Ruhe von Gam ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ruhe? Kann man das essen? - Ich wünschte, man könnte! Wenn Ruhe etwas wäre, was man oral aufnehmen könnte, wäre mein Leben ein besseres. „Tanja! Komm runter!“ Ich saß keine zwei Minuten an meinem Schreibtisch, hatte gerade erst das alte rosafarbene Federmäppchen ausgepackt, da schallte die Stimme meiner Mutter zu mir nach oben. „Ich kann jetzt nicht!“ rief ich zurück. „Ich lerne!“ Ich konnte die energischen Schritte meiner Mutter auf dem Fußboden hören, und das Knarren der untersten Treppenstufe. „Ach, ganz plötzlich!“ Dann entfernten sich die Schritte wieder, und ich atmete auf. Endlich! Ich schlug meinen Block auf und legte den Stift hin, um mein Englischbuch aufzuschlagen, als die Tür zu meinem Zimmer aufging. „Klopfen!“ brüllte ich, noch bevor ich mich umgedreht hatte. Da stand meine Mutter. Hatte die sich etwa angeschlichen? Oder war sie an der Regenrinne hochgeklettert? „Was glaubst du, wer du bist, hier so rumzubrüllen? Steh auf und putz das Bad. Du bist dran diese Woche.“ Sag ich doch: Ruhe im Essen wäre toll! „Aber ich muss noch Hausaufgaben machen“, beharrte ich. Meine Mutter kam näher, das Gesicht rot vor Wut. Da hatte ja jemand einen ganz tollen Tag gehabt... „Du machst jetzt, was ich dir sage. Deinen Schulkram kannst du auch später erledigen. Aber das Bad wird jetzt gemacht!“ Und sie drehte sich um und ging. Ich bewegte mich keinen Zentimeter. Kann man denn nicht einmal in Ruhe etwas zu Ende machen? Ständig muss jemand dazwischen funken! Als Mama das Zimmer verließ, merkte sie, dass ich keine Anstalten machte, zu gehorchen. Ich sah auf und konnte mich gerade noch wegducken um einer Ohrfeige zu entgegen. „BEWEG DEINEN ARSCH!“ Ich stand sofort auf. Es reichte. Es reichte! Genug! Ich drängelte mich an meiner Mutter vorbei, auf den Flur, die Treppe runter – und war blitzschnell im Garten, bevor sie merkte, dass ich ihr immer noch nicht gehorchte. Bloß weg hier! Mit einigen schnellen Schritten war ich durch den Garten, mit einem kleinen Sprung über den niedrigen Gartenzaun. Barfuß, das kitzelne kühle Gras unter den Füßen, rannte ich über die angrenzende Wiese, so schnell, dass der Wind meine Tränen sofort verwischte. Warum musste das immer passieren? Warum wurde sie handgreiflich? Sie war doch kein schlechter Mensch, sonst doch nicht. Sie war doch lieb, sie war doch meine Mutter... Ruhe. Ich erreichte den Waldrand. Wie gut, dass wir auf dem Land lebten. Mit vorsichtigen Schritten, darauf bedacht, nicht auf einen spitzen Ast zu treten, betrat ich die ersten Ausläufer, wo das weiche Gras von trockenem Laub und Unterholz abgelöst wurde. Ich kannte den Weg. Er führte mich, ohne das ich mich konzentrieren musste, eine Weile in gerader Linie in den Wald hinein. Bei den ersten Tannen bog ich rechts ab, und bald hörte ich das vertraute Plätschern des Baches. Er beruhigte mich, er ließ meine Tränen versiegen. Ich verlangsamte meine Schritte. Nun wurde es wieder spannend. Ob sie da waren? Langsam, lautlos schlich ich mich in Richtung eines kleinen Sees, mitten im Wald. Er war voller Algen, und manchmal stank er im Sommer bestialisch, doch er erholte sich immer wieder. Das Geheimnis: Die Feen. Ich setzte mich auf einen abgebrochenen Baum am Rand des Sees und blieb still. Nach wenigen Minuten raschelte es neben mir, und ich hörte ein erschrockenes Zischen, als eine winzige blaue Fee Reißaus nahm. Schade, sie war wohl schreckhaft. Einmal hatte eine sich auf meinen Schoß gesetzt, als ich Schokolade dabei hatte. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Mama würde sich bald beruhigt haben. Es würde ihr Leid tun, sie würde sich entschuldigen. Bestimmt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)