeln für die Situation übrig hatte. "Mann, ich würde sagen, du bist echt ein gutes Mädchen", urteilte Cari. "Zu gut für Jamie auf jeden Fall. Der zeigt nämlich nie auch nur die geringste Spur von Reue, wenn er mir auf Tour das Duschbad klaut. Ein ganz Schlimmer ist das." Als er merkte, dass über ihn gesprochen wurde, hob der Sänger den Kopf. Für einen kurzen Moment trafen sich Caris und seine Blicke und klebten so lange aneinander, bis es beiden leicht unangenehm wurde. Zack präsentierte Jamie seinem Kumpel anstelle den Mittelfinger, und natürlich erhielt er als Antwort von diesem ebenfalls einen. Cari fiel ein immens großer Stein vom Herzen, als er das Lächeln in den hellen Augen seines Freundes entdeckte. "Komm jetzt her, Mann!", rief er ihm zu und winkte ihm. "Zu meiner Linken ist noch frei!" Und Jamie setzte sich tatsächlich in Bewegung. Auf einmal schien wieder etwas von seiner selbst in ihm Einzug gehalten zu haben, ganz zur Freude der drei anderen, die ihn freudig in ihrer Mitte aufnahmen. Allerdings pflanzte er seinen Hintern nicht auf den leeren Platz neben Cari, sondern auf jenen neben seiner Freundin, die ihn dafür dankbar ansah. Die Herstellung von Körperkontakt wagte sie allerdings nicht, denn Jamie tat sich damit auch an guten Tagen immer etwas schwer. Wenn die anderen nur gewusst hätten, mit was er sich noch alles schwer tat. Wie selten er wirklich auf der Suche nach Zärtlichkeit in Form von Küssen oder Sex war... Doch die Methode Verdrängung war zu ihrem treusten Verbündeten geworden. Inzwischen nahm sie alles hin, was ihrem Freund so zu eigen war. Weil sie ihn liebte und ihn um keinen Preis der Welt verlieren wollte. Obwohl sie wusste, dass sie ihn bereits verloren hatte. Nein: Dass er nie ganz der ihre gewesen war.   "Chrissi, hau raus", ermunterte Cari seine Freundin dazu, nun über eine ihrer Jugendsünden zu berichten. Zunächst lachte die junge Frau nur, doch dann seufzte sie ergeben und begann zu sprechen. "Ich weiß, das ist voll scheiße, aber ich hab mal die Nacktfotos von meinem Ex ins Internet gestellt." Ein Johlen und Raunen ging durch die Runde. Dieses Mal war es ausgerechnet Jamies Liebste, die sich am enthusiastischsten bei diesem Chor beteiligte. Wahrscheinlich, weil es sich hierbei einfach um ein Frauending handelte. Um etwas, zu dem Mädels mit verletzten Gefühlen nun einmal neigten. "Ja, was denn?", versuchte Caris Freundin den Krach zu übertönen, bei dem selbst Jamie mitmachte. "Der Typ war ein Arsch, also war ich auch arschig zu ihm. Pech gehabt. Hätte er sich früher überlegen sollen." "Oje, da muss ich ja nun aufpassen, was ich sage", befand Cari, nachdem die Aufregung ein wenig abgeebbt war, "sonst laufe ich Gefahr, dass mein Schwanz auch irgendwann im Internet zu sehen ist." "Gibts von dir denn Nacktbilder?", wollte Jamie wissen, wurde allerdings von Chrissis lauter Stimme übertönt. "Wenn du mir treu bist, mein Schatz, dann wirst du auch keine böse Überraschung erleben", feixte sie und tätschelte den nackten Arm ihres Freundes. Cari seufzte erleichtert. "Na da bin ich ja beruhigt. Ich hatte nämlich nicht vor, eine Karriere als Pornostar zu starten." "Aber du würdest damit massig Kohle verdienen", warf Jamie ein. "Jedenfalls mehr, als du jetzt hast." Cari runzelte skeptisch die Stirn und schüttelte den Kopf. "Nee, glaub nicht. Ich schaffs ja nicht mal abseits der Cam, nem Mädel vorzugaukeln, ich wäre geil auf sie." Er schlug sich mit der Faust auf den Schenkel. "Entweder ich bin