All His Sons von Morwen ================================================================================ Kapitel 1: Neun --------------- Es war kurz nach Arafinwes neuntem Geburtstag, als die Nachricht eintraf, dass der älteste Sohn des Königs nach Tirion zurückkehren würde. Mehrere Tage lang war die Stadt in Aufruhe und die Neuigkeit verbreitete sich schnell wie ein Lauffeuer in ganz Eldamar, und Arafinwe, der seinem Halbbruder noch nie begegnet war, begann ungeduldig die Tage bis zu seiner Rückkehr zu zählen. Feanáro hatte Tirion wenige Jahre vor der Geburt des Jungen verlassen, um mit seiner Frau durch Aman zu reisen. Von den kalten Einöden Aramans im Norden bis zu den dunklen Bergen Avathars im Süden, von den weißen Stränden Tol Eresseas bis zu den schwarzen Tiefen des Außenmeeres waren sie gewandert und hatten alles, was sie dabei entdeckt hatten, genauestens dokumentiert und Karten der Länder angefertigt, die sie bereist hatten. Nun waren sie nach über zehn Jahren wieder zurückgekehrt, um bei ihrem Volk zu leben, denn Feanáro, der als Meisterschmied bekannt war, wollte sein Handwerk wieder aufnehmen – und außerdem war Nerdanel schwanger und erwartete bald ihr erstes Kind. Doch obwohl ihnen in Finwes Palast ein ganzer Flügel zur Verfügung stand, waren sie nicht wieder dort eingezogen, sondern lebten vorübergehend in einem Haus in der Stadt, bis die Bauarbeiten an ihrem eigenen Palast beendet sein würden, den Feanáro nach ihrer Rückkehr in Auftrag gegeben hatte. Es betrübte Finwe, dass sein Sohn sich weigerte, sein Angebot, wieder bei ihm zu leben, anzunehmen, doch er respektierte Feanáros Wunsch, Herr seines eigenen Hauses zu sein. Und so sollte Arafinwe seinen Halbbruder erst mehrere Wochen nach dessen Rückkehr auf dem großen Fest, das Finwe anlässlich der Heimkehr seines Sohnes gab, zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Bisher kannte er ihn nur aus den Erzählungen seines Vaters und den Kindheitserinnerungen seines Bruders Nolofinwe, der elf Jahre alt gewesen war, als Feanáro zu seiner großen Reise aufgebrochen war. Finwes Stimme war stets voller väterlicher Liebe und Stolz, wenn er von seinem Sohn sprach, doch es schwang auch immer eine unterschwellige Traurigkeit darin mit, die Arafinwe nicht so recht deuten konnte. Bei seinem Bruder verhielt es sich ähnlich; zwar sprach Nolofinwe immer voller Respekt und Bewunderung von Feanáro, doch sein Blick war dabei oft betrübt, als würde es ihn schmerzen, an seinen älteren Bruder zu denken. Und je näher der Tag rückte, an dem er ihn kennenlernen würde, desto häufiger begann sich der Junge zu fragen, was ihn wohl erwarten würde... Schließlich war der Abend des Festes gekommen, und Arafinwe konnte kaum still stehen, während seine Mutter ihm sein goldenes Festgewand anzog und seine Haare mit silbernen Bändern schmückte. Als er sich wenig später mit seinen Eltern und seinem Bruder auf den Weg zum großen Ballsaal machte, war der Junge so aufgeregt, dass er nach Nolofinwes Ärmel griff, wie ein kleines Kind, das den Rockzipfel seiner Mutter nicht loslassen wollte. Sein Bruder sah jedoch nur lächelnd auf ihn herab und legte seine Hand auf den Kopf des Jungen. Doch obwohl sein Lächeln ungezwungen wirkte, konnte Arafinwe seine Nervosität spüren. Offenbar sah auch Nolofinwe der Begegnung mit ihrem älteren Bruder ungeduldig entgegen, und der Junge, erleichtert darüber, dass er mit seiner Aufregung nicht allein war, nahm seine Hand und hielt sie fest. Die hohen Flügeltüren öffneten sich vor ihnen und die Gespräche im Saal erstarben, als der König und die Königin mit ihren beiden Söhnen eintraten. Arafinwe hielt den Atem an, als sich auf einmal alle Augen auf sie richteten und die Anwesenden sich respektvoll vor ihnen verneigten. Doch der Augenblick war schnell vorüber und die Fürsten und Fürstinnen nahmen ihre Gespräche bald wieder auf. Während sein Vater und seine Mutter begannen, die einzelnen Gäste zu begrüßten, sah Arafinwe sich mit großen Augen im Saal um, in der Hoffnung, Feanáro zu entdecken. Nolofinwe, der seine Gedanken zu erahnen schien, lachte jedoch nur leise. „Er ist noch nicht hier“, sagte er und Arafinwe meinte, Erleichterung in seiner Stimme zu hören. „Glaub mir, kleiner Bruder, wenn er hier wäre, dann würden wir es wissen.“ „Warum?“, fragte der Junge verwundert, doch sein Bruder schüttelte nur den Kopf. „Weil er Feanáro ist“, entgegnete er kryptisch. Die Erklärung verwirrte den Jungen, doch er kam nicht dazu, weitere Fragen zu stellen, denn bald darauf öffneten sich erneut die Türen der großen Halle, und Feanáro und Nerdanel betraten den Saal. Ein leises Raunen ging durch die Menge und Arafinwe begriff sofort, was sein Bruder gemeint hatte. Selbst wenn der Junge für diese Art von Dingen keinen sechsten Sinn gehabt hätte, wäre ihm Feanáros Anwesenheit nicht entgangen. Seine Präsenz war beinahe physisch spürbar, wie die Wärme eines Kamins in einer kalten Nacht. Mit seinem schmalen Gesicht und den schwarzen Haaren sah Feanáro seinem Vater und seinem Bruder äußerlich verblüffend ähnlich, doch in seinen sturmgrauen Augen loderte ein Feuer, wie der Junge es noch nie bei einem der Eldar gesehen hatte. Sein Halbbruder war in ein dunkelrotes Gewand gekleidet, das mit Goldfäden bestickt war, die auf seiner Brust das Wappen des Hauses Finwes formten. Er trug keinen Schmuck, bis auf einen goldenen Stirnreif, in dem ein einzelner Rubin funkelte. Auch Nerdanel war schlicht gekleidet; sie trug ein bodenlanges, weißes Kleid, das die bereits deutlich sichtbare Wölbung ihres Bauches betonte, und ihr flammend rotes Haar war zu kunstvollen Zöpfen geflochten, die auf ihrem Kopf von einer goldenen Spange zusammengehalten wurden, die wie ein Schmetterling geformt war. Beim Anblick seines ältesten Sohnes erhellten sich Finwes Augen auf eine Weise, wie Arafinwe es nur selten bei seinem Vater erlebte, und er entschuldigte sich bei seinem Gesprächspartner, um sich seinem Sohn zuzuwenden. Feanáro und Nerdanel waren mittlerweile vor dem König und der Königin stehengeblieben und verneigten sich kurz vor ihnen, bevor sie mit ihnen die üblichen Begrüßungsfloskeln austauschten. Arafinwe spürte, wie sein Bruder die Hand auf seinen Rücken legte und ihn sanft in Richtung der Neuankömmlinge schob. „Komm“, sagte Nolofinwe leise. „Es wird Zeit, unseren Bruder willkommen zu heißen.“ Der Junge zitterte am ganzen Körper vor Aufregung, während sie zu dem Königspaar hinübergingen. Endlich war es so weit! Endlich war der Moment gekommen, von dem er schon seit Jahren träumte. Feanáro bemerkte sie nicht sofort, so vertieft war er in die Unterhaltung mit seinem Vater, doch Nerdanel sah die beiden näherkommen und schenkte ihnen ein warmes Lächeln. „Nolofinwe!“, begrüßte sie den älteren der beiden Jungen und ergriff seine Hände. „Schön, dich zu sehen!“ Arafinwe kicherte leise, als sich die Wangen seines Bruders vor Verlegenheit rot färbten. Es mangelte Nolofinwe für gewöhnlich nicht an Selbstsicherheit, aber wenn es um den Umgang mit jungen Nissi ging, blieb von seiner üblichen Eloquenz oft nicht viel übrig. „Herrin“, entgegnete er mit heiserer Stimme und neigte den Kopf. Doch sie lachte nur. „Immer so förmlich“, meinte sie. „Habe ich dir nicht schon bei unserer letzten Begegnung gesagt, dass dafür keine Notwendigkeit besteht...?“ „Er bringt dir nur den Respekt entgegen, den du verdient hast, Liebste“, mischte sich Feanáro plötzlich in das Gespräch ein. Finwe und Indis, nun wieder ganz in den Rollen der Gastgeber, hatten sich abgewandt, um Abgesandte der Vanyar zu begrüßen, was der Unterhaltung zwischen Vater und Sohn vorerst ein Ende bereitet hatte. Nolofinwe versteifte sich bei Feanáros Worten und auch Nerdanel wirkte auf einmal angespannt. „Feanáro.“ Beinahe mechanisch verbeugte sich Nolofinwe vor seinem älteren Bruder. „Arakáno“, erwiderte dieser nur gelassen und musterte den anderen einen Moment lang. [1] Farblich war Nolofinwe das genaue Gegenteil von seinem Halbbruder; während dieser in Rot und Gold gekleidet war, trug er selbst Blau und Silber. „Du bist groß geworden“, stellte Feanáro fest. „Es ist viel Zeit vergangen“, entgegnete Nolofinwe mit neutraler Stimme, doch Arafinwe entging der leise Vorwurf darin nicht. Feanáro zuckte nur mit den Schultern. „Aman ist groß. Es gab viel zu entdecken.“ „Es scheinen unglaubliche Entdeckungen gewesen zu sein, wenn sie dich zwölf Jahre lang von deiner Familie ferngehalten haben.“ Dieses Mal war die Anklage nicht zu überhören. „Sie waren zumindest interessanter als alles, was Tirion mir zu bieten hatte“, erwiderte Feanáro nur. Seine unverhohlene Gleichgültigkeit ließ Nolofinwe kurz zusammenzucken, und Arafinwe sah den Schmerz in den Augen seines Bruders. Doch der andere presste nur die Lippen zusammen und gab keine Antwort. Feanáro beachtete ihn nicht weiter, sondern wandte sich stattdessen Arafinwe zu. „Du musst Ingalaure sein“, sagte er. Er ging vor dem Jungen in die Hocke und schenkte ihm ein Lächeln, das seine grauen Augen jedoch nicht erreichte. „Wie ich sehe, machst du deinem Namen alle Ehre.“ Arafinwe machte ein fragendes Gesicht, während er den Blick seines Bruders erwiderte. Wieso lobte Feanáro ihn für seine Haarfarbe? Die hatte er sich doch nicht ausgesucht. [2] Doch er wollte auch nicht unhöflich erscheinen, nicht bei ihrem ersten Treffen, und so verbeugte er sich artig. „Vielen Dank.“ Feanáro nickte nur und erhob sich wieder. „Wenigstens er hat Manieren“, murmelte er, gerade laut genug, dass auch Nolofinwe es hören konnte. Sein Bruder biss sich auf die Unterlippe, und auch Nerdanel warf ihrem Mann einen missbilligenden Blick zu. Doch entweder bemerkte Feanáro ihre Reaktion nicht, oder sie kümmerte ihn nicht. Er nickte Arafinwe kurz zu und wollte sich gerade abwenden, als Nerdanel eine Hand auf seinen Unterarm legte und ihn vielsagend ansah. Feanáro wirkte für einen Moment ernsthaft verwirrt, doch dann schien er ihren Blick zu deuten und nickte kurz, wobei er ein Gesicht machte, als schien er sich über sich selbst zu ärgern. „Natürlich... wie konnte ich das nur vergessen.“ Er gab einem der Diener, die mit ihm und Nerdanel die Halle betreten hatten, ein Zeichen und dieser eilte sogleich auf sie zu, ein kleines Kästchen aus poliertem Holz in der Hand. Feanáro nahm es vorsichtig entgegen und ging dann erneut vor Arafinwe in die Hocke. „Wie ich gehört habe, hattest du vor wenigen Wochen Geburtstag“, sagte er leise und hielt dem Jungen das Kästchen hin. „Betrachte es als verspätetes Geschenk... und als Entschuldigung dafür, dass ich nicht da war.“ „... oder überhaupt bei einem deiner Geburtstage“, murmelte Nolofinwe neben ihnen. Doch der Junge beachtete ihn nicht, zu sehr überraschte ihn das unerwartete Geschenk, und sein Blick wanderte von Feanáros Gesicht hin zu dem Kästchen. Langsam streckte er die Hände aus und öffnete es. Darin lag, auf ein Kissen aus schwarzem Samt gebettet, ein schmaler Silberreif, in den mehrere Perlen eingearbeitet waren, die im Licht bunt schillerten. Arafinwe starrte den Reif aus großen Augen an, zu sprachlos, um etwas zu sagen. Erst, als er Nolofinwes Hand an seiner Schulter spürte, erwachte er endlich aus seiner Starre. „Er ist wunderschön“, wisperte der Junge bewundernd und nahm den Reif aus dem Kästchen, um ihn sich auf den Kopf zu setzen. Er passte ihm wie angegossen, und Arafinwe bedauerte es, dass es keinen Spiegel gab, in dem er sich betrachten konnte. Doch er wurde nicht müde, mit den Fingern über die feinen Verzierungen zu fahren und, nachdem er den Reif wieder abgenommen hatte, die Perlen zu bewundern, die kunstvoll darin eingesetzt waren. Beinahe wehmütig legte er ihn schließlich wieder zurück auf sein Polster und schloss das Kästchen. „Danke für dein großzügiges Geschenk!“ Das Holzkästchen an seine Brust gepresst verneigte er sich tief vor seinem Bruder. Als ihre Blicke sich erneut trafen, entdeckte er Zufriedenheit auf Feanáros Gesicht, und beinahe etwas wie Erleichterung, als wäre sein Halbbruder unsicher gewesen, wie der Junge auf sein Geschenk reagieren würde. „Eine beeindruckende Arbeit“, meinte Nolofinwe mit widerwilligem Respekt. „Hast du sie selbst gemacht?“ Feanáro sah zu ihm auf. „Aule gewährte uns für eine Weile Zugang zu seinen Hallen und zeigte uns neue Wege, edle Metalle zu bearbeiten. Den Reif selbst habe ich erst hier gefertigt, doch Aules Wissen war mir dabei eine große Hilfe...“ „Aule hat dich gelehrt?“, rief Arafinwe aufgeregt. Jegliche Zurückhaltung und Scheu waren vergessen; sein Bruder hatte einen der Valar getroffen, und mehr noch – er hatte sogar mit ihm gesprochen! Obwohl der Junge wusste, dass sie hin und wieder unter den Eldar wandelten, war er selbst noch nie einem der Herren Valinors begegnet. „Wie war es dort? Und wie hat er ausgesehen...?“ Feanáro sah den Jungen einen Moment lang verblüfft an, doch dann lächelte er – und es war sein erstes aufrichtiges Lächeln, das Arafinwe an diesem Abend sah. Und er verstand plötzlich, wieso ganz Eldamar seinen Bruder für seine Schönheit pries, denn kein Elb, und mochte er noch so makellos sein, war mit Feanáro zu vergleichen, wenn er lächelte. „Dies ist weder die richtige Zeit noch der Ort, um von unseren langen Reisen zu berichten“, entgegnete sein Halbbruder. „Doch du bist jederzeit in unserem Haus willkommen, und dann erzähle ich dir gerne mehr von den Dingen, die wir gesehen und erlebt haben.