All His Sons von Morwen ================================================================================ Kapitel 3: Vierzehn (I) ----------------------- „Er hat was?“ Arafinwes unruhig gegen die Stuhllehne tappenden Fingerkuppen kamen zur Ruhe. „Er hat gefragt, ob ich ihn begleiten möchte“, wiederholte er und wagte zum ersten Mal seit dem Beginn ihres Gesprächs einen vorsichtigen Blick hinauf zu seinem Bruder, der neben dem Tisch stehengeblieben war und ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Verletztheit ansah. Es dauerte kaum länger als einen Herzschlag, dann war Nolofinwes Miene wieder dieselbe beherrschte Maske, die der Junge nur allzu gut kannte, doch der kurze Moment hatte ihm gereicht, um zu erkennen, wie sehr die Neuigkeiten dem anderen zu schaffen machten. Sein Bruder wandte sich ab und richtete seine Augen wieder auf das Schriftstück in seiner Hand. „... ich verstehe“, erwiderte er schließlich. Und dann: „Du solltest mit ihm gehen.“ Er bemühte sich um einen neutralen Tonfall, doch Arafinwe entging die Bitterkeit in seiner Stimme nicht. Der Junge zögerte. Es fiel ihm in letzter Zeit immer schwerer, seinen älteren Bruder zu lesen und angemessen auf seine Stimmungen zu reagieren, doch dass in diesem Moment Taktgefühl gefragt war, stand außer Frage. „Ich glaube, ich werde sein Angebot ablehnen“, meinte er dann. „Ich werde ihm sagen, dass ich denke, dass Nelyo noch zu klein ist für eine solche Reise, und werde ihm anbieten, auf ihn aufzupassen, bis er wieder zurückkommt...“ Doch Nolofinwe schüttelte nur den Kopf. „Solange Nerdanel in Valimar ist, wird er Nelyo mitnehmen, ob du mitkommst oder nicht, denn für einen solch langen Zeitraum wird er ihn nicht zurücklassen wollen – nicht einmal in deiner oder Vaters Obhut.“ Nolofinwe seufzte, dann sah er seinen jüngeren Bruder an und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Geh nur, Arvo. Es ist in Ordnung.“ „Er hat nicht einmal nach dir gefragt“, sagte der Junge unglücklich. „Es ist nicht fair.“ „Es ist Feanáro“, entgegnete der andere nur, wie er es an diesem Punkt in ihren Gesprächen über ihren Halbbruder oft tat. „Nichts ist jemals fair mit ihm.“ Und Arafinwe widersprach nicht länger, denn wie jedes Mal wusste er darauf nichts zu erwidern. „Wir benötigen sechs Tagesritte, wenn wir uns Zeit lassen und die Pferde schonen wollen“, meinte Feanáro, als Arafinwe ihm später am Tag seine Entscheidung mitteilte, und sah ihn prüfend an. „Es wird also eine weite Reise sein, und darum möchte ich nur eines von dir wissen: traust du dir das auch wirklich zu?“ Der Junge nickte kurz. „Wenn Nelyo diesen Weg zurücklegen kann, dann kann ich es auch“, entgegnete er tapfer. Feanáros Mundwinkel zuckten. „Ist das so“, entgegnete er amüsiert. „Aber Nelyo wird im Gegensatz zu dir bei mir auf dem Pferd sitzen, wo ich auf ihn achtgeben kann. Du aber musst während der Reise selbst auf dich und dein Pferd aufpassen. Wirst du das schaffen?“ Arafinwe gab keine Antwort, doch er nickte erneut, und es muss etwas in seinem Blick gewesen sein, das seinen Bruder überzeugte, denn er fragte nicht noch einmal nach. „Nun gut“, meinte er nur und wandte sich ab. „Dann pack deine Sachen und halte dich bereit. Übermorgen brechen wir auf.“ „Ja, Feanáro“, erwiderte der Junge und verbeugte sich kurz, dann drehte er sich auf dem Absatz um und flitzte davon, um mit den Vorbereitungen zu beginnen. Finwe war überrascht, als er von den Plänen seines jüngsten Sohnes hörte. „Du willst mit Feanáro auf Reisen gehen?