geil auf sie, oder ich bins nicht. Und wenn ichs nicht bin, dann fick ich sie auch nicht." "Du alter Blödmann!", lachte seine Freundin laut auf und schlang den Arm um seine Schultern, während sie glucksend weitersprach. "Manchmal glaub ich, du hast deinen IQ zu Hause gelassen." Cari ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. "Ohne Intelligenz lebt es sich leichter", erwiderte er mit gespielter Arroganz in der Stimme und erhobenem Haupt. Seine Augen jedoch wanderten verstohlen zu Jamie hin. "Nicht wahr, Alter? Davon kannst du doch ein Lied singen." Abermals reagierte Jamie mit seinen Mittelfingern auf die Worte seines Freundes. "Ich komm dir gleich den Arsch versohlen, wenn du frech wirst." Weiterhin blieb Cari die Coolness selbst. "Na immer noch besser, als wenn du mir deinen Stinkefinger den Darm hochschiebst." Stolz sonnte er sich in dem Gelächter seiner Mitmenschen, stellte dieses doch das größte Kompliment an seine komischen Witze dar. Sogar Jamie wirkte nun ansatzweise ausgelassen und grinste unverhohlen. Erst als sich ihre Blicke abermals trafen, wurde Cari bewusst, dass er seinen Kumpel die ganze Zeit über angesehen hatte. Schnell beguckte er sich die Bierflasche, die zwischen seinen Beinen auf dem Boden stand und fummelte an deren Hals herum. Erst dann wagte er es abermals, ein Kopfrucken in Jamies Richtung anzudeuten. "Du bist dran, Kunde", legte er fest und schlug die Faust in die andere Hand. "Und du bringst jetzt ein Ding, das die Dinger von uns so richtig toppt, klar?" Er wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. "Schließlich bist du die personifizierte Sünde, Mann." Das Gelächter war längst verstummt, die Stimmung allerdings befand sich noch immer auf ihrem Höhepunkt, der gehobenen Mundwinkel aller Anwesenden nach zu urteilen. Jamies allerdings fielen mit Caris Worten prompt nach unten. Verhalten schwieg er, währen die Augen aller auf ihn gerichtet waren. "Jamie?", fragte seine Freundin vorsichtig nach, doch da hob er auch schon entschieden den Kopf. "Ich bin bi." Mehr brauchte es nicht, um ein Schweigen der Betroffenheit aus jenem der Friedfertigkeit werden zu lassen. Für ein paar quälend lange Sekunden sagte niemand auch nur ein Wort. Dann jedoch sprang Jamies Freundin auf und rannte davon, rettete sich in die Kajüte. Das Letzte, was Cari aufgefallen war, war die Hand, die sie sich vor den Mund geschlagen hatte. Der Schock saß anscheinend tief bei ihr. Verständlicherweise. Auch Chrissi wirkte etwas nachdenklich, doch nicht ansatzweise so bestürzt wie Helena. Schließlich war es ja auch nicht ihr Freund gewesen, der solch ein unerwartetes Geständnis gebracht hatte, das tiefgreifende Veränderungen in jeder Beziehung bewirken konnte.   Jamie hatte sich inzwischen wieder in sein Schneckenhaus zurückgezogen und saß zusammengesunken da, den Blick auf einen Punkt auf dem Boden gerichtet. Das wars. Heute würde er sich wohl nicht noch einmal aus der Reserve locken lassen. Denn auch an ihm nagte diese Sache sicherlich zur Genüge. Es war nicht einfach, mit solch einer Sache herauszurücken. Aber es war auch nicht leicht, sie ewig hinter dem Berg zu halten. Doch sie gehörte nun einmal zu seiner Seele und hatte sich nicht mehr länger verleugnen lassen. Nicht mehr jetzt, wo er sie doch mehr in sich wahrnahm als je zuvor...   "Ich glaub, ich geh schlafen, es ist schon recht spät", befand Chrissi ein wenig hilflos, erhob sich und nahm Caris Hand. "Kommst du mit?" Er wusste nicht so recht, welche Entscheidung richtiger gewesen wäre. Oder auch, welche sich als falscher erwiesen hätte. Ja, womöglich wäre alles falsch gewesen, was er nun getan hätte. Deshalb nickte er und folgte seiner Freundin wortlos unter Deck. Allerdings konnte er es sich nicht verkneifen, sich auf der Treppe noch einmal umzudrehen und seinem Freund einen Blick zuzuwerfen, der wie ein schwarzer, verlorener Schatten auf der Bank hockte. Er glaubte, noch nie jemanden gesehen zu haben, der so einsam war.     *     Er fand erst weit nach Mitternacht in den Schlaf. Die schwedischen Sommernächte machten es einem nicht gerade leicht, ein Auge zuzutun, waren sie doch fast durchgehend hell, und auch wenn Cari es sich angewöhnt hatte, zu jeder Tageszeit und in jeder noch so kleinen Ecke in die Traumwelt abdriften zu können, so war die heutige Nacht eine, in denen es ihm nicht gelang, einfach einzuschlummern. Jamies Bett blieb auch nach Stunden noch unberührt, und von Caris bestem Kumpel war weit und breit keine Spur zu sehen. Besorgnis mischte sich unter seine ohnehin schon durcheinander wirbelnden Gedanken, die nur um Jamie und dessen plötzliches Outing handelten. Immer wieder tauchten dieselben Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Er sah einen Jamie, der sich versteckt hatte, hinter einer dicken, undurchdringlichen Eisschicht, weil sich sein Herz in diesen bedeutungsschweren Stunden vor Verletzungen fürchtete. Er hatte sich ihnen offenbart, und das, obwohl er genau gewusst hatte, dass seine Freundin nicht gerade begeistert reagieren dürfte. Er hatte zu sich und seinen Gefühlen gestanden. Es war richtig gewesen. Und gleichzeitig so falsch.   Cari hielt nun nichts mehr in seinem ohnehin sehr unbequemen Bett. Kurzerhand schlug er die Decke zurück und tappte nur mit seiner Unterhose bekleidet über den Holzboden, darauf bedacht, keinen Lärm zu machen und die Mädels mit diesem zu wecken. Tumult galt es nun zu vermeiden. Dieser hätte alles nur viel schlimmer gemacht.   Der schwarze Schatten hatte sich vor die nachmitternächtliche Sonne geschoben und verharrte in Unbeweglichkeit an der Reling. Cari wusste mit einem Mal nicht mehr, ob er es wirklich tun sollte. Wahrscheinlich, ja bestimmt brauchte Jamie nun schlicht und ergreifend seine Ruhe, um mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen und seine Gedanken zu ordnen. Doch bis dieser Prozess vollendet war, konnten Wochen, Monate, ja sogar Jahre vergehen, und so lange durfte Cari Jamie nicht sich selbst überlassen. Er konnte nicht zuschauen, wie er haltlos in den Abgrund stürzte und irgendwann aufschlug. Er wusste, dass er ihn vorher auffangen musste. Schließlich waren sie Freunde. Beste Freunde.   Er setzte einen Fuß vor den anderen. Langsam, bedächtig, so, als würde er sich an ein scheues Tier anpirschen. In seinem Bauch flimmerte Nervosität, doch er drängte sie in den Hintergrund. Schließlich stützte er sich direkt neben Jamie auf die Reling und schaute auf das Meer hinaus. Nun konnte er sie sehen, die tiefstehende Sonne der Nacht.   