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Broken Record

von

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First Record: The calm before the storm.

Der Soldat fiel erschöpft auf die Knie und atmete angestrengt. „Verdammt... Wie können diese Kinder... nur so stark sein...?“

Die Kinder standen vor dem Schwerverletzten, allesamt nicht sonderlich erfreut über den Ausgang dieser Situation. Keiner von ihnen war stolz darauf, diese Soldaten – drei seiner Kameraden lagen bereits bewegungslos neben dem noch Knienden – getötet zu haben, aber jeder von ihnen sagte sich immer wieder, dass sie nur aus Notwehr handelten. Sie waren zuerst angegriffen worden und hatten sich nur verteidigt, dieses Mantra half ihnen, nicht einfach die Nerven zu verlieren, auch in diesem Moment.

Der Soldat schnaubte. „Wir werden sehen, wie ihr euch gegen Leutnant Scythe schlagt. Er wird euch eine Lektion erteilen!“

Jude und Yulie warfen sich einen fragenden Blick zu, Raquel hielt die Arme vor dem Körper verschränkt, die Stirn leicht gerunzelt, Arnaud hatte einen Arm in die Hüfte gestemmt und wartete darauf, dass der Soldat erklärte, von wem er genau redete. Sicher, es war eindeutig, dass es sich bei diesem Scythe um ihren Vorgesetzten handelte, aber vielleicht gab es noch mehr zu hören und er wurde nicht enttäuscht: „Leutnant Scythe ist ein Mitglied der elitären Brionac Forces... und ein legendärer Crimson Noble.“

Ein eiskalter Schauer lief über Arnauds Rücken und ließ ihn regelrecht erzittern. Allein die Vorstellung, dass ein Crimson Noble gegen sie antreten, sie bekämpfen und zweifellos zerschmettern würde, ließ ihn fast ohnmächtig werden. Wie war er nur in diese wahnsinnige Situation geraten?

„Ihr werdet mehr als einen starken Willen... und Glück benötigen... um ihn zu besiegen.“

Mit diesen letzten Worten stürzte der Soldat vornüber und bewegte sich ebenfalls nicht mehr. Keiner der Anwesenden musste erst überprüfen, ob er wirklich nicht mehr lebte, sie wussten es einfach.

Er wartete eine Minute, um dem Toten Respekt zu zollen, dann schauderte Arnaud wirklich und ließ seinem Entsetzen freien Lauf: „Ein Crimson Noble...?! Es ist ein verrücktes Ding nach dem anderen...“

War es schon zu spät, aus dieser ganzen Sache auszusteigen? Das fragte er selbstredend nicht laut, keiner der anderen sollte wissen, dass er mit dem Gedanken spielte, sie alle einfach sitzenzulassen, aber er kam nicht umhin, es zumindest zu denken.

Jude wandte sich um und sah ihn vollkommen aufgelöst an. „'Crimson Noble'?“

Wieder einmal zeigte sich, dass er abgeschottet von der wahren Welt aufgewachsen war, behütet und geschützt, so dass Arnaud ihn fast nur noch beneiden konnte. Aber noch während er überlegte, wie er Jude erklären sollte, was für eine furchtbare Sache die Crimson Noble waren, übernahm Yulie das Wort: „Eine alte Rasse, von der in Legenden und Märchen erzählt wird. Sie sehen wie gewöhnliche Menschen aus, aber es heißt, dass sie wesentlich machtvoller sind...“

Raquel nickte und stimmte dann mit ein: „Sie trinken angeblich Blut und ihre Namen werden mit Furcht ausgesprochen. Sie sind die Herrscher von Dämonen, die Könige der Untoten...“

Selbst in ihrer Stimme war Ehrfurcht auszumachen, dabei schien sie sonst über alles erhaben zu sein und in diesem Moment fühlte Arnaud sich ihr endlich ein wenig verbunden.

Jude sah sie alle mit großen, fassungslosen Augen an und wirkte so wesentlich jünger als er eigentlich war. „Woah...“

„Zu denken, dass sie wirklich existieren...“, fügte Raquel noch mit angespannter Stimme hinzu.

„Wenn...“ Jude schluckte ein wenig. „Wenn sie wirklich existieren, wie sollen wir sie dann bekämpfen?“

Arnaud war beeindruckt, dass er darauf vermutlich wirklich eine Antwort erwartete, dabei gab es nur eine einzige, die auch wirklich Sinn ergab, wie er aus Erfahrung wusste.

„Das ist einfach“, sagte er daher, ehe einer der anderen irgendeine seltsame Theorie entwickeln könnte. „Wir rennen! Wenn wir damit anfangen, jedes legendäre Monster, das uns über den Weg läuft, zu bekämpfen, gibt es keine Aussicht darauf, dass wir überleben!“
 

Zu meinem Bedauern gab es nur ein Adjektiv, das in diesem Moment auf mich zutraf. Es war weder cool, noch klasse und erst recht nicht erwachsen, sondern nur: Gelangweilt.

Den Rücken gegen das hölzerne Gebäude gelehnt, blieb mir nicht viel anderes übrig, als zu warten... und zu warten...

Mir stand mein erster Auftrag als Drifter bevor, aber glücklicherweise müsste ich ihn nicht allein bestreiten, denn ein wenig mulmig war mir schon. Wenn man auf einem Poster davon las, dass jemand gesucht wurde, der für viel Geld irgendeine legendäre Ruine erkunden sollte, dann klang das hauptsächlich verlockend, schon allein, wenn man unbedingt Gella benötigte. Aber wenn man darauf wartete, dass die restlichen Drifter eintrafen, mit denen man Mission, Geld und Ruhm teilen sollte, dann kam man doch ein wenig ins Grübeln, ob es eine gute Idee gewesen war. Diese Ruine war erst vor kurzem wiederentdeckt worden und war noch dazu angeblich verflucht, weswegen Driftern geraten wurde, sich fernzuhalten – aber das bewirkte natürlich nur, dass alle unbedingt dorthin wollten, um herauszufinden, was es damit auf sich hatte.

Ich war nicht sonderlich neugierig, aber ich benötigte das Geld, deswegen wollte ich mich der Gruppe anschließen auf die ich wartete.

Meine Gedanken drehten sich um diesen Fluch, über den ich nichts genaues wusste, nicht einmal, ob es ihn wirklich gab oder er nur als Abschreckung dienen sollte, so dass ich die sich mir nähernde Person erst bemerkte, als sie mir auf die Schulter tippte. Ich zuckte erschrocken zusammen und wandte mich dieser Person zu, nur um festzustellen, dass es sich um eine Frau handelte. Auf den ersten Blick sah es für mich nicht so aus, als wäre sie ein Drifter, immerhin hatten sich um ihre Augen und Mundwinkel bereits Falten gebildet, was darauf schließen ließ, dass sie gern lachte und nicht mehr die Jüngste war. Aber ihr blondes Haar, das ihr selbst zu zwei Zöpfen gebunden noch bis an ihre Hüfte reichte, sagte, dass mein Eindruck mich täuschte – oder dass ihre Gene es gut mit ihrem Haar meinten.

Ihre Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, das ihre braunen Augen leuchten ließ. Ja, es war eindeutig, sie mochte es, gut gelaunt zu sein, sie war unmöglich ein Drifter, auch wenn ihre praktisch gehaltene Kleidung aus blauen Jeans, braunen Stiefeln, rotem Stoffhemd und brauner Weste darauf hindeuteten.

„Bin ich hier richtig bei der Ruinen-Erkundung?“

Sie musste die Mutter eines der anderen Teilnehmer sein, sicher gab es noch andere, die noch jünger waren als ich und sie wollte ihn gemeinsam mit seinem Mittagessen abliefern. Diese Vorstellung ließ mich schmunzeln, während ich nickte – aber meine amüsierte Laune schwand sofort, als sie sich vorstellte: „Ich bin Candace. Eine Drifter, die bei dieser Mission teilnehmen wird.“

Mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen musste ich – zu meinem Bedauern – wohl einen sehr lustigen Eindruck machen, denn plötzlich hielt sie sich die Hand vor den Mund, um leise zu lachen. „Oh, ein Grünschnabel, hm? Ihr seid alle immer so überrascht, wenn ihr ältere Drifter seht.“

„Die auch noch Frauen sind“, ergänzte ich.

Ich befürchtete, dass sie wütend werden würde, doch stattdessen zwinkerte sie mir zu. „Ja, ich bin sehr ungewöhnlich, ich weiß. Aber das spricht für meine Erfahrung, nicht wahr? Nun, ich habe deinen Namen nicht ganz mitbekommen, Grünschnabel.“

Ich wollte darauf hinweisen, dass ich es nicht mochte, so genannt zu werden, beschloss aber, aufgrund ihrer Erfahrung, lieber keinen Streit mit ihr anzufangen und ihr meinen Namen zu nennen.