“, fragte er, als sie am Abend an der Tafel saßen und aßen. „Ich war erstaunt, als ich hörte, dass er Nelyo mitnehmen will, aber ich muss gestehen, ich habe nicht damit gerechnet, dass er auch dich fragen würde.“ Und er war nicht der einzige; auch Indis warf ihrem Sohn einen überraschten Blick zu. Doch sie fing sich wesentlich schneller, als ihr Gemahl, und der besorgte Ausdruck auf ihrem Gesicht war schnell wieder verschwunden. Nolofinwe sah ihn nicht einmal an. ‚Du solltest ihn begleiten, Vater‘, dachte der Junge, dem das Mienenspiel seiner Mutter entgangen war. ‚Es würde ihm viel bedeuten.‘ Doch er behielt seine Gedanken für sich. Die erste Frau seines Vaters war stets ein schwieriges Thema, das Finwe nach Möglichkeit zu vermeiden versuchte – und alle anderen um ihn herum ebenso, da sie wussten, wie sehr es ihn peinigte – und obwohl der König seinen Erstgeborenen über alles liebte, sprach er so gut wie nie über dessen Mutter. „Es ist eine weite Reise“, sagte Finwe dann, „und es liegen nur wenige Siedlungen auf dem Weg. Ihr solltet genügend Vorräte mitnehmen. – Und wo werdet ihr schlafen?“ „Feanáro hat erzählt, dass er und Nerdanel auf ihrer Reise oft unter freiem Himmel geschlafen haben, und darum werden wir es dieses Mal auch tun“, erwiderte Arafinwe unbeschwert, während er einen Schluck Wasser aus seinem Kelch trank. „Er hat gemeint, dass das, was für unsere Vorfahren in Endóre gut genug war, auch für uns reichen wird.“ „Hat er das...“, sagte Finwe, und es lag plötzlich ein schmerzvoller Ausdruck auf seinem Gesicht. „Es ist immer einfacher, eine Zeit zu romantisieren, die man selbst nie miterlebt hat.“ Arafinwe sah seinen Vater fragend an, und auch Nolofinwe sah auf einmal von seinem Essen auf. „Das verstehe ich nicht, Atar.“ Der König erwiderte den Blick des Jungen für lange Zeit, ohne etwas zu sagen, doch schließlich entspannte sich seine Miene wieder. „Ich werde es dir erklären, wenn du älter bist“, sagte er nur, und Arafinwe spürte, dass er an diesem Abend nicht mehr aus ihm herausbekommen würde. „Du wirst auf deiner Reise festes Schuhwerk brauchen“, meinte Indis nach einer Weile, um die unangenehme Stille zu beenden, die sich ausgebreitet hatte, und schenkte ihrem Sohn ein Lächeln. „Ich werde dir beim Packen helfen.“ Arafinwe strahlte. „Danke, Amil!“ „Was ist mit dir, Nolofinwe?“, fragte der König dann seinen anderen Sohn, der bis dahin schweigend seine Suppe gelöffelt hatte. „Wirst du mit ihnen gehen?“ Der junge Mann stockte kurz, bevor er seinen Löffel erneut zum Mund führte. „Ich möchte mich nicht aufdrängen“, entgegnete er, ohne von seinem Essen aufzusehen. „Außerdem habe ich noch viel zu tun; ich habe erst die Hälfte der Unterlagen durchgearbeitet, die du mir gegeben hast. Und in vier Tagen ist die Ratsversammlung, in der über die Verteilung der Schürfrechte für die neuen Mienen entschieden wird. Wenn du nichts dagegen einzuwenden hast, Vater, würde ich ihr gerne beiwohnen.“ „Das Thema ist trocken – sehr trocken“, meinte Finwe, doch er lächelte dabei, „aber wenn es dein Wunsch ist, dann würde ich mich freuen, dich an meiner Seite zu wissen, mein Sohn.