“ Die Augen des Jungen begannen zu leuchten und er nickte eifrig. Feanáro lachte leise, dann erhob er sich wieder und sah zu Nolofinwe hinüber. „Das Angebot gilt auch für dich, Arakáno“, sagte er, und seine Stimme klang nun etwas versöhnlicher, als noch zu Beginn ihres Gesprächs. Nolofinwe entspannte sich sichtbar und nickte kurz. „Ich danke dir für deine Einladung und werde sie nicht vergessen.“ Die Stimme ihres Vaters, der alle Anwesenden aufforderte, an der großen Tafel Platz zu nehmen, ließ die drei Brüder aufsehen. „Wir sollten unsere Plätze aufsuchen“, meinte Nerdanel und hakte sich bei ihrem Mann unter. „Das Mahl beginnt bald.“ Sie begaben sich zur Tafel, und Nolofinwe folgten ihnen zusammen mit seinem kleinen Bruder an der Hand, der Feanáros Geschenk unter dem Arm trug. Obwohl Arafinwe die Spannungen zwischen seinen Geschwistern nicht entgangen war und er spürte, dass es noch lange Zeit dauern würde, bis sie sich wieder vertragen hatten, war er in diesem Moment so glücklich, wie nie zuvor - denn zum ersten Mal in seinem Leben war seine Familie endlich wieder vereint. Kapitel 2: Elf -------------- „-laure? ... Ingalaure, langweile ich dich?“ Der Junge, der eben noch verträumt aus dem Fenster gesehen hatte, zuckte zusammen und hob den Kopf. Einen Moment lang blinzelte er seinen älteren Bruder erschrocken an. Es war still im Raum geworden, ohne dass Arafinwe es gemerkt hatte, und die Blicke seiner Mitschüler lagen alle auf ihm. Doch nicht sie waren es, die ihn einschüchterten, sondern die unbewegte Miene Feanáros, der ihn aus grauen Augen musterte. Schnell schlug der Junge die Augen nieder und verbarg sein Gesicht hinter einem Vorhang aus blonden Locken, damit sein Bruder seine vor Verlegenheit brennenden Wangen nicht sehen konnte. „Nein, Feanáro“, erwiderte er leise. „Bitte verzeih meine Unaufmerksamkeit.“ Sein Bruder sagte nichts, aber Arafinwe spürte seinen Blick beinahe körperlich auf sich ruhen, bevor Feanáro sich schließlich abwandte, um mit seinen Erklärungen fortzufahren. Erleichtert strich der Junge sich eine Strähne hinters Ohr und widmete sich wieder dem Pergament vor sich – doch das Gefühl, seinen Bruder enttäuscht zu haben, blieb, und auch die Schamesröte wollte für den Rest der Unterrichtsstunde nicht aus seinen Wangen weichen. Als Feanáro den Unterricht schließlich für beendet erklärte, gab der Junge ein erleichtertes Aufseufzen von sich. Während die anderen Schüler ihre Pergamentrollen und Schreibutensilien ordentlich zusammenpackten, stopfte Arafinwe sein Schreibzeug nur eilig in seine Tasche und flüchtete förmlich aus dem Raum. Er schlängelte sich auf den langen Fluren geschickt zwischen den Dienern hindurch, während er sich zielstrebig auf den Haupteingang zubewegte, und stürmte schließlich durch das große Portal und hatte den Palast des Königs von Alqualonde bald hinter sich gelassen. Seine nackten Füße trommelten auf dem mit Steinplatten ausgelegten Weg, als er zum Strand hinunterrannte, und seine Haare flatterten im Wind, der die Dünen hinaufwehte. Schon aus der Ferne konnte er das Lachen der Kinder hören, die seit dem Vormittag am Wasser spielten, während Arafinwe an Feanáros Unterricht hatte teilnehmen müssen. Sein Bruder hatte darauf bestanden, dass der Junge zusammen mit den anderen Schülern lernte, damit er ihm nach ihrer Rückkehr nach Tirion nicht alles noch einmal erklären musste. Arafinwe hasste den Unterricht, und das nicht nur, weil die anderen Jungen alle viel älter waren, als er, und er sich zwischen ihnen ganz allein vorkam. Es lag auch daran, dass Feanáro von ihm ebenso viel Konzentration und Aufmerksamkeit verlangte, wie von seinen restlichen Schülern, und das, obwohl Arafinwe kaum das Alter erreicht hatte, in dem die Kinder der Noldor für gewöhnlich das Lesen und Schreiben erlernten. Doch seit dem Tag, an dem Feanáro von seiner langen Reise zurückgekehrt war, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, seinen jüngeren Brüdern – und besonders Arafinwe – all sein Wissen zu vermitteln, als wollte er damit seine jahrelange Abwesenheit wieder gutmachen. Dieser selbstgestellten Aufgabe war er bisher mit viel Enthusiasmus nachgekommen, aber im Gegenzug erwartete er auch Disziplin und Lernwillen von seinen Halbbrüdern. Doch obwohl Arafinwe hart arbeitete und sich stets die größte Mühe gab, Feanáros Aufgaben zu dessen Zufriedenheit zu erledigen, hatte er keine Freude am Unterricht, denn egal, wie sehr er sich auch anstrengte – er hatte immer das Gefühl, nicht gut genug für seinen Bruder zu sein, und das frustrierte und entmutigte den Jungen sehr. Umso mehr hatte er sich auf diesen Ausflug gefreut. König Olwe hatte den Prinzen und seine Familie nach Alqualonde eingeladen und Feanáro hatte aus Höflichkeit seine Halbbrüder gefragt, ob sie ihn ans Meer begleiten wollten. Nolofinwe hatte ebenso höflich abgelehnt – die Stimmung zwischen Feanáro und ihm war bisweilen noch immer etwas frostig – aber Arafinwe hatte gar nicht erst nachdenken müssen. Er war noch nie am Meer gewesen und hatte es kaum erwarten können, endlich einmal die endlose Fläche von Wasser zu sehen, hinter der in weiter, weiter Ferne noch andere, wildere Länder lagen, von denen sein Vater manchmal erzählte. Die Einladung des Königs kam nicht von ungefähr – er wollte mit Feanáro als Finwes Vertreter und einflussreichstem Elbenschmied von Tirion ein neues Handelsabkommen zwischen Noldor und Teleri besprechen. Die Teleri lieferten seit jeher den Schmieden der Noldor wunderschöne, schillernde Perlen, die sie aus dem Meer geholt hatten, und erhielten dafür im Gegenzug Holz zum Bau ihrer weißen Schiffe und verschiedene Metalle, aus denen sie Dinge des täglichen Bedarfs anfertigten. Das Abkommen sollte nun erweitert werden und in Zukunft eine ganze Reihe anderer Rohstoffe beinhalten, deren genaue Art und Quantität der König und der Prinz während Feanáros Aufenthalt in Alqualonde festlegen wollten. Als Dank für die Gastfreundschaft unterrichtete Feanáro zwei Stunden täglich die jungen Adligen der Teleri – sowie einen eher widerwilligen Arafinwe – im Lesen und Schreiben der Tengwar, die sich in den letzten Jahren wachsender Popularität erfreuten und sich allmählich in ganz Eldamar als primäres Schriftsystem durchsetzten. Für den Jungen war es eine gute Übung, war seine Handschrift doch noch immer unsauber und schief. Doch anstatt stundenlang über seinen Aufgaben zu sitzen, hätte er viel lieber mit Olwes Söhnen am Strand gespielt. Die beiden silberhaarigen Jungen, die nur wenig jünger waren, als er, waren in den letzten Tagen zu seinen Lieblingsspielkameraden geworden. Sie hatten ihm das Tauchen beigebracht und waren sogar einmal auf einem Boot ein Stück mit ihm auf die Bucht hinausgefahren, um nach Perlen zu tauchen. Auch Arafinwe hatte ein paar gefunden, und die größte und schönste hatte er für Nelyo aufgehoben. Sein Neffe – eine unpassende Bezeichnung für den kleinen Jungen, fand Arafinwe, war Nelyo doch fast wie ein jüngerer Bruder für ihn – war mittlerweile zwei Jahre alt und groß genug, um nicht mehr alles, was er in seine Hände bekam, in den Mund zu stecken. Arafinwe war völlig vernarrt in ihn, und wann immer er in Tirion gerade keinen prinzlichen Pflichten nachkommen musste, konnte man ihn für gewöhnlich in Feanáros Haus antreffen, wo er mit dem Baby spielte. Noch war Nelyo klein genug, dass Arafinwe ihn hochnehmen und herumtragen konnte, doch er wuchs schnell, und oft hatte der Junge alle Mühe, ihn wieder einzufangen, wenn sie draußen im Garten waren und er auf seinen kurzen Beinen vor ihm wegrannte, um alles Neue und Unbekannte in seine kleinen Hände zu nehmen. Nerdanel, die es anfangs kaum gewagt hatte, ihren Sohn aus den Augen zu lassen, lobte den Jungen oft für seinen vernünftigen und verantwortungsvollen Umgang mit dem Baby und vertraute ihm schließlich sogar weit genug, dass sie Nelyo bei Arafinwes Besuchen in seine Obhut gab, damit sie sich ihren eigenen Beschäftigungen zuwenden konnte. Feanáro war seit der Geburt seines Sohnes zwar kaum weniger beschäftigt, als zuvor, doch wann immer er aus der Schmiede nach Hause kam, war er für gewöhnlich wie ausgewechselt. Seine Augen leuchteten auf, wenn er Nelyo erblickte, und er nahm ihn lachend auf die Arme und bedeckte sein kleines Gesicht und das kupferrote Haar mit Küssen. Oft nahm er ihn dann für den Rest des Abends auf den Schoß, während er mit Nerdanel und Arafinwe – und manchmal auch Nolofinwe oder, noch seltener, dem König – speiste, und störte sich nicht daran, wenn Nelyo ihm das Essen stibitzte oder auf seinen Ärmel kleckerte. Hin und wieder brachte er sogar neues Spielzeug mit, das er für seinen Sohn geschmiedet oder geschnitzt hatte, und mit dem Arafinwe und Nelyo dann am nächsten Tag spielten. Feanáros Liebe und Hingabe für seinen Sohn wärmte Arafinwe das Herz, doch sie versetzte ihm auch jedes Mal einen kleinen Stich, denn seinen Halbbrüdern brachte Feanáro nicht mal ansatzweise die gleiche Zuneigung nicht entgegen – nicht einmal Arafinwe, den er mehrmals in der Woche unterrichtete und der so oft auf Nelyo aufpasste. Und nicht selten fragte sich der Junge, wenn er am Abend wieder in seinem Bett im Königspalast lag, ob Feanáro ihn jemals wirklich als Teil seiner Familie akzeptieren würde. „Ai, Arafinwe!“, rief Nerdanel und winkte ihm zu, als sie den Jungen näherkommen sah. Sie saß am Fuß einer Düne am Strand, ein dünnes Tuch um die Schultern gewickelt, da die Brise, die an diesem Tag vom Meer herüberwehte, recht frisch war. Im Arm hielt sie Nelyo, der friedlich an ihrer Brust schlummerte, und neben ihr saß eine junge Frau, die den Söhnen des Königs und deren Spielgefährten beim Planschen im kniehohen Wasser zusah. Als Arafinwe die beiden Frauen fast erreicht hatte, sah sie auf und schenkte ihm ein Lächeln. Ihre Züge waren feingeschnitten und ihr langes, gewelltes Haar glänzte silbrig im Licht der Sterne. Sie war von großer Schönheit und Arafinwe merkte gar nicht, dass er sie aus offenem Mund anstarrte, bis Nerdanel zu sprechen begann. „Arafinwe, das ist Earwen, Olwes Tochter. Sie war in den letzten Wochen zu Besuch bei Verwandten ihrer Mutter und ist erst heute Morgen nach Alqualonde zurückgekehrt.“ Hastig nahm der Junge seine Umhängetasche auf den Arm und verbeugte sich tief vor der jungen Elbenfrau. „Es freut mich, eure Bekanntschaft zu machen, Herrin“, sagte er mit roten Wangen und warf Earwen einen vorsichtigen Blick zu, während er sich wieder aufrichtete. Doch sie lächelte nur und nickte ihm zu. „Die Freude ist ganz meinerseits“, erwiderte sie mit einer überraschend tiefen, aber nicht unangenehmen Stimme. Mit einer Handbewegung bedeutet sie ihm, sich zu ihnen zu setzen, und der Junge kam der Aufforderung nach. Seine nackten Zehen gruben sich in den feinen Sand und er schämte sich einen Moment lang dafür, keine Schuhe angezogen zu haben, wie es sich für einen Prinzen der Noldor geziemt hätte. Doch dies war nicht Tirion mit seinen geraden, weißen Straßen und seiner steifen Förmlichkeit, und anders als Arafinwes Mutter oder Nolofinwe kümmerte es Feanáro nicht besonders, wie er herumlief, solange er nur Kleidung am Körper trug und nicht fror. „Festkleidung tragen wir am Hof schon oft genug“, hatte sein Halbbruder einmal gesagt und ihm ein seltenes Lächeln geschenkt. „Aber im Alltag ist sie einfach furchtbar unpraktisch.“ Der Junge überlegte gerade, ob er sich nicht doch besser so hinsetzen sollte, dass die beiden Frauen seine schmutzigen Füße nicht sehen konnten, als er feststellte, dass Earwen ebenfalls barfuß war. Sie bemerkte seinen überraschten Blick und schenkte ihm ein Lächeln, als hätte sie ihm ein Geheimnis verraten, das nur ihnen beiden bekannt war. Sofort entspannte er sich wieder ein wenig und lächelte zurück. „Wie gefällt dir Alqualonde, Arafinwe?“, fragte sie dann. „Gut“, entgegnete er, ohne lange nachdenken zu müssen. „Am Anfang fand ich es sehr dunkel, weil das Licht der Bäume nicht so weit reicht, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und mag die Dämmerung sehr gerne. Zuhause kann ich die Sterne nicht so klar sehen, wie hier.“ „Draußen auf dem Meer sieht man sie noch besser“, meinte sie und ließ den Blick über die Wellen schweifen. „Sie sind wie schillernde Perlen auf schwarzem Samt.“ Dann sah sie wieder Arafinwe an. „Warst du schon einmal mit dem Schiff draußen auf der hohen See?“ „Nein.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Möchtest du denn einmal mit dem Schiff hinausfahren?“ Ihre dunklen, meerblauen Augen funkelten beinahe spitzbübisch. Der Junge sah unsicher zu Nerdanel hinüber, die ihm jedoch nur ein Lächeln schenkte und kurz nickte. „Sehr gerne“, erwiderte er dann. „Es wird dir sicher gefallen“, meinte Earwen. „Wir können morgen zusammen für ein paar Stunden auf die See hinausfahren. Unsere Familie besitzt mehrere kleine Segelboote, die auch für das offene Meer tauglich sind.“ Arafinwe nickte voller Vorfreude und Earwen gab ein Lachen von sich – ein warmer, angenehmer Klang. „Nerdanel?“, fragte sie dann. „Wollt Ihr uns nicht begleiten?“ Doch Nerdanel winkte nur ab. „Ich habe genug Erfahrungen mit der hohen See gemacht um zu wissen, dass ich nicht für einen solchen Ausflug geeignet bin“, entgegnete sie und zwinkerte Arafinwe dann zu. „Ich hoffe, du bist seefest.“ „Wenn Osse uns wohlgesonnen ist, wird das Meer so ruhig sein, dass wir den Wellengang nicht einmal bemerken“, beruhigte Earwen den Jungen jedoch, der bei Nerdanels Äußerung eine besorgte Miene gemacht hatte. „Dann hoffe ich, dass er sich morgen zurückhält“, meinte Nerdanel. Sie wollte noch etwas hinzufügen, als Nelyo sich auf einmal zu regen begann und verschlafen seine Augen öffnete. Er hatte das Gesicht Earwen zugewandt und sah sie neugierig an. Ihr silbernes Haar schien ihn besonders zu faszinieren, und er streckte die Hand aus, um danach zu greifen. Doch Nerdanel drehte sich ein Stück zur Seite, bevor Nelyo an Earwens Haaren ziehen konnte, und der kleine Junge gab einen Protestlaut von sich und begann zu weinen. „Shh, mein Schatz, beruhige dich“, sagte Nerdanel und strich ihm über den Kopf. Dann drehte sie ihn so herum, dass Arafinwe in sein Blickfeld kam. „Sieh mal, dein Onkel ist auch hier!