Zuerst taten sie nichts anderes als sich anzuschweigen. Einfach, weil einem in solch einer Situation nun einmal die Worte fehlten. Doch dann beschloss Cari, einfach zu sprechen zu beginnen. Irgendwo mittendrin in der Materie anzusetzen. "Wie lange weißt du es schon?" Jamie hob die Schultern. "Schon ewig", erwiderte er leise und ließ seine Worte fast wie eine Frage klingen. "Manchmal war es stärker, manchmal schwächer. Und manchmal...hat es mich lange ganz in Ruhe gelassen..." Caris Blicke wanderten von der malerischen Landschaft hin zu seinem Freund. Nun wirkte er nicht mehr wie ein dunkler Schatten seiner selbst. Cari musste sogar feststellen, dass er ein bisschen so wie immer aussah. Sein langes, schwarzes Haar flatterte im Wind und gab ein Stück seines Ohrs frei, sodass Cari den kleinen silbernen Ring erkennen konnte, welcher sein Läppchen zierte. Die Mundwinkel des Schlagzeugers begannen zu zucken. Ja, Jamie sah ein wenig so aus wie immer. Denn er war schön. Einfach nur schön. Und mit einem Mal so erreichbar wie nie zuvor.   "Ich habs mir schon gedacht", erwiderte Cari. "Was?" "Na, dass du bi bist." "Und woran hast du es gemerkt?" Cari überlegte eine Weile. "Ich weiß nicht", meinte er dann und legte den Kopf schief. "Ich hab das irgendwie...gespürt." Jamie schwieg kurz, dann sagte er: "Sonst scheint aber niemand etwas gemerkt zu haben." Die Augen des Schlagzeugers tasteten über das Profil des anderen. "Vielleicht stehe ich dir einfach näher als alle anderen, und deshalb habe auch nur ich es gemerkt." Jamie wandte ihm sein Gesicht zu. Zuerst wusste Cari nicht, wie er den Ausdruck in seinen Augen deuteten sollte, doch dann glaubte er, Verwunderung daraus lesen zu können. Dieser Moment währte allerdings nicht sehr lange. Genau wie all die anderen nie lange gewährt hatten, in denen sie Blickkontakt gehabt hatten. Wieder sagte für eine lange Zeit niemand etwas. Cari konzentrierte sich auf das funkelnde Wasser, während das Boot weich über die Wellen glitt. Allerdings nahm er weder das eine noch das andere wirklich war. "Ich schleppe das schon viel zu lange mit mir herum", sagte Jamie irgendwann in die Stille der mondlosen Nacht hinein. "Es ist gut, dass es nun raus ist. Ist ja jedem seine Sache, wie er damit umgeht." Der Schmerz, der in dem letzten Satz mitschwang, war unüberhörbar. Cari wusste, dass Jamie seiner Freundin nicht mit voller Absicht vor den Kopf stoßen wollte, sondern dass dies eben ein unvermeidbarer Nebeneffekt seines Outings darstellte. Jamie verletzte nicht gerne Menschen, die er in sein Herz geschlossen hatte. Lieber verletzte er sich selbst. Das war schon immer so gewesen.   "Es war mutig", entgegnete Cari, um überhaupt etwas zu sagen. Abermals hielt er inne und versuchte, die Dinge zu greifen, die ihm durch den Kopf gingen, versuchte, sie in Worte zu verpacken, doch das gestaltete sich als schwierig. Er hatte so viele Fragen an Jamie, jetzt, wo es sich so anfühlte, als würde er ihm zum ersten Mal wirklich gegenüberstehen. Doch er wusste nicht, ob er sie stellen konnte. Ob er sie stellen durfte. Er spürte, dass ihre Beziehung so labil war wie nie zuvor und ein falsches Wort womöglich genügt hätte, um aus Jamie wieder den schwarzen, einsamen Schatten werden zu lassen, der haltlos in seinen Abgrund stürzte. Doch er musste es wagen. Er hätte es bereut, wenn er es nicht getan hätte. "Hast du schon mal was mit einem Mann gehabt?" Jamie kratzte sich mit den Nägeln leicht über seinen tätowierten Arm. Er wandte sein Gesicht ab. "Nein." Noch nicht, ergänzte Cari in Gedanken. Noch hast du deine Neigungen unterdrücken können, doch das wird nicht auf ewig so sein. Früher oder später würde ein Mann in sein Leben treten, der ihm nahe sein wird, näher als es je ein Freund sein würde. Nicht, dass Cari fürchtete, Jamie könnte sich verlieben - nein, das, wovor er sich fürchtete, war, diese eine Gelegenheit zu verpassen. Die Gelegenheit, Jamie wirklich zu erreichen. Einmal nur. Einmal derjenige zu sein, der ihn voll und ganz erfüllte. Der Erste zu sein, der ihm zeigte, wer er war.   