“ „Danke, Vater“, erwiderte Nolofinwe und erwiderte das Lächeln mit schmalen Lippen. Sie kamen für den Rest des Essens nicht noch einmal auf Arafinwes Reisepläne zu sprechen. Es war schon über fünf Jahre her, dass Feanáro das letzte Mal die Ruhestätte seiner Mutter besucht hatte. Damals war er mit Nerdanel dort gewesen, kurz bevor sie nach Tirion zurückgekehrt waren und Arafinwe seinen Bruder zum ersten Mal getroffen hatte. Seitdem war Feanáro nicht mehr bei Míriel gewesen, da seine Arbeit und seine Familie den Großteil seiner Zeit beanspruchten. Doch nun, da Nelyo kein Säugling mehr war, den man keinen Moment lang aus den Augen lassen durfte, und Feanáro wieder mehr Zeit hatte, nachdem er vor kurzem eine Reihe wichtiger Arbeiten fertiggestellt hatte, hatte er beschlossen, nach langer Zeit wieder einmal die Reise zu Lóriens Gärten auf sich zu nehmen. Arafinwe wusste fast nichts über Míriel. Niemand am Hof sprach je über sie, und der Junge wagte weder Feanáro noch seinen Vater nach ihr zu befragen. Nur seine Mutter erzählte manchmal von ihr und beschrieb sie als scharfsinnige Frau mit silbernen Haaren und geschickten Fingern, die die feinsten Näharbeiten angefertigt hatte, die die Noldor je gesehen hatten. Indis hatte Míriel stets respektiert und aus der Ferne bewundert, auch wenn es sie geschmerzt hatte, dass sie ihretwegen niemals Finwe zum Ehemann würde nehmen können. Doch dann war Feanáro geboren worden, und während ihr Sohn von Jahr zu Jahr immer mehr an Kraft gewonnen hatte, war Míriel immer schwächer geworden, bis sie sich schließlich in Lóriens Gärten zur Ruhe gelegt hatte und in einen Schlaf gesunken war, aus dem sie nie wieder erwachen sollte. „Aber warum ist sie gestorben?“, hatte Arafinwe damals mit Tränen in den Augen gefragt, während er an Feanáro gedacht hatte – einen kleinen Jungen, der soeben seine Mutter verloren hatte und noch nicht wusste, dass er nie wieder ihre Stimme hören würde. „Hätten die Valar sie nicht heilen können?“ „Ich weiß es nicht“, hatte seine Mutter leise erwidert, während sie an seinem Bett gesessen und sanft über sein Haar gestrichen hatte. „Vielleicht hätten sie ihr helfen können, vielleicht auch nicht. Doch beides war bald nicht länger von Bedeutung, als klar wurde, dass Míriel nicht den Wunsch hatte, zu den Lebenden zurückzukehren. Als sie starb, starb sie für immer.“ Arafinwe hatte nur das Gesicht an Indis‘ Brust gepresst und ihren vertrauten Geruch eingesogen. Er war fünf Jahre alt gewesen und allein die Vorstellung, seine Mutter für immer zu verlieren, hatte ihn leise weinen lassen. Es war der Tag gewesen, an dem Arafinwe gelernt hatte, was Mitgefühl war – auch wenn er den Namen für dieses Gefühl erst viele Monate später erfahren sollte. Und seit diesem Tag war Feanáro für ihn nicht länger ein gesichtsloser Schatten gewesen, dessen Name hin und wieder in den Unterhaltungen seiner Eltern oder den Gesprächen der Edlen am Hofe fiel, sondern ein Junge, dessen Mutter eines Tages grausam aus seinem Leben gerissen worden war, und der hatte lernen müssen, von da an ohne sie weiterzuleben. Indis kam am nächsten Vormittag vorbei, um ihm bei den Vorbereitungen zu helfen, so wie sie es versprochen hatte. Arafinwes Gesicht erhellte sich, als seine Mutter in sein Gemach trat, ein Kästchen in der Hand und ein Lächeln auf den Lippen. „Ein Bote hat es soeben gebracht“, sagte sie, als der Junge neugierig zu ihr trat. „Es kam mit den Händlern aus Alqualonde.