“ Als er ihn erblickte, stellte Nelyo sein Weinen sofort wieder ein und streckte die Arme nach Arafinwe aus, der ihn Nerdanel abnahm und auf seinen Schoß setzte. Fröhlich vor sich hin brabbelnd griff Nelyo nach den blonden Locken des Jungen und nahm sie in den Mund, um darauf zu kauen. Doch Arafinwe, der diese Behandlung gewohnt war, ließ ihn gewähren. Earwen konnte sich nur schwer ein Lachen verkneifen, als sie seinen ergebenen Gesichtsausdruck sah, doch sie behielt ihre Gedanken für sich, wofür Arafinwe ihr auf gewisse Weise dankbar war. Für einen Moment sprach keiner von ihnen ein Wort, nur Nelyo plapperte hin und wieder in unverständlichem Kauderwelsch vor sich hin. Dann fragte Earwen: „Hat er schon sein erstes Wort gesagt?“ Nerdanel sah ihren Sohn an, der sich an Arafinwes Brust kuschelte und sich mittlerweile dem Kragen seiner Tunika gewidmet hat, um ihn mit seinen kleinen, spitzen Zähnchen zu durchbohren. „Noch nicht“, meinte sie. „Er lässt sich Zeit. Aber es müsste jeden Tag soweit sein. Er ist in den letzten Wochen immer gesprächiger geworden, und Feanáro kann es kaum erwarten, ihm seine ersten Sätze beizubringen.“ ‚Ich wette, er kann es auch kaum erwarten, ihm Lesen und Schreiben beizubringen’, dachte Arafinwe bitter und vergrub das Gesicht in Nelyos Haar. Erst, als das Schweigen sich dehnte und er die überraschten Mienen der beiden Frauen sah, bemerkte er, dass er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte. „Arafinwe“, begann Nerdanel zögernd. „Tut mir leid“, sagte er schnell und wich ihrem Blick aus. „Ich habe es nicht so gemeint...“ „Du weißt, dass du jederzeit mit uns reden kannst“, entgegnete sie sanft, als würde sie ahnen, was ihn bedrückte. Doch der Junge wagte es nicht, ihr sein Herz auszuschütten, erst recht nicht in Anwesenheit von Earwen. Die junge Frau schien sein Zögern richtig zu deuten, denn sie erhob sich plötzlich und verabschiedete sich von Nerdanel und ihm. „Bis morgen, Arafinwe“, sagte sie und lächelte ihm zu. „Wenn du bereit bist für unseren Ausflug, wende dich einfach an meine Brüder. Sie werden Bescheid wissen.“ Dann ging sie leichtfüßig über den Strand davon. Erst, als sie schon längst außer Hörweite war, wandte Nerdanel sich wieder an den Jungen. „Was bekümmert dich?“, fragte sie leise. „Ist es wegen des Unterrichts? Bereitet er dir denn so wenig Freude?“ Der Junge wäre am liebsten im Boden versunken, doch er nahm all seinen Mut zusammen und hob den Blick, um Nerdanel anzusehen. „Ich mag Feanáros Unterricht sehr“, erwiderte er, was keine direkte Lüge war, auch wenn es mehr sein Halbbruder selbst war, nach dessen Nähe und Anerkennung er sich sehnte, und weniger das Wissen, das er ihm zu vermitteln versuchte. „Doch als wir hierher kamen, hatte ich gedacht...“ Er sprach nicht weiter, sondern seufzte nur und sah zu den am Strand spielenden Kindern hinüber. „Ah“, machte Nerdanel nur und Verstehen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Ihre Miene wurde weicher und sie nickte. „Ich werde mit ihm reden, Arafinwe“, sagte sie dann. „Mach dir keine Sorgen. Er wird es verstehen.“ Der Junge nickte ihr dankbar zu, doch er fragte sich, ob Feanáro es tatsächlich verstehen würde, oder ob er ihn wieder mit diesem stummen Vorwurf in den Augen ansehen würde. Er wird denken, dass ich keinen Lernwillen habe, und dann wird er mich nicht mehr unterrichten wollen, dachte Arafinwe und schlang unbewusst die Arme fester um Nelyo. Er wird Nolofinwe und mich noch mehr ablehnen, als vorher, und es wird ganz allein meine Schuld sein. Und plötzlich fühlte er sich sehr selbstsüchtig und sehr, sehr unglücklich. Feanáro blieb erstaunlich ruhig und schien nicht sonderlich überrascht, als Nerdanel ihm am Abend erzählte, dass Arafinwe während ihres weiteren Aufenthaltes in Alqualonde von nun an seinen eigenen Beschäftigungen nachgehen wollte. „Wenn das dein Wunsch ist“, war alles, was er sagte, bevor er sich abwandte und sich wieder dem Berg von Schriftrollen widmete, die er von den Kaufleuten der Teleri erhalten hatte und bis zu ihrer Rückkehr nach Tirion durchgehen musste. Für ihn schien das Thema damit erledigt zu sein. Doch der Junge fühlte sich noch immer unwohl, und nach dem Abendessen, als Nerdanel einen satten und schläfrigen Nelyo ins Bett brachte, trat er zögernd in Feanáros Arbeitszimmer. Sein Halbbruder bemerkte ihn nicht sofort, doch als Arafinwe sich leise räusperte, sah er schließlich auf. Die Anspannung des Jungen schien ihm nicht zu entgehen, und er legte seine Schreibfeder beiseite und sah ihn aufmerksam an. „Was gibt es?“ Arafinwe druckste einen Moment lang herum, doch da er aus Erfahrung wusste, dass der andere es nicht mochte, wenn man lange um den heißen Brei herumredete, gab er sich schließlich einen Ruck und fragte: „Bist du auch wirklich nicht verärgert?“ Feanáro schien für einen Augenblick verwirrt und hob eine Augenbraue, um dem Jungen zu verstehen zu geben, dass er genauer erklären sollte, wovon er sprach. „Weil ich nicht am Unterricht teilnehmen will“, sprudelte es plötzlich aus Arafinwe heraus. „Ich verspreche, ich werde in Tirion wieder fleißig sein und viel lernen, darum sei bitte nicht böse mit mir! Ich will nicht, dass du denkst, dass ich faul bin oder dich als Lehrer ablehne, denn das stimmt nicht, das verspreche ich, und ich werde mich bessern, wenn wir wieder zu Hause sind...“ Und dann verstummte er, bevor ihm noch mehr gedankenlose Äußerungen über die Lippen kommen konnten, hatte er doch gewiss schon genug Schaden angerichtet. Das Schweigen, das auf seine Worte folgte, schien eine Ewigkeit anzudauern, während sein Bruder ihn nachdenklich ansah, doch dann stand Feanáro plötzlich auf und tat etwas, was er noch nie zuvor getan hatte – er trat zu dem Jungen hin und ging vor ihm in die Hocke, um ihn in die Arme zu schließen. Arafinwe war für einen Moment stocksteif und sein Herz klopfte ganz schnell, so überraschend kam diese Geste, war er seinem Bruder doch noch nie zuvor so nah gewesen. Doch dann entspannte er sich und legte den Kopf an Feanáros Schulter, während Tränen in seinen Augenwinkeln zu brennen begannen. „Glaubst du wirklich, dass ich so über dich denke, Ingo?“, sagte der ältere leise und fuhr mit den Fingern sanft durch Arafinwes Haare. „Du bist ein lieber und verantwortungsvoller Junge, und klüger als die meisten anderen Kinder in deinem Alter, die ich kenne. Du denkst immer zuerst an das Wohl der anderen und du bist öfter für mich, Nerdanel und Nelyo da, als wir es vermutlich verdient haben. Du bist nicht faul, Ingo, sondern fleißig und aufmerksam – so aufmerksam, dass ich manchmal vergesse, dass du noch ein Junge bist, der auch hin und wieder seinen Spaß haben will. Und ihn auch haben sollte, denn die Welt ist groß und es gibt viel darin zu entdecken.“ Er schob Arafinwe wieder ein Stück von sich und lächelte ihm zu, während er mit dem Daumen eine Träne wegwischte, die dem Jungen über die Wange gekullert war. „Ich mache immer wieder den Fehler, mich selbst in dir zu sehen, anstatt zu erkennen, dass du deine eigenen, gänzlich anderen Interessen hast. Aber ich bin dein Bruder, nicht dein Vater, und du bist kein kleines Kind mehr, ich kann dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast.“ „Aber... Nolofinwe“, murmelte der Junge. „Mit ihm sprichst du auch kaum noch ein Wort, seitdem er nicht mehr zum Unterricht kommt...“ „Dein Bruder ist ein anderer Fall“, erwiderte Feanáro und seufzte leise. „Was zwischen ihm und mir ist, hat andere Ursachen, die dich nicht betreffen. Doch nur, weil er und ich unsere Differenzen haben, bedeutet das nicht, dass ich dich darum weniger mag. Bitte glaub mir, Ingalaure.“ Der Junge wischte sich mit der Hand über die Augen, dann nickte er mit einem Lächeln. „Ich glaube dir, Feanáro.“ Sein Bruder erwiderte das Lächeln, dann neigte er sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich wieder aufrichtete und an seinen Schreibtisch zurückkehrte. „Nerdanel hat mir erzählt, dass du morgen mit Olwes Tochter aufs Meer hinausfahren willst“, sagte er dann. Arafinwe nickte eifrig. „Sie wollte mir den Sternenhimmel draußen über der Bucht zeigen. Und vielleicht können wir vom Schiff aus sogar den großen Turm von Avallóne sehen!“ „Vielleicht“, meinte Feanáro und lächelte. Dann dachte er einen Moment lang nach. „Deine Mutter wäre vermutlich entsetzt, wenn sie wüsste, dass ich dich auf das offene Meer hinausfahren lasse. Aber ich weiß, dass du vorsichtig sein und auf dich aufpassen wirst... oder, Ingo?“ Der Junge nickte erneut und das schien seinem Bruder zu genügen. „Dann wünsche ich dir viel Spaß auf deiner Expedition“, sagte er dann. „Du solltest schlafen gehen und dich gut ausruhen.“ „Das werde ich. – Danke, Feanáro.“ Der andere machte nur eine unbestimmte Handbewegung, doch Arafinwe entging sein Lächeln nicht. „Schlaf gut, Ingo.“ Der Junge verbeugte sich kurz, dann drehte er sich um und ging in sein Zimmer, unbeschwert und froh, wie schon seit langem nicht mehr. Earwen hielt ihr Versprechen, und als Arafinwe am nächsten Vormittag Olwes Söhne nach dem geplanten Segelausflug fragte, nickten die Zwillinge mit wissendem Grinsen und griffen nach seinen Händen, um mit ihm zum Hafen zu gehen. Yualon und Yucalon – der Junge hatte immer noch Schwierigkeiten damit, die beiden auseinanderzuhalten – steuerten auf einen kleinen Einmaster zu, der wie alle Schiffe der Teleri weiß angestrichen war und dessen Bug im geschnitzten Hals eines Schwanes endete. Es waren Dutzende von Schiffen im Hafen, die sacht auf den Wellen schaukelten, die durch den großen Torbogen aus dem offenen Meer in das Hafenbecken schwappten. Zahlreiche Lampen brannten auf den Kaimauern und in ihrem Licht glitzerten die unzähligen Perlen und Juwelen, die die weißen Schiffe zierten. Earwen war bereits am Schiff und gerade damit beschäftigt, eines der Segel mit einem Seil den schlanken Mast hinaufzuziehen, als Arafinwe mit ihren Brüdern eintraf. Der Junge war ein wenig überrascht, niemanden sonst weiter zu sehen. „Fahren wir ganz allein?“, fragte er Earwen, nachdem sich sich gegrüßt hatten. Sie lachte auf. „Die Teleri lernen früh das Segeln“, erwiderte sie dann. „Wir wissen, was wir tun, und du wirst sicher mit uns sein, das verspreche ich dir. – Vertrau mir.“ Und obwohl Arafinwe immer noch Schwierigkeiten damit hatte sich vorzustellen, wie eine junge Frau und zwei kleine Jungen allein ein Schiff steuern wollten, vertraute er ihr, ohne auch nur einen Moment lang zu zögern. Er nahm Earwens ausgestreckte Hand, als er an Bord kletterte, und setzte sich auf eine Bank im hinteren Drittel des Bootes. Doch zuerst mussten sie das Schiff aus dem Hafen herauslenken, und dafür reichte ihm Earwen ein langes Ruder, bevor sie sich neben ihn setzte und ihrerseits ein Ruder ergriff und auf ihrer Seite des Schiffes ins Wasser tauchte. „Kannst du mir helfen, das Schiff aus dem Hafen zu steuern?“, fragte sie und lächelte ihm zu. „Du bist kräftiger als die beiden“, fügte sie mit einem Nicken in Richtung ihrer kleinen Brüder hinzu, die sich hinter dem Bug zusammengekauert hatten und sich angeregt unterhielten. Arafinwe kam der Bitte nach und gemeinsam ruderten sie das Boot aus dem Hafen hinaus aufs Meer. Dabei kam der Junge schnell ins Schwitzen, denn das kleine Schiff anzutreiben war anstrengender, als er gedacht hatte. Doch Earwen neben ihm ruderte in mühelosen, gleichmäßigen Zügen und er konnte sehen, wie sich an ihren blassen Armen die Muskeln spannten. Es war offensichtlich, dass sie dies nicht zum ersten Mal tat, und Arafinwe war beeindruckt von ihrer Stärke. Bald waren sie unter dem felsigen Torbogen, der den Eingang des Hafens markierte, hindurchgerudert, und eine gute halbe Meile dahinter bedeutete Earwen ihm schließlich, mit dem Rudern aufzuhören, und erhob sich, um die Segel zu entrollen. Ihre Brüder halfen ihr dabei, sie zu befestigen, und wenig später begannen sie sich mit Wind zu füllen und sie nahmen wieder an Fahrt auf. Arafinwe gesellte sich zu den beiden Jungen vorne im Bug, während Earwen die Pinne hielt, um das Boot zu steuern. Es herrschte nur mäßiger Wellengang und bald flog das kleine Schiff geradezu über die See. Arafinwe schloss für einen Moment die Augen und genoss die salzige Luft, die an seinen Haaren und seiner Tunika zerrte. Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt, und der Wind auf seinem Gesicht und der Anblick des endlosen Meeres vor ihnen erfüllte ihn mit einer unbändigen Freude. Erst als sie bereits mehrere Meilen zurückgelegt hatten, wurde das Boot wieder langsamer und Arafinwe sah, dass Earwen die Segel gerefft hatte, so dass sie nun antriebslos auf den Wellen schaukelten. Die Zwillinge sprangen sofort auf und zogen ihre Sachen aus, um über die Bordwand zu klettern und sich ins Meer fallen zu lassen. „Schwimmt nicht zu weit!“, rief Earwen ihnen nach. „Sonst findet ihr nicht mehr zurück!“ Arafinwe stützte sich auf die Bordwand und sah den Jungen zu, wie sie anmutig durch das Wasser glitten, als hätte sie ihr ganzes Leben darin verbracht. Earwen setzte sich zu ihm. „Möchtest du auch schwimmen?