Mit Anderen Augen von Rockryu (Oneshot-Sammlung zu Nebencharakteren meiner eigenen Story) ================================================================================ Vertrauen --------- Es gab Ninja, es gab NINJA und es gab Shiro. Shiro, den perfektionistischen neuen Grafen. Okay, offiziell hieß der neue Graf „Schatten der südlichen Insel“. Da es vom Grafen erwartet wurde, seine Identität zu verschleiern, wurde er unter einem Decknamen gewählt. Jetzt, da er gewählt war, war er einfach der 217. Graf. Shiro war froh, den blöden Decknamen los zu sein, auch wenn es unter seinen Konkurrenten schlimmere gegeben hatte. Es gab Tage, so wie heute, da fragte er sich, warum er den Job überhaupt gewollt hatte. Das Oberhaupt aller Ninja zu sein und außerdem das einzige menschliche Mitglied des hohen Rates von Hinode hatte manchmal was von einer Pflicht als Vollzeitloser, Depp vom Dienst und Kindergärtner. Gaiken, der Clanführer der Marderhunde, war einigermaßen umgänglich, auch wenn Shiro ihm nicht vertraute, aber der Rest… Nicht, dass Shiro ehrenhafte Politiker erwartet hätte. Dieser Ausdruck war an sich paradox. Und auch er war mit fast allen Wassern gewaschen. Seine Wahl war sowohl triumphal als auch traurig gewesen. Er hatte jedem seiner Konkurrenten Mord, Mordplanung oder Mordversuch an einem anderen nachgewiesen und war als einziger Kandidat übrig geblieben. Dass jemand ehrlich war, hatte er kaum in Betracht gezogen. Die Ninja waren korrupt geworden und er beabsichtigte, sie wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zuzuführen: Die Menschen zu beschützen. In Hinode herrschten seit fast 500 Jahren die Dämonenclans. Das war nicht so schlecht, wie es sich anhörte. Nach fast 100 Jahren Bürgerkrieg zwischen Menschen und Dämonen war das die Einigung gewesen. Die Dämonen bekamen Macht, und damit die Verantwortung, die Verwaltung und Verteidigung zu übernehmen. Die Ninja wurden im selben Atemzug als Opposition eingesetzt: Menschen, ausgebildet um es mit Dämonen aufnehmen zu können, sollten darüber wachen, dass die Dämonen ihre Macht nicht missbrauchten und wurden an der Regierung beteiligt. Eigentlich kein schlechtes Konzept, nur neigten Menschen und Dämonen dazu, mit der Zeit korrupt zu werden. Und Shiro gestand den Dämonen durchaus zu, dass es bei ihnen weniger gravierend war, zumindest bei den hinodischen Dämonen. Und nur die waren in diesem Fall relevant. Kurz gesagt saßen im hohen Rat die Herzöge der drei Clans, ein auf zehn Jahre gewählter Vertreter jedes Clans und der Graf, das Oberhaupt der Ninja. Und Shiro hatte vor, sicherzustellen, dass zumindest seine Ninja ihrer Aufgabe nachkamen. Routiniert ging der Graf am Schreibtisch in seinem Büro ein paar Anträge durch. Am Anfang hatte es ihn irritiert, in Kampfanzug und Maske Büroarbeit zu verrichten, aber inzwischen hatte er sich dran gewöhnt. Beim dritten Antrag auf Eliminierung eines anderen unterdrückte er nur mit Mühe den Drang, sich an die Nasenwurzel zu greifen. Heute wollte ihn anscheinend jeder ärgern. Noch einmal ging er den Antrag durch. Er kannte den Antragsteller. Charmante Schlange. Nein, halt, das war eine Beleidigung für Schlangen, nur leider fiel ihm keine andere Bezeichnung ein. Er benutzte seine vertrauenerweckende Ausstrahlung, um sich Vertrauen zu erschleichen und zu bekommen, was er wollte. Gut, dass Shiro ein paar Sachen mehr wusste als der Graf. Ursprünglich wurde die Identität des Grafen verschleiert, um dessen Familie zu schützen. Shiro hatte keine Familie. Er nutzte diese kleine Vergünstigung, um an Informationen zu kommen, die man dem Grafen nicht geben würde. Da er relativ jung war, ging er ohne Maske und in schlichter Kleidung als Ninjanovize durch, der in der Kirschblütenburg Botengänge machte. So bekam man Einiges mit, aber er würde große Schwierigkeiten bekommen, wenn jemand herausfand, dass der Novize Shiro der Graf war. Jedenfalls hatte Shiro ein Gespräch mitgehört, in dem klar wurde, dass der charmante Antragsteller in eine delikate Angelegenheit verwickelt war und jemand davon Wind bekommen hatte, zufälligerweise genau derjenige, dessen Namen auf dem Antrag stand. Entschlossen drückte er seinen „gegen Antragsteller ermitteln“ Stempel auf das Blatt. Er hatte vier Stempel für Anträge: „Angenommen“, „Abgelehnt“, „Fall untersuchen“ und ebenjenes „gegen Antragsteller ermitteln“. Gerade bei Eliminierungsanträgen, die eigentlich dazu gedacht waren, schwarze Schafe elegant loszuwerden, verwendete er ihn sehr oft. „Guten Abend, Graf!“ „Anklopfen, Kasai!“ Nur Kasai klopfte nicht an. Eigentlich hatte Shiro längst aufgegeben, ihm das an zu erziehen, doch er würde ihn immer darauf hinweisen. Und Kasai würde es immer ignorieren. „Du siehst etwas abgespannt aus.“ „Wundert dich das?“ „Nein…“ „Kannst du mir die Tagesordnung von der nächsten Sitzung im Vorfeld besorgen?“ „Verlass dich auf mich.“ „Tue ich immer.“ „Immer? Das klingt ein bisschen naiv, gerade für deine Verhältnisse.“ „Du bist der Einzige.“ Nun sah Kasai ernsthaft verwirrt aus. Verständlicherweise. Gerade Kasai sein Vertrauen zu schenken, schien seltsam. Der Illusionist war großmäulig, süffisant und extrem hedonistisch. Jeder wusste, dass er alles mit ins Bett nahm, das in ausreichendem Maße interessant, willig und ihm genetisch ähnlich genug war. Paarungen zwischen den verschiedenen Clans waren verboten, da die Genetik einfach zu unterschiedlich war und Kasai hielt sich dran, aber er nahm Wölfe und Menschen gleichermaßen, das Geschlecht interessierte ihn nicht. Angeblich war der Sohn des Herzogs des Wolfsclans sein Lieblingsliebhaber und um die beiden kursierten die wildesten Gerüchte, sehr zum Missfallen des alten Wolfes. Aber eigentlich missfiel ihm alles, was sein Sohn tat. Trotzdem vertraute Shiro ihm. Oder auch gerade deshalb. Kasai war gnadenlos ehrlich, hatte keine politischen Ambitionen und auch sonst nichts zu gewinnen was ihn interessierte, teilte seine Meinungen zu den anderen Ratsmitgliedern und erledigte jeden Auftrag zuverlässig. Er war ein wenig unberechenbar, aber nicht boshaft und gerade das machte ihn so gut in seinem Job. Darüber hinaus fühlte Shiro sich in seiner Gegenwart wohl. „Du bist der Einzige, der kein Messer hinterm Rücken versteckt“, erklärte Shiro. Einen Augenblick starrte Kasai ihn nur an, dann sagte er: „Macht es dir was aus, wenn ich mich hierher setzte und lese?“ „Nein.