„Ah, Arinaude, was für ein Name...“

Sie war bei weitem nicht die erste, die sich über meinen Namen wunderte und sich nicht damit leicht tat, ihn auszusprechen, deswegen kümmerte mich ihre seltsame Aussprache nicht weiter.

„Weißt du vielleicht mehr über diese Mission?“ Das war eine Frage, die mich wesentlich mehr interessierte in diesem Moment.

Doch sie schüttelte den Kopf und grinste dann wieder. „Dein erster Auftrag, hm? Da wollen alle immer so schnell wie möglich etwas von ihren Missionen wissen, damit sie wissen, worauf sie sich einlassen.“

Es missfiel mir, dass ich genau wie all die anderen war und mir das so offen ins Gesicht gesagt wurde, aber das konnte ich im Moment nicht ändern. Da sie bereits richtig geraten hatte, nickte ich zustimmend. „Mein erster Auftrag. Ich dachte, es wäre besser-“

„Wenn du dich zu Beginn anderen Driftern anschließt“, beendete sie meinen Satz.

Dieses Mal grinste sie nicht, stattdessen wandelten sich ihre Lippen zu einem sanften Lächeln, das fast schon mütterlich auf mich wirkte. „Das ist wirklich sehr clever von dir, Kleiner. Andere Drifter legen sofort allein los und landen dann schnell in einem frühen Grab. Aber du denkst mit, das gefällt mir. Vorsicht macht vielleicht nicht den erfolgreichsten und reichsten Drifter aus dir, aber dafür einen langlebigen.“

So wie sie mich in diesem Moment ansah, konnte ich mir vorstellen, dass sie ebenfalls so begonnen hatte und vielleicht immer bei diesem Plan geblieben war, weswegen wir an diesem Tag überhaupt erst aufeinandertrafen.

Da wir noch immer warten mussten, erzählte sie mir von ihrer ersten Mission, die aus der Begleitung eines reisenden Händlers bestand und offenbar recht lustig verlaufen war, da sie sich mit allen Mitreisenden gut verstanden hatte. Ich war nicht daran interessiert, mich sonderlich gut mit irgendjemandem zu verstehen, obwohl Freundschaften unter Driftern sicherlich auch nützlich sein konnten, immerhin gab es die Aussicht auf weitere Aufträge, falls einer von ihnen Hilfe benötigte und auf Unterstützung, sobald man selbst es war, der eine weitere Hand benötigte.

Als Candace gerade erzählte, wie sie während einer Pause auf dem verschneiten Neve d' Argento Gebirgspass einen Schneemann hatte bauen wollen, kamen drei weitere Personen über den offenen Platz auf uns zugelaufen. Sie unterbrach sich sofort und blickte den Neuankömmlingen entgegen.

Es war – jedenfalls für mich – deutlich erkennbar, dass die drei Freunde waren und schon länger ein gemeinsames Team bildeten. Sie waren etwa doppelt so alt wie ich, also schon mindestens 32, mit wettergegerbten, unrasierten Gesichtern, die mich unangenehm daran erinnerten, dass ich noch immer keine Spur von Bartwuchs hatte, was das Erwachsensein unendlich weit weg erscheinen ließ.

Vor uns blieben die Männer wieder stehen, was mich darin bestätigte, dass sie zu uns gehörten – aber Candaces Reaktion auf einen von ihnen, war auch ein guter Hinweis darauf: „Chad! Es ist schon ewig her, seit wir uns zuletzt gesehen haben, was?“

Der Mann in der Mitte – ein furchteinflößender Kerl mit breitem Kreuz, ergrauendem, schwarzen Haar, pockennarbigem Gesicht und Augen, die ungewöhnlich tief in den Höhlen saßen – zog seine Mundwinkel ein wenig nach oben.

„Candace, schön, dass wir wieder einmal zusammen unterwegs sind.“ Seine tiefe Stimme passte einerseits sehr gut zu ihm, aber andererseits erschien sie mir doch ein wenig... zu nett, ich hätte sie bei so jemandem wirklich nicht erwartet.

„Hattet ihr schon Aufträge zusammen?“, fragte ich neugierig.

„Schon einige“, antwortete Candace. „Alle paar Monate treffen wir uns wieder durch Zufall, weil wir eine Mission gemeinsam übernehmen.“

Chad nickte, um das zu bestätigen und sah dabei mich an. „Richtig. Nun, da ich alle außer dir kenne, nehme ich an, du bist Arson.“

Ich wollte ihn gerade korrigieren, als der Mann links von ihm etwas einwarf: „Arnaud. Sein Name ist Arnaud G. Vasquez, nicht Arson.“

Die Stimme dieses Mannes war wesentlich heller, er war aber auch kleiner und schlaksiger als Chad und wirkte sogar ein wenig jünger, nicht zuletzt weil sein braunes Haar noch keine grauen Ansätze hatte – dafür wirkte sein Körper wesentlich mehr mitgenommen. Eine Brandnarbe kam unter seinem Kragen hervor, breitete sich über seinen Hals aus und erfasste sogar Teile seiner rechten Wange. Der Krieg musste ihn sehr mitgenommen haben und ich fühlte sogar ein wenig Mitleid.

„Ah, danke, Abiel“, sagte Chad und verriet somit den Namen des anderen. „Ich weiß schon, warum ich dir immer alles sage, was wir uns merken müssen.“

Abiel lächelte leicht darüber, sagte aber nichts mehr dazu. Chad besann sich nun endlich darauf, zu erklären, wer der dritte Mann war: „Das ist Sendoa, unser Schwertkämpfer.“

Dieser war zwar ebenfalls nicht ganz so groß wie Chad, wirkte aber wesentlich älter. Sein Haar war bereits völlig ergraut, sein Bart ein wenig voller als jener der anderen, zwei Schwertscheiden hingen an seinem Gürtel – aber vor allem wurde die meiste Aufmerksamkeit von seinem linke Auge auf sich gezogen. Eine Narbe zog sich über sein Gesicht, über das Auge, Iris und Pupille hatten sämtliche Farbe verloren, er war eindeutig blind auf dieser Seite und es sah... unheimlich aus, weswegen ich mich eilig bemühte, lieber wieder Chad anzustarren, der mit der Erklärung der Mission begann: „Vor kurzem wurde nicht weit von hier eine Ruine entdeckt, die unter Driftern als legendär gilt.“

Mir schien, dass er extra für mich etwas weiter ausholte, aber mich störte das nicht weiter und Candace lauschte auch sehr interessiert, wie mir ein Seitenblick verriet, deswegen unterbrach ich ihn nicht.

„Man vermutet zahlreiche Schätze an diesem Ort und natürlich gibt es neben dem Geld auch noch den Ruhm einzustreichen, wenn wir noch etwas besonders Wertvolles dort entdecken.“

Ich rechnete nicht damit, irgendetwas Außergewöhnliches, wie ein Königsgrab oder einen Golem, zu finden, aber die Aussicht klang wirklich verlockend.

„Zu bedenken ist lediglich, dass es heißt, dieser Ort wäre verflucht. Ein weiblicher Geist soll jeden, der es wagt, die Ruine zu betreten, jagen und töten.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich an Geister glauben oder sie als Teil von Schauermärchen abtun sollte, aber es gab genug Geschichten, die von deren Existenz zu berichten wussten, auch von Driftern erzählte. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass es keine geben sollte. Angst hatte ich keine, da machten mir einige Monster, denen wir zweifellos begegnen würden, doch mehr Sorgen. Wer wusste denn immerhin schon nach so vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten, welche Monster sich dort herumtrieben?

„Wichtig ist, herauszufinden, ob dieser Geist wirklich existiert“, fuhr Abiel fort. „Tut er das nämlich, werden wir uns sofort zurückziehen, ungeachtet aller Schätze, die dort vielleicht auf uns warten mögen. Wenn wir jedes legendäre Monster, das uns über den Weg läuft, bekämpfen, gibt es keine Aussicht darauf, dass wir überleben – und ein toter Drifter ist ein schlechter Drifter.“

Das klang nicht nur logisch, mir war auch sehr daran gelegen, zu überleben, weswegen ich beschloss, diesen Vorschlag zu beherzigen.

„Sendoa ist unser Schwertkämpfer für die Front, Chad beschützt die Nachhut, ich bin Stratege und Fernkämpfer“ – Dabei klopfte er auf einen Köcher voller Armbrustbolzen, die dazugehörige Waffe bemerkte ich in diesem Moment auf seinem Rücken – „Candace kümmert sich um die Heilung und dich, Arnaud, haben wir wegen deinen Magiefähigkeiten zu uns geholt.“

Ich nahm unwillkürlich Haltung an, als die Sprache auf mich kam. Die Nachricht kam für mich nicht überraschend, immerhin hatte ich mich wegen meiner Fertigkeiten, auf die ich sehr stolz war, auf diese Mission beworben, obwohl ich über keinerlei Erfahrung verfügte. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass ich es ohnehin nicht schaffen würde, aber irgendetwas hatte sie wohl überzeugt.