“, fragte sie ihn. Er überlegte einen Moment, doch dann schüttelte er den Kopf. „Ich mag das Meer, aber es macht mir Angst, keinen Boden unter den Füßen zu haben.“ Er zögerte. „Ein andermal vielleicht.“ „Ganz wie du willst“, meinte sie nur und dann schwiegen sie wieder für eine Weile. „Was ist mit Euch, Herrin? Wollt Ihr nicht schwimmen gehen?“, fragte Arafinwe dann. „Du kannst Earwen zu mir sagen“, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln. Dann sah sie wieder zu ihren Brüdern hinüber, die sich johlend gegenseitig Wasser ins Gesicht spritzten. „Und was deine Frage angeht, bin ich mir nicht sicher, ob es sich vor den Augen eines jungen Mannes wie dir geziemen würde.“ „Oh.“ Daran hatte Arafinwe gar nicht gedacht. Sofort spürte er, wie seine Wangen heiß wurden. „Verzeih mir, ich wollte nicht...“ „Schon vergessen“, winkte sie nur ab und lachte erneut ihr tiefes Lachen, an dem der Junge von Mal zu Mal mehr Gefallen fand. Dann forderte sie ihn mit einer Handbewegung auf, sich umzudrehen und in die Richtung zu sehen, aus der sie gekommen waren. Arafinwe machte große Augen, als er die gigantische Bergkette der Pelóri erblickte, die sich wie ein schwarzer Wall vom Sternenhimmel abhob. Weiter auf der linken Seite sah er den Calacirya, den Pass zwischen den Bergen, in dem auch Tirion lag, und von dem aus Laurelins Licht wie eine goldene Messerklinge die Dunkelheit durchschnitt und weit auf das Meer hinausreichte. Wenn er sich anstrengte, konnte er weit, weit entfernt am Fuße der Berge den hohen Turm von Olwes Palast und den Hafen der Teleri sehen, dessen Lichter sich schwach auf den Wellen spiegelten. Und als er schließlich zum Himmel hinaufsah... Earwens Beschreibung hätte kaum treffender sein können; noch nie hatte er die Sterne so hell leuchten sehen, wie hier auf dem offenen Meer. Sie erinnerten ihn an schimmernde Diamanten am Grunde eines tiefen Brunnens. Deutlich konnte er auch die ihm vertrauten Sternbilder sehen – die Valacirca und den Menelmacar, die man beide auch in Tirion sehen konnte, stachen besonders prominent hervor – sowie zahllose Sternbilder, von denen er zwar schon gehört, doch die er noch nie zuvor mit eigenen Augen erblickt hatte. Earwen bedeutete ihm, den Kopf in ihren Schoß zu legen, und nach kurzem Zögern kam er der Aufforderung nach. (Das war doch nicht unziemlich, oder...?) „Ich konnte deine Beschreibung gestern kaum glauben, doch jetzt sehe ich, wie passend sie war“, sagte er dann. „Sie sind wirklich wunderschön.“ Er hob eine Hand, als wollte er nach den Sternen greifen, ließ sie jedoch wenig später wieder an seine Seite fallen. „Ich frage mich, wie sie alle heißen“, sagte er dann. „Ich weiß leider nicht alle ihre Namen“, meinte Earwen, die ebenfalls zum Himmel hinaufsah. „Aber vielleicht kennt dein Bruder sie.“ „Feanáro...“, murmelte Arafinwe, dann schloss er die Augen. Feanáro kannte mit Sicherheit ihre Namen. Es gab nichts, was sein Bruder nicht wusste, zumindest hatte der Junge es noch nie erlebt, dass er mal keine Antwort auf eine Frage hatte. Und auch wenn Feanáro nach den Maßstäben der Elben noch ein junger Mann war, wusste Arafinwe doch, dass er selbst niemals dieselbe Menge an Wissen erlangen würde. Feanáros brillanter Verstand war eine Welt für sich... und irgendwie hatte der Junge diese Tatsache mittlerweile für sich akzeptiert und fühlte sich bei dem Gedanken nicht unterlegen oder gar minderwertig, wie Nolofinwe es oft tat. Feanáro war Feanáro, und Arafinwe war Arafinwe. Er würde seinen Bruder nie überflügeln, und nach den Worten des anderen am letzten Abend war ihm klar geworden, dass er es auch gar nicht musste. Feanáro würde ihn nicht ablehnen, nur weil er er selbst war, und der Gedanke erfüllte ihn mit Wärme. „Warum lächelst du?“, fragte Earwen und er sah blinzelnd in ihre tiefblauen Augen, in denen sich das Sternenlicht spiegelte. „Es ist nichts“, sagte er und schloss erneut die Augen. „Alles ist gut.“ Und das war es auch. Kapitel 3: Vierzehn (I) ----------------------- „Er hat was?“ Arafinwes unruhig gegen die Stuhllehne tappenden Fingerkuppen kamen zur Ruhe. „Er hat gefragt, ob ich ihn begleiten möchte“, wiederholte er und wagte zum ersten Mal seit dem Beginn ihres Gesprächs einen vorsichtigen Blick hinauf zu seinem Bruder, der neben dem Tisch stehengeblieben war und ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Verletztheit ansah. Es dauerte kaum länger als einen Herzschlag, dann war Nolofinwes Miene wieder dieselbe beherrschte Maske, die der Junge nur allzu gut kannte, doch der kurze Moment hatte ihm gereicht, um zu erkennen, wie sehr die Neuigkeiten dem anderen zu schaffen machten. Sein Bruder wandte sich ab und richtete seine Augen wieder auf das Schriftstück in seiner Hand. „... ich verstehe“, erwiderte er schließlich. Und dann: „Du solltest mit ihm gehen.“ Er bemühte sich um einen neutralen Tonfall, doch Arafinwe entging die Bitterkeit in seiner Stimme nicht. Der Junge zögerte. Es fiel ihm in letzter Zeit immer schwerer, seinen älteren Bruder zu lesen und angemessen auf seine Stimmungen zu reagieren, doch dass in diesem Moment Taktgefühl gefragt war, stand außer Frage. „Ich glaube, ich werde sein Angebot ablehnen“, meinte er dann. „Ich werde ihm sagen, dass ich denke, dass Nelyo noch zu klein ist für eine solche Reise, und werde ihm anbieten, auf ihn aufzupassen, bis er wieder zurückkommt...“ Doch Nolofinwe schüttelte nur den Kopf. „Solange Nerdanel in Valimar ist, wird er Nelyo mitnehmen, ob du mitkommst oder nicht, denn für einen solch langen Zeitraum wird er ihn nicht zurücklassen wollen – nicht einmal in deiner oder Vaters Obhut.“ Nolofinwe seufzte, dann sah er seinen jüngeren Bruder an und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Geh nur, Arvo. Es ist in Ordnung.“ „Er hat nicht einmal nach dir gefragt“, sagte der Junge unglücklich. „Es ist nicht fair.“ „Es ist Feanáro“, entgegnete der andere nur, wie er es an diesem Punkt in ihren Gesprächen über ihren Halbbruder oft tat. „Nichts ist jemals fair mit ihm.“ Und Arafinwe widersprach nicht länger, denn wie jedes Mal wusste er darauf nichts zu erwidern. „Wir benötigen sechs Tagesritte, wenn wir uns Zeit lassen und die Pferde schonen wollen“, meinte Feanáro, als Arafinwe ihm später am Tag seine Entscheidung mitteilte, und sah ihn prüfend an. „Es wird also eine weite Reise sein, und darum möchte ich nur eines von dir wissen: traust du dir das auch wirklich zu?“ Der Junge nickte kurz. „Wenn Nelyo diesen Weg zurücklegen kann, dann kann ich es auch“, entgegnete er tapfer. Feanáros Mundwinkel zuckten. „Ist das so“, entgegnete er amüsiert. „Aber Nelyo wird im Gegensatz zu dir bei mir auf dem Pferd sitzen, wo ich auf ihn achtgeben kann. Du aber musst während der Reise selbst auf dich und dein Pferd aufpassen. Wirst du das schaffen?“ Arafinwe gab keine Antwort, doch er nickte erneut, und es muss etwas in seinem Blick gewesen sein, das seinen Bruder überzeugte, denn er fragte nicht noch einmal nach. „Nun gut“, meinte er nur und wandte sich ab. „Dann pack deine Sachen und halte dich bereit. Übermorgen brechen wir auf.“ „Ja, Feanáro“, erwiderte der Junge und verbeugte sich kurz, dann drehte er sich auf dem Absatz um und flitzte davon, um mit den Vorbereitungen zu beginnen. Finwe war überrascht, als er von den Plänen seines jüngsten Sohnes hörte. „Du willst mit Feanáro auf Reisen gehen?“, fragte er, als sie am Abend an der Tafel saßen und aßen. „Ich war erstaunt, als ich hörte, dass er Nelyo mitnehmen will, aber ich muss gestehen, ich habe nicht damit gerechnet, dass er auch dich fragen würde.“ Und er war nicht der einzige; auch Indis warf ihrem Sohn einen überraschten Blick zu. Doch sie fing sich wesentlich schneller, als ihr Gemahl, und der besorgte Ausdruck auf ihrem Gesicht war schnell wieder verschwunden. Nolofinwe sah ihn nicht einmal an. ‚Du solltest ihn begleiten, Vater‘, dachte der Junge, dem das Mienenspiel seiner Mutter entgangen war. ‚Es würde ihm viel bedeuten.‘ Doch er behielt seine Gedanken für sich. Die erste Frau seines Vaters war stets ein schwieriges Thema, das Finwe nach Möglichkeit zu vermeiden versuchte – und alle anderen um ihn herum ebenso, da sie wussten, wie sehr es ihn peinigte – und obwohl der König seinen Erstgeborenen über alles liebte, sprach er so gut wie nie über dessen Mutter. „Es ist eine weite Reise“, sagte Finwe dann, „und es liegen nur wenige Siedlungen auf dem Weg. Ihr solltet genügend Vorräte mitnehmen. – Und wo werdet ihr schlafen?“ „Feanáro hat erzählt, dass er und Nerdanel auf ihrer Reise oft unter freiem Himmel geschlafen haben, und darum werden wir es dieses Mal auch tun“, erwiderte Arafinwe unbeschwert, während er einen Schluck Wasser aus seinem Kelch trank. „Er hat gemeint, dass das, was für unsere Vorfahren in Endóre gut genug war, auch für uns reichen wird.“ „Hat er das...“, sagte Finwe, und es lag plötzlich ein schmerzvoller Ausdruck auf seinem Gesicht. „Es ist immer einfacher, eine Zeit zu romantisieren, die man selbst nie miterlebt hat.“ Arafinwe sah seinen Vater fragend an, und auch Nolofinwe sah auf einmal von seinem Essen auf. „Das verstehe ich nicht, Atar.“ Der König erwiderte den Blick des Jungen für lange Zeit, ohne etwas zu sagen, doch schließlich entspannte sich seine Miene wieder. „Ich werde es dir erklären, wenn du älter bist“, sagte er nur, und Arafinwe spürte, dass er an diesem Abend nicht mehr aus ihm herausbekommen würde. „Du wirst auf deiner Reise festes Schuhwerk brauchen“, meinte Indis nach einer Weile, um die unangenehme Stille zu beenden, die sich ausgebreitet hatte, und schenkte ihrem Sohn ein Lächeln. „Ich werde dir beim Packen helfen.“ Arafinwe strahlte. „Danke, Amil!“ „Was ist mit dir, Nolofinwe?“, fragte der König dann seinen anderen Sohn, der bis dahin schweigend seine Suppe gelöffelt hatte. „Wirst du mit ihnen gehen?“ Der junge Mann stockte kurz, bevor er seinen Löffel erneut zum Mund führte. „Ich möchte mich nicht aufdrängen“, entgegnete er, ohne von seinem Essen aufzusehen. „Außerdem habe ich noch viel zu tun; ich habe erst die Hälfte der Unterlagen durchgearbeitet, die du mir gegeben hast. Und in vier Tagen ist die Ratsversammlung, in der über die Verteilung der Schürfrechte für die neuen Mienen entschieden wird. Wenn du nichts dagegen einzuwenden hast, Vater, würde ich ihr gerne beiwohnen.“ „Das Thema ist trocken – sehr trocken“, meinte Finwe, doch er lächelte dabei, „aber wenn es dein Wunsch ist, dann würde ich mich freuen, dich an meiner Seite zu wissen, mein Sohn.“ „Danke, Vater“, erwiderte Nolofinwe und erwiderte das Lächeln mit schmalen Lippen. Sie kamen für den Rest des Essens nicht noch einmal auf Arafinwes Reisepläne zu sprechen. Es war schon über fünf Jahre her, dass Feanáro das letzte Mal die Ruhestätte seiner Mutter besucht hatte. Damals war er mit Nerdanel dort gewesen, kurz bevor sie nach Tirion zurückgekehrt waren und Arafinwe seinen Bruder zum ersten Mal getroffen hatte. Seitdem war Feanáro nicht mehr bei Míriel gewesen, da seine Arbeit und seine Familie den Großteil seiner Zeit beanspruchten. Doch nun, da Nelyo kein Säugling mehr war, den man keinen Moment lang aus den Augen lassen durfte, und Feanáro wieder mehr Zeit hatte, nachdem er vor kurzem eine Reihe wichtiger Arbeiten fertiggestellt hatte, hatte er beschlossen, nach langer Zeit wieder einmal die Reise zu Lóriens Gärten auf sich zu nehmen. Arafinwe wusste fast nichts über Míriel. Niemand am Hof sprach je über sie, und der Junge wagte weder Feanáro noch seinen Vater nach ihr zu befragen. Nur seine Mutter erzählte manchmal von ihr und beschrieb sie als scharfsinnige Frau mit silbernen Haaren und geschickten Fingern, die die feinsten Näharbeiten angefertigt hatte, die die Noldor je gesehen hatten. Indis hatte Míriel stets respektiert und aus der Ferne bewundert, auch wenn es sie geschmerzt hatte, dass sie ihretwegen niemals Finwe zum Ehemann würde nehmen können. Doch dann war Feanáro geboren worden, und während ihr Sohn von Jahr zu Jahr immer mehr an Kraft gewonnen hatte, war Míriel immer schwächer geworden, bis sie sich schließlich in Lóriens Gärten zur Ruhe gelegt hatte und in einen Schlaf gesunken war, aus dem sie nie wieder erwachen sollte. „Aber warum ist sie gestorben?“, hatte Arafinwe damals mit Tränen in den Augen gefragt, während er an Feanáro gedacht hatte – einen kleinen Jungen, der soeben seine Mutter verloren hatte und noch nicht wusste, dass er nie wieder ihre Stimme hören würde. „Hätten die Valar sie nicht heilen können?“ „Ich weiß es nicht“, hatte seine Mutter leise erwidert, während sie an seinem Bett gesessen und sanft über sein Haar gestrichen hatte. „Vielleicht hätten sie ihr helfen können, vielleicht auch nicht. Doch beides war bald nicht länger von Bedeutung, als klar wurde, dass Míriel nicht den Wunsch hatte, zu den Lebenden zurückzukehren. Als sie starb, starb sie für immer.“ Arafinwe hatte nur das Gesicht an Indis‘ Brust gepresst und ihren vertrauten Geruch eingesogen. Er war fünf Jahre alt gewesen und allein die Vorstellung, seine Mutter für immer zu verlieren, hatte ihn leise weinen lassen. Es war der Tag gewesen, an dem Arafinwe gelernt hatte, was Mitgefühl war – auch wenn er den Namen für dieses Gefühl erst viele Monate später erfahren sollte. Und seit diesem Tag war Feanáro für ihn nicht länger ein gesichtsloser Schatten gewesen, dessen Name hin und wieder in den Unterhaltungen seiner Eltern oder den Gesprächen der Edlen am Hofe fiel, sondern ein Junge, dessen Mutter eines Tages grausam aus seinem Leben gerissen worden war, und der hatte lernen müssen, von da an ohne sie weiterzuleben. Indis kam am nächsten Vormittag vorbei, um ihm bei den Vorbereitungen zu helfen, so wie sie es versprochen hatte. Arafinwes Gesicht erhellte sich, als seine Mutter in sein Gemach trat, ein Kästchen in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen. „Ein Bote hat es soeben gebracht“, sagte sie, als der Junge neugierig zu ihr trat. „Es kam mit den Händlern aus Alqualonde.