“ Das hatte Kasai noch nie gemacht, sich auf Shiros Sofa gesetzt und gelesen. Aber der Graf würde sich nicht beschweren. Das war so ziemlich die beste Gesellschaft, die man hier bekommen konnte. Während der Illusionist las, arbeitete Shiro weiter. Nein, im hohen Rat zu sitzen war nicht leicht. Er konnte keinen seiner Kollegen wirklich leiden. Kasai kam besser mit ihnen zurecht, aber er gab ihnen gern Spitznamen. Das tat Shiro insgeheim auch, aber Kasais Spitznamen waren fieser. Vielleicht konnte man so was wirklich nur, wenn man jemanden mochte. Kenshi Tantô war der Herzog des Wolfclans und das älteste Mitglied des Rates. Shiro nannte ihn den alten Wolf, Kasai, selbst Wolf, nannte ihn General Eisenschädel. Der Mann war eine Zumutung. Er war zur Militärakademie gegangen und favorisierte das Militär stark. Rechthaberisch, stur und unfreundlich wie er war, vertrug er sich nicht einmal mit seinem Sohn, der zum Kriegerorden gegangen war. Das konnte er ihm nicht verzeihen, denn das Amt des Herzogs war normalerweise erblich, aber der Eintritt in den Kriegerorden schloss Kenshi Kegate von der aktiven Politik aus. Seine Affäre mit Kasai gefiel dem alten Wolf genauso wenig. Auch sonst waren diese Beiden in allem anderer Meinung. Und Shiro war meist auf Kegates Seite. Dieser Mann war zwar unberechenbar und stur, aber hatte wenigstens ein zugängliches Hirn. Der gewählte Vertreter des Wolfclans war Shikamori Hakari. Shiro nannte ihn den Zwei-Leinen-Welpen. Zwar war Shikamori älter als er, aber nicht eben reifer. Die Vertreter wurden ohnehin selten ernst genommen, da sie meist nur nach der Pfeife ihrer jeweiligen Herzöge tanzten und dieser war keine Ausnahme. Kasai nannte ihn Schoßhund und Shiro hielt ihn für einen Jasager. Zudem war er auch noch Heiler. Und der Heilerorden wurde ausgerechnet vom Herzog des Fuchsclans geführt. Shikamori stand oft zwischen zwei Stühlen. Besagtes Oberhaupt der Heiler und des Fuchsclans hieß Tokugawa Sakari und galt als die schönste Frau Hinodes. Shiro traute ihr nicht weiter als er sie werfen konnte und dank ihrer zahlreichen Bewunderer würde er sie nicht mal mit den Fingerspitzen berühren können, wenn er es versuchte. Durch ihren doppelten Posten als Obermotz war sie der mächtigste Dämon Hinodes, aber sie hatte ein paar Mal angedeutet, dass ihre Ambitionen noch weiter reichten. Man musste ihr zugestehen, dass auch sie fast immer anderer Meinung war als der alte Wolf. Nichtsdestotrotz sah Shiro in der Fuchskönigin, wie er sie nannte, das Mitglied des hohen Rates, das für ihn am gefährlichsten war. Sie setzte ihre dämonische Schönheit ein, um zu bekommen was sie wollte und er war nur ein Mensch. Wenn sie ihn in einem schwachen Moment erwischte, könnte sie leicht seine Identität herausfinden und sie würde es versuchen, wenn sie sich etwas davon versprach. Kasai nannte sie Fuchssirene. Inuyama Yoake war der Vertreter der Füchse und gleichzeitig Heiler. Wie nicht anders zu erwarten las er Tokugawa jeden Wunsch von den Augen ab und wich nie von ihrer Seite. Shiro verachtete ihn regelrecht für seine Arschkriecherei, nannte ihn jedoch nur den Leibwächter. Kasai war nicht so nett und nannte ihn Lustknabe, auch direkt. Allerdings glaubte Shiro nicht, dass Tokugawa ihn je rangelassen hätte. Er verehrte auch so den Boden auf dem sie ging, also hätte sie nichts davon. Der Herzog des Marderhundclans war wesentlich umgänglicher, aber dafür noch undurchsichtiger. Soga Gaiken benahm sich sehr kultiviert und hielt sich mit seiner Meinung zurück. Seine Interessen waren Shiro ein Rätsel, darum traute er ihm nicht. Aber immerhin nervte er nicht so sehr wie die anderen. Er nannte ihn den Lord, Kasai nannte ihn Fürst Schlüpfrig. Und dann gab es noch Shiroki Aki, Vertreterin des Marderhundclans. Sie tanzte in vielerlei Hinsicht aus der Reihe. Zum Beispiel war sie Schreinerin, weshalb Kasai sie Holzlady nannte. Sie nahm Menschen ernst, was für mächtige Dämonen sehr ungewöhnlich war. Aber sie hatte keine Ahnung von Politik und ihre Naivität war Shiro sehr unangenehm. Er nannte sie Mädchen, obwohl er wusste, dass sie erheblich älter war als er. Shiro stempelte den letzten Antrag auf seinem Schreibtisch. Es war nicht eine erfreuliche oder unverdächtige Sache dabei gewesen. Die Ninja hatten noch einen langen Weg vor sich, bevor sie zu ihrer alten Würde zurückfinden konnten. „Bist du fertig?“, fragte Kasai. Shiro seufzte nur, ließ sich in seinen Stuhl sinken und rieb seine Nasenwurzel. Er bekam Kopfschmerzen. Vielleicht war 21 wirklich zu jung für den Job… „Du siehst aus, als könntest du etwas Entspannung gebrauchen.“ Kasais Stimme klang nah seinem Ohr. Er riss die Augen auf. „Nein!“ Er vertraute Kasai mehr als irgendjemandem sonst, aber trotzdem konnte er nicht seine ganze Verteidigung fallen lassen. Kasai würde zwangsläufig sein Gesicht sehen, wenn er sich darauf einließe und das durfte er nicht riskieren. „Nein?“ Kasais Gesicht schwebte direkt vor seinem, der Wolfmann stützte sich auf den Armlehnen seines Stuhls ab und lächelte Shiro an. Dieser konnte den Blick nicht abwenden. Die gelben Augen, die verrieten dass sein Gegenüber nicht menschlich war, blitzten nicht schalkhaft wie sonst, sondern wirkten ungewohnt sanft. Shiros Blick blieb wie so oft an der blonden Strähne in Kasais Pony hängen. Kasai hatte unglaublich dichtes schwarzes Haar. Ein Teil hing als wildes, gescheiteltes Pony über seine Stirn, ein Teil war zurückgekämmt und zu einem Knoten gebunden, ein Teil fiel offen unter dem zurückgekämmten Haar hervor über seine Schultern und kein Teil davon wirkte dünn. Warum und vor allem wie er eine Strähne in seinem Pony blond gefärbt hatte, war Shiro ein Rätsel aber er würde nicht fragen. Wie hypnotisiert sah er zu, wie Kasai langsam in die Knie ging und nach seinem Gürtel griff. „Dann lass mich wenigstens…“ Shiro verstand irgendwo in seinem Hinterkopf, warum Kasai immer willige Spielgefährten fand. Kasai, der Einzige, dem er Vertraute. „Nein.“ Sanft aber bestimmt hielt Shiro seine Hand fest. Kasai sah ihn fragend und irgendwie auch ein wenig traurig an. „Es würde mir zu viel bedeuten“, sagte Shiro und hätte sich im nächsten Moment selbst ohrfeigen können. Das würde Kasai wahrscheinlich falsch verstehen. Der Illusionist lächelte sanft. „Ach Shiro…“ Shiro?! Seit wann kannte Kasai seine Identität? Und woher? Der Wolfmann schien die Frage in seinen Augen zu lesen. „Ich bin ein Wolf, mein Freund, ich kann Menschen am Geruch unterscheiden. Ich weiß schon lange, dass der Novize Shiro eigentlich der Graf ist. Aber keine Sorge, die Idioten im hohen Rat achten nicht auf Menschen, die nicht wichtig sind. Sie achten ja nicht mal auf den Grafen, wenn sie nicht müssen.“ „Du hast mich nicht verraten?“ „Warum sollte ich?“ „Das ist keine Antwort.“ „Vertraust du mir?“ „…ja.“ Kasai strich Shiros Kapuze zurück, zog die Stoffmaske herunter, die die untere Hälfte seines Gesichtes bedeckte und küsste ihn. Sanft und ohne jede Forderung. Ein Zuneigungsbeweis, weiter nichts. Trotzdem verschlug es Shiro den Atem. „Dafür dass du mich magst“, sagte Kasai leise. „Du hast doch viele, die dich mögen“, meinte Shiro schwach, auch wenn es nicht gerade das Passendste war. „So? Wen denn?