Der Räuberhauptmann von Nellas ================================================================================ Kapitel 1: Die Hütte am Wald ---------------------------- Was war das?! Hagen schreckte hoch, sank aber sofort wieder zurück in die harte Strohmatte. Er hielt sich die Brust, als könne er den schnellen Atem dadurch verlangsamen. Sein Kreuz hatte eine so plötzliche Belastung nicht mehr so gern wie früher... Wieder knarrte die kleine Treppe, die zur Haustür der bescheidenen Hütte führte. Da kam jemand. Wie spät war es? Er musste wieder eingeschlafen sein. "Th-", begann er in den Raum hineinzukeuchen, doch er brach ab und musste husten. Dieser verflixte Strohstaub! Entweder es war vollgesogen und matschig, oder es stach und raubte ihm den Atem. Es war ohnehin so stickig in seiner winzigen Kammer! Aber um ein Fenster zu öffnen war es draußen zu kalt. Außerdem befand sich das Fenster ganze vier Schritte entfernt, am anderen Ende des Raumes. Er müsste sich aufsetzen, die Füße aus dem Bett heben, seinen Stock finden... nein. Nein nein. Es war ohnehin zu kalt draußen. Nicht dass es hier drin bedeutend wärmer war. Wenn die Kälte durch die Ritzen der hölzernen Wand dringen konnte, warum dann nicht auch frische Luft? Langsam beruhigte sich sein Atem. Das Quietschen des rostigen Schlosses sollte Hagen eigentlich nicht so erschrecken. Wer kam schon hierher außer sein Enkel? Doch die Schritte hatten schwerer geklungen, und auch das Öffnen und Schließen ging noch rumpelnder vonstatten als sonst. "The-o?", fragte er mit brüchiger Stimme richtung Tür. Keine Reaktion. Ein erneuter Hustenanfall wallte auf. Während aus der Stube nebenan Schritte hin- und herknarrten, Schubläden geöffnet und geschlossen wurden und etwas Schweres den Fußboden zu biegen begann, bekam sich Hagen langsam wieder unter Kontrolle. Ein Einbrecher? Das konnte er nicht zulassen! Wie sollte er sich um seinen Enkel kümmern, wenn ihnen jetzt auch noch jemand das Wenige das sie hatten stahl? Ächzend zog er sich an der Wand hoch und sackte wieder zurück. Sein Rücken hatte ihm die plötzliche Bewegung vorhin noch nicht verziehen. Er rutschte etwas weiter richtung Kopfende, um beide Wände des Zimmerecks, in dem der wackelnde Holzrahmen namens Bett stand, zu Hilfe zu nehmen. Diesmal beschwerte sich auch seine Hüfte, aber es ging. Blinzelnd versuchte er den krummen Rücken zu strecken, während er nach seinem Stock tastete. Jeder Wirbel schien stechend zu knacken. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen, aber dann schloss sich seine Hand endlich um den Griff seines Stocks und die Nebel lichteten sich. Mühsam rückte er sich auf dem piekenden Stroh zurecht, um seine Beine über die Bettkante schieben zu können. Die Schritte im Nebenzimmer liefen noch immer mal hierhin, mal dorthin, verweilten etwas, kamen zurück... Na warte nur, niemand bestahl Hagen ungestraft. Er war nicht mehr so gut in Form wie früher, aber sein Stock konnte sehr weh tun! "Wer ist da!", verlangte er zu wissen. Die einzige Antwort war das Zufallen eines Schränkchens. Ein Wimmern unterdrückend sank er beim ersten Versuch, sich hochzustemmen, wieder zurück aufs Bett. Komm schon Hagen, du bist ein stattliches Mannsbild! Du hast dein Leben lang hart gearbeitet, und jetzt wo es um die gesamte Existenzgrundlage geht kommst du nicht einmal mehr vom Bett hoch?! Mit zusammengebissenen Zähnen gelang der zweite Versuch. Er musste kurz verschnaufen. Schwer stützte er sich auf den Griff seines treuen Stockes. So schwer, dass er sich kaum vorstellen konnte, ihn für den nächsten Schritt etwas nach vorne zu rücken. Die Treppe knarrte wieder. Hatte er den Dieb entkommen lassen?! Das konnte nicht sein! Entschlossen nahm er das Gewicht seiner schweren Schultern vom Stock und wuchtete sich einen Schritt nach vorn. Sein Kreuz ächzte noch stärker als er. Zitternd nahm er die obere Hand vom Stock und versuchte, die Türklinke zu erreichen. Aber er war noch