“ Aufgeregt nahm der Junge das Geschenk an sich und setzte sich auf sein Bett, um es näher zu begutachten. Es war ein schmales, aber langes Kästchen, länger noch als sein Unterarm. In das Holz waren viele, kleine Fische geschnitzt, deren Schuppen mit Perlmutt verziert waren, und Arafinwe fuhr einen Moment lang bewundernd mit dem Finger darüber. Dann klappte er das Kästchen auf. Darin befand sich, in ein Seidentuch gewickelt, eine einfache Flöte aus Schilf. Der Junge starrte sie aus großen Augen an, bevor er es schließlich wagte, sie herauszunehmen und vorsichtig an die Lippen zu setzen. Ungeübt, wie er war,  konnte er ihr nicht mehr als eine Handvoll Töne entlocken, aber das tat seiner Freude über das Geschenk keinen Abbruch. Glücklich sah er zu seiner Mutter auf. „Vielen Dank, Amil.“ Indis nickte nur und setzte sich dann neben ihn auf das Bett. „Gibt es etwas, was ich dem Boten mitgeben soll, bevor die Händler wieder nach Alqualonde aufbrechen?“, fragte sie. Arafinwe überlegte kurz, doch dann schüttelte er nur den Kopf. „Dieses Mal nicht“, entgegnete er. „Aber vielleicht entdecke ich auf der Reise nach Lórien etwas, was ich ihr schicken kann.“ Seit ihrem ersten gemeinsamen Ausflug ans Meer war der Junge noch zwei weitere Male mit Feanáro und Nerdanel dort gewesen. Bei ihren Aufenthalten in Alqualonde hatte er stets viel Zeit mit Earwen und ihren Brüdern verbracht, die ihm von Mal zu Mal mehr ans Herz gewachsen waren. Insbesondere Olwes Tochter war ihm eine gute Freundin geworden, und wann immer sie voneinander getrennt waren, schickten sie sich gegenseitig Dinge, die sie an ihre gemeinsame Zeit am Strand und auf dem Meer erinnern sollten. Von Earwen hatte Arafinwe schon viele Perlen, Muscheln oder die bunten Federn von Seevögeln bekommen, während er ihr seinerseits Edelsteine oder Schnitzereien geschickt hatte, und einmal sogar einen Armreif aus Silber, den er unter der geduldigen Anleitung Feanáros selbst geschmiedet hatte. Seine Eltern unterstützten die Korrespondenz ihres jüngsten Sohnes mit der Prinzessin der Teleri, und wann immer ein neues Paket aus Alqualonde eintraf, warfen sie sich wissende Blicke zu, aus denen der Junge nicht ganz schlau wurde. Vorsichtig packte Arafinwe die Flöte wieder ein. „Ich werde sie mit auf die Reise nehmen“, beschloss er. „Vielleicht kann Feanáro mir zeigen, wie man darauf spielt – dann kann ich Earwen das nächste Mal, wenn wir in Alqualonde sind, etwas vorspielen.“ „Das ist eine gute Idee“, erwiderte Indis lächelnd und strich ihrem Sohn eine blonde Locke hinter das Ohr. Arafinwe sah auf das Kästchen in seinem Schoß herab und plötzlich spürte er neben Vorfreude auch ein seltsames Kribbeln im Bauch. Und für einen Augenblick wünschte er, er wäre bereits wieder zurück und könnte Earwen von seiner Reise erzählen. Sie brachen am nächsten Morgen während der Dämmerung auf. Feanáro trug Nelyo auf dem Arm, während er sich von Finwe verabschiedete. Der kleine Junge hatte das Gesicht an die Schulter seines Vaters geschmiegt und schlummerte, doch als Feanáro ihn wenig später Arafinwe reichte, damit er sich in den Sattel seines Pferdes schwingen konnte, wurde er wieder wach und sah sich mit neugierigem Blick und zerzausten Locken um. „Arfin!“, rief er und presste einen feuchten Kuss auf die Wange seines Onkels. Arafinwe lachte und rieb seine Nase an der des Jungen. „Na, Nelyo?“, sagte er. „Freust du dich schon auf deine erste große Reise?“ Sein Neffe nickte eifrig, dann streckte er die Hände nach Feanáro aus, als dieser ihn Arafinwe wieder abnahm und vor sich auf den Sattel des Pferdes setzte. „Brauchst du Hilfe beim Aufsteigen?“, fragte Nolofinwe, der bis jetzt schweigend neben der kleinen Gruppe gestanden hatte. Arafinwe sah zu Feanáro und seinem Vater hinüber, die leise Worte miteinander wechselten, und dann zu Marilla, seiner schon etwas älteren, aber sanftmütigen Stute, auf der er auch das Reiten gelernt hatte. Obwohl er in den letzten Jahren ein ganzes Stück gewachsen war, war es noch immer jedes Mal eine Herausforderung für ihn, in den Sattel zu kommen, und er nahm das Angebot seines Bruders dankbar an. „Gib gut auf dich acht, Arvo“, sagte Nolofinwe, als der Junge schließlich bequem im Sattel saß, und reichte ihm die Zügel. „Und auf Nelyo. Ich bezweifle zwar, dass euch Gefahren begegnen werden, aber das ist kein Grund, keine Vorsicht walten zu lassen, wo Vorsicht angebracht ist.“ „Ich werde gut aufpassen“, versprach Arafinwe. Dann lächelte er. „Ich hoffe, du langweilst dich ohne mich nicht völlig zu Tode.“ „Langweilen? Ich bin froh, dass ich endlich meine Ruhe habe“, entgegnete Nolofinwe nur und erwiderte das Lächeln. Dann trat er wieder zurück, nicht ohne Marilla vorher sanft über die Nüstern zu streichen, und für einen Augenblick war der Junge traurig, dass Nolofinwe sie nicht begleitete. Er liebte seinen Bruder, und wusste, dass dieser ihn ebenso liebte, und er wünschte, sie könnten das, was sie als Geschwister verband, auch mit Feanáro teilen. Aber so einfach war es leider nicht. Da er sich bereits in der vorigen Nacht von seinem Vater und seiner Mutter verabschiedet hatte, fielen Finwes letzte Worte an seinen jüngsten Sohn recht kurz aus – wenn auch nicht weniger herzlich. „Gute Reise“, sagte er und sah zu seinen beiden Söhnen auf. „Möget ihr heil zu uns zurückkehren.“ Feanáro nickte nur, während Arafinwe seinem Vater und seinem Bruder zum Abschied mit einem Lächeln zuwinkte. Dann setzten sich ihre Pferde in Bewegung und trotteten auf die breite, mit weißen Steinen gepflasterte Straße hinaus, die durch die Stadt hindurch in Richtung Westen führte. Auf den Straßen Tirions war es zu dieser frühen Stunde noch still, auch wenn der Junge mehrere Diener und Mägde sah, die für ihre Herren frühe Besorgungen erledigten. Da sowohl der Kronprinz als auch Arafinwe schlichte Reisekleidung trugen, warf ihnen niemand auch nur einen zweiten Blick zu, während sie Seite an Seite schweigend durch die Stadt ritten. Zwanzig Minuten später passierten sie das westliche Tor und ließen Tirion hinter sich, und mit dem Durchschreiten des Portales schien sich auch ein unsichtbares Gewicht von Feanáros Schultern zu heben, denn er entspannte sich sichtlich. Nelyo, der bis dahin geschwiegen hatte, schien diese Änderung zu spüren, denn er wurde plötzlich wieder munter und begann, fröhlich vor sich hinzuplappern. „Wie weit ist es noch, Atto?“ „Sieh mal, die Schmetterlinge!“ „Werden wir die Bäume sehen?“ „Darf ich auch mal die Zügel halten?“ „Ich habe Durst.“ „Was ist das für ein Tier dort drüben?“ ... und so ging es für die nächsten Stunden weiter. Es war, als hätten sich in all den Jahren, in denen Nelyo noch nicht gesprochen hatte, die Worte in ihm angestaut, und würden nun mit einem Mal aus ihm heraussprudeln. Doch so endlos sein Mitteilungsbedürfnis auch war, so endlos war auch die Geduld seines Vaters, und ruhig erklärte Feanáro ihm alles, was er wissen wollte, und nicht nur Nelyo, sondern auch Arafinwe hörten ihm aufmerksam zu. Am späten Vormittag erreichten sie den Ausgang des Calacirya. Ab hier fiel das Land nach Westen hin allmählich ab, so dass sie Valinor in seiner Gesamtheit – seinen Wäldern, endlosen Wiesen und Feldern – vor sich liegen sahen. Wie immer, wenn er an diesem Punkt des Passes stand, lief eine Gänsehaut über Arafinwes Rücken, als er die beiden Bäume erblickte, die von hier aus trotz der großen Entfernung deutlich zu erkennen waren. Jeder von ihnen ragte mehrere Meilen in den Himmel hinauf, und ihre weit ausladenden Äste waren so gewaltig, dass die Ausmaße der Baumkronen mit Auge und Verstand kaum zu erfassen waren und die Wipfel sich in der Finsternis der ewigen Nacht verloren. Nelyo machte keinen Hehl aus seinem Erstaunen – mit offenem Mund starrte er die Bäume an, und Arafinwe lächelte, hatte seine eigene Reaktion damals doch kaum anders ausgesehen. Auch, als sie sich längst schon wieder in Bewegung gesetzt hatten und dem Pfad in Richtung Süden folgten, drehte Nelyo sich ständig nach ihnen um, und Feanáro musste ihn mehrmals ermahnen, still zu sitzen, damit er nicht aus dem Sattel fiel. Gegen Mittag, als Laurelin in voller Blüte stand, legten sie an einem Bach eine Rast ein. Nelyo konnte es kaum erwarten, wieder auf beiden Beinen zu stehen, und auch Arafinwe war froh, für eine kurze Weile wieder festen Boden unter seinen Sohlen zu spüren. „Lauf nicht zu weit weg, es gibt gleich Essen!“, rief Feanáro seinem Sohn hinterher, als dieser sofort zum Bach lief, um in dem flachen Wasser herumzuplanschen. Sie tränkten die Pferde und ließen sie anschließend am Bachufer grasen, bevor sie sich auf die Wiese setzten und Feanáro das frisch gebackene Brot herumreichte, das er am Morgen eingepackt hatte. „Mehr gibt es nicht?“, fragte Nelyo enttäuscht, während er kleine Stücke von seiner Brotscheibe abriss und mit wenig Appetit in seinen Mund schob. „Es wird warmes Essen geben, wenn wir unser Nachtlager aufgeschlagen haben, aber zum Mittag muss dies reichen“, erwiderte Feanáro nur und der kleine Junge starrte enttäuscht das Brot in seiner Hand an. Arafinwe überlegte einen Moment, dann kramte er in seinem Rucksack herum, bis er einen Lederbeutel fand, den seine Mutter ihm am Vorabend gegeben hatte. „Hier, Nelyo“, sagte er und schüttete ein paar von den getrockneten Früchten darin auf seine Handfläche, um sie dem Jungen hinzuhalten. „Iss davon auch ein paar, dann schmeckt es gleich viel besser.“ „Danke!“ Nelyo schenkte ihm ein zahnlückiges Grinsen und nahm die süßen Früchte sofort an sich. „Du verwöhnst ihn zu sehr“, meinte Feanáro kopfschüttelnd, aber mit Zuneigung im Blick, als er seinem Sohn beim Essen zusah. „Tut mir leid“, sagte Arafinwe mit roten Wangen. Nelyo war ihm in den letzten Jahren so ans Herz gewachsen, dass er noch immer oft vergaß, dass sie keine Geschwister waren. Dann lächelte er schief und zuckte mit den Schultern, in der Hoffnung, damit seine Verlegenheit zu überspielen. „Ich habe sonst niemanden, den ich verwöhnen kann.“ Sein Halbbruder warf ihm einen prüfenden Blick zu, und Arafinwe senkte den Kopf. „Du denkst, du bist allein?“, fragte Feanáro. „Du...“ Er zögerte jedoch weiterzusprechen und verstummte plötzlich, um sich stattdessen wieder seinem Essen zu widmen. Aber er musste seinen Satz nicht beenden, Arafinwe wusste trotzdem, was er hatte sagen wollen: Du weißt überhaupt nicht, was Einsamkeit ist. Und es tat weh, dass Feanáro so von ihm dachte. Doch noch mehr schmerzte der Gedanke, dass sein Bruder ihn nach all dieser Zeit noch immer nicht wirklich zu kennen schien. Nach einer Weile fing Arafinwe schließlich wieder an zu kauen und für den Rest des Essens wechselten sie kein Wort miteinander. Fortsetzung folgt... Kapitel 4: Vierzehn (II) ------------------------ Sie verbrachten die erste Nacht auf der Lichtung eines kleinen Wäldchens, das von Kornfeldern umgeben war. Erschöpft von der langen Reise schlief Nelyo sofort ein, kaum dass er sich nach dem Essen an seinen Vater gekuschelt und die Augen zugemacht hatte. Arafinwe lag auf der Seite, den Kopf auf seine Hände gebettet, und starrte auf das heruntergebrannte Feuer, das sie zum Kochen entfacht hatten und dessen Glut noch immer eine angenehme Wärme verbreitete. Es war nicht kalt – in Valinor war es niemals wirklich kalt – aber er liebte es, wie die warme Luft seine Haut streichelte und ihn allmählich einlullte. Doch noch konnte er nicht einschlafen. Noch wollten seine Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Seit dem Mittag hatten er und Feanáro kaum zehn Worte miteinander gewechselt. Der Junge fragte sich schon seit Stunden, ob er seinen Bruder mit seiner Bemerkung verärgert hatte, und überlegte, wie er wieder an ihr Gespräch anknüpfen sollte. Von sich aus hatte Feanáro keine erneute Unterhaltung begonnen, und seine Miene war wie so oft vollkommen undurchdringlich. Für gewöhnlich fiel es Arafinwe leicht, die Emotionen anderer zu lesen, doch sein Halbbruder war für ihn wie ein Buch, das in einer Sprache geschrieben war, die er nur bruchstückhaft verstand. Feanáros anhaltendes Schweigen entmutigte ihn, doch gleichzeitig war ihm klar, dass es nicht die ganze Reise über so weitergehen konnte. Schließlich gab er sich einen Ruck und beschloss, das Schweigen zu beenden, und er nahm all seinen Mut zusammen und sagte leise in die Stille hinein: „Feanáro...?“ Für einen Moment befürchtete er, keine Antwort zu bekommen, doch dann hörte er ein kurzes Rascheln und sein Bruder erwiderte von der andere Seite des Lagerfeuers: „Ingo...? Was gibt es?“ Also war seine Sorge umsonst gewesen. Der Junge war so erleichtert, dass er vergaß, was er Feanáro hatte fragen wollen, und so sagte er stattdessen das erste, was ihm in den Sinn kam: „Was bedeutet ‚romantisieren‘?“ Sein Bruder schwieg für eine Weile, als müsste er selbst erst über diese Frage nachdenken. Doch schließlich antwortete er: „Romantisieren bedeutet, Personen oder Ereignisse im Nachhinein als besser darzustellen, als sie es tatsächlich waren... häufig, weil die positiven Erinnerungen daran überwiegen und die negativen mit der Zeit verdrängen.