“ Aufgeregt nahm der Junge das Geschenk an sich und setzte sich auf sein Bett, um es näher zu begutachten. Es war ein schmales, aber langes Kästchen, länger noch als sein Unterarm. In das Holz waren viele, kleine Fische geschnitzt, deren Schuppen mit Perlmutt verziert waren, und Arafinwe fuhr einen Moment lang bewundernd mit dem Finger darüber. Dann klappte er das Kästchen auf. Darin befand sich, in ein Seidentuch gewickelt, eine einfache Flöte aus Schilf. Der Junge starrte sie aus großen Augen an, bevor er es schließlich wagte, sie herauszunehmen und vorsichtig an die Lippen zu setzen. Ungeübt, wie er war,  konnte er ihr nicht mehr als eine Handvoll Töne entlocken, aber das tat seiner Freude über das Geschenk keinen Abbruch. Glücklich sah er zu seiner Mutter auf. „Vielen Dank, Amil.“ Indis nickte nur und setzte sich dann neben ihn auf das Bett. „Gibt es etwas, was ich dem Boten mitgeben soll, bevor die Händler wieder nach Alqualonde aufbrechen?“, fragte sie. Arafinwe überlegte kurz, doch dann schüttelte er nur den Kopf. „Dieses Mal nicht“, entgegnete er. „Aber vielleicht entdecke ich auf der Reise nach Lórien etwas, was ich ihr schicken kann.“ Seit ihrem ersten gemeinsamen Ausflug ans Meer war der Junge noch zwei weitere Male mit Feanáro und Nerdanel dort gewesen. Bei ihren Aufenthalten in Alqualonde hatte er stets viel Zeit mit Earwen und ihren Brüdern verbracht, die ihm von Mal zu Mal mehr ans Herz gewachsen waren. Insbesondere Olwes Tochter war ihm eine gute Freundin geworden, und wann immer sie voneinander getrennt waren, schickten sie sich gegenseitig Dinge, die sie an ihre gemeinsame Zeit am Strand und auf dem Meer erinnern sollten. Von Earwen hatte Arafinwe schon viele Perlen, Muscheln oder die bunten Federn von Seevögeln bekommen, während er ihr seinerseits Edelsteine oder Schnitzereien geschickt hatte, und einmal sogar einen Armreif aus Silber, den er unter der geduldigen Anleitung Feanáros selbst geschmiedet hatte. Seine Eltern unterstützten die Korrespondenz ihres jüngsten Sohnes mit der Prinzessin der Teleri, und wann immer ein neues Paket aus Alqualonde eintraf, warfen sie sich wissende Blicke zu, aus denen der Junge nicht ganz schlau wurde. Vorsichtig packte Arafinwe die Flöte wieder ein. „Ich werde sie mit auf die Reise nehmen“, beschloss er. „Vielleicht kann Feanáro mir zeigen, wie man darauf spielt – dann kann ich Earwen das nächste Mal, wenn wir in Alqualonde sind, etwas vorspielen.“ „Das ist eine gute Idee“, erwiderte Indis lächelnd und strich ihrem Sohn eine blonde Locke hinter das Ohr. Arafinwe sah auf das Kästchen in seinem Schoß herab und plötzlich spürte er neben Vorfreude auch ein seltsames Kribbeln im Bauch. Und für einen Augenblick wünschte er, er wäre bereits wieder zurück und könnte Earwen von seiner Reise erzählen. Sie brachen am nächsten Morgen während der Dämmerung auf. Feanáro trug Nelyo auf dem Arm, während er sich von Finwe verabschiedete. Der kleine Junge hatte das Gesicht an die Schulter seines Vaters geschmiegt und schlummerte, doch als Feanáro ihn wenig später Arafinwe reichte, damit er sich in den Sattel seines Pferdes schwingen konnte, wurde er wieder wach und sah sich mit neugierigem Blick und zerzausten Locken um. „Arfin!“, rief er und presste einen feuchten Kuss auf die Wange seines Onkels. Arafinwe lachte und rieb seine Nase an der des Jungen. „Na, Nelyo?“, sagte er. „Freust du dich schon auf deine erste große Reise?“ Sein Neffe nickte eifrig, dann streckte er die Hände nach Feanáro aus, als dieser ihn Arafinwe wieder abnahm und vor sich auf den Sattel des Pferdes setzte. „Brauchst du Hilfe beim Aufsteigen?