„Enttäusche uns bitte nicht“, fügte Chad noch hinzu. „Wir sind wirklich auf dich angewiesen.“

Ich konnte nicht anders als zu schmunzeln. „Klar doch, kein Problem. Ich bin ziemlich zuversichtlich in alles, was oberhalb meines Halses ist.“

„Perfekt“, bekundete Chad. „Dennoch, das ist dein erster Auftrag, oder? Candace, ich will, dass du ein wenig auf ihn aufpasst.“

Sie hob den Daumen, dann zwinkerte sie mir zu. „Kein Problem, überlass das nur mir.“

Ich hatte nicht das Gefühl, als würde ich einen Aufpasser brauchen, aber mir war auch bewusst, dass die Erwachsenen nicht unbedingt die Meinung eines Kindes, das ich ungefragt war, hören wollten. Sie wussten sicherlich, was sie taten, deswegen widersprach ich nicht. Außerdem schien Candace die Vorstellung zu gefallen, mich unter ihre Fittiche zu nehmen.

„Dann gibt es nichts mehr, worüber wir sprechen müssten, oder?“, fragte Chad.

Wir schüttelten – überraschend – einstimmig die Köpfe, selbst Sendoa, der noch gar nichts gesagt hatte. Chad wirkte sehr zufrieden darüber, dass wir alle so anspruchslos waren. „Gut, dann gehen wir los. Und denkt daran: Immer schön aufeinander achtgeben.“

Ohne weiter etwas zu sagen setzten wir uns in Bewegung und liefen los, um uns zu der legendären Ruine zu begeben, in der ein ebenso legendärer Geist leben sollte. Nach nur wenigen Schritten begannen Candace und Chad Geschichten über ihre gemeinsame Aufträge zu erzählen und lachten dabei immer wieder amüsiert. Die Stimmung war erstaunlich gut und nichts deutete in diesem Moment darauf hin, dass wir schon wenige Stunden später direkt in einer mittelschweren Katastrophe stecken würden.

Second Record: Always getting into trouble, aren't you?

Ein heftiger Windstoß begrüßte die Gruppe, als sie das Deck der Eulalia betraten. Egal in welche Richtung Arnaud blickte, überall konnte er nur den vom Sonnenuntergang rot gefärbten Himmel entdecken, gespickt mit dunklen Wolken, die sich auf derselben Höhe wie sie zu befinden schienen. Das einzig Interessante befand sich direkt vor ihnen, das Flugzeug, das sie nutzen wollten, um zu fliehen – und vor ihm, wie eine unscheinbare Barriere, stand ein Mann.

Sein weißes Haar hob sich unangenehm von seiner braunen Haut ab, mehrere Tätowierungen waren auf seiner Brust zu sehen. Seine Kleidung ließ zwar nicht unbedingt darauf schließen, dass er ein machtvoller Gegner war, aber Arnaud war sicher, es spüren zu können. Elektrische Spannung flirrte in der Luft, ließ diese knistern und verriet ihm, dass sie sich allesamt die Finger verbrennen würden.

Zu seinem Unglück wurde er aber nicht um seine Meinung gefragt.

„Ah, das ging schnell“, ließ der fremde Mann sich vernehmen. „Ich wusste, dass ihr hier enden würdet, wenn ich ein Auge auf das Flugzeug werfe.“

Es war eindeutig, dass er nicht nur ein Mitglied von Brionac war, er musste auch der Leutnant Scythe sein, von dem die Soldaten zuvor gesprochen hatten – und das erkannte auch Jude sofort: „Du bist ein Crimson Noble?“

Er reagierte nicht wirklich darauf, sondern musterte die Gruppe eingehend mit gierigen Augen. Seine spitzen oberen Eckzähne standen leicht hervor und verrieten sofort, wer er war. Dennoch waren seine folgenden Worte auch durchaus hilfreich: „Mmm, solch frische, saftige Kinder. Ihr seht so schmackhaft und süß aus...“

Arnaud sog scharf die Luft ein, sein Körper begann unwillkürlich zu zittern. „Er... er ist wirklich ein Crimson Noble! Lauft! Es besteht keine Aussicht, dass wir jemanden wie ihn besiegen können!“

Trotz seiner Worte schaffte er es nicht, sich vom Fleck zu bewegen, seine Beine waren wie festgewurzelt – vermutlich weil er in seinem Inneren bereits das wusste, was Raquel gleich darauf einwarf: „Wir sind komplett von nichts anderem als Himmel umkreist. Wohin willst du laufen? Außerdem sind wir doch hierhergekommen, um einen Fluchtweg zu finden, richtig? Es ist Zeit, die Fakten zu akzeptieren, Arnaud! Unsere einzige Fluchtmöglichkeit liegt auf der anderen Seite von ihm!“

Er wusste, dass sie recht hatte und doch gab es etwas in ihm, das es nicht akzeptieren wollte. Gegen diesen Scythe zu kämpfen, würde ihren unausweichbaren Tod bedeuten und diesen wollte Arnaud lieber noch so lange wie möglich rausziehen. Und seine Erfahrung zeigte ihm, dass es mit Weglaufen am besten funktionierte.

„Warum ende ich immer in solchen Situationen?“, fragte er sich seufzend. „Ich schwöre, mein Leben ist wie eine kaputte Schallplatte!“
 

So friedlich wie die Ruine vor uns lag, konnte ich mir kaum vorstellen, dass sie wirklich verflucht sein sollte. Ich war in diesem Moment sogar noch mehr als zuvor davon überzeugt, dass es sich wirklich nur um ein Gerücht handelte, um alle anderen von diesem Ort fernzuhalten.

„Das ist es also?“ Auch in Candaces Stimme konnte ich Skepsis hören. „Unter einer legendären Ruine hätte ich mir etwas... Größeres vorgestellt.“

Es war nicht einstmals eine Burg gewesen und auch kein großer Tempel, vielmehr schien es eine kleine Kirche zu sein, die in sich zusammengefallen war und nun vor sich hinrottete.

Chad ließ sich allerdings trotz des traurigen Anblicks nicht von seinem Enthusiasmus abbringen: „Die Ruine hat einen Keller, in dem die Schätze nur darauf warten, ausgegraben zu werden.“

„Graben?“, entfuhr es mir erschrocken. „Niemand hat was von graben gesagt!“

Und wir hatten nicht einmal Schaufeln dabei, dennoch nahm ich diese Aussage wörtlich, was zu einiges an Erheiterung bei den anderen zu führen schien, da sie sofort leise zu lachen begannen.

„Er meint es nicht so“, erklärte Candace mir schließlich, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. „Chad ist viel zu träge, um zu graben, aber er sagt es immer gern, damit es klingt, als würde er wirklich arbeiten.“

Diese Logik verstand ich zwar nicht, aber ich war froh, dass er genausowenig vom Graben hielt, wie ich. Nicht, dass ich irgendwie faul wäre... aber ich vermeide solch schwere körperliche Arbeiten lieber. Ich wurde zum Denken erschaffen, nicht für niedere Arbeiten.

Das schwere Eingangstor der Kirche war immer noch verschlossen und die tiefen Dellen und schwarze Brandflecken zeigten, dass vor uns bereits viele andere Leute versucht hatten, sich den Einlass zu erzwingen, aber gnadenlos gescheitert waren. Ein kurzer Blick zu den hoch liegenden Fenster, die allesamt eingeschlagen, aber von innen mit Brettern vernagelt waren, verriet mir schnell, dass wir auf diesen Weg auch nicht weiterkommen würden.

„Gibt es keinen anderen Weg hinein?“

Candaces Frage sorgte dafür, dass wir alle zu Abiel blickten, der bereits gedankenverloren die Stirn gerunzelt hatte und die Kirche eingehend musterte. Ich stellte mir vor, wie er vor seinem inneren Auge den tatsächlichen Anblick mit einer Karte in seinem Gedächtnis verglich – und das war eine echt tolle Vorstellung.

Schließlich war er aber fertig mit Vergleichen und richtete seine eigene Aufmerksamkeit wieder auf uns. „Wir sollten einen der hinteren Eingänge versuchen. Vielleicht ist dort noch einer intakt. Aber auch, wenn nicht, dann sollte es dort zumindest Fenster geben, die auf unserer Höhe angebracht worden sind und die wir zum Einstieg nutzen können.“

Da keiner von uns einen Gegenvorschlag anbringen konnte und zumindest ich das für eine gute Idee hielt, umrundeten wir die Kirche, was doch einiges an Anspruch nahm. Trümmer anderer Gebäude, die einstmals an diesem Ort gestanden haben mussten, zwangen uns dazu, Umwege zu gehen oder darüber zu klettern, was nicht nur anstrengend, sondern auch zeitraubend war.