“ „... ah“, machte Arafinwe, während er über diese Erklärung nachdachte. Nun verstand er auch die Worte seines Vaters – und er fragte sich, ob der König sich je mit Feanáro über die Zeit in Endóre unterhalten hatte, in der er ihr Volk im Dämmerlicht der Sterne nach Westen geführt hatte, fort von den Schatten und den Gefahren, die hinter ihnen lagen, und hin zum Licht Amans, in der Hoffnung auf ein besseres und sichereres Leben jenseits des Meeres. Finwe hatte seinem jüngsten Sohn nie viel über dieses düstere Kapitel ihrer Geschichte erzählt, doch das wenige, das Arafinwe gehört hatte, hatte gereicht, ihn zu der Erkenntnis kommen zu lassen, dass sie es in Eldamar ungleich besser hatten. „Gibt es sonst noch etwas?“, fragte der andere leise, als der Junge, der tief in Gedanken versunken war, für längere Zeit keine Antwort gab. „Nein, Feanáro“, erwiderte Arafinwe schnell. „Vielen Dank!“ „Nicht deswegen“, sagte sein Bruder leise. Und dann: „... schlaf gut, Ingalaure.“ Arafinwe lächelte. „Du auch.“ Nun, da ihm wieder etwas leichter ums Herz war, dauerte es nicht lange, bis dem Jungen schließlich die Augen zufielen, und wenige Minuten später war er auch schon eingeschlafen. Er erwachte während der Morgendämmerung, als er ein Gewicht auf seiner Brust spürte. „Arfin!“, rief Nelyo, der sich quer über ihn geworfen hatte. „Arfin, steh auf!“ Arafinwe gähnte und tat so, als wollte er sich erheben, doch dann schlang er blitzschnell die Arme um den kleinen Jungen und rollte sich herum, bis er auf ihm zu liegen kam. „Du bist heute morgen ja munter“, sagte er und stupste Nelyo grinsend mit dem Finger in die Seite, bis sein Neffe haltlos zu lachen begann und die Arme gegen Arafinwes Schultern stemmte, um ihn wegzuschieben. „Hör auf, hör auf!“, rief er, während der andere ihn unbarmherzig weiterkitzelte. „Arfin, geh von mir runter!“ Doch erst, als Nelyo schon ganz rot im Gesicht war und ihm vom vielen Lachen die Tränen über die Wangen liefen, ließ Arafinwe ihn schließlich wieder los. Er stand auf und packte seine Sachen zusammen und half dann Feanáro dabei, die Pferde zu satteln und zu beladen, während der kleine Junge noch immer japsend im Gras lag. Schließlich hatten sie ihre Vorbereitungen beendet und Feanáro ging neben seinem Sohn in die Hocke und hob ihn hoch. „Komm, Nelyo“, sagte er und presste einen Kuss auf sein kupferrotes Haar. „Wir haben heute noch einen weiten Weg vor uns.“ Nelyo, erschöpft vom vielen Lachen, nickte nur und schmiegte die Wange an die Schulter seines Vaters. Sie folgten dem Weg vom Vortag, der nun wieder in westliche Richtung führte, den beiden Bäumen von Valinor entgegen. Feanáro erklärte ihm, dass sie die Bäume selbst jedoch nicht passieren, sondern viele Meilen südlich an ihnen vorbeireiten würden, bevor sie schließlich weiter im Westen die Gärten von Lórien erreichen würden. Nelyo war traurig darüber, doch Arafinwe tröstete ihn mit den Worten, dass er die Bäume aus der Entfernung besser sehen konnte, während es schwierig war, sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen und nicht von ihrem Licht geblendet zu werden, wenn man ihnen sehr nahe war. Feanáro warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, als er dies hörte, doch er behielt jeglichen Kommentar für sich. Arafinwe bedauerte es nicht, dass er Valimar nicht zu Gesicht bekommen würde. Er war erst ein einziges Mal in der Stadt der Valar gewesen, und die gewaltigen Paläste aus Gold und Silber mit ihrer fremdartigen Architektur hatten ihn damals sehr eingeschüchtert. Auch fühlte er sich in der Gegenwart so vieler Maiar und Valar unwohl. Der Blick ihrer Augen brannte – wenn sie überhaupt eine feste Gestalt angenommen hatten – und ihre Sprache klang in seinen Ohren so fremdartig, dass es wehtat, ihnen zuzuhören. Lieber erfreute er sich am Anblick der Bäume aus der Ferne und an ihrem steten, warmen Leuchten. Das Land veränderte sich sichtlich mit jeder Meile, die sie zurücklegten. Bald ließen sie die letzten von den Noldor bebauten Felder hinter sich und drangen in die Wildnis vor. „In diesen Wäldern werden uns keine Gefahren begegnen“, teilte Feanáro ihnen mit, als sie durch den von Laurelins goldenem Licht durchfluteten Laubwald ritten. „Doch weit im Süden liegen tiefere Wälder, in denen Orome oft auf Jagd geht, und in denen gewaltige Bestien leben.“ „Hast du auch welche gesehen, Atto?“, fragte Nelyo neugierig, der bei dem Wort „Gefahr“ hellhörig geworden war. Feanáro nickte und strich ihm über die Locken. „Ein einziges Mal, ja. Damals begleiteten deine Mutter und ich Orome auf einen seiner Jagdausflüge, und dabei trafen wir auf einen riesigen, grauen Wolf – er überragte sogar das Pferd, auf dem du gerade sitzt“, erzählte er, und Nelyo machte große Augen. „Der Klang von Oromes Horn vertrieb ihn, doch was passiert wäre, wenn wir ihm allein begegnet wären... daran möchte ich nicht einmal denken.“ Arafinwe erinnerte sich an die Geschichte; Nerdanel hatte sie ihm vor einiger Zeit erzählt. Bei jenem Jagdausflug war sie bereits mehrere Monate mit Nelyo schwanger gewesen und der Gedanke daran, ihr ungeborenes Kind erneut einer solchen Gefahr auszusetzen, hatte sie und Feanáro damals dazu bewogen, ihre lange Reise zu beenden und das abenteuerliche Leben hinter sich zu lassen, um stattdessen nach Tirion zurückzukehren. Das unspektakuläre Ende der Geschichte schien Nelyo etwas zu enttäuschen. „Warum hast du ihn nicht mit dem Speer erlegt, Atto?“, fragte er. „Weil eine verwundete Bestie gefährlich ist“, entgegnete Feanáro und der Blick, mit dem er seinen Sohn bedachte, war voller Wärme. „Und weil es zu viel gab, was ich in jenem Moment hätte verlieren können.“ „Hm“, machte Nelyo nur, den die Erklärung nicht zufriedenstellte. Aber er schien die seltsame Stimmung zu spüren, in die die Erzählung seinen Vater gebracht hatte, und er fragte nicht weiter nach. An diesem Abend schlugen sie ihr Nachtlager früher auf, als am Tage zuvor, denn unter den Bäumen wurde es früher dunkel und Feanáro wollte nicht das Risiko eingehen, vom Weg abzukommen, der an vielen Stellen von Unkraut überwuchert war. An einem Bachlauf unter den ausladenden Ästen mehrerer, alter Eichen entfachten sie ein Feuer, und als sie alle von der warmen Suppe gesättigt waren, die Feanáro zubereitet hatte, badeten sie in dem schnell fließenden Wasser des Baches. Während sich Arafinwe, der bis zu den Knien im Bach stand, mit den Händen Wasser über den Kopf schöpfte, um seine Haare und Schultern zu waschen, saß Nelyo am Rand auf einem moosbewachsenen Stein und tauchte mit skeptischem Blick einen Fuß ins Wasser. „Das ist kalt!“, klagte er und zog bibbernd die Knie an die nackte Brust. „Und du bist schmutzig“, erwiderte Feanáro nur geduldig und nahm ihn auf den Arm. „Komm schon, Nelyo. Je schneller du sauber bist, desto schneller kannst du dich wieder anziehen.“ Doch der kleine Junge schüttelte nur stur den Kopf. „Ich mag nicht!“, rief er. Arafinwe, der gerade seine nassen Haare auswrang, sah ihn amüsiert an. „Gestern hat dich die Kälte doch auch nicht daran gehindert, im Wasser zu spielen, oder?“, fragte Feanáro, doch der Junge gab keine Antwort und presste nur das Gesicht an die Halsbeuge seines Vaters. Der gab ein ergebenes Seufzen von sich und trat, Nelyo noch immer auf dem Arm, in den Bach. Dort ließ er sich in einer Senke im Bachbett nieder, so dass ihm das eisige Wasser bis zur Brust reichte. Doch er verzog nicht für einen Moment das Gesicht, und es schien Arafinwe, als würde er die Kälte überhaupt nicht spüren. Nelyo protestierte schwach, als Feanáro ihn wusch, doch die Nähe und Wärme seines Vaters schien ihn zu beruhigen und bald darauf setzte Feanáro den Jungen wieder am Bachufer ab und legte ihm ein Tuch um die Schultern, damit er sich abtrocknen konnte. Später, als sie alle wieder bekleidet waren, setzten sie sich an das Feuer, das mittlerweile zu einem glühenden Haufen zusammengesunken war. Nelyo rollte sich auf Feanáros Schoß zusammen und war bald eingeschlafen, doch Arafinwe war noch nicht müde genug, um sich schlafen zu legen, und so setzte er sich nach einer Weile neben seinen Halbbruder und starrte schweigend in die Glut. Für lange Zeit sagte keiner von ihnen ein Wort. Die Stunde der Dämmerung ging vorüber und Telperion begann zu erblühen. Bald erhellte sein silbrig-weißes Licht die Nacht und verwandelte das Land in eine schwarz-weiße Schattenwelt. Arafinwe legte den Kopf in den Nacken und sah durch eine Lücke zwischen den Ästen zum Himmel empor. Er hatte Telperions Licht schon immer dem des goldenen Baumes vorgezogen. Denn wenn Laurelin erblühte, verblassten die Sterne in seinem hellen Licht und waren kaum noch zu erkennen. Telperions Schein hingegen war sanfter und in den Stunden, in denen er blühte, waren die Sterne noch immer gut auszumachen. Nirgendwo in ganz Eldamar würden sie jedoch jemals so klar zu sehen sein, wie in Alqualonde, und wenn der Junge nachts aus seinem Fenster in Tirion sah, musste er oft an die Stadt am Meer denken, in der nichts das Leuchten von Vardas Sternen trübte. Nach einer Weile merkte Arafinwe, dass Feanáros Augen seinem Blick gefolgt waren und ebenfalls zum Himmel empor sahen. „Stell dir vor, es gäbe kein anderes Licht auf der Welt“, sagte sein Bruder plötzlich leise. „Sondern nur die Sterne über deinem Kopf... würde es dir Angst machen?“ Arafinwe dachte für eine Weile über diese Frage nach. „Ein bisschen“, gab er schließlich zu. Dann fragte er: „Habt ihr je einen solchen Sternenhimmel gesehen? Damals auf euren Reisen?“ „Ein einziges Mal nur.“ Feanáro schloss die Augen, während seine Finger sanft durch Nelyos Haar kämmten. „Wir wanderten die Küste nördlich von Alqualonde entlang, bis hin zu den felsigen Einöden von Araman. Dort ist es so kalt, dass nichts mehr wächst und das Meer gefriert und sich zu riesigen Eisschollen auftürmt. Es ist ein gefährliches Land, doch es ist auch von großer Schönheit, und dort im Schatten der Pélori sahen wir die Sterne mit einer Klarheit wie nirgendwo sonst in ganz Aman.“ Die Beschreibung jener eisigen Länder ließ Arafinwe für einen Moment frösteln und er rückte unbewusst ein Stück näher an die Glut heran. Doch die Worte seines Bruders hatten ihn auch neugierig gemacht, und so fragte er: „Was habt ihr noch alles im Norden erlebt?“ Feanáro warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Haben Nerdanel und ich dir noch nie von jener Reise erzählt?“ Arafinwe setzte seine argloseste Miene auf und schüttelte den Kopf. Natürlich hatte er die Geschichte schon oft gehört, doch er liebte die Leidenschaft, mit der sein Bruder die verschiedenen Länder und Kulturen Amans beschrieb, und er konnte Stunden damit verbringen, ihm zuzuhören. „... nun gut“, meinte Feanáro schließlich mit einem kleinen Lächeln, das Arafinwe sagte, dass sein Bruder sehr wohl wusste, dass er diese Geschichte bereits mehrfach erzählt hatte. „Wo fange ich am besten an...?“ Als Arafinwe am nächsten Tag erwachte, war es bereits später Morgen. Das verwunderte ihn, war sein Bruder doch auf ihrer bisherigen Reise sehr darauf bedacht gewesen, nicht unnötig viel Zeit mit Schlafen zu verschwenden, sondern stattdessen zeitig aufzubrechen und das Licht des goldenen Baumes so lange es ging zu nutzen. Doch ein müder Blick in Richtung seines Bruders ergab, dass Feanáro noch immer schlief – eine weitere Seltenheit. Arafinwe konnte sich nicht daran erinnern, seinen Bruder, der selbst am Hofe des Königs stets wachsam war und selten zur Ruhe kam, jemals schlafend erlebt zu haben. Feanáro schien sich hier in der Wildnis, fernab von Tirion, sicherer zu fühlen, als in seinem eigenen Haus, sonst würde er sich niemals so entspannen. Dass er so außerordentlich lange ruhen würde, hätte der Junge jedoch nicht erwartet. Sein Bruder musste schon seit Tagen nicht mehr geschlafen haben, anders ließ sich eine solch tiefe Erschöpfung nicht erklären. „Feanáro“, rief er leise und berührte den anderen Elb nach kurzem Zögern an der Schulter. „Feanáro, wach auf.“ Wie viele Elben schlief auch sein Bruder mit offenen Augen, und es dauerte mehrere Sekunden, bis die trüben Pupillen wieder aufklarten und Bewusstsein und Erkennen in sie zurückgekehrt war. Ruckartig setzte Feanáro sich auf, mit schmalen Augen und in höchstem Maße angespannt. „Keine Sorge“, versuchte Arafinwe ihn zu beruhigen. „Es ist alles in Ordnung, wir haben nur verschlafen...“ „Wo ist Nelyo?“, verlangte sein Bruder zu wissen. Arafinwe starrte ihn an. Er hatte gedacht, Nelyo würde wie immer an der Seite seines Vaters schlafen, doch die Erhebung unter der Decke neben Feanáro, die er für seinen Neffen gehalten hatte, entpuppte sich stattdessen als Satteltasche. Kalte Angst erfasste den Jungen und er sprang auf. „Ich... ich weiß nicht“, erwiderte er unsicher. „Ich habe ihn nicht gesehen.“ „Oh, ich bin solch ein Narr...“, murmelte Feanáro und erhob sich von seinem Nachtlager. Der Vorwurf in seiner Stimme machte Arafinwe ein schlechtes Gewissen, und für einen Moment fühlte er sich persönlich für das Verschwinden des kleinen Jungen verantwortlich. Hätte er Feanáro doch nur nicht dazu gedrängt, ihm Geschichten zu erzählen, die er eh schon unzählige Male gehört hatte, dann wären sie beide zu mehr Schlaf gekommen und früher wach gewesen und hätten auf Nelyo achtgeben können... „Nelyo!“, rief sein Bruder mit lauter Stimme und umkreiste ihr Nachtlager in immer größer werdendem Abstand. „Nelyo!