“ „Kenshis Sohn? Es heißt, er sei dein Lieblingsliebhaber.“ „Kegate?“ Kasai lachte. „Kegate kann mich nicht leiden. Er IST mein Lieblingsliebhaber, das schon. Weil ich nie weiß, ob ich es das nächste Mal schaffen werde, ihn zu verführen. Weil er, wenn ich es schaffe, so wütend auf sich selbst ist, dass er wie eine wilde Bestie im Bett ist. Weil die Beleidigungen, die er mir dabei an den Kopf wirft, mich irgendwie anmachen. Aber du bist keiner meiner Liebhaber. Du kennst mich, aber du vertraust mir. Du magst mich, obwohl ich eine notorische Schlampe bin.“ „Dann bist du eben ein Hedonist, na und? Jeder hat so seine Marotten. Die von meinen Kollegen im hohen Rat will ich gar nicht erst wissen“, murmelte Shiro trocken. Wieder küsste Kasai ihn, diesmal wesentlich intensiver, aber immer noch ohne Forderung. Dann sah er ihn an, streichelte über seinen Kopf, schien nach Worten zu ringen. „Wir sehen uns morgen, Shiro“, sagte er schließlich und ging. Shiro blieb wie paralysiert sitzen. Das war seltsam gewesen. Kasai hatte ihm Avancen gemacht, ihn schließlich nur geküsst, dann hatte er mehr über Kasais „Hobby“ erfahren, als er je hatte wissen wollen und dass er, ein junger Mensch, scheinbar etwas Besonderes für den Illusionisten war. Er konnte nicht leugnen, dass Kasai ihm gefiel. Ob er Männer oder Frauen mochte, wusste er gar nicht. Er hatte sich nie darüber Gedanken gemacht. Aber er mochte Kasai. Sich in ihn zu verlieben wäre riskant, aber so weit war es bisher nicht gekommen. Sie saßen lediglich hier im Zentrum der Politik und hatten jemanden gefunden, dem sie vertrauen konnten. Das war sehr viel wert und Shiro würde sich nicht unnötig den Kopf über „Wenns“ zerbrechen. Bei Kasai konnte er einfach geschehen lassen, was geschah, etwas das er sonst nie riskieren durfte. Das bedeutete Vertrauen. In Guten wie in Schlechten Zeiten --------------------------------- Wer glaubte, Königsehr sei eine schöne Stadt, war noch nie da gewesen. Sicher, das Palastviertel mit dem Palast und den Villen der Regierungsbeamten war sehr prunkvoll und sauber, im südlichen Hafen ankerten wunderschöne Passagierschiffe und die edleren Einkaufsviertel boten alles feil, was sich ein Mensch an Materiellem wünschen konnte. Aber das war der kleinere Teil der Stadt. In den Handwerksvierteln war es eng und laut, der nördliche Hafen war zwielichtig und schmutzig, und das angrenzende Kneipen- und Bordellviertel war eine trostlose Elendsgrube, die Endstation der menschlichen Nahrungskette, eine schmutzige Gegend voller Diebe, Halsabschneider, Huren und Banden verwahrloster Waisenkinder. Es gab viele Wege hierher und dieser merkwürdige Turm, der seit einigen Monaten die Stadt mit Energie versorgte, machte es nicht besser. Seither war es unmöglich, Tiere in der Stadt zu halten, da sie entweder verrückt wurden oder konstant das Futter verweigerten. Pflanzen wuchsen nicht, nicht mal mehr Ratten lebten hier. Vom Palast aus hieß es, es sei ein Problem mit den Leitungen aufgetreten, an dem gearbeitet würde, aber Neresis war nicht sicher, ob sie das glauben sollte. Nicht, dass sie etwas ändern könnte. Wer einmal hier im nördlichen Hafenviertel gelandet war, hatte keine Bedeutung mehr, jedenfalls nicht, wenn er sich weitgehend an die Gesetze hielt. Es regnete in Strömen und Neresis fror erbärmlich. Aber sie konnte nicht nach Hause gehen. Sie musste Geld anschaffen, dringend. Und „Anschaffen“ war hierbei das Stichwort. Sie arbeitete schon seit 5 Jahren als Prostituierte und hatte es nie in ein schützendes Bordell geschafft. Was Bordsteinschwalben wie sie in diesem Fall taten, war, sich entweder einem Zuhälter – und damit in der Regel dem organisierten Verbrechen – anzuschließen oder eine Art Symbiose mit einer anderen Hure einzugehen. Sie teilten sich ein Haus, beschützten einander und standen bei finanziellen Engpässen füreinander ein. Und ihre Handschwester Keredin konnte momentan nicht nur nicht arbeiten, sie brauchte auch dringend besseres Essen und Medizin. Sie hatte sich irgendwie mit dieser Seuche angesteckt, die gerade grassierte, und die machte sie völlig hilflos. Sie konnte sich kaum bewegen, nicht reden und nicht ohne Hilfe essen. Neresis musste sie versorgen, und dazu brauchte sie unbedingt Geld. Niemand war auf der Straße, was bei dem Wetter kein Wunder war. Aber es gab für sie sonst keinen Platz, um ihren Körper feilzubieten. Zudem hielt sie nicht nur nach Kunden, sondern auch nach Tiran Ausschau. Tiran war… ihr Sohn. Eigentlich war er ein achtjähriger Waisenjunge, der sich allein durchschlug und auch nicht zu einer Bande gehörte, aber irgendwie gehörten sie zusammen. Sie waren sich vor vier Jahren das erste Mal begegnet, hatten einander geholfen und irgendwann hatte er bei ihr und Keredin gewohnt und sie Mama genannt. Und sie hatte absolut nichts dagegen gehabt. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass er tagelang weg war, aber sie machte sich jedes Mal Sorgen um ihn. Jemand kam die Straße herunter, eine einsame, hochgewachsene Gestalt mit einem langen, dunklen Kapuzenmantel. Neresis erkannte ihn wieder, er war schon einige Male hier vorbeigekommen, aber er war nie allein gewesen. Sie war sich fast sicher, dass er ein Diebesfürst war, ein Anführer des organisierten Verbrechens. Nur die konnten mit einer Bande durch die Straßen gehen, als gehörte sie ihnen, dabei trotzdem unauffällig sein, aber kein bisschen verwahrlost wirken. Sie hatte kein persönliches Problem mit Diebesfürsten, aber sie war auch nicht scharf darauf, näher mit ihnen zu tun zu haben. Die Diebesfürsten garantierten ihren Klienten zwar gewisse Sicherheiten, aber damit kamen ganz andere Probleme, zum Beispiel konnte man in die Fehden der einzelnen Fürsten verwickelt werden. Dieser spezielle Diebesfürst schien ihren Wunsch, Seinesgleichen zu meiden, nicht zu respektieren. Er kam direkt auf sie zu und sie fand sich mit ihrem Schicksal ab. Er würde sie immerhin ordentlich bezahlen können. Doch statt sie nach ihrem Preis zu fragen, oder ihr ein Zeichen zum Mitkommen zu geben, nahm er nur wortlos seinen Mantel ab und legte ihn ihr um die durchnässten Schultern. Das war ihr noch nie passiert. Fassungslos starrte sie in das undeutbare Gesicht des Mannes. Sein Schädel war kahl, nicht weil er alt war, sondern weil er glattrasiert war. Im ersten Moment schätzte sie ihn auf Ende 30, korrigierte den Eindruck dann aber auf höchstens 30. Der kahle Kopf sollte ihn vermutlich älter wirken lassen. Sein hageres, aber hübsches, leicht jungenhaftes Gesicht, dass ihn, wäre es von Locken umrandet, zu einem Schönling gemacht hätte, wurde von einer gebogenen, aber nicht überdimensionalen Nase beherrscht. Die Lippen waren bleich und dünn, die Augen schmal und für einen Metagonen sehr dunkel. Sein ganzer Körper war schmal und sehnig, trotzdem strahlte er eine einschüchternde Autorität aus. „Was tust du bei diesem Wetter hier draußen?