Doch schließlich standen wir vor dem Hintereingang der Kirche, allesamt erschöpft und verschwitzt, nur um festzustellen, dass es hier sogar eine Metalltür gab, die noch unnachgiebiger als das Tor am Eingang war. Aber die Bretter an den Fenstern schienen dafür nicht ganz so abweisend.

Während Abiel und Chad miteinander besprachen, wie sie nun vorgehen sollten – und dabei sogar überlegten, ob wir über das Dach einsteigen sollten – war mein Blick auf die Fenster gerichtet. Die Bretter waren lückenhafter angebracht, so dass man hineinsehen konnte, aber sich schon nach wenigen Metern im Dunkeln verlor. Allerdings verriet mir das auch, dass es leicht sein dürfte, das Holz wieder loszuwerden.

Ich wandte mich Sendoa zu, der ein wenig abseits auf einem Felsen saß und Abiel und Chad bei ihrer Unterhaltung beobachtete, ohne sich selbst einzumischen. Wieder musste ich einen Moment auf sein weißes Auge starren, fing mich allerdings rasch wieder. „Ähm, Sendoa...?“

Es erforderte für mich einiges an Mut, ihn anzusprechen und ich befürchtete fast, dass er mich ignorieren oder anknurren würde, aber stattdessen wandte er sich mir nur schweigend zu. Seine Miene wirkte fast schon gelangweilt, als erwartete er, dass ich ihm dieselbe Frage wie alle anderen stellen wollte. Aber auch wenn mich interessierte, was mit seinem Auge geschehen war, gab es etwas wesentlich Wichtigeres um das wir uns kümmern mussten. „Kannst du mit deinem Schwert vielleicht diese Bretter aus dem Weg räumen?

Plötzlich unterbrach das Gespräch zwischen Chad und Abiel und sogar Candace, die einfach nur gedankenverloren in der Gegend gestanden hatte, wirkte interessiert. Sendoa dagegen stand endlich auf und lief schweigend zu den Brettern hinüber, um diese genauer in Augenschein zu nehmen.

Ehrlich gesagt wunderte es mich in diesem Moment, dass keiner der anderen auf diese Möglichkeit gekommen war – aber möglicherweise lag das einfach daran, dass es so offensichtlich war. Bereits in den Rätseln, die ich als Kind in Büchern gelöst hatte, war mir beigebracht worden, dass ich mich nie auf das Offensichtliche verlassen sollte, aber manchmal bietet es sich doch einfach an, so wie in dieser Situation.

Ohne jedes Wort zog Sendoa seine Schwert hervor und schlug mit heftigen Hieben auf die Bretter ein, die fast sofort unter der Wucht nachgaben und uns endlich einen Zugang schufen.

Candace stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Nicht schlecht, Grünschnabel. Ich glaube, wir wären erst viel später darauf gekommen.“

„Da hat es sich bereits gelohnt, dich dabei zu haben“, stimmte Chad zu.

Was dieses überschwängliche Lob nun sollte, wusste ich auch nicht so recht, vielleicht versuchten sie nur, mich als Neuling zu motivieren, aber ich freute mich dennoch darüber.

Auf Chads Anweisung stieg Sendoa als erstes hinein und verschwand rasch in der Dunkelheit. Es verging eine quälend lange Zeit, in der er nicht zu sehen und auch nichts zu hören war. Ich bemerkte, wie Abiel besorgt die Stirn runzelte, wie Chads Kiefer zu mahlen begann und dass Candace ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippte, während ich einfach nur dastand und sie allesamt beobachtete. Es machte mich nicht nervös, dass dieser mir vollkommen Fremde da drin möglicherweise gerade sein Leben verlor, weil die Sache mit dem Fluch doch der Wahrheit entsprach – vielmehr machte mir der Fluch an sich Gedanken und von diesen wollte ich mich ablenken.

Doch schließlich, gerade als ich ebenfalls nervös zu werden begann, erklangen Sendoas schwere Schritte, die sich wieder in unsere Richtung bewegten und im nächsten Moment trat er bereits wieder ins Licht.

„Es ist sicher.“ Seine Stimme war derart tief und dunkel, dass sie einem direkt durch den ganzen Körper fuhr, auf keine sehr angenehme Weise, wie ich fand, was erklären würde, weswegen er so wenig sprach.

Chad nickte ihm zu und wies dann uns an, ebenfalls ins Gebäude zu steigen, was wir auch sofort taten. Die Luft im Inneren war derart trocken, dass ich sofort Durst bekam, kaum dass ich einmal eingeatmet hatte. Candace erging es offenbar ebenso, denn sie griff sich sofort ihre Feldflasche und nahm einen kräftigen Schluck. Ich ließ lieber meinen Blick schweifen.

Die Zeichen der Zerstörung waren mehr als nur deutlich. Das gesamte Mobiliar war zersplittert und lag nur noch unnütz auf dem Boden. Holzsplitter, Glasscherben, alles verstreut auf dem Holzboden, der schwarz angesengt war oder sogar bereits Löcher aufwies, die so groß waren, dass ein Mensch hindurchgefallen sein musste. Das passte nicht ganz zu dem verbarrikadierten Bild, das sich von außen geboten hatte und noch etwas anderes irritierte mich sehr, die Abwesenheit von etwas, das ich aber noch nicht benennen konnte.

„Sendoa hat den Zugang in den Keller bereits gefunden“, eröffnete Chad uns, wobei ich mich fragte, woher er das wissen wollte, immerhin schienen sie kein Wort miteinander gewechselt zu haben.

Aber das störte ihn nicht weiter, denn er schien so davon überzeugt, dass er dem Schwertkämpfer wieder die Führung übergab, damit er uns zu diesem Zugang bringen könnte. Sowohl er, als auch Chad, der die Nachhut übernahm, entzündeten eine elektrische Lampe, mit der sie uns anderen den Weg wiesen.

„Passt auf den Boden auf“, warnte Abiel uns, während wir liefen. „Versucht, immer nur auf die gesunden Bretter zu treten oder auf die Querbalken.“

Candace hatte bereits von selbst daran gedacht, was ich ihr unwillkürlich nachgeeifert hatte, wie mir auffiel, als er seine Warnung aussprach und ich besonders darauf achtete. Der Spalt zwischen manchen Bodendielen war breit genug, um hindurchzusehen und zu bemerken, dass sich darunter nur eine undurchdringbare Schwärze befand – in der sich etwas zu bewegen schien.

Ich blinzelte irritiert, als ich das bemerkte und blickte noch einmal konzentrierter hin, aber die fahrige Bewegung erschien nicht noch einmal, weswegen ich beschloss, das als Einbildung meinerseits, einen fiesen Streich meiner Vorstellungskraft, abzuhaken.

Aus dem Kirchenschiff, an dem wir nur wegen einer Tür vorüberkamen, war ein Rascheln zu hören, das wir allesamt stillschweigend auf Mäuse oder anderes Ungeziefer schoben, wobei sich mir wieder der Gedanke aufdrängte, dass etwas fehlte, das eigentlich da sein müsste. Aber noch immer entzog sich mir, worum es sich genau handelte.

Auch als wir die Treppe in den Keller erreicht hatten, war es mir noch nicht wieder eingefallen, dafür stellte ich aber fest, dass es sich um steinerne Stufen handelte, die noch dazu widerstandsfähig genug aussahen, dass wir uns keine Sorgen machen müssten, mittendrin einzubrechen. Dennoch setzten wir unsere Füße nur bedacht auf jede Stufe, so dass es mehrere Minuten dauerte, bis wir endlich ganz unten angekommen waren.

Hier mangelte es an Fenstern, aber leuchtender Moos hatte sich an mehreren Stellen an den Wänden ausgebreitet und verbreiteten ein angenehmes, blaugrünes Glühen, das uns auch abseits der Lampen genug Licht spendete, um etwas zu erkennen. Bislang gab es allerdings nicht viel zu sehen, denn der Gang, der sich vor uns erstreckte, war vollkommen leer.

Ein ungutes Gefühl beschlich mich plötzlich, bei der Vorstellung, weiterlaufen zu müssen, die feinen Härchen auf meinen Armen stellten sich protestierend auf – es war eindeutig, dass mein gesamter Körper am Liebsten in die andere Richtung davongelaufen wäre. Aber ich konnte jetzt nicht einfach fliehen, wenn ich ein Drifter werden wollte und zu allem Überfluss wurde mein einziger Fluchtweg auch plötzlich versperrt.

Wir waren kaum zehn Schritte gelaufen, als hinter uns plötzlich ein leises Fauchen erklang, dem sich ein Chor unzähliger gequälter Laute anschloss. Augenblicklich hielten wir inne und sahen zurück, wo noch nichts zu entdecken war.