“ In der näheren Umgebung fand sich keine Spur von dem Jungen, doch es lag eine seltsame Spannung in der Luft und selbst die Pferde waren unruhig und scheuten vor ihnen zurück, als die Brüder sich ihnen näherten. Der plötzliche Schrei eines Kindes ließ die beiden Elben schließlich erstarren. Auf Feanáros Gesicht zeichnete sich eine Angst ab, die Arafinwe noch nie bei seinem Bruder gesehen hatte, doch er fing sich schnell wieder und eilte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Arafinwe folgte ihm so schnell er konnte durch das kniehohe Unterholz und stolperte schließlich auf eine Lichtung hinaus, die ähnlich wie ihr nächtliches Lager von Eichen gesäumt war. Ein riesiges Wildschwein, größer als alle Exemplare, die Arafinwe je gesehen hatte, senkte seinen zottigen Schädel zu dem kleinen Jungen hinab, der mitten auf der Lichtung auf dem Waldboden saß, und schnüffelte an seinem Haar. Ein halbes Dutzend Jungtiere scharrten sich hinter der Bestie und die kurzen Borsten, die Arafinwe an Nelyos Kleidung entdeckte, ließen darauf schließen, dass der Junge den Frischlingen näher gekommen war, als es ihrer Mutter lieb gewesen war. „Halt ganz still, Nelyo“, sagte Feanáro mit leiser, sanfter Stimme, um die Tiere nicht unnötig aufzuschrecken. „Dann wird dir nichts geschehen.“ Arafinwe wusste nicht, ob der Junge seinen Vater tatsächlich hörte oder einfach nur starr vor Angst war – doch was es auch war, Nelyo rührte sich nicht. Feanáro kehrte die leeren Handflächen nach oben, wie um signalisieren, dass er keine Gefahr darstellte, und machte einen Schritt auf seinen Sohn zu. Das Wildschwein gab ein plötzliches Schnauben von sich und Nelyos Haare wirbelten in einer kupferfarbenen Wolke um sein Gesicht. Die Schnauze des Tieres stupste die blasse Stirn des Jungen an und Arafinwe wagte es kaum zu atmen. Doch Feanáro ließ sich davon nicht beirren und machte einen weiteren Schritt auf die Stelle zu, an der sein Sohn saß. Dabei sah er dem Tier unverwandt in die Augen. „Wir haben deinen Kindern kein Leid angetan“, sagte er ruhig. „Darum bitte ich dich – verschone du auch das Leben meines Sohnes.“ Die Bache starrte den dunkelhaarigen Elben an, der Schritt für Schritt weiter auf die Lichtung hinaustrat, und machte keine Anstalten, von der Stelle zu weichen. Doch sie griff ihn auch nicht an. Als Feanáro Nelyo schließlich erreicht hatte, ging er langsam vor ihm in die Hocke und zog ihn in seine Arme. Ebenso langsam erhob er sich dann wieder und machte einen Schritt rückwärts, ohne dabei den Blick von dem Wildschwein abzuwenden. Die Bache schnaubte erneut und die Frischlinge quiekten leise wie zur Antwort. Dann schienen die Tiere plötzlich jegliches Interesse an den Elben zu verliehen, und sie wandten sich ab und verschwanden raschelnd im Unterholz des Waldes. Endlich fand Arafinwe seine Stimme wieder. „Nelyo...!“ Er wollte zu Feanáro hinüberrennen, verfiel jedoch nur in einen Eilschritt, denn seine Beine zitterten noch immer vor Angst. „Geht es ihm gut?“, fragte er, als er schließlich neben seinem Bruder zu stehen gekommen war. „Ist er verletzt?“ „Ihm ist nichts geschehen“, erwiderte Feanáro, und abgesehen von einem leichten Zittern in der Stimme war er die Ruhe selbst. Er fuhr zärtlich mit den Fingern durch Nelyos Haare und lehnte die Stirn an die seines Sohnes. „Nelyo, hörst du mich? Alles ist gut, du bist in Sicherheit. ... Nelyo, bitte sieh mich an.“ Die leeren Augen des Jungen richteten sich auf seinen Vater und mit leiser Stimme sagte er: „Atto...?“ „Ich bin hier, Nelyo“, entgegnete Feanáro und eine grenzenlose Erleichterung legte sich auf seine Züge. „Ich bin hier...“ „Atto...“, schluchzte der Junge. Nelyo legte die Arme um den Hals seines Vaters und begann zu weinen, und Feanáro ließ ihn für den Rest des Tages nicht mehr los – nicht, als sie ihre Sachen zusammenpackten und die Pferde sattelten, nicht, als sie weiter dem Pfad in Richtung Westen folgten, nicht, als sie sich am Abend zur Ruhe legten und Nelyo im Schlaf endlich wieder Frieden fand. „Es tut mir so leid“, sagte Arafinwe bedrückt, nachdem Nelyo schließlich eingeschlafen war. Er hatte den ganzen Tag über kein Wort gesagt, sondern war nur schweigend neben seinem Bruder hergeritten, der während ihrer Reise beruhigend auf Nelyo eingeredet hatte und versuchte hatte, den kleinen Jungen wieder zum Lachen zu bringen. Feanáro warf ihm einen fragenden Blick zu. „... es tut mir leid, was mit Nelyo heute passiert ist“, erklärte Arafinwe leise, ohne seinen Bruder anzusehen. „Wenn ich dich letzte Nacht nicht so lange mit meinen kindischen Fragen wachgehalten hätte, dann wäre das nie geschehen...“ Bevor Arafinwe sich versah, war der andere aufgestanden und vor ihm in die Hocke gegangen. „Hör auf, Ingo“, sagte sein Bruder leise. „Hör auf damit, dir selbst Vorwürfe zu machen. Keiner von uns konnte ahnen, was passieren würde, nicht einmal du. – Und sollte dich doch Schuld treffen, dann trifft sie mich ebenso, denn war ich es nicht, der deiner ‚kindischen Wissbegier‘ nachgab und deine Fragen beantwortete, obwohl er ganz genau wusste, dass du diese Geschichten nicht zum ersten Mal hörtest...?“ Er musterte Arafinwe aus warmen, grauen Augen. „Du hast dir nichts vorzuwerfen, Ingalaure – gar nichts.“ Der Junge blinzelte die Tränen fort, die ihm aus den Augen kullern wollten, und nickte. „Gut.“ Sein Bruder stand wieder auf und legte für einen Moment die Hand auf Arafinwes Schulter und drückte sie sanft, dann kehrte er an den Platz neben Nelyo zurück. Bevor Arafinwe in dieser Nacht die Augen schloss, warf er noch einen letzten Blick zu Feanáro hinüber, der wachsam am Feuer saß. Und das Bild seines Bruders vor Augen, dessen Umriss sich dunkel von dem flackernden Orange der Flammen abhob, schlief er schließlich ein. Fortsetzung folgt... Kapitel 5: Vierzehn (III) ------------------------- Ihre weitere Reise verlief ohne Zwischenfälle. Nelyo hatte seinen Schock von der Begegnung auf der Lichtung bald überwunden, und erfüllt von kindlichem Enthusiasmus löcherte er seinen Vater und Arafinwe bereits am nächsten Tag wieder mit neuen Fragen. Die Landschaft begann sich nach einer Weile deutlich zu verändern: der Laubwald lichtete sich und machte schließlich endlosen grünen Wiesen Platz, in die zahlreiche Seen und Bachläufe wie funkelnde Juwelen eingebettet waren. Blumen blühten hier in allen erdenklichen Farben und Formen, mehr als Arafinwe jemals gesehen hatte oder gar benennen konnte. Die Distanz zu den Bäumen und Valimar, das gut zwei Tagesreisen weiter im Norden lag, war an diesem Punkt ihrer Reise am geringsten, und Laurelins goldenes Licht war spürbar wärmer, als im fernen Tirion. Die gigantischen Kronen der Bäume füllten nun den halben Himmel aus und selbst in den Stunden der Dämmerung war ihr Licht noch immer so hell, dass die Sterne am Nachthimmel kaum zu erkennen waren. Je näher sie den Bäumen kamen, umso deutlicher traten auch die Sommersprossen auf Nelyos Wangen und Nase hervor, und Arafinwes honigfarbene Locken bleichten mit der Zeit zu einem hellen Weißblond aus. Waren sie zuvor noch allein unterwegs gewesen, so begegneten ihnen nun immer häufiger Wanderer, die sich ebenfalls auf dem Weg zu den Gärten befanden oder von dort zurückkehrten. Die meisten von ihnen waren allein – schweigende Gestalten mit müden Gesichtern, die hofften, in den Gärten Heilung von ihrem Leiden zu finden. Neben Elben erblickte Arafinwe auch die ein oder andere ätherische Lichtgestalt, in die die Maiar sich so gerne hüllten, und einmal glaubte er sogar die machtvolle Präsenz eines vorbeiziehenden Vala zu spüren. Je häufiger sie anderen Wanderern begegneten, desto schweigsamer wurde Feanáro und desto einsilbiger waren seine Anworten. Die Gärten waren nun ganz nah, und eine Atmosphäre der Ruhe und des Friedens legte sich über das Land. Am Morgen des Tages, an dem sie Lóriens Gärten erreichen sollten, sprach keiner von ihnen ein Wort. Selbst Nelyo, der während des Rittes vor Arafinwe auf dem Sattel saß, war ungewöhnlich schweigsam, und wenn er doch einmal etwas sagte, dann tat er es nur flüsternd. Die Grenze zu den Gärten war äußerlich unsichtbar, doch als sie sie schließlich überschritten, spürte Arafinwe sofort, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Eine unglaubliche innere Ruhe erfüllte ihn und all die Sorgen, die ihn während der Reise geplagt hatten, erschienen ihm auf einmal furchtbar belanglos. Sie stiegen von ihren Pferden und führten sie an den Zügeln weiter den Pfad entlang. Die Gärten unterschieden sich nur unwesentlich von der Wildnis, durch die sie zuvor geritten waren, doch wirkte die Landschaft hier strukturierter und – Arafinwe wollte kein besseres Wort einfallen – gezähmter. Zwar schienen sich viele der Wege, Hecken und Wasserläufe wie zufällig durch die Gärten zu schlängeln, doch bei genauerem Hinsehen konnte man eine sorgfältige Planung dahinter erkennen. Immer wieder schuf die Landschaft Oasen der Ruhe, in denen Besucher einzeln oder in kleinen Gruppen rasten konnten. Zahlreiche Maiar, Diener von Lórien und seiner Gemahlin Este, wanderten unter den silbernen Bäumen umher und kümmerten sich um die seelischen Bedürfnisse ihrer Gäste. Einer von ihnen, eine hochgewachsene Gestalt in Grau, die einen Schleier vor dem Gesicht trug, hielt vor den Brüdern inne. „Prinz Feanáro“, sagte sie – oder er? Arafinwe war sich nicht sicher – und neigte respektvoll den Kopf. „Meine Herrin hat euch schon erwartet und bittet mich Euch auszurichten, dass sie Euch bei Telperions Erwachen am See empfangen wird.“ Feanáro erwiderte die Geste und verneigte sich ebenfalls. „Bitte sprecht ihr unseren Dank aus.“ Der Maia setzte seinen Weg ins Zentrum der Gärten fort, und Feanáro und Arafinwe folgten ihm gemächlichen Schrittes. Der Kronprinz trug Nelyo auf dem Arm, der sich an der farbenprächtigen Natur kaum satt sehen konnte. Auch Arafinwe brannten zahllose Fragen zu den Gärten und ihren Bewohnern auf der Zunge, doch Feanáro strahlte eine tiefe Schwermütigkeit aus und so wagte er es nicht, das Wort an ihn zu richten. Raum und Zeit schienen an diesem Ort eigenen Gesetzen zu gehorchen, denn obwohl der See Lórelinn, der ihr Ziel war, viele Meilen entfernt lag, hatte Arafinwe das Gefühl, als wäre kaum mehr als eine Stunde vergangen, als sie ihn erreichten. Sie ließen die Pferde auf der Wiese am Ufer grasen, dann setzten sie sich auf einen Steg im See, der von Schilf gesäumt war, und tauchten ihre Füße ins kühle Wasser. Sie aßen ein schlichtes Mahl – Brot, Nüsse und dazu ihre letzten paar Äpfel – und tranken von dem Wasser des Sees, während sie dem Lied einer Harfe lauschten, das aus einiger Entfernung zu ihnen hinübertönte. Die Melodie erinnerte Arafinwe an sein eigenes Instrument, und vorsichtig packte er aus seinem Rucksack die Flöte aus, die Earwen ihm geschenkt hatte. Mit den Fingerkuppen befühlte er nacheinander die einzelnen Löcher, dann setzte er die Flöte schließlich an die Lippen und begann zu spielen. Nelyo verzog schon nach wenigen Tönen das Gesicht und presste sich demonstrativ die Hände auf die Ohren. „Das klingt schief“, meinte er vorwurfsvoll. Seine wenig feinfühlige Bemerkung riss Feanáro aus seiner Versunkenheit und ließ ihn schmunzeln. „Ich kann dir zeigen, wie es geht“, sagte er, nachdem er seinem Halbbruder eine Weile zugehört hatte, und streckte Arafinwe dann die Hand hin. „Darf ich?“ Zögernd gab der Junge ihm die Flöte und hörte genau zu, als Feanáro ihm erklärte, wie er seine Finger legen musste, um tiefe Klänge zu erzeugen, und wie er die Griffe am besten variierte, um nacheinander die verschiedenen Töne der Tonleiter abzudecken. „Flötenspiel erfordert ein gutes Gehör, ein mindestens ebenso gutes Gedächtnis und viel Übung“, sagte er schließlich, nachdem er Arafinwe dabei zugesehen hatte, wie er die Griffe, die er ihm gezeigt hatte, noch einmal nachspielte. Mittlerweile war Laurelins Leuchten schwächer geworden und die Stunde der Dämmerung war angebrochen. „Aber ich bin überzeugt, dass du die erforderliche Geduld besitzt, es zu erlernen. Du darfst nur nicht aufgeben“, fuhr er fort. „Das werde ich nicht.“ Arafinwes Augen leuchteten vor Eifer. „Danke, Feanáro.“ Sein Bruder nickte nur, als wäre es nicht der Rede wert, und warf dann einen anerkennenden Blick auf die Flöte. „Ein gutes Instrument, das Earwen dir da gegeben hat. Hervorragende Handwerkskunst und bestens dazu geeignet, um das Flötenspiel zu erlernen.“ „Tatsächlich...?“ Erstaunt sah Arafinwe die unscheinbare Flöte an, die in seinen Händen lag. Wer hätte gedacht, dass sich hinter ihrem schlichten Äußeren solch ein Schatz verbarg...? Erst dann registrierte er auch Feanáros restliche Worte und das Blut stieg ihm in den Kopf. „Woher weißt du, dass ich sie von Earwen bekommen habe?“, wisperte er. Feanáro lächelte. „Es war nur eine Vermutung“, entgegnete er. „Erst deine Reaktion hat sie bestätigt.“ Arafinwe verbarg sein hochrotes Gesicht in den Händen. Das Gespräch war ihm plötzlich unsagbar peinlich. Feanáro lachte auf und legte einen Arm um die Schulter des Jungen. „Es gibt keinen Grund, verlegen zu sein, Ingo“, sagte er. „Eure Freundschaft ist nichts, wofür du dich schämen musst – oder solltest. Ich denke sogar, dass sie euch beiden in Zukunft noch gut tun wird.“ „Mmh“, machte Arafinwe nur einsilbig und lehnte sich dankbar in die Umarmung. „Da kommt ein Boot!