“, fragte er. Seine Stimme war rau, aber sein Ton sanft. Dass ihm der Regen über den Kopf lief und seine unscheinbare, aber hochwertige Kleidung durchnässte, schien er gar nicht zu bemerken. „…arbeiten?“ Neresis war verwirrt und auf der Hut. Gerade in dieser Gegend sollte man so schnell niemandem trauen. „Arbeiten? Das erscheint mir nicht sehr sinnvoll.“ Gut, er hatte nicht ganz unrecht. Natürlich konnte er sehen, dass sie eine Hure war, die gelben Bänder an ihrem dunkelblauen Kleid, das so völlig durchweicht noch weniger der Fantasie überließ als ohnehin schon, verrieten es. Ein wenig Trotz regte sich in ihr. „Ich habe nicht die Wahl. Ich brauche das Geld und ich brauche es heute.“ „So…? Ich gebe dir das Doppelte von dem, was du verlangst.“ „600 Kronen.“ „Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass du so viel nimmst, auch wenn es gerechtfertigt ist.“ „Das ist das Doppelte von dem, was ich normalerweise verlange.“ „Dann ist es wesentlich weniger, als ich erwartet habe. Du bist mindestens 500 Kronen wert.“ Neresis glaubte, sich verhört zu haben. Hatte er ihr gerade indirekt 1000 Kronen angeboten? Davon könnte sie sich und Keredin unter normalen Umständen über einen Monat durchbringen. Wenn man davon natürlich die Medizinkosten abzog, wurde es wesentlich weniger, das Zeug war sehr teuer, nichtsdestotrotz war es sehr viel Geld. Es schien sich doch gelohnt zu haben, zwei Stunden im Regen zu stehen. Trotzdem musste sie sicher gehen. „Hast du überhaupt so viel Geld?“ Er lachte nur und ihr lief es eiskalt den Rücken runter. Sie konnte diesen Mann nicht einschätzen und das beunruhigte sie. Er legte einen Arm und ihre Schulter und führte sie fort. Das Ziel war ein Hotel am südlichen Rand des Viertels und somit das Edelste, das Neresis je aus der Nähe gesehen hatte. Der Vorraum hatte einen Empfangstresen, an dem keine Getränke ausgeschenkt wurden und war sehr sauber. Die alte Frau am Tresen schien den Mann zu kennen. Sie warf ihm wortlos einen Zimmerschlüssel zu, den er lässig mit einer Hand fing. „Richtet bitte ein heißes Bad“, wies er die Frau an und führte Neresis die Treppe hinauf. Zielstrebig brachte er sie zu einer Zimmertür, die genauso aussah wie alle anderen, und schloss auf. Eigentlich war es nichts besonderes, trotzdem konnte Neresis nur staunen. Dieses Hotelzimmer war fast so groß wie die Wohnung, die sie sich mit Keredin und Tiran teilte. Und während ihre Wohnung einen Herd, einen Tisch, ein schmales Bett und ein abgetrenntes Badezimmer beherbergte (immerhin hatten sie fließend Wasser, in einigen Baracken hier im Hafenviertel war nicht mal das der Fall), stand hier nur ein Schrank und ein kleinerer, niedriger Schrank neben einem Bett, dass der Bettwäsche nach für zwei Personen gedacht war, auf das aber locker Vier gepasst hätten. Die Fenster waren von schweren, dunklen Gardinen verhängt, vor dem Bett langen weiche Teppiche und eine Tür führte anscheinend zu einem Zimmer im Zimmer. Trotz alldem würde Neresis sich niemals anmerken lassen, dass sie beeindruckt war, dazu war sie zu professionell. Fünf Jahre zogen nicht spurlos an einem vorbei. Also begann sie umstandslos, sich aus ihrem nassen Kleid zu schälen. Der klamme Stoff machte es ihr nicht leicht. Es war damals nicht leicht gewesen, als sie mit knapp 18 Jahren angefangen hatte. Schon damals hatte sie gewusst, dass es sie hätte schlimmer treffen können. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen und sie war auch nicht mehr das Jüngste, was so prostituiert wurde. Andere Mädchen wurden entführt, vergewaltigt, von ihren eigenen Eltern auf den Strich geschickt… die Liste ließe sich noch sehr weit fortsetzen. Doch das hatte nichts daran geändert, dass sie Angst gehabt und sich geschämt hatte. Bei ihrem ersten Kunden war sie Jungfrau gewesen und sie hatte Glück gehabt, dass er ihr die Tränen nicht übel genommen hatte. Später hatte Keredin ihr viel beigebracht und die Routine tat ihr übriges. Aber der Anfang war hart gewesen. Ihr Unterrock machte es ihr besonders schwer. Verfluchter Regen! Sie spürte die Blicke des Mannes auf sich, doch es störte sie nicht. Nicht mehr. Es hatte damals eine ganze Weile gedauert, bis sie sich nicht mehr für ihren nackten Körper geschämt hatte. Ihre Haut hatte die Farbe von starkem Kaffe, sie war recht dünn und ihre Brüste waren klein und spitz. Nur auf ihr fast knielanges schwarzes Haar war sie stolz. Ihre Familie stammte aus einer Gegend nah der südlichen Grenze von Serunien und die Wurzeln lagen wahrscheinlich noch weiter südlich. Irgendwie war sie immer ein wenig neidisch auf Keredin gewesen. Diese war vollbusig, selbstbewusst und nicht so dunkel wie sie, obwohl sie auch Serunierin war. Sie war für Neresis immer die Schönere und Stärkere gewesen, die große Schwester, die auf sie aufpasste. Doch nun brauchte Keredin sie, und sie würde sie nicht im Stich lassen, auch wenn der Mann hier sie beunruhigte. Immerhin schien ihm ihre schwarze Haut zu gefallen. Endlich lag der Rock auf dem Boden und sie ging auf den Mann zu, der sich auf die Bettkante gesetzt hatte, doch er hielt sie mit einer Geste zurück. „Lass mich dich ansehen“, sagte er, stand auf, und umrundete sie mit einigem Abstand, wobei er sie betrachtete, als wollte er sich jedes Detail einprägen. Beunruhigt ließ sie es über sich ergehen. Was hatte dieser Mann vor? War er nicht ganz richtig im Kopf? Wer interessierte sich denn so sehr en detail für das Aussehen einer Frau, mit der er Sex wollte? Oder war das ganze gedacht, um sie zu verunsichern? Sie wusste, dass es auch Männer gab, die es anmachte, mit der Psyche ihrer Sexpartner zu spielen. Bisher war sie noch nicht an so einen geraten und sie war auch nicht scharf auf diese Erfahrung. Dafür gab es auch in ihrem Gewerbe eigentlich Spezialisten. Schließlich drehte der Mann sich um und stieß die Tür zu dem nächsten Raum auf. Wärme schlug ihr daraus entgegen. Es handelte sich um ein kleines Badezimmer, allerdings mit der größten Badewanne, die Neresis je gesehen hatte (was so groß nun auch wieder nicht war), voll mit heißem, duftenden Wasser. Daraus, dass er keine Anstalten machte, selbst ins Bad zu gehen oder sich auszuziehen, schloss sie, dass das Bad allein für sie war. Jetzt wurde es richtig merkwürdig. Warum zur Hölle sollte er das tun? Einer von Keredins wichtigsten Ratschlägen war: „Traue keinem Mann, der zu nett ist!“ Was hatte dieser Mann vor? Es gab Verrückte, die Frauen ermordeten, nachdem sie ihnen Geschenke gemacht hatten und Romantik in Gewalt fanden. Oder denen es Spaß machte, ihre Partner zu quälen. Das würde auch die hohe Bezahlung erklären, und warum er sie in einem guten Zustand haben wollte. Neresis rührte sich kein Stück. „Warum hast du Angst vor mir?