„Was war das?“, fragte Candace und in diesem Moment war ich ziemlich froh, dass ich ganz offensichtlich nicht der einzige war, der ratlos war.

Aber ich befürchtete, dass ich der einzige war, der tatsächlich zu zittern begonnen hatte. Wenn nicht einmal diese Profis wussten, was da hinter uns war, wie sollte ich da ruhig bleiben?

Und was Chad dann sagte, wollte mir erst recht nicht gefallen: „Was immer es ist, wir sind ziemlich sicher in Schwierigkeiten.“

„Das ist so typisch“, seufzte Candace. „Deine Missionen enden immer so, Chad.“

Er schnitt ihr lediglich eine Grimasse, statt darauf einzugehen, aber sie achtete lediglich auf meinen fragenden Blick, der sie zu einer Antwort bewegte: „Ich erinnere mich an keine einzige Mission von Chad, bei der er nicht in Schwierigkeiten geraten ist. Monster scheinen ihn zum Fressen gern zu haben.“

Ich wünschte nur, ihr wäre das früher eingefallen, bei allen Geschichten vorher, hatte sie kein Wort davon erwähnt. Vielleicht hätte ich mir diese ganze Sache dann doch noch aus dem Kopf geschlagen. Aber so war ich nun hier in diesem Keller eingesperrt und konnte beobachten, wie etwas die Treppe herabstieg. Es waren mehrere Wesen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Körper erinnerten an jene von Menschen, sofern diese aus grünem Wackelpudding bestehen würden, sie hatten keinerlei Gesicht, aber das sichtbare Gehirn erinnerte an eine rote Kirsche... ich bemerkte in diesem Moment, wie hungrig ich war.

Doch der Gedanke verflog sofort wieder, als ich sah, dass es immer mehr solcher Wesen wurden, die herunterkamen und sich so sehr auf der Treppe drängten, dass sie sogar seitlich herunterfielen und sich dann erst wieder mühsam aufrichten mussten. Aber nichts hielt sie davon ab, weiter auf uns zuzulaufen und uns weiter in den Gang hineinzudrängen.

„Du gerätst auch immer in Schwierigkeiten, was, Chad?“, fragte Candace schmunzelnd.

Er grinste ein wenig. „Aber ich manövriere uns auch immer wieder aus ihnen raus, heute auch, du wirst schon sehen.“

Ich wünschte mir ein wenig von seinem Selbstvertrauen, während ich die Wesen weiter dabei beobachtete, wie sie auf uns zuliefen – und dabei auf ein Wunder hoffte.

Third Record: I'll see what my magic can do.

Da ein Kampf unausweichlich schien, zogen Raquel, Jude und auch Yulie bereits ihre Waffen hervor, während Scythe so gelassen dastand, als könnte ihn kein Wässerchen trüben und als wüsste er schon lange, bevor sie überhaupt aufgetaucht waren, dass er gewinnen würde – eine Tatsache, an der Arnaud nicht im Mindesten zweifelte. Seine Furcht ließ immer noch nicht zu, dass er sich rührte und so konnte er nur mitansehen, wie seine Gefährten-wider-Willen sich dem Crimson Noble stellten, nur um – mit vollkommener Sicherheit – von ihm zermalmt zu werden.

Aber vielleicht könnte er einfach fliehen, während die anderen ihren Feind ablenkten? Vielleicht könnte er durch seinen fehlenden Widerstand nochmal mit ihm reden. Immerhin war er nicht freiwillig in diese Sache geraten, das müsste er doch einsehen und ihn deswegen am Leben lassen!

Doch die amüsierte Stimme Scythes verriet ihm, dass es diesem gar nicht so sehr um Schuld oder Unschuld ging und er lediglich Vergnügen aus dem Winden seiner Opfer zog: „Wahrscheinlich langweilt euch dieses luftige Abenteuer, oder? Nun, ich habe einen Hochgenuss für euch.“

Einen kurzen Moment erlaubte Arnaud sich selbst, sich der Hoffnung hinzugeben, dass er sie gehen lassen würde, doch dieses Bild wurde sofort wieder zerschmettert: „Ich werde euch eine Kostprobe meiner Macht über das Raumgefüge auf dem Schlachtfeld bieten!“

Jude runzelte verwirrt die Stirn. „Raumgefüge? Wovon redest du?!“

In Arnauds Gehirn rasteten derweil einige Räder ein, deren durch sie angetriebenen Mechanismus ihm verrieten, was Scythe damit meinen könnte und in diesem Moment wünschte er sich, den Auftrag, Yulie zu finden, damals abgelehnt zu haben. So wäre er nie in diese Sache hineingeraten.

„Dieser Leutnant Scythe“ – Er betonte seinen Posten noch einmal besonders, so als würde er über eine vollkommen andere Person sprechen – „ist niemand anderes als ein Crimson Noble... und ein Meister über den Raum selbst!“

Das ungute Gefühl in Arnaud wurde immer stärker und schien geradewegs an seinem Körper zu ziehen. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ihm auffiel, dass es nicht sein Instinkt war, der ihm diesen Eindruck vermittelte und ihn in Sicherheit bringen wollte, sondern das übermächtige Gefühl von Magie, die sich ansammelte, konzentrierte – und das genau in Scythe.

Nun war es für Arnaud nicht weiter überraschend, dass er Magie spürte, es war eines der Dinge, die er von seiner Mutter geerbt hatte und im Laufe seines Lebens war er oft in Kontakt damit gekommen, wenn er anderen Leuten begegnet war, die sie wirken konnten. Doch noch niemals war ihm dabei jemand über den Weg gelaufen, dessen Magie so hoch konzentriert, so bösartig war, die regelrecht nur darauf wartete, sie alle zu zerfetzen, inklusive desjenigen, der sie überhaupt rief, um sie einzusetzen. Es war so gewaltig, dass Arnaud nicht anders konnte, als ein leises Keuchen auszustoßen. „Die Menge an Magie, die in seinem Inneren anschwillt, ist wahnsinnig!“

Jude wandte den Blick von Scythe und sah zu ihm hinüber. „Du kannst das spüren?“

„Magie ist meine Spezialität“, antwortete Arnaud zähneknirschend. „Ich kann nicht anders, als es zu spüren. Er ist mehr als ein Mensch... Vielleicht ist er ein Crimson Noble!“

Ein kleines, winziges, geradezu verlorenes Stück in seinem Inneren, klammerte sich noch immer an die Hoffnung, dass dieser Feind doch nur ein Mensch oder alles andere als ein Crimson Noble war. Aber das konnte er nun getrost ignorieren, denn seine Magie verriet ihm, dass er mehr als nur ein Mensch war. Viel mehr.

Jude schien das aber nicht wirklich zu bemerken. „Arnaud, es geht alles um Teamwork. Ich bin sicher, wenn wir unsere Kräfte kombinieren-“

„Es ist egal, wie viele von uns da sind!“, unterbrach dieser ihn verärgert. „Wir sind nur Menschen! Wir haben keine Chance gegen ihn!“
 

„Was sind das für Wesen?“, murmelte ich leise, ohne dass ich das eigentlich gewollt hatte.

Candace runzelte die Stirn, während sie darüber nachzudenken schien. „Ich habe sie auch noch nie gesehen. Aber in Ruinen wie diesen findet man nicht selten ungewöhnliche Monster.“

„Das ist wahr“, stimmte Abiel zu. „Aber es verwundert mich, dass wir oben keine Spur von ihnen entdeckt haben.“

„Können wir darüber vielleicht ein andermal sprechen?“, fragte ich mit wachsender Nervosität, als die Wesen immer näherkamen.

Sie liefen nur langsam, aber dafür stetig und unaufhaltsam, es kümmerte sie ja nicht einmal, dass sie von der Treppe herabfielen und das flößte mir Furcht ein. Ich wollte nur noch fort von diesem Ort.

Sendoa stimmte mir offenbar zu, denn er zog sein Schwert und stürmte in einer fließenden Bewegung auf die Wesen zu. Seine todbringende Klinge fuhr herab und traf fast die gesamte erste Reihe. Jeder menschliche Gegner wäre dadurch gestürzt, aber diesen Kreaturen schien das absolut nichts auszumachen, die Risse, die entstanden, verschwanden sofort wieder, als wären sie nie dagewesen. Sie hielten lediglich einen kurzen Moment inne, bewegten sich dann aber weiter.

Sendoa bewegte sich rückwärts und begab sich somit wieder zu uns, worauf wir alle einen ratlosen Blick miteinander tauschten. Ich versuchte, mir etwas auszudenken, aber da ich noch nie an einen solchen Feind geraten war, kam mir nur der Gedanke, dass wir weglaufen sollten. Wenn wir dem Gang folgen würden, kämen wir sicherlich irgendwo raus – oder wir würden in einer Sackgasse oder einem ewigen Labyrinth enden und elend sterben.