Caris Herz wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer. Es stand alles auf dem Spiel. Alles oder nichts. Er wünschte sich, dass ihm jemand diese Bürde abnehmen würde, doch wenn es Jamie nicht tat, dann würde es niemand tun. Das musste er ganz allein in die Hand nehmen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Und es zu riskieren. "Würdest du auch mit mir...?" Er kam sich wie in einen seltsamen Film versetzt vor. Die ganze Szene schien so irreal und verkrampft, dass er ihr am liebsten entkommen wäre. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Jamie drehte langsam den Kopf in seine Richtung. Und dann sah er ihn an. Sekundenlang. Seine Augen wirkten wie aus Glas. Dieses Mal unterhielten sie den Blickkontakt. Fünf Herzschläge. Sechs. So lange, wie nur ein Täter seinem Opfer in die Augen sah. Oder zwei Kerle, die längst etwas im Stillen beschlossen hatten, vor dem es keine Rettung mehr gab. Es bedurfte keiner Antwort von Jamies Seite. Seine Blicke hatten bereits für ihn gesprochen, und Cari hatte ihr Flehen vernommen, ihr stummes Rufen. Vorsichtig schob er sich näher an seinen Freund heran, so weit, bis sich ihre Arme sacht berührten und er sicher war, dass Jamie nicht im letzten Moment Reißaus nehmen würde. Doch er tat es nicht, sondern sah Cari wartend an. Als sich ihre Nasenspitzen sanft berührten, senkte er die Lider und ließ es auf sich zukommen. Vergaß alles um sich herum und fühlte nur noch. Schmeckte den innigen Kuss seines besten Freundes, der das Prickeln in seinem Bauch zum Explodieren brachte. Immer gieriger, verzweifelter schnappten ihre Lippen nacheinander, bis sie sich schließlich endgültig fanden und es nichts anderes mehr gab als das wilde Spiel zweier Zungen, die zu zwei übermütigen Kerlen gehörten. Cari wurde erst bewusst, dass er seine Hand in Jamies dichtem Haar vergraben hatte, als sie sich atemlos voneinander lösten und ansahen. Und da spürte er auch, dass Jamie seinen Arm viel zu fest umklammert hielt. Fast, wie um zu sagen: Lass mich nie wieder los...   Das tat er auch nicht. Zumindest nicht während der nächsten halben Stunde, in der sie zusammen waren. Caris Arme hatten sich um den Körper Jamies geschlungen, und seine Finger verkrampften sich in dessen Shirt, wann immer ihn diese seltsam-schöne Welle des Glückes umspielte, der Lust aufeinander, von der sie zuvor noch nicht einmal geahnt hatten, dass der andere sie ebenfalls in diesem Ausmaß empfand. Wahrscheinlich war es die gewisse Überforderung von der ganzen Situation und all den Gefühlen, die für Jamies absolute Passivität gesorgt hatte. Es war nicht leicht für Cari, seinen Freund zu halten, der keinerlei Reaktion auf sein Tun zeigte, ihm durch nichts signalisierte, dass er es genoss, was er mit ihm machte. Doch er konnte sie nur nicht sehen, die Hände des Sängers, die sich um die Halterung der Reling verkrampften, bis seine Knöchel weiß hervortraten, genauso wenig wie sein vor Anstrengung verzogenes Gesicht. Und erst recht konnte er nicht die tausend, unsichtbaren Schmetterlinge sehen, die in diesen Augenblicken in Jamie freiwurden. "Ich...ich halte es nicht aus", stammelte er irgendwann mit sich überschlagender Stimme, als Cari dreimal hintereinander jenen Punkt in seinem Inneren berührt hatte, der eine intensive Lust ohne Gleichen in ihm aufwallen ließ. "Mein Bauch