“, fragte der Mann, als ihm klar wurde, dass sie das Badezimmer nicht betreten würde. „Du meinst, abgesehen davon, dass du anscheinend ein Diebesfürst bist?“ Einen kurzen Moment lang sah er überrascht aus, dann wurde seine Mine wieder undurchdringlich. „Ja, abgesehen davon.“ „Du bist zu nett“, sagte sie knapp. Ein anderer Ratschlag war, sich niemals einschüchtern zu lassen, denn in dem Moment wurde man zum Opfer. Er zog eine feinsäuberlich gestutzte Braue hoch. „Tatsächlich? Nun, das wirft kein gutes Licht auf die Freier in dieser Gegend. Ich dachte, ich handele lediglich nach dem Prinzip, dass Leute, die für mich arbeiten, dann am besten arbeiten, wenn es ihnen gut geht. Und jetzt nimm schon ein Bad, du kannst es dir nicht leisten, krank zu werden.“ Das konnte alles und nichts heißen, aber Neresis gehorchte, da er mit dem letzten Satz leider Recht hatte. Das Wasser war angenehm und die Wärme machte sie schläfrig. Und sie hatte noch nie in einer Wanne gebadet, die groß genug war, um sich zurückzulehnen. Nur am Rande registrierte sie, dass ihr Freier auch im Raum war und sich an irgendwelchen Utensilien zu schaffen machte. Wenn er ihr etwas tun wollte, käme sie eh nicht mehr davon. Zu sagen, sie wäre überrascht, als er sich ans Kopfende der Wanne kniete und begann, ihr die Haare zu waschen, wäre eine Untertreibung, aber in Ermangelung besserer Ausdrücke bleiben wir dabei. Er rieb ihre Kopfhaut mit Shampoo ein, nahm einen Eimer voll warmem Wasser, den sie vorher nicht bemerkt hatte, um es auszuspülen und begann es dann vorsichtig zu kämmen. „Verrätst du mir deinen Namen?“, fragte er. Sie überlegte kurz und befand, dass er ihre Wohnung auch ohne ihren Namen würde finden können. „Neresis.“ „Ich bin Koren.“ Etwas berührte kurz ihre Stirn und sie brauchte eine Weile, um zu registrieren, dass Koren sie auf die Stirn geküsst hatte. Was war nur los mit diesem Kerl? Sonst machte das nur Keredin, wenn sie sie trösten wollte, oder vielleicht Tiran. „Ich habe dich schon oft an dieser Straße gesehen“, erzählt Koren. „Die dralle Serunierin ist deine Handschwester, nicht wahr?“ „Ja…“ Warum wollte der plötzlich reden? Manche Kerle brauchten das danach, schön und gut, aber er hatte sie noch nicht mal angefasst. „Geht es ihr nicht gut? Sie war schon ein paar Tage nicht mehr da.“ „Glasfieber.“ „Oh. Ich schätze, deshalb bist du bei diesem Wetter draußen…“ „Hättest du lieber sie? Sie hält mehr aus als ich.“ Es war nicht der geschickteste Versuch, herauszufinden, ob er auf die brutale Tour stand, aber was Besseres fiel ihr nicht ein. „Ich zweifle nicht daran, dass sie ein resolutes Frauenzimmer ist. Aber du gefällst mir besser.“ Sie konnte sein amüsiertes Lächeln förmlich hören. Es klang fast so, als hätte er sie genommen, weil er speziell sie reizvoll fand. Das würde zumindest die Frage nach ihrem Namen erklären, und bis zu einem gewissen Punkt auch die Bereitschaft, so viel zu bezahlen. Sie hörte, wie er sich erhob und sah dann, wie er ihr ein großes, weiches, weißes Handtuch brachte. Ein wenig widerwillig erhob sie sich aus dem Wasser und ließ zu, dass er sie abtrocknete. Er beunruhigte sie immer noch, doch sie hatte akzeptiert, dass sie nichts dagegen tun konnte. Und im Zweifelsfall brauchte sie ihre Nerven noch. „Möchtest du etwas Essen oder Trinken?“ Sie schüttelte den Kopf. Sie war schon lange nicht mehr so nervös gewesen und würde wahrscheinlich keinen Bissen runter bekommen. Immer noch in das Handtuch gewickelt wurde sie sanft zu dem großen Bett dirigiert, wo sie sich hinsetzte und Koren dabei zusah, wie er sich endlich auszog… Es war kurz vor Sonnenaufgang, als Neresis zuhause ankam. Keredin lag in ihrem Bett, das sie nun für sich allein hatte. Normalerweise schliefen sie zu zweit darin und es war sehr eng, im Moment schlief Neresis mit einer Decke und ein paar Kissen auf dem Boden. Keredins Haut war bleich und klamm, ihr Haar schlaff und glanzlos. Es tat Neresis in der Seele weh, die sonst so starke, schöne Frau so elend zu sehen. Ihre Haut war wie Kaffe mit Milch. Die jetzt schlecht war. Und ihr schwarzes Haar war prachtvoll gelockt - normalerweise. Jetzt hing es von ihrem Kopf wie verwelkte Blumenstängel. Ihre sonst so lebendig blitzenden dunklen Augen waren trüb und glasig. Aber sie war wach und sich Neresis’ Anwesenheit bewusst. Diese half ihr zunächst auf die Toilette (dem Himmel sei Dank hatten sie eine), was keine schöne Angelegenheit war, dann brachte sie sie zurück ins Bett und flösste ihr Wasser und Suppe ein. Keredin konnte nicht sprechen und sich kaum eigenständig bewegen, aber sie konnte, da Neresis ihre Hand hielt, diese drücken und sie fragend ansehen und ihr damit sagen, dass sie wissen wollte, was mit ihr nicht stimmte. „Mit mir ist alles in Ordnung, Schwester. Ich bin nur müde.“ Der Händedruck wurde fester. Sie glaubte ihr nicht. „Na schön, der Kunde gestern Abend war etwas seltsam. Aber er hat mir 1200 Kronen gegeben, von daher ist es okay. Ich werde, sobald ich etwas geschlafen habe, nach Medizin für dich suchen.“ Ein intensiver Blick und ein kurzer, sehr fester Druck. „Nein, er hat mir nicht wehgetan. Es war… irgendwie schön. Das ist es ja, was mich so verwirrt.“ Eine sanfte Bewegung mit der Hand. Sie sollte ihr davon erzählen. „Es geht schon. Du hast genug eigene Probleme.“ Keredin zog leicht die Augenbrauen zusammen. Sie wollte es aber wissen. „Also gut. Er ist zu mir gekommen, hat mir seinen Mantel umgelegt und mir das Doppelte von meinem normalen Preis angeboten, ohne vorher zu fragen, was er sei. Dann hat er mich in ein Hotel am Rand des südlichen Hafenviertels gebracht und mich ein heißes Bad nehmen lassen, ohne mich auch nur anzufassen. Er hat mich nach meinem Namen gefragt. Und nach dir, offenbar hat er uns schon ein paar Mal gesehen. Mich hat es ziemlich beunruhigt, dass er so nett ist. Er hat mir sogar was zu essen angeboten Und er ist ein verdammter Diebesfürst… Keine Sorge, ich hab nichts gegessen. Und dann… Es war merkwürdig, er hat sich nicht verhalten wie ein Freier. Ich… Ach verdammt! Ich bin gekommen. Zweimal.