Es war egal, dass wir zu fünft waren, bei Wesen, die weitaus mehr als Menschen waren, gab es keinerlei Aussicht, sie zu besiegen, wir hatten keine Chance. Aber keiner wollte die Idee mit der Flucht aussprechen, auch ich nicht. Ich war ein Anfänger, wer würde mich schon ernstnehmen?

Zu meinem Glück war es Abiel, der mit einer Idee kam: „Es gibt ähnliche Gegner in anderen Ruinen und diese waren immer mit Magie zu besiegen. Vielleicht sollten wir es so versuchen.“

Damit richteten sich alle Blicke auf mich. Im ersten Augenblick fragte ich mich, was alle von mir wollten, aber dann fiel mir wieder ein, dass ich tatsächlich genau wegen solcher Situationen angeheuert worden war. Ich atmete tief durch und nickte. „Okay...“

Beim Anblick der sich uns nähernden Front lief mir immer noch ein eiskalter Schauer über den Rücken, einer jener Art, den man spürte, wenn man sich mit etwas konfrontiert sah, das einem eigentlich nur in Albträumen begegnen sollte. Aber wenn ich überleben wollte, blieb mir wohl kaum eine andere Wahl.

Die anderen stellten sich hinter mich, was meine Furcht nicht minderte, sondern sie weiter anfachte. Schlagartig fühlte ich mich einsam, verlassen, als ob sie hinter meinem Rücken ohne mich fliehen würden und schon lange nicht mehr sichtbar waren, selbst wenn ich mich umdrehen würde. Also tat ich genau das nicht und konzentrierte mich lieber auf das, was vor mir war.

Zu meinem Glück waren die Wesen zumindest stehengeblieben. Ich gab mich der Hoffnung hin, dass sie eigentlich gar nicht aggressiv waren und nur mit mir zu kommunizieren versuchten, aber das wurde sofort wieder zerschlagen.

Um eine der Kreaturen sammelten sich Funken und im nächsten Moment schlug direkt vor meinen Füßen ein Blitz ein, dem ich nur ausweichen konnte, weil ich einen Schritt zurücksprang.

Immerhin wusste nun, dass sie gefährlich waren und ich mich keiner Illusion hingeben musste, hier ohne jede Anstrengung herauzukommen. Candace klopfte mir aufmunternd auf die Schulter, der letzte Anstoß, den ich brauchte.

Ich konzentrierte mich auf die Magie in meinem Inneren, die träge zum Leben erwachte, sich zäh durch meinen Körper bewegte und sich nur unwillig in den Einsatz begab. Meine Haarspitzen begannen zu knistern, als die mich umgebende Magie sich jener in meinem Inneren anzuschließen versuchte, auch wenn das ohnehin nicht funktionierte.

Ich konnte sehen, wie die Wesen vor mir sich anschickten, einen weiteren Zauber zu wirken. Das Prickeln auf meiner Haut bestätigte mich darin und es sagte mir auch, dass ich etwas tun musste, wenn ich nicht ein Häufchen Asche werden wollte.

Ich hob meine Hand, in der sich die Magie sammelte und drückte die Faust zusammen. Der Zauber explodierte regelrecht, ergriff allerdings nicht meinen Körper, sondern die Mitte der versammelten Wesen, in einem Versuch, möglichst viel Schaden anzurichten.

Tatsächlich gaben sie allesamt ein lautes Kreischen von sich, als die Explosion die Mitte der Meute zerriss, sie geradezu auflöste und ins Nirvana schickte, während denen um sie herum Körperteile abgerissen wurden. Ein wenig war ich dennoch stolz auf mich, immerhin war es das erste Mal, dass ich einen Zauber mit derartigem Ergebnis gewirkt hatte, bislang hatte ich immer nur Übungsziele genutzt. Aber gleichzeitig war es erschreckend. Natürlich bluteten sie nicht, aber es war dennoch ein grotesker Anblick, sie alle mit fehlenden Armen, Beinen oder sogar nur noch halben Köpfen zu sehen. Es ließ mich zurückweichen, bis ich Candaces Hände in meinem Rücken spürte.

„Das war super!“, rief sie aus und mir erschien es wie ein Paradoxon, für derartige Katastrophen gelobt zu werden. „Wenn du das noch einmal tust, dann...“

Sie brach urplötzlich ab und senkte die Hände, worauf ich einen Blick hinter mich warf. Trotz der Furcht, dass sie alle fort sein könnten und Candaces Stimme und Berührungen nur Teil meiner Einbildung waren, musste ich wissen, was los war. Zu meiner großen Erleichterung war sie noch da, genau wie alle anderen. Aber die Blicke aller waren weder auf mich, noch auf die anderen gerichtet.

Ich hob eine Augenbraue, folgte den Richtungen, in die alle sahen – und spürte, wie sämtliche Farbe aus meinem Gesicht wich.

Das Moos an den Wänden leuchtete nicht mehr nur, es brannte regelrecht. Ein unheilvolles blau-grünes Feuer, das nicht von mir verursacht worden war.

„Es muss auf die Magie in der Luft reagieren“, vermutete Abiel. „Aber solange es das einzige ist, was uns hier-“

Wieder wurde ein Satz nicht beendet, aber diesmal lag es an dem Knall, der die Luft zerschnitt, gefolgt von einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. Ich sah zuerst ein Loch in dem Moos, das von diesem selbst verursacht worden sein musste, denn dahinter war lediglich die Wand zu sehen. Erst als ich die Flugbahn von dem verfolgte, was da abgeschossen worden war, erkannte ich, was die Ursache für den dumpfen Aufprall. Hätte ich in diesem Moment noch Blut in meinem Gesicht gehabt, hätte es dieses nun verlassen, so schien aber mein Herz für einen Augenblick auszusetzen.

Sendoa lag reglos auf dem Boden, eine Blutlache breitete sich rasch unter ihm aus. Auch wenn ich im Dunkeln nicht sehen konnte, wo er getroffen worden war, so wusste ich doch sofort, dass er nicht mehr aufstehen würde – und so ging es nicht nur mir.

Candace stieß ein trockenes Schluchzen aus. „Sendoa!“

Chad fluchte leise, während Abiel nur wortlos auf hinabsah, mit einem Ausdruck des Schmerzes in seinen Augen. Ich atmete tief durch, während ich zu begreifen versuchte, was geschehen war und mein Herz wieder in Bewegung zu setzen.

Ein lautes Kreischen ließ es wieder innehalten. Eines der Wesen war näher herangekommen, ohne dass einer von uns bemerkt hatte und riss Abiel mit diesem Laut zu Boden. Kaum waren sie in einen Nahkampf verwickelt, begann das Wesen zu brennen und ich spürte an der ausströmenden Energie, dass es mein Zauber war, den es gespeichert hatte und nun abgab, um Abiel zu töten.

Ich wich zurück, als er gequälte Schreie ausstieß, die von seinem Todeskampf zeugten, das Moos gab wieder einen Knall von sich, etwas schlug an der gegenüberliegenden Wand ein, Chad rief uns zu, vorsichtig zu sein, während Candace einen Heilzauber auf den noch immer kämpfenden Abiel zu wirken versuchte und die Wesen weiter näherkamen und dabei leise Stöhnlaute von sich gaben.

In diesem Moment, in dem all diese Eindrücke auf mich niederprasselten und ich meinen eigenen Tod vor mir sah, schnappte etwas in meinem Inneren, mein Fluchtinstinkt erwachte zu neuem Leben – und ich rannte.

Fourth Record: Because of my mistake our team is in pieces.

Der Kampf war aussichtslos, genau wie Arnaud es geahnt hatte. In diesem Moment war er froh darum, gar nicht erst aktiv daran teilgenommen zu haben. Jude, Yulie und Raquel knieten erschöpft auf dem Boden, während Arnaud abseits stand und sie betrachtete. Er spürte einen schwachen Schimmer von Besorgnis, konnte aber nicht sagen, ob dieser seinen Kameraden oder ihm selbst galt.

Mit lässigen Schritten näherte Scythe sich ihnen. „Meine Macht über das Raumgefüge erlaubt mir auf dem Schlachtfeld, anzugreifen oder mich zu verteidigen, ganz nach meinem Willen.“

Er verzog seine Mundwinkel zu einem gehässigen Grinsen. „Ich habe keine Geduld für Kinder, die sich Erwachsenen widersetzen und schon gar nicht gewöhnlichen Menschen, die einen Crimson Noble herausfordern!“

„Wehe, du wagst es, Yulie anzurühren...“, brachte Jude kraftlos hervor.