“, fragte Nolofinwe, der bis jetzt schweigend neben der kleinen Gruppe gestanden hatte. Arafinwe sah zu Feanáro und seinem Vater hinüber, die leise Worte miteinander wechselten, und dann zu Marilla, seiner schon etwas älteren, aber sanftmütigen Stute, auf der er auch das Reiten gelernt hatte. Obwohl er in den letzten Jahren ein ganzes Stück gewachsen war, war es noch immer jedes Mal eine Herausforderung für ihn, in den Sattel zu kommen, und er nahm das Angebot seines Bruders dankbar an. „Gib gut auf dich acht, Arvo“, sagte Nolofinwe, als der Junge schließlich bequem im Sattel saß, und reichte ihm die Zügel. „Und auf Nelyo. Ich bezweifle zwar, dass euch Gefahren begegnen werden, aber das ist kein Grund, keine Vorsicht walten zu lassen, wo Vorsicht angebracht ist.“ „Ich werde gut aufpassen“, versprach Arafinwe. Dann lächelte er. „Ich hoffe, du langweilst dich ohne mich nicht völlig zu Tode.“ „Langweilen? Ich bin froh, dass ich endlich meine Ruhe habe“, entgegnete Nolofinwe nur und erwiderte das Lächeln. Dann trat er wieder zurück, nicht ohne Marilla vorher sanft über die Nüstern zu streichen, und für einen Augenblick war der Junge traurig, dass Nolofinwe sie nicht begleitete. Er liebte seinen Bruder, und wusste, dass dieser ihn ebenso liebte, und er wünschte, sie könnten das, was sie als Geschwister verband, auch mit Feanáro teilen. Aber so einfach war es leider nicht. Da er sich bereits in der vorigen Nacht von seinem Vater und seiner Mutter verabschiedet hatte, fielen Finwes letzte Worte an seinen jüngsten Sohn recht kurz aus – wenn auch nicht weniger herzlich. „Gute Reise“, sagte er und sah zu seinen beiden Söhnen auf. „Möget ihr heil zu uns zurückkehren.“ Feanáro nickte nur, während Arafinwe seinem Vater und seinem Bruder zum Abschied mit einem Lächeln zuwinkte. Dann setzten sich ihre Pferde in Bewegung und trotteten auf die breite, mit weißen Steinen gepflasterte Straße hinaus, die durch die Stadt hindurch in Richtung Westen führte. Auf den Straßen Tirions war es zu dieser frühen Stunde noch still, auch wenn der Junge mehrere Diener und Mägde sah, die für ihre Herren frühe Besorgungen erledigten. Da sowohl der Kronprinz als auch Arafinwe schlichte Reisekleidung trugen, warf ihnen niemand auch nur einen zweiten Blick zu, während sie Seite an Seite schweigend durch die Stadt ritten. Zwanzig Minuten später passierten sie das westliche Tor und ließen Tirion hinter sich, und mit dem Durchschreiten des Portales schien sich auch ein unsichtbares Gewicht von Feanáros Schultern zu heben, denn er entspannte sich sichtlich. Nelyo, der bis dahin geschwiegen hatte, schien diese Änderung zu spüren, denn er wurde plötzlich wieder munter und begann, fröhlich vor sich hinzuplappern. „Wie weit ist es noch, Atto?“ „Sieh mal, die Schmetterlinge!“ „Werden wir die Bäume sehen?“ „Darf ich auch mal die Zügel halten?“ „Ich habe Durst.“ „Was ist das für ein Tier dort drüben?“ ... und so ging es für die nächsten Stunden weiter. Es war, als hätten sich in all den Jahren, in denen Nelyo noch nicht gesprochen hatte, die Worte in ihm angestaut, und würden nun mit einem Mal aus ihm heraussprudeln. Doch so endlos sein Mitteilungsbedürfnis auch war, so endlos war auch die Geduld seines Vaters, und ruhig erklärte Feanáro ihm alles, was er wissen wollte, und nicht nur Nelyo, sondern auch Arafinwe hörten ihm aufmerksam zu. Am späten Vormittag erreichten sie den Ausgang des Calacirya. Ab hier fiel das Land nach Westen hin allmählich ab, so dass sie Valinor in seiner Gesamtheit – seinen Wäldern, endlosen Wiesen und Feldern – vor sich liegen sahen. Wie immer, wenn er an diesem