platzt gleich..." Sanft aber bestimmt schob Cari seine Hände unter das Shirt seines Freundes und streichelte dessen angespannte Bauchmuskeln. "Gleich ists vorbei", flüsterte er gegen Jamies Hals. "Gleich ist alles vorbei." Er bemühte sich um ein paar besonders heftige Stöße gegen den Hintern seines Freundes, die ihn erstickt wimmern ließen, und Cari wusste, dass es sich dabei um leise, unterdrückte Schreie der Lust handelte. Sie mussten leise sein, durften sich nicht verraten, weshalb Cari sich wenig zärtlich in Jamies Schulter verbiss, in den schönen, knackigen Trapezmuskel des anderen, um den Schrei zu verbergen, der sich mit seinem Orgasmus aus seiner Kehle zu drängen versuchte. Jamies Enge und erst recht seine wahnsinnige, erregte Hitze hatten ihren Tribut gefordert und sie beide mit sich gerissen. Der Sänger verkrampfte sich heftig und atmete zweimal in verzweifelter Hektik, bis sein Kopf nach vorn sackte und es nichts anderes mehr als ein großes Nichts hinter seiner Stirn zu existieren schien. Die Welt um ihn herum wurde schwarz, und alles, was er noch fühlte waren die starken, warmen Arme seines besten Freundes um seinen Leib herum sowie dessen schwerer Atem, der über seine Schulter strich. So standen sie beieinander, ineinander, eine halbe oder auch eine ganze Ewigkeit, erschöpft und zu Tode betrübt in ihrem himmelhochjauchzenden Glück.   *   Es musste früher Morgen sein, doch so genau wusste das keiner von ihnen. Und es spielte auch keine Rolle mehr. Die Zeit hatte ihre Bedeutung verloren, genau wie alles andere. Die Erinnerungen an diese fatalen Minuten schwelten nach wie vor in ihren Köpfen sowie ihren Körpern, doch umso ferner sie rückten, umso schwächer sie wurden, desto stärker setzte ihnen ihr Verstand zu. Die Sonne stand höher am Himmel als noch vorhin, wo sie sich ohne jeglichen Schutz gespürt hatten. Und doch blendete sie die beiden Männer nach wie vor, welche es sich auf den Bänken auf Deck mehr oder minder bequem gemacht hatten, einfach, weil sie nicht mehr wussten, wohin sie gehen sollten. Jamie, der sonst stets penibel darauf achtete, dass jede Strähne seiner langen Haarpracht an ihrem Platz lag, scherte sich heute kein Stück darum, ob der erneut aufkommende Wind sie vollkommen zerzauste. Wahrscheinlich war, dass er nicht einmal Notiz davon nahm, denn sein in die Ferne gerichteter Blick verriet, dass er sich in seinen Gedanken verloren hatte.   "Bereust du es?" Zunächst zeigte Jamie keinerlei Reaktion auf diese Frage, doch dann sah er Cari ins Gesicht. Lange schwieg er. "Ich wünschte, ich könnte es." "Und wenn du die Chance hättest, es noch einmal zu tun...?" "...würde ich sie ergreifen." Keiner der beiden sagte für mehrere Minuten etwas. Doch dann setzte Cari zu einem zynischen Schnauben an. "Bin gespannt, wann meine Nacktbilder im Internet zu sehen sein werden." "Wenn du die Website kennst, gib mir den Link", erwiderte Jamie. Cari grinste in dem Versuch, die Sache mit Humor zu nehmen. Doch es gelang ihm nicht so recht, was sein dünnes Lächeln verriet. Freundschaftlich sowie aufmunternd tätschelte er Jamies Knie. "Ich glaube, du wirst die Pics nicht brauchen, wenn du dir das alles live angucken kannst", schmunzelte er schon etwas echter. "Jederzeit. Du musst nur die Klappe aufmachen." Als er dem anderen für ein vorläufig letztes Mal zuzwinkerte und dann aufstand, fragte er sich ernsthaft, wie etwas so Schönes nur so falsch sein konnte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)