Etwas, was Arnauds Erstaunen weckte. Selbst in diesem Moment, in dem er dem Tode so nahe war, wie vermutlich niemals zuvor, galt seine Sorge dem jungen Mädchen, das er zu beschützen geschworen hatte. Doch im selben Moment, in dem er bemerkte, dass so etwas wie Bewunderung in ihm erwachte, verscheuchte er diesen Gedanken sofort. Es musste die Naivität sein, die da aus dem Jungen sprach, ganz genau!

„Das würde mir im Traum nicht einfallen“, sagte Scythe gefällig. „Weißt du, ich habe einiges an Erfahrung im Umgang mit Frauen. Ich habe nicht die Absicht, ihr irgendwie zu schaden...“

Jude sagte nichts, schien aber erleichtert aufzuatmen, als er das hörte. Arnaud wollte das auch tun, aber da fuhr Scythe bereits fort: „Ihr Kinder seid jedoch eine ganze andere Geschichte. Ihr habt einen Haufen Probleme auf meinem Schiff verursacht und ich habe keine Wahl, als euch für eure Taten büßen zu lassen. Also...“

Er warf einen prüfenden Blick umher, als müsste er sich erst etwas einfallen lassen, um sie zu bestrafen, aber zu Arnauds Unglück schaffte er das rasch. „Wie wäre es mit ein wenig illegalem Schuttabladen vom Himmel aus...?“

Alles in Arnauds Innerem zog sich zusammen, allein bei dem Gedanken, aus dieser Höhe den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er musste das unter allen Umständen verhindern. „W-whoa, warte mal! Du bist doch ein Crimson Noble, oder? Du solltest uns einfach irgendwo einsperren! Du willst uns nicht töten! Auf diese Weise kannst du dich von uns ernähren, wann immer du willst! Mmm, klingt das nicht lecker?!“

Eingesperrt zu sein, war auch nicht der ideale Zustand in seinen Augen, aber es war bei weitem besser, als einfach von einem Luftschiff geworfen zu werden, im tiefen Fall, bis man irgendwann auf dem Boden aufschlug und... nein, er wollte sich nicht vorstellen, was geschah, sobald man aufprallte. Der Schmerz war schon in seiner Vorstellung stärker als alles, was er je erleben wollte.

Aber zu seiner Enttäuschung wandte Scythe desinteressiert den Blick ab. „Mmm, ich fürchte, ich muss dein Angebot ablehnen. Wenn ich euch leben lasse, besteht die Chance, dass später Probleme für Brionac entstehen.“

Arnaud seufzte schwer, die Hoffnung war viel zu schön gewesen, aber nun zitterten seine Beine wieder.

„Belial ist die einzige, die ich benötige, um mich mit Blut zu versorgen. Sie befriedigt mich gut genug. Wo wir gerade davon sprechen... ich frage mich, wo sie ist? Ich habe meine Macht aufgebraucht und könnte ein wenig Auffrischung brauchen.“

Scythe warf einen Blick umher, als er sich nach ihr umsah und Arnaud nutzte die Gelegenheit, um mit einem erschrockenen Schrei – im Moment war ihm wirklich egal, wie er auf alle anderen wirkte – wegzurennen. Er stolperte über seine Füße, schaffte es dennoch, nicht zu stürzen und brachte sich schließlich hinter einer Schaltfläche in trügerische Sicherheit. Er kauerte sich zusammen, die Knie angezogen, die Hände schützend auf seinen Kopf gelegt, aber dennoch schaffte er es nicht, mit dem Zittern aufzuhören. Sein ganzer Körper wurde von seiner Furcht durchgeschüttelt und er wünschte sich, mehr als alles andere, dass die Metapher Angst verleiht Flügel wirklich buchstäblich zu verstehen wäre.

Scythe gab ein amüsiertes, fast schon gehässiges Lachen von sich. „Na na, wohin willst du nun gehen? Weißt du denn nicht, dass es keinen Fluchtweg auf diesem Schiff gibt...?“
 

Ich rannte. Wie lange, war mir in diesem Augenblick nicht klar und ich sollte es auch niemals wirklich erfahren. Aber viel wichtiger war ohnehin, dass ich nicht einmal wusste, wohin ich überhaupt lief. Ich besaß keinerlei Orientierung für die unterirdischen Gänge, in denen Dunkelheit herrschte, wenn man von dem glühenden Moos absah. Aber immerhin war ich weit entfernt von all diesen Monstern und dem magischen Moos, das Leute erschoss. Doch einen Ausgang fand ich auch nicht. Möglicherweise rannte ich auch im Kreis, es gab keinerlei Anzeichen, das mir verraten konnte, wo ich war.

Als meine Lungen zu brennen begannen und ich schmerzhaftes Seitenstechen bekam, wusste ich aber, dass ich mich ausruhen musste. Wenn ich vor Erschöpfung zusammenbrach, wäre ich schutzlos allem ausgeliefert, was in diesem Keller lebte – und ich wollte nicht wissen, welche legendären Wesen, von denen noch niemand gehört hatte, dies noch ihr Zuhause nannten.

Es gab mehrere Buchten in der Wand, die offenbar einmal dazu gebraucht worden waren, Dinge aufzubewahren. Ich nutzte sie nun, um mich darin auszuruhen, indem ich mich in die hinterste Ecke setzte, in der Hoffnung, dass mich niemand in der Dunkelheit entdecken könnte.

Während mein Herzschlag sich langsam wieder beruhigte, meine Atmung sich normalisierte und meine Beine wieder Kraft sammelten, drängte sich etwas anderes mit voller Macht in mein Bewusstsein, obwohl ich es weiterhin zu verdrängen versuchte. Nichts davon wollte ich wissen, aber es ging einfach nicht anders.

Zwei Drifter waren getötet worden, ich war weggerannt und wusste so nicht, was aus Chad und Candace geworden war. Die Mission war ein einziger Fehlschlag – und es war nur meine Schuld.

Meine Vernunft sagte mir, dass ich nicht hatte wissen können, wie das Moos reagieren würde oder dass diese Monster so widerstandsfähig waren. Aber meine Schuldgefühle ignorierten die Vernunft und wiederholten immer wieder, dass es nur mir zu verdanken wäre, dass diese Gruppe, die durch all die Jahre und die Erfahrungen zusammengeschweißt worden war, zerbrochen war. Nein, sie war regelrecht zerschmettert worden, ohne dass sie je wieder zusammengesetzt werden konnte.

Und weswegen? Weil zwei von ihnen getötet wurden, weil ich nicht schlau genug gewesen war.

Und ich würde ihrem Schicksal folgen. Niemand von uns würde überleben, davon war ich in diesem Moment überzeugt. So sehr, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn mein Herz einfach entschieden hätte, nicht mehr schlagen zu wollen.

Aber es funktionierte weiterhin, tat seine Arbeit, pumpte Blut durch meinen Körper und meine Vernunft war froh darüber. Mein Tod würde nichts ändern und weder Abiel noch Sendoa zurückbringen. Ich musste leben, so gut es eben irgendwie ging. Aber dafür müsste ich auch einen Ausgang finden.

Gerade als ich aufstehen wollte, um weiter nach einem solchen zu suchen, hörte ich Schritte und auch leise Stimmen. Ich spitzte meine Ohren und erkannte zu meiner Erleichterung bald, dass es Chad und Candace waren. Immerhin hatten sie also auch überlebt und ich war hier nicht allein.

Doch meine Furcht und mein schlechtes Gewissen flüsterte mir ein, dass das eine schlechte Idee war. Ich war schuld am Tod ihrer Freunde, sie wären sicher alles andere als erleichtert, mich zu sehen, vermutlich sogar eher erzürnt und das wollte ich nicht erleben. Also blieb ich sitzen und versuchte, so flach wie nur irgendwie möglich zu atmen, damit sie nicht auf mich aufmerksam werden würden.

Sie gingen an meiner Bucht vorbei, unterhielten sich dabei leise und ich konnte aus dem Flüstern nur einen Satz verstehen, der von Candace geäußert wurde: „Ich hoffe, dem Grünschnabel ist nichts passiert. Armer Kerl, sein erster Auftrag und dann so etwas...“

Ich konnte sehen, wie Chad nickte und das verriet mir, dass keiner der beiden mir das wirklich nachtrug, was mich in diesem Moment durchaus rührte – weswegen ich wohl auch ein leises Schluchzen ausstieß, das sich in meiner Kehle aufgebaut hatte.

Beide hielten einen kurzen Moment inne, diesmal konnte ich das Flüstern nicht verstehen, aber ich bemerkte immerhin, dass Chads schwere Schritte sich entfernten, während die von Candace wieder zurückkehrten. Sie hielt von meiner Bucht inne, blickte hinein und entdeckte mich rasch, als sie konzentriert in die Dunkelheit sah. Einen kurzen Augenblick lang befürchtete ich, dass ihr Gesicht sich zu einer rachsüchtigen Grimasse verziehen würde, aber stattdessen lächelte sie mich warm an. Sie ging vor mir in die Hocke, um mich auf Augenhöhe betrachten zu können.