Punkt des Passes stand, lief eine Gänsehaut über Arafinwes Rücken, als er die beiden Bäume erblickte, die von hier aus trotz der großen Entfernung deutlich zu erkennen waren. Jeder von ihnen ragte mehrere Meilen in den Himmel hinauf, und ihre weit ausladenden Äste waren so gewaltig, dass die Ausmaße der Baumkronen mit Auge und Verstand kaum zu erfassen waren und die Wipfel sich in der Finsternis der ewigen Nacht verloren. Nelyo machte keinen Hehl aus seinem Erstaunen – mit offenem Mund starrte er die Bäume an, und Arafinwe lächelte, hatte seine eigene Reaktion damals doch kaum anders ausgesehen. Auch, als sie sich längst schon wieder in Bewegung gesetzt hatten und dem Pfad in Richtung Süden folgten, drehte Nelyo sich ständig nach ihnen um, und Feanáro musste ihn mehrmals ermahnen, still zu sitzen, damit er nicht aus dem Sattel fiel. Gegen Mittag, als Laurelin in voller Blüte stand, legten sie an einem Bach eine Rast ein. Nelyo konnte es kaum erwarten, wieder auf beiden Beinen zu stehen, und auch Arafinwe war froh, für eine kurze Weile wieder festen Boden unter seinen Sohlen zu spüren. „Lauf nicht zu weit weg, es gibt gleich Essen!“, rief Feanáro seinem Sohn hinterher, als dieser sofort zum Bach lief, um in dem flachen Wasser herumzuplanschen. Sie tränkten die Pferde und ließen sie anschließend am Bachufer grasen, bevor sie sich auf die Wiese setzten und Feanáro das frisch gebackene Brot herumreichte, das er am Morgen eingepackt hatte. „Mehr gibt es nicht?“, fragte Nelyo enttäuscht, während er kleine Stücke von seiner Brotscheibe abriss und mit wenig Appetit in seinen Mund schob. „Es wird warmes Essen geben, wenn wir unser Nachtlager aufgeschlagen haben, aber zum Mittag muss dies reichen“, erwiderte Feanáro nur und der kleine Junge starrte enttäuscht das Brot in seiner Hand an. Arafinwe überlegte einen Moment, dann kramte er in seinem Rucksack herum, bis er einen Lederbeutel fand, den seine Mutter ihm am Vorabend gegeben hatte. „Hier, Nelyo“, sagte er und schüttete ein paar von den getrockneten Früchten darin auf seine Handfläche, um sie dem Jungen hinzuhalten. „Iss davon auch ein paar, dann schmeckt es gleich viel besser.“ „Danke!“ Nelyo schenkte ihm ein zahnlückiges Grinsen und nahm die süßen Früchte sofort an sich. „Du verwöhnst ihn zu sehr“, meinte Feanáro kopfschüttelnd, aber mit Zuneigung im Blick, als er seinem Sohn beim Essen zusah. „Tut mir leid“, sagte Arafinwe mit roten Wangen. Nelyo war ihm in den letzten Jahren so ans Herz gewachsen, dass er noch immer oft vergaß, dass sie keine Geschwister waren. Dann lächelte er schief und zuckte mit den Schultern, in der Hoffnung, damit seine Verlegenheit zu überspielen. „Ich habe sonst niemanden, den ich verwöhnen kann.“ Sein Halbbruder warf ihm einen prüfenden Blick zu, und Arafinwe senkte den Kopf. „Du denkst, du bist allein?“, fragte Feanáro. „Du...“ Er zögerte jedoch weiterzusprechen und verstummte plötzlich, um sich stattdessen wieder seinem Essen zu widmen. Aber er musste seinen Satz nicht beenden, Arafinwe wusste trotzdem, was er hatte sagen wollen: Du weißt überhaupt nicht, was Einsamkeit ist. Und es tat weh, dass Feanáro so von ihm dachte. Doch noch mehr schmerzte der Gedanke, dass sein Bruder ihn nach all dieser Zeit noch immer nicht wirklich zu kennen schien. Nach einer Weile fing Arafinwe schließlich wieder an zu kauen und für den Rest des Essens wechselten sie kein Wort miteinander. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)