“, rief Nelyo plötzlich vom Ufer hinüber. Während sein Vater mit Arafinwe geübt hatte, hatte der kleine Junge am schmalen Strand des Sees begeistert im nassen Sand gebuddelt. Feanáro erhob sich nun, sein Gesicht mit einem Mal wieder eine ausdruckslose Maske, auch wenn die grauen Augen seine Ungeduld und Sehnsucht nicht ganz verbergen konnten. Ein breites, flaches Boot glitt lautlos über das Wasser auf sie zu, in dessen Wellen sich das erste, silberne Licht Telperions widerspiegelte. Gesteuert wurde es von einem Maia, der es mit einer langen Stange auf den Steg zutrieb. In der Mitte des Kahns stand eine Frau, die selbst Feanáro, der als hochgewachsen galt, noch um mehr als einen Meter überragte. Sie war ganz in Grau gekleidet, und auch ihr Haar war lang und grau, und es fiel ihr wellenförmig ins blasse Gesicht und bedeckte ihre Augen. Arafinwe war dankbar dafür, reichte der Blick eines Vala doch tief in die Seele und legte Dinge frei, die man oft bewusst begraben hatte. Nach kurzem Zögern wagte er es, sie genauer zu mustern, und er nahm eine pulsierende Aura wahr, die sie wie ein Schleier umgab, fast als wäre ihr Körper trotz seiner Größe noch immer zu klein, um ihre wahre Gestalt gänzlich zu fassen. Keinen Augenblick lang zweifelte Arafinwe daran, dass Este lediglich aus Höflichkeit gegenüber ihren Gästen diese Form angenommen hatte, und sie aufgeben würde, sobald sie wieder mit ihren Dienern allein war. Mit einem hohlen Geräusch stieß der Kahn gegen den Steg, doch weder der Maia noch seine Herrin traten an Land. Feanáro trat vor und begrüßte sie in einer bizarren, unharmonisch klingenden Sprache, bei der sich Nelyo angstvoll gegen das Bein seines Vaters presste. Arafinwe hatte zwar gewusst, dass sein Bruder Valarin beherrschte, aber es war das erste Mal, dass er ihn die Sprache der Ainur sprechen hörte. Doch anstatt darauf einzugehen und ihm in ihrer Sprache eine Antwort zu geben, erwiderte Este in akzentfreiem noldorischen Quenya: „Deine Worte ehren mich, Feanáro. Lange ist es her, dass du die Gärten meines Gemahls betreten hast.“ Ihre Stimme war überraschend warm und leise und mochte nicht so recht zu ihrem ehrfurchtgebietenden Äußeren passen. „Und seit langem schon beabsichtige ich, hierher zurückzukehren“, entgegnete Feanáro ebenso leise. „Doch mein Leben nahm andere Wendungen.“ Er legte eine Hand auf den Kopf seines Sohnes, der fragend zu ihm aufsah. „Nicht zum Schlechteren, wie ich sehe“, sagte Este und neigte ihr graues Haupt. „Ich freue mich über das Glück, das dir beschert wurde.“ Obwohl ihr langes Haar ihre Augen verbarg, hatte Arafinwe das Gefühl, als würde sie Nelyo ansehen. Doch der kleine Junge schreckte nicht zurück und starrte die Valie nur aus großen Augen an. Este schenkte ihm ein Lächeln. Dann sah sie wieder auf und richtete ihren „Blick“ erneut auf Feanáro. „Meine Dienerinnen kümmern sich Tag und Nacht um sie, und du wirst ihre Ruhestätte so vorfinden, wie sie dir vertraut ist“, sagte sie. Dann breitete sie die Arme aus. „Komm nun. Es ist an der Zeit.“ Feanáro nahm Nelyo auf den Arm und trat ohne Zögern auf das Boot. Dann sah er zu Arafinwe hinüber, und der Junge konnte sehen, wie sein Bruder für einen kurzen, aber intensiven Moment mit sich selbst rang, bevor er schließlich eine Entscheidung zu treffen schien und sprach: „Ingalaure...“ Er sagte nur seinen Namen, doch als Arafinwe den Ausdruck auf Feanáros Gesicht sah, begriff er plötzlich – begriff, was sein Bruder ihm in diesem Moment sagen wollte, aber nicht konnte. Und für einen kurzen Moment fühlte er sich verraten, und es schmerzte mehr, als er je gedacht hätte. Doch dann machte er sich bewusst, dass es bei dieser Sache nicht um ihn ging, und so verdrängte er den Schmerz und straffte die Schultern. „Es ist in Ordnung“, entgegnete er und zwang sich zu einem Lächeln. „Geht nur und nehmt euch alle Zeit, die ihr braucht. Ich werde hier auf euch warten und da sein, wenn ihr zurückkehrt.“ Er sah Erstaunen in Feanáros Blick, und dann eine tiefe Dankbarkeit, die den Schmerz in Arafinwes Brust etwas linderte. Sein Bruder sah ihn lange an und nickte dann kurz, bevor er sich abwandte. „Ihr habt ihn gehört“, sprach er zu Este, die den kurzen Wortwechsel schweigend mitverfolgt hatte. Wenig später legte das Boot ab, und Nelyo wand sich in Feanáros Arm und warf seinem Onkel über seine Schulter hinweg einen verwirrten Blick zu. „Arfin...?“, fragte er, doch Arafinwe lächelte nur und winkte ihm nach. „Keine Sorge, Nelyo, wir sehen uns bald wieder“, entgegnete er, und das schien den kleinen Jungen zufriedenzustellen, denn er erwiderte das Winken und schmiegte dann das Gesicht an den Hals seines Vaters. Das Boot war bald zu einem kleinen Punkt in der Ferne zusammengeschrumpft, und Arafinwe wandte sich ab, um zum Ufer zurückzukehren. Überrascht hielt er inne, als er den Maia bemerkte, der am Strand stand, und das Spektakel scheinbar interessiert mitverfolgt hatte. „Verzeih mir“, sagte er, als er Arafinwes Verwirrung bemerkte. „Ich konnte meine Neugier nicht zügeln.“ Der Junge hob fragend die Augenbrauen. Der Maia hatte eine alterslose Stimme, und wie die meisten seiner Art, die in den Gärten Lóriens weilten, trug er graue Kleider und einen Schleier vor dem Gesicht, in den winzige Edelsteine eingenäht waren, die wie Sterne funkelten. Doch sein Schleier war nur dünn, und Arafinwe konnte die tiefblauen Augen dahinter sehen – Augen, die älter waren, als die Zeit selbst. Und es war das erste Mal in seinem Leben, dass ihm der Blick eines Ainu keine Angst machte. „Wer seid Ihr?“, fragte er erstaunt. Der Maia verbeugte sich kurz. „Ich bin selbst nur ein Besucher hier“, antwortete er ausweichend, „und gehöre nicht zur Dienerschaft von Este und Lórien.“ „Warum seht Ihr dann aus wie einer von ihnen?“, wollte der Junge wissen und schämte sich sofort für die unhöfliche Frage. Doch seine Neugier schien den Maia nur zu amüsieren. „Weil ich auf diese Weise weniger Aufmerksamkeit auf mich ziehe.“ Bevor Arafinwe jedoch etwas sagen konnte, fuhr der andere fort: „Ich bin hier, um zu lernen“, erzählte er. „Nienna, meine Herrin, schickte mich, damit ich in den Gärten neues Wissen erlange.“ „Ihr... wollt lernen?“ „Ist dies so erstaunlich?“, fragte der Maia. „Oder glaubst du, die Eldar wären die einzigen, die des Lernens fähig sind...?“ „Nein, natürlich nicht...!“, erwiderte der Junge hastig. „Bitte verzeiht meine Frage.“ „Schon geschehen“, sagte der andere und lächelte. Arafinwe zögerte. „Darf ich Euch vielleicht noch etwas fragen...?“ Der Maia nickte. „Was genau hat Eure Neugier vorhin geweckt?“ Der Maia wartete mit seiner Antwort, bis sie ein Stück gelaufen waren und sich auf einer Bank unter den Weiden niedergelassen hatten. „Deine Antwort an deinen Bruder“, antwortete er schließlich und sah den Jungen aufmerksam an. „Es scheint mir, als steckt mehr Mitgefühl in dir, als dein Herz fassen kann, Arafinwe Ingalaure.“ Arafinwe senkte den Kopf. „Mein Bruder sagt mir oft, dass ich zu viel an andere denke, und es mir nicht gut tut, meine eigenen Bedürfnisse ständig zu vernachlässigen.“ Er sah zu dem anderen auf und fragte leise: „Glaubt Ihr, dass ich schwach bin?“ Der Maia schüttelte den Kopf. „Warum denkst du, dass dein Mitgefühl dich schwach macht? Glaubst du, die Fähigkeit, das Leid anderer zu erkennen, und sie dennoch mit dem Anstand und Respekt zu behandeln, den sie verdienen, sei eine Schwäche?“ Das gab dem Jungen zu denken. „Mitgefühl ist keine Schwäche, sondern eine Waffe“, fuhr der Maia fort. „Es ist deine stärkste Waffe. Vielleicht empfindest du es jetzt noch nicht als eine solche... doch in der Zukunft wird sie dir noch oft nützlich sein.“ Arafinwe sah ihn zweifelnd an. „Wie könnt Ihr Euch dessen so sicher sein?“, fragte er. Der Maia lächelte. „Niemand außer Eru selbst kennt die Zukunft“, entgegnete er geheimnisvoll. „Doch manchmal können wir in der Musik der Welt Themen hören, die uns erst noch bevorstehen. Und deine Melodie, Arafinwe, zieht sich beständig durch die Musik...“ Der Maia wollte seine Äußerung nicht näher erklären, und so sprachen sie stattdessen über andere Dinge. Arafinwe erzählte von ihrer Reise zu den Gärten und seinem Leben in Tirion, von Nolofinwe und seiner Mutter, von seinen Stunden bei Feanáro und Nerdanel, von Alqualonde und den Freundschaften, die er dort geschlossen hatte. Der Maia hörte ihm aufmerksam zu und erzählte ihm dann seinerseits von den Gärten, ihren Besuchern und der Vielzahl von Leidensgeschichten, die er angehört, und Schmerzen, die er versucht hatte zu lindern. Er erzählte auch von seinem Leben im Dienst von Nienna, die am Rande der Welt lebte und oft die Hallen ihres Bruders Mandos besuchte, um den Verstorbenen Trost zu spenden. „Ihr sprecht von viel Leid und Trauer“, sagte Arafinwe. „Ist Míriel denn nicht die einzige, die in den Hallen weilt...?“ „Ich wünschte, dem wäre so“, erwiderte der Maia und ein Schatten legte sich über sein Gesicht. „Doch du vergisst diejenigen, die Endóre nie verlassen haben. Jenseits des Meeres gibt es unzählige Gefahren, und sie haben schon viele der Erstgeborenen das Leben gekostet. Es vergeht kein Tag, an dem nicht neue gequälte Seelen die Hallen erreichen.“ Der Junge sprach für eine Weile kein Wort. Er musste in diesem Moment an Earwens Erzählungen über den Bruder ihres Vaters denken, der in Endóre zurückgeblieben war und von dem Olwe nur selten und mit Wehmut in der Stimme sprach. Earwen hatte ihren Onkel nie kennengelernt – und würde es wohl auch niemals tun, nicht, solange es keinen Austausch zwischen ihren Reichen gab. Schließlich erhob der Maia wieder die Stimme. „Doch lass uns nicht länger über diese düsteren Dinge sprechen“, sagte er und wechselte das Thema. „Vorhin erzähltest du von deiner Freundschaft mit der Prinzessin der Teleri und deinem Versprechen, ihr etwas von deiner Reise mitzubringen...“ Arafinwe sah ihm überrascht zu, während der Maia die Hand hob und vorsichtig einen der winzigen, funkelnden Steine von seinem Schleier löste, um ihn anschließend dem Jungen zu geben. „Nimm ihn. Ich schenke ihn dir.“ Erstaunt sah Arafinwe auf den Edelstein in seiner Hand hinab. Er hatte die Form eines Tropfens und fühlte sich überraschend warm an. „Ich danke Euch“, sagte er und verwahrte das Juwel sorgsam in einer Tasche an seinem Gürtel. „Was für eine Art von Stein ist das?“ „Es ist kein Stein.“ Der Maia lächelte. „Es ist eine Träne Niennas.“ Der Junge machte große Augen. „Ich werde gut darauf achtgeben“, entgegnete er, erfreut über diese ungewöhnliche Gabe. „Vielen Dank!“ Der Maia schüttelte den Kopf, als wäre es nicht der Rede wert. Dann hob er den Blick. „Mir scheint, als müssten wir unsere Unterhaltung ein andermal fortsetzen“, sagte er und erhob sich. „Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen, Arafinwe Ingalaure.“ Die Augen des Jungen folgten seinem Blick und er sah in der Ferne ein Boot, das sich langsam dem Steg näherte. Es war noch zu weit entfernt, als dass er die Passagiere erkennen konnte, doch er wusste, dass es Feanáro und Nelyo waren, die zurückkehrten. Er erhob sich ebenfalls von der Bank. „Auch mir war es eine Ehre“, erwiderte er und senkte respektvoll den Kopf. „Nur eines muss ich Euch noch fragen – wie ist Euer Name?“ Der Maia antwortete: „Ich heiße Olórin.“ Seine Stimme war leise, als würde sie aus weiter Ferne erklingen. „Lebt wohl, mein Prinz. Auf dass sich unsere Wege erneut kreuzen mögen.“ Als Arafinwe wieder aufsah, war der andere verschwunden. Er lächelte, nicht im Mindesten überrascht. „Auf dass sich unsere Wege erneut kreuzen mögen...“, flüsterte er. Dann atmete er tief durch und ging zum Steg hinüber, um seinen Bruder zu empfangen. Feanáro wirkte ruhig und gefasst, als er wieder an Land trat. Auf dem Arm trug er Nelyo, der während der Überfahrt eingeschlafen war. „Dein Besuch war uns eine Ehre, Feanáro“, sagte Este, die auch dieses Mal nicht an Land trat. „Du bist uns jederzeit wieder willkommen.“ Feanáro bedankte sich mit einer kurzen Verbeugung, und wenig später legte der Kahn wieder ab und die hochgewachsene Gestalt der Herrin des Sees verschmolz allmählich mit dem Nebel, der vom Wasser aufzusteigen begann. Arafinwe lächelte zaghaft. „Es freut mich zu sehen, dass es dir wieder besser geht“, sagte er zu seinem Bruder. Nach kurzem Zögern wandte sich Feanáro dem Jungen zu. „Du bist nicht verärgert?“, entgegnete er leise. „Obwohl ich dich zurückgelassen habe.“ Arafinwe schüttelte den Kopf. Zugegeben, am Anfang war er enttäuscht gewesen, als er erkannt hatte, dass sein Bruder zu keinem Zeitpunkt ihrer Reise vorgehabt hatte, ihn auch nur in die Nähe seiner Mutter zu lassen. Doch das hatte nicht lange angehalten. „Sie ist deine Mutter, Feanáro“, sagte er, und während er sprach, nahm seine Selbstsicherheit zu. „Sie ist diejenige, die dich in diese Welt gebracht und dich gelehrt und geliebt hat, und die nie aufgehört hat, dich zu inspirieren. Der Schmerz über ihren Verlust gehört nur dir allein. Ich habe kein Recht auf deine Trauer und dein Leid, denn ich habe Míriel nie gekannt.“ Er lächelte sanft. „Nein, ich bin nicht verärgert. Denn du hattest Recht – ich habe an jenem Ort nichts verloren.“ Feanáro sah lange Zeit auf ihn herab und in seine Augen trat ein Ausdruck, den Arafinwe nur selten darin sah: Respekt. Dann kniete er plötzlich vor ihm nieder und legte den freien Arm um den Jungen, um ihn an sich zu drücken. „Ich danke dir, Arafinwe“, sagte er mit seltsam rauer Stimme und die Augen des Jungen weiteten sich. Es war das erste Mal, dass sein Bruder ihn mit seinem Vaternamen ansprach. Arafinwes Herz begann vor Aufregung heftig zu klopfen und zögerlich erwiderte er die Umarmung. Für einen Moment verharrten sie so, dann erhob sich Feanáro wieder. „Langsam fange ich an zu begreifen, weshalb Vater dir diesen Namen gab“, sagte er und schenkte dem Jungen ein schwaches Lächeln, das dieser mit leuchtenden Augen erwiderte. Dann hob Feanáro den Blick und ließ ihn über die Gärten schweifen. „Lass uns nach Hause zurückkehren.“ ~ Vierzehn Ende ~ Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)