“ Trotz Keredins eingeschränkter Mimik schienen ihr die Gesichtszüge zu entgleisen. Neresis konnte ihr es nicht verdenken. Es war sehr selten, wenn nicht ein kleines Wunder für sie, bei der Arbeit zu kommen. Sie hatte zunächst angenommen, dass es so etwas wie einen weiblichen Orgasmus gar nicht gab. Bis ein Stricher das zufällig mitbekommen hatte und sie eines besseren belehrte. Sie hatte nur zweimal mit einem Stricher geschlafen, um Spaß zu haben. Es machte zwar Spaß, aber die Arbeit fiel ihr danach noch schwerer, also sah sie davon ab. Mit Koren war es ein wenig wie mit diesen Strichern gewesen, und doch anders. Die Stricher waren sanft und gleichzeitig verzweifelt gewesen, denn sie wurden nie um ihrer selbst willen berührt. Wenn sie mit einem Kollegen schliefen, taten sie es, um sich einmal nicht benutzt zu fühlen und ein wenig Leben zu spüren. Koren hatte nichts von dieser Verzweiflung gehabt, stattdessen etwas, was sie „Leidenschaft“ nennen wollte. Bisher hatte sie das Wort für eine Metapher für den Geschlechtsakt gehalten oder es zumindest so benutzt. Jetzt wurde ihr erst klar, dass es doch etwas anderes war. Und da war da noch die Sache mit den Namen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass die Männer, wenn sich ihr bewusster Verstand langsam verabschiedete, den Namen einer Frau riefen, meist die Frau, die sie nicht haben konnten, weshalb sie zu einer Hure gingen. Neresis vermutete, dass es entweder mit schlechtem Gewissen oder mit Besitzansprüchen zu tun hatte. Daher machte es auch absolut keinen Sinn, dass Koren ihren Namen gerufen hatte. Warum sollte er das tun, er hatte sie doch gehabt in dem Moment? Sie beschloss, nicht zu sehr darüber nachzudenken, denn das würde sie nirgendwohin führen. Also gab sie Keredin noch einen Kuss auf die Stirn, ein paar beruhigende Worte und legte sich endlich schlafen. Zwei Tage lang hatte Neresis nach einem Heilmittel für das Glasfieber gesucht, doch niemand kannte eines. Nichtsdestotrotz wollte sie die Suche nicht aufgeben. Doch als sie heute die Augen öffnete, schmerzte ihr Kopf, ihr war schlecht und schwindelig und ihr Körper schien ihr nicht zu gehorchen. Im ersten Moment dachte sie, sie hätte auch Glasfieber bekommen, Doch dann schaffte sie es, sich aufzurichten und wurde von einem Hustenkrampf geschüttelt. Verdammt! Ihre Zunge fühlte sich an wie Holz, ihre Hände zitterten und ihr Körper glühte regelrecht. Korens Bad hatte nichts genützt, sie war krank geworden, und zwar richtig. Es nütze alles nichts, jemand musste sich um Keredin kümmern. Aber sie fühlte sich so schwach… Da schob sich ein Gesicht in ihr Blickfeld. Ein achtjähriger Junge, von Natur aus blass, schulterlanges rotes Haar und haselnussbraune Augen. „Tiran…“ „Mama. Was ist los, bekommst du es auch?“ „Nein, ich bin nur krank geworden in diesem Regen vor zwei Tagen. Kümmerst du dich um Keredin? Ich will sie nicht auch noch damit anstecken.“ Der Junge nickte und machte sich an die Arbeit. Er lehnte einige Kissen an die Wand und half Neresis, sich aufrecht dagegen zu lehnen, da sie im Liegen keine Luft bekam. Er schleppte unter Einsatz all seiner Kräfte Keredin auf die Toilette und versorgte beide Frauen mit Wasser und Suppe. Schließlich setzte er sich zu seiner Mutter und kuschelte sich an sie. Neresis fragte nicht, wo er gewesen war. Sie würde keine Antwort erhalten und sie musste es auch nicht wissen, solange er zurückkam. Plötzlich hörten sie, wie sich jemand an der Tür zuschaffen machte. Tiran sprang auf und griff unter die Tischplatte des Esstischs, wo Neresis und Keredin in einem versteckten Fach ihre Messer aufbewahrten. Er zog eines hervor und stellte sich in die Ecke hinter der Tür, wo ein Eindringling ihn nicht sofort sehen würde. Dieser Junge wusste zu überleben und Neresis vertraute ihm, auch wenn sie Angst um ihn hatte. Schließlich machte es klick und die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren. „Neresis? Was machst du da auf dem Boden?“ Neresis starrte Koren fassungslos an. Was tat der denn hier? Warum knackte er ihr Türschloss? Und stellte dann auch noch so dämliche Fragen? „Ich bin krank und wir passen nicht beide gleichzeitig ins Bett“, antwortete sie trotzig. Er machte einen Schritt auf sie zu, weiter kam er allerdings nicht. Tiran, nun sicher dass keiner mehr kommen würde, war aus seinem Versteck gekommen. Er war groß für sein Alter, daher reichte er Koren etwa bis an die Brust. Ihm das Messer an die Kehle zu halten, wäre schwierig geworden, also hatte er kurzerhand von hinten einen Arm um dessen Bauch geschlungen und hielt ihm mit der anderen das Messer an die Genitalien. „Mach eine falsche Bewegung und du bist deine Kronjuwelen los. Wer bist du und was willst du von meiner Mutter?“ Koren sah an sich herunter, als könne er nicht begreifen, dass das gerade wirklich passierte. Neresis kicherte, musste ihm aber zugestehen, dass er in Anbetracht der Lage ziemlich gelassen blieb. „Ich wusste nicht, dass du einen so… gerissenen Sohn hast, Neresis“, meinte er trocken. Nun musste sie wirklich lachen, konnte aber nicht wirklich, weil sie dadurch wieder heftig husten musste. „Ich wollte deine Mutter lediglich besuchen und ein paar Dinge mit ihr bereden“, erklärte er Tiran, dieser war aber nicht leicht zu überzeugen. „Ach ja? Und warum knackst du dann das Türschloss, anstatt anzuklopfen wie jeder normale Mensch?“ „…nicht dran gedacht. Ich knacke sonst immer das Türschloss.“ Neresis drohte derweil, in einem Mischanfall aus Husten und Lachen zu ersticken. „Du bist ein Diebesfürst, nicht war? Was solltest du mit meiner Mutter zu besprechen haben?“ „Ich will ihr helfen.“ „Verarschen kann ich mich selbst. Die Wahrheit, bitte. Denk an dein bestes Stück.“ „Deine Mutter muss sehr stolz auf dich sein…“ „Ich höre~!“ „Ich habe ein Angebot für sie, dass ihr helfen könnte?“ „Soso…“ „Tiran, lass ihn los. Er meint es wahrscheinlich ernst“, krächzte Neresis, die sich inzwischen einigermaßen beruhigt hatte. Tiran ließ widerwillig das Messer sinken und Koren bemühte sich, nicht zu erleichtert auszusehen. Stattdessen setzte er sich zu Neresis, unter Tirans wachsamen Augen, und unterzog diesen einer kurzen, aber genauen Musterung. „Du hast einen Waisenjungen adoptiert?“ „Ja. Was dagegen?“ „Nein, bei dem Jungen kann ich es verstehen.“ „Was willst du hier?“ „Ich habe einige Nachforschungen über das Glasfieber angestellt und wollte dir die Ergebnisse mitteilen.“ „…Was läuft eigentlich falsch in deinem Hirn?“ „Äh, ich will dir helfen?“ „…“ „…“ „Entschuldige. Was wolltest du mir sagen?“ „Du wirst kein Heilmittel gegen das Glasfieber kaufen können. Es gibt eines, aber der König hat das Monopol auf eines der Bestandteile und es ist nicht verkäuflich.“ „Verdammt!“ Das waren wirklich schlechte Neuigkeiten. So konnte Keredin nie gesund werden. Zwar existierte das Glasfieber noch nicht lang genug, um zu wissen, ob es tödlich enden würde, aber lang genug um zu wissen, dass es nicht von alleine wegging. „Wenn es weniger wäre, würde ich dir dieses Heilmittel gern zum Geschenk machen“, fuhr Koren fort, „aber selbst ein Fürst der Diebe kann nicht einfach so das Risiko eingehen, den König zu bestehlen. Damit würde ich einfach zu viel riskieren. Aber wenn du meine Frau wärst, könnte ich es.