nicht nah genug. Er stemmte sich wieder mit beiden Händen auf den Stock und bereitete sich auf den nächsten Schritt vor. Da kamen die Schritte zurück. Das war ein Fehler, mein Freund... Keuchend lastete sein Gewicht wieder auf dem Stock, einen Schritt weiter. Er war jetzt nah genug an der Tür, um sie zu öffnen. Gleich. ...Moment. Was hörte er da? War das... FEUER?! Der Einbrecher war zurückgekommen, um die Hütte anzuzünden!! Aber wenn... wo sollten sie... was würden sie...? Panisch stützte sich Hagen auf die Türklinke und hievte sich zwei kleine Schritte auf einmal zur Seite, um die Zimmertür aufzureißen und seinen Mörder und den seines Enkels zu stellen. Diese Hütte war alles was sie hatten! Der arme Junge war noch ein halbes Kind, ein Vollwaise ohne Arbeit und Zukunft! Ohne ein Dach über dem Kopf standen sie vor dem Nichts! Die einzige Frage wäre, ob sie zuerst verhungern oder erfrieren würden! Hagen konnte kaum etwas sehen, seine verschwommene Sicht ließ ihn nur Umrisse erkennen. Was war nur mit seinen Augen los, sie waren sogar noch schlechter als sonst, ausgerechnet jetzt...! Am Rande seines Bewusstseins bemerkte er, wie ihm vor Angst eine Träne die Wange hinunterlief. Der Umriss vor ihm bewegte sich! Schwer stützte er sich auf die Türklinke. Jeder Knochen ächzte und zitterte, doch er holte aus. Der Umriss vor ihm richtete sich auf und kam näher. Der Einbrecher hatte ihn bemerkt! Mit der Macht der Verzweiflung ließ Hagen seinen treuen Stock auf den Umriss krachen, doch der hielt die Gehhilfe einfach fest. Mit eisernem Griff. Als wäre es nichts. "W...?! Nimm den Stock runter, Opa!" Mit aller Kraft versuchte Hagen, der verschwommenen Gestalt vor ihm seine letzte Hoffnung zu entreißen, aber es war aussichtslos. Immer mehr Tränen trübten seinen Blick, er wusste einfach nicht weiter. "Du hast mir doch versprochen heute im Bett zu bleiben! ...Opa? Alles ist gut, Opa. Ich bin es, Theodor. Erkennst du mich? Es ist alles gut..." Schluchzend sackte Hagen in den Armen seines Enkels zusammen. Die Erleichterung löschte die Angst keineswegs aus, gegen alle Vernunft vergrößerte sie sich nur. Das war zu viel. Das war einfach zu viel. "Schon gut Opa, es war nur ein Albtraum. Ich bin hier. Ich bin ja da, Opa..." Es war kein Traum! Und es konnte jederzeit passieren! Sie waren völlig ungeschützt abseits des Dorfes, ein Kind und ein Greis, der Wildnis ausgeliefert. Die schiefe Haustür hielt nicht einmal Wind und Wetter stand, und erst recht keinem Gesindel, das sich hier immer öfter herumtrieb! Jeden Tag könnte es sein, dass ihnen jemand alles nahm, das sie hatten. Hagen hatte immer gut für Theodor gesorgt, aber wenn heute oder morgen seine Lebensgrundlage zerstörte... dann... dann konnte Hagen nichts tun... er konnte nicht das Geringste tun... "Alles ist gut, Opa. Na komm, setz dich ans Feuer. Ist ja gut Opa, komm lass dir helfen..." Welche andere Wahl hatte Hagen denn? Egal wie sehr er es versuchte, er konnte den festen Griff seines Enkels nicht abschlütteln, der ihn einfach hochzog und ihn auf den zwei Schritte entfernten Schaukelstuhl am warmen Kamin setzte. Als wäre es nichts. Nicht nur, dass er nicht für den kleinen Theo sorgen konnte. Er schaffte es nicht einmal, seine Hilfe abzulehnen... Resigniert ließ er sich von der dünnen Wolldecke einwickeln, die seinerzeit seine Tochter gestrickt hatte. "Da siehst du, ist doch schon besser." Seine liebe, brave Leonore... Hilfsbereit bis zum Ende. "Nein, nein, alles ist gut... Sieh her, ich habe ein ausgewachsenes Rebhuhn gefangen! Die Suppe ist bald fertig, die wird dir guttun." Blinzelnd besah sich Hagen seinen Enkel im flackernden Feuerschein. Erwachsen sah er aus, der kleine Theo. Viel zu erwachsen. Hier war die Luft besser als in seiner zugigen dunklen Kammer. Das Feuer war warm. Es roch nach Fleischbrühe. Die Decke tat seinen müden Knochen gut. Doch nichts davon war Hagens Verdienst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)