“ Einen Moment lang setzte Neresis’ Gehirn aus. Machte jetzt alles Sinn, oder war das nur eine Steigerung der Merkwürdigkeit? Meinte er das ernst? „Was? Meinst du…?“ „Neresis, ich biete den besten Handel an, den ich zu bieten habe: Bleibe ein Leben lang an meiner Seite und ich werde ein Leben lang alles tun, dass es dir gut geht. Dir und deiner Familie.“ Tausend Gedanken rasten durch Neresis’ Kopf. Warum sollte er Lügen? Was wollte er wirklich von ihr? War das Angebot so gut wie es sich anhörte? Warum war sie so aufgeregt? Warum dachte sie gerade an ihre gemeinsame Nacht? Warum schlug ihr Herz so schnell? Warum tat dieser Mann das alles? Sie war doch nur eine Hure. Konnte sie ihm trauen? „Schon gut, du musst mir nicht jetzt antworten“, sagte Koren leise, als sie still blieb. „Ich komme morgen wieder zu dir.“ Damit erhob er sich und verließ die Wohnung. Und Neresis fühlte sich plötzlich noch elender als heute Morgen beim Aufwachen. ______________________________ Koren fühlte sich furchtbar. Das hätte besser laufen können. Und es tat ihm fast körperlich weh, diese Frau so elend zu sehen. Abgesehen davon schien sie ihm immer noch nicht zu vertrauen. Konnte sie denn nicht sehen, dass er sie einfach liebte? Zu allem Überfluss hatte er heute auch nichts mehr zu tun und war somit allein mit seinen Gedanken. Großartig! „Hey du!“ Das gab es nicht, da wollte sich auch noch so ein Idiot mit ihm anlegen. Er drehte sich betont langsam um – und sah den rothaarigen Jungen von Vorhin vor sich. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wer du bist!“, meinte der Bengel vorwurfsvoll und Koren konnte ein Aufwallen von Respekt nicht unterdrücken. Wie alt war der? Zehn, höchstens. Und mit allen Wassern gewaschen und mindestens so intelligent wie seine Mutter. „Ich bin Koren, der Geier.“ Jetzt war es raus, er war der Geier, der Diebesfürst dieser Gegend und eindeutig auf dem aufsteigenden Ast. Allerdings schien der Junge nicht beeindruckt. „Und du willst also meine Mutter heiraten, ja? Schon mal daran gedacht, dass sie dich nicht wollen könnte?“ Oh, darum ging es ihm also. Er hatte Angst, dass er Neresis etwas tun könnte und wollte sie beschützen. Ihm kam der Gedanke, dass der Rotschopf ein toller Sohn wäre. „Ja, habe ich. Mach dir keine Sorgen, ich kann sie gar nicht zwingen. Dann würde der Handel nicht mehr funktionieren, schließlich könnte ich sie dann gar nicht glücklich machen.“ „Dann liebst du sie also?“ „Ja, verdammt! Aber sie scheint das ja nicht zu verstehen.“ „Was erwartest du auch? Sie ist ne Nutte. Der Gedanke, das jemand sie lieben könnte, kommt ihr gar nicht.“ Der redete nicht mal wie ein zehnjähriger Junge. Warum hatte er noch nie von ihm gehört? „Da könntest du recht haben. Und dass ich ein Diebesfürst bin, macht es wahrscheinlich nicht besser.“ „Sie weiß das also?“ „Sie hat es erraten.“ „Wirklich? Hm… Warum beweist du ihr nicht, dass du sie liebst?“ „Und wie soll ich das machen?“ „Du könntest aufhören, wie ein Diebesfürst zu denken, und etwas für sie riskieren.“ „Ich soll ihr das Heilmittel also schenken? …“ „Tu was du willst. Du hast die Wahl: Entweder du verrätst mir, wie ich das Heilmittel herstellen kann und was ich dafür stehlen muss, oder wir machen das zusammen.“ „Bist du verrückt geworden?“ „Das ist nicht dein Problem, Alter!“ „…“ „Was jetzt?“ „Du wirst allein nicht weit kommen. Für das Heilmittel musst du Ambora und Apelsaft genau im Verhältnis Drei zu Eins mischen. Selbst wenn du beides hättest, wie wolltest du das machen?“ Der Junge biss sich auf die Unterlippe und überlegte. „Ich bräuchte vier leere Gefäße und müsste sicherstellen, dass sie alle dasselbe wiegen. Das geht mit ner normalen Messingwaage. Dann nehme ich zwei davon, stell sie auf beide Seiten der Waage und wiege in ihnen Apfelsaft und Ambora gegeneinander auf. Dann stell ich beides auf dieselbe Waagschale, stell die anderen beiden Gefäße auf die andere Seite und füll die mit Ambora auf, bis auf beiden Seiten gleich viel ist. Und dann schütte ich alles zusammen, fertig.“ Verdammt, das würde tatsächlich funktionieren, und wäre sogar genauer als mit Bleigewichten. Woher hatte der Junge sein Hirn, von Neresis konnte er es schlecht geerbt haben? „Wie heißt du?“ „Tiran. Warum willst du das auf einmal wissen?“ „Nur so. Wie beabsichtigst du, an das Ambora zu kommen? Du weißt, die stellen Parfum, Stofffarbe und Nagellack daraus her und der König hat das Monopol darauf. Es ist unverkäuflich.“ „Es gibt ein Lager im südlichen Hafengelände. Da klau ich es.“ „Aber nicht allein!“ Tiran legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an. „Deine Mutter dreht mir den Hals um, wenn dir was passiert und sie erfährt, dass ich dich allein habe gehen lassen.“ „Na dann, gehen wir!“ Der Junge rannte los, und Koren erkannte, dass er eben doch ein Junge war, nur eben einer, der gelernt hatte, sich unter Erwachsenen zu behaupten. Etwa eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam in einem alten Bierkeller, wieder im nördlichen Hafenviertel, nah genug am Hafen, um den Fluss riechen zu können. Sie schwiegen eine Weile. Es hatte wunderbar funktioniert, Tiran hatte die Wachen mit harmlosen Streichen abgelenkt und Koren hatte das Schloss geknackt und eine Flasche voll gestohlen. Dann waren sie getrennt hierher gekommen. Koren wusste nicht, wann er das letzte Mal selbst gestohlen hatte. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie sehr er diesen ganz eigenen Nervenkitzel vermisst hatte. Und dieser Diebstahl war an sich etwas Besonderes. Es gab Dinge, die man nicht tun konnte, ohne Freunde zu werden, den König zu bestehlen gehörte dazu. Wenn sie Glück hatten, würde niemand es je erfahren. „Und was jetzt?“ fragte Tiran, anscheinend nur um etwas zu sagen. „Wir suchen einen Laden, der Apfelsaft und eine Messingwaage hat.“ „Was ist das nur für eine komische Krankheit?“ „Keine Ahnung, aber sie hat mit der ‚Leitungsstörung’ zu tun. Das Pferd hat mehrere Leute auf dem Krankenbett deswegen. Er hat auch das Heilmittel gefunden, kommt aber selbst nicht ran. Man bekommt das Glasfieber nur, wenn man zu nah an eine Leitung kommt, ich bin mir sicher, eure Freundin verheimlicht euch etwas.“ „Sie könnte zufällig auf eine Leitung gestoßen sein…“ „Nein, so schnell passiert das nicht. Außerdem weiß ich, dass sie Besorgungen für den Affen macht, um sich etwas dazu zu verdienen. Dabei wird das passiert sein.“ „Kommst du mit dem Affen klar?“ „Er ist ein Feind, aber ich nehme ihr nicht übel, dass sie für ihn gearbeitet hat. Wenn ich in meinem Revier jeden loswerden wollte, der schon mal für einen Feind gearbeitet hat, würde ich mir hier zu viele Feinde machen, wenn überhaupt genug Leute übrigblieben.“ „Ist es schwer?“ „Hm?“ „Diebesfürst zu sein.“ „Es ist nicht einfach, aber ich mag die Herausforderung. Übrigens, wie alt bist du eigentlich?“ „Acht, und du?“ „Ich bin 39.“ „Es ist komisch, wie viel Abstand zwischen mir und den anderen immer ist. Aber ich hab keine Lust mit anderen Kindern abzuhängen, die wollen entweder, dass du machst was sie sagen, oder dass du ihnen sagst was sie machen sollen.“ „Du bist sehr intelligent, weißt du das?“ „Das sagt Mama auch, aber Keredin meint, ich sei nicht intelligenter als die anderen, ich sei nur selbstbewusst genug, meinen eigenen Kopf zu benutzen.“ „Da könnte was dran sein, aber dafür braucht man auch Intelligenz. Kannst du übrigens lesen?“ „Nein, ich rede nur so, weil ich immer mit Erwachsenen abhänge. Mama hat mal lesen gelernt, aber sie hat es nie geübt und Keredin kann lesen.“ „Willst du es lernen? Ich kann es dir beibringen.“ „Vielleicht. Überleg ich mir noch.“ „Denkst du, deine Mama weiß, dass ich der Geier bin?“ „Wohl kaum. Sie weiß nicht mal, dass die Diebesfürsten überhaupt Tiernamen haben. Sie wollte sich immer von ihnen fernhalten und wir haben das respektiert.“ „Deine Mama ist auch sehr schlau. Es ist schon schlau, sich von uns fernzuhalten, uns aber dann trotzdem zu erkennen, ist beeindruckend.“ „Natürlich ist sie schlau. Ich such mir nicht irgendeine Frau als Mama.“ „Sie ist sicherlich nicht irgendeine Frau… Komm, suchen wir einen Laden.“ Fasziniert sah der untersetzte Ladenbesitzer dabei zu, wie Tiran mit der Kindern eigenen Sorgfalt die Flüssigkeiten gegeneinander abwog. Schließlich sah er Koren an. „Wie viele wollen sie dafür, dass ich ihren Sohn in die Lehre nehmen kann, gnädiger Herr? Er ist sehr geschickt.“ Koren setzte seine undurchdringliche Mine auf, die ihn selten enttäuschte, wenn es darum ging, Leute einzuschüchtern. „Das ist er. Doch mein Sohn wird selbst entscheiden, wo und wann er in die Lehre geht. Ich verkaufe seine Zukunft nicht.“ Der Mann schluckte. „Verzeiht, gnädiger Herr, ich dachte nur…“ „Fertig!“, rief Tiran und hielt stolz eine volle Flasche hoch. Koren nickte ihm anerkennend zu. „Gehen wir.“ Als die Ladentür hinter ihnen zu fiel, zupfte Tiran ihn am Ärmel. „Du, Koren?“ „Ja?“ „Du weißt, dass ich nicht wirklich dein Sohn bin, oder?“ „Das weiß ich schon, aber ich wäre sehr stolz, dich als Sohn zu haben.“ „Und wenn Mama dich nicht will?“ „Das wäre schade, aber du hast dir deine Mutter ausgesucht, du kannst dir auch deinen Vater aussuchen und er muss nicht der Mann deiner Mutter sein. Wolltest du mich denn als Vater?“ „Ich überleg es mir.“ ______________________________ Neresis hatte Durst, aber sie wusste, dass ihr Kopf explodieren würde, würde sie versuchen, aufzustehen. Tiran war kurz nach Koren gegangen und nun seit Stunden weg. Warum war er noch nicht zurück, er würde sie doch nie im Stich lassen, wenn sie beide krank waren? Wenn sie Koren doch nur vertrauen könnte, dann wäre alles so viel einfacher. Und diese blöde Erkältung – es musste an der Erkältung liegen, anders konnte sie sich das nicht erklären, wahrscheinlich war es das Fieber – machte es ihr auch nicht leichter. Ständig musste sie daran denken, wie gern sie sich an ihn kuscheln würde, und das war nun wirklich keine gute Idee. Ja, er sah gut aus, ja, er war nett und, was auch immer, badass-cool. Und ja, verdammt, sie mochte ihn. Aber sich deshalb einem Fremden an den Hals zu werfen, war einfach nur dumm. Fehlte nur noch, dass sie sich ihn zurück in ihr Bett wünschte, aber dafür war sie, dem Himmel sei Dank, zu krank. Halt, war da jemand an der Tür? Offenbar. Tiran war zurück. Und Koren. Tiran rief „Hallo Mama!“, dann rannte er hinüber zu Keredins Bett. Was war das für eine Flasche in seinen Händen? „Hey. Wie geht es dir?“ Koren kniete sich zu ihr. Dieser sanfte Ton und dieser Blick! Das machte der Bastard doch mit Absicht! „Beschissen. Ich brauch was zu trinken“, knurrte sie. Daraufhin erhob er sich wortlos, um nach einem Glas und einer Flasche Wasser zu suchen. Der Kerl war unglaublich! Und was hatte er mit Tiran gemacht? Vorsichtig drehte sie sich zu ihrem Sohn um, der gerade von Keredins Bett kletterte, immer noch die Flasche in beiden Händen. „Wie geht es dir, Mama?“ „Geht so. Was hast du da draußen mit Koren gemacht?“ „Oh, wir haben ein Heilmittel für das Glasfieber besorgt. Keredin sollte bald wieder fit sein.“ „Das sollte sehr schnell gehen“, warf Koren ein, der sich neben Neresis setzte und ihr ein Glas Wasser reichte. Sie nahm es und trank ein wenig, aber das Schlucken tat weh. „Dann kannst du es also doch tun, ohne dass ich zu deiner Familie gehöre? Den König bestehlen?“ „Ich bin ein Diebesfürst, ich sollte der Frau, die ich liebe, ein angemessenes Geschenk machen können. Außerdem habe ich nicht viel gemacht, ich habe nur Tiran geholfen.“ Irgendwas in Neresis’ Kopf fiel krachend in sich zusammen. „Du… liebst mich? Aber wir kennen uns doch kaum!“ „Das… Ich kann es nicht ändern, es ist einfach so. Und darum frage ich dich noch mal richtig. Neresis?“ Er nahm ihre Hand mit beiden Händen und sah ihr in die Augen, als wollte er in ihre Gedanken sehen. „Willst du meine Frau werden?“ Gute Frage, wollte sie das? „Du solltest wissen, ich habe immer Ziegenkraut als Verhütungsmittel genommen. Ich werde dir keine Kinder schenken können.“ „Das macht nichts. Du hast bereits einen wunderbaren Sohn.“ Er sah zu Tiran, mit einem stolzen, liebevollen Blick, und irgendetwas in ihr machte klick. Sie wollte diesen Blick immer wieder sehen. Und auch wenn es unlogisch war, wusste sie plötzlich, dass ein Leben mit ihm genau das war, was sie glücklich machen würde. Sie gab dem Drang nach, sich an seine Brust zu kuscheln. Sie war schmal und sehnig, aber warm und sie fühlte sich beschützt. „Ich will.“ „Das glaub ich einfach nicht!“ Neresis’ Kopf schnellte herum. Keredin saß aufrecht auf der Bettkante und betrachtete das Szenario mit fassungslosem Blick. „Kaum bin ich für ein paar Tage außer Gefecht, bandelst du mit einem Diebesfürsten an, und dann auch noch ausgerechnet mit dem GEIER! Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ „Keredin…“ „Hör mal wer da spricht“, mischte Tiran sich ein, „ich hab gehört, du hättest Besorgungen für den Affen gemacht.“ Plötzlich wirkte Keredin sehr kleinlaut. „Nun ja, irgendwie müssen wir diese Wohnung doch halten. Und ich hätte mich nie näher auf ihn eingelassen.“ Eine Weile herrschte peinliches Schweigen. Schließlich seufzte sie resigniert. „Also schön, wenn es das ist, was du willst. Aber ich warne dich, Geier, wenn du ihr wehtust, häute ich deinen Schädel und röste dein Herz in kleinen Stücken an einem Schaschlikspieß!“ Neresis zweifelte nicht daran, dass sie das wörtlich meinte, auch wenn es wie ein Scherz klang. „Oh, keine Sorge“, sagte Koren, „ich werde für sie da sein. Egal was auch passiert.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)