„Da bist du ja“, sagte sie sanft. „Ich habe mir schon Sorgen gemacht.“

„Warum?“

Sie zog die Brauen zusammen, während sie darüber nachdachte, was ich wohl meinen könnte. Da sie zu keiner Einigung kam, beschloss ich, nachzuhelfen: „Warum hast du dir Sorgen gemacht? Wegen mir sind Abiel und Sendoa tot... und euch habe ich einfach euch selbst überlassen.“

„Aaah, das meinst du.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Chad und ich haben im selben Moment wie du beschlossen, wegzulaufen. Du warst nur schneller im Wegrennen als wir.“

Sie lachte leise, wohl um mir zu zeigen, dass sie wirklich nicht sauer war, da ich immer noch skeptisch dreinblickte. Da sie aber nicht wirklich weitersprach, bestand ich noch einmal darauf: „Aber Abiel und Sendoa...“

Vielleicht wollte ich einfach, dass sie mir Vorwürfe machte, meine Schuldgefühle bestätigte, damit ich mich in diesen ertränken konnte. Doch in diesem Fall enttäuschte sie mich. Ihr Blick wurde zwar wieder ernst, aber ihre Worte klangen immer noch reichlich verständnisvoll, als sie mir eine Frage stellte: „Arnaud, wir sind doch alle Drifter, oder?“

Ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte, nickte aber dennoch.

„Wir können uns die Aufträge aussuchen, wenn wir wollen, besonders in dem Alter, in dem sich Sendoa und Abiel befanden und in dem Chad und ich immer noch sind. Wir machen es nicht mehr hauptsächlich wegen dem Geld und dem Ruf, wir machen es, weil wir es wollen.“

Mir erschloss sich immer noch nicht, was das werden sollte, deswegen nickte ich einfach noch einmal, in der Hoffnung, dass sie endlich zum Punkt kommen würde, was sie auch sofort tat: „Wir alle wussten, dass es gefährlich werden könnte, wir wissen das bei jedem Auftrag und wenn wir zu einem solchen antreten, tun wir das in der Gewissheit, dass wir vielleicht nicht wiederkommen.“

Ich sagte nichts darauf, aber das hinderte sie nicht daran, weiterzusprechen: „Abiel und Sendoa standen schon oft kurz vor dem Tod und sie wussten, dass sie irgendwann nicht mehr von der Klinge springen können. Du musst dir also wirklich nichts vorwerfen. Schon allein weil niemand von uns hatte wissen können, womit wir es hier zu tun haben.“

Ich konnte spüren, wie ehrlich sie es meinte. Sie sagte das alles nicht nur, um mich zu beruhigen, sondern weil sie von allem, was sie sagte, absolut überzeugt war, es war die Wahrheit. Zum ersten Mal seitdem wir den Monstern begegnet waren, fühlte ich tatsächlich Hoffnung in mir – und gleichzeitig noch mehr Angst. Ihre Worte sagten mir immerhin auch, dass ich als Drifter auch immer damit rechnen müsste, jederzeit zu sterben und ich war mir nicht sicher, ob ich jemals bereit sein würde dafür.

„Fühlst du dich jetzt besser?“, fragte sie fürsorglich.

„Ja, danke...“

Meine Schuldgefühle wollten zwar noch nicht vollends schweigen, aber ich fühlte mich schon ein wenig besser. Zukunftsängste plagten mich nun ein wenig, aber sie rückten in den Hintergrund, als ich sie darauf hinwies, dass wir erst einmal einen Ausgang mussten.

Candace lächelte zufrieden, während mich bereits eine andere Frage beschäftigte: „Wo ist Chad?“

„Er ist vorausgegangen, um einen Ausgang zu suchen. Wir konnten einen Windhauch spüren, deswegen glaubt er, dass es irgendwo einen Weg geben muss, der nach draußen führt.“

Mein Überlebensinstinkt sprang sofort an und gab Vollgas. Ich würde überleben! Ich würde dieses unterirdische Gefängnis verlassen können und wieder den Himmel sehen!

Doch genau in dem Moment, in dem meine Euphorie ihren höchsten Punkt erreichte, konnte ich noch etwas anderes hören und das ließ mein Hochgefühl sofort zersplittern. Die Scherben verwandelten sich in Furcht und spießten meine Seele auf, bis zu einem Punkt, an dem ich es kaum noch ertragen konnte und ich mir Flügel wünschte, obwohl diese hier unten ohnehin nutzlos wären.

Ich warf einen Blick über Candaces Schulter und musste schlucken. Der ganze Gang war gefüllt mit diesen seltsamen Monstern – sie waren uns gefolgt und sie hatten uns gefunden.

Last Record: There are some things you gotta protect at all costs.

Scythes Schritte stoppten plötzlich. Jude stand mit ausgebreiteten Armen zwischen diesem Mann und dem Kontrollpult hinter das Arnaud sich geflüchtet hatte.

„Oh?“, sagte Scythe überrascht und reckte das Kinn. „Sag mir nicht, du verteidigst diesen Feigling?“

Als Arnaud das hörte, durchfuhr ihn Erleichterung, die eigentlich vollkommen unsinnig war. Auch Jude würde ihn nicht vor einem Crimson Noble schützen können, aber es beruhigte ihn dennoch – jedenfalls bis Jude antwortete: „Nein...“

Das traf ihn einerseits eiskalt, aber es kam nicht unerwartet. Er war auf sich gestellt, das wusste er doch eigentlich... warum hatte er sich jemals etwas anderes einfallen lassen?

„Warum stehst du dann mit deinem zerschlagenem und blutigen Körper vor mir?“, fragte Scythe abfällig.

„Nein!“, erwiderte Jude mit fester Stimme und sagte dann etwas, das Arnaud mit einem unbekannten, aber überaus wohltuenden Gefühl erfüllte: „Arnaud ist kein Feigling!“

Doch ehe er diese Emotion genauer erkunden konnte, um festzustellen, worum es sich dabei handelte, stieß Scythe ein amüsiertes Schnauben aus. „Nun, wenn er kein Musterbeispiel für Feigheit ist, was ist er dann? Er gab nicht nur sofort auf, um seine eigene Haut zu retten, nein, er war sogar bereit, euch alle schlagartig zu verraten!“

Diese Worte entsprachen der Wahrheit, Arnaud konnte ihnen nicht widersprechen, er wusste selbst, was er getan hatte. Aber es so zu hören schmerzte und ließ ihn immer wieder schwer schlucken. Denn jedes einzelne Wort bestätigte ihn nur darin, dass er meilenweit davon entfernt war, das zu sein, was er eigentlich sein wollte.

„Nein!“, erwiderte Jude noch einmal, inzwischen sogar schon verärgert. „Wie oft muss ich es noch sagen?! Arnaud ist kein Feigling.“

Diese Worte verdrängten jene von Scythe und ließen ihn endlich die Hände von seinem Kopf nehmen. Sie zitterten noch immer, was ihn störte, aber zu wissen, dass Jude, auf den er bislang so sehr herabgeblickt hatte, es anders sah, war Balsam.

„Arnaud...“, fuhr der Junge fort. „Arnaud ist unser Freund! Und Freunde achten aufeinander!“
 

Als Candace sich erhob, griff ich automatisch nach ihrer Hand, um sie davon abzuhalten. Es war sinnlos und wenn ich sie abzuhalten versuchte, würde es nichts ändern. Sie würden einfach uns beide zerfetzen, fressen, was auch immer sie mit einem tun würden, ich wollte es nicht herausfinden, weder an meinem eigenen Körper, noch durch Candace als Beispiel.

Sie wandte mir den Blick zu und lächelte sanft, ich war mir sicher, dass sie in diesem Moment wusste, dass sie sterben würde.

„Es ist in Ordnung“, sagte sie. „Bleib einfach hinter mir. Chad wird bald zurückkommen, weil er einen Ausgang gefunden hat und wird mir helfen.“

„Warum?“, fragte ich fassungslos.

Ich war es nicht gewohnt, dass jemand sich schützend vor mich stellte, besonders wenn ich mich einer solch weltlichen Gefahr ausgesetzt sah. Normalerweise rannten die Menschen fort, brachten sich selbst in Sicherheit oder starben einfach, mich allein zurücklassend... so wie mein Vater.

Warum sich nun diese fremde Frau einfach so vor mich stellte, obwohl ich sie zuerst im Stich gelassen hatte, entzog sich vollkommen meinem Verständnis.

„Ich habe es dir doch schon gesagt. Ich werde auf dich aufpassen, genau wie Chad es mir aufgetragen hat – und wie es sich für die Dienstältere gehört.“

Noch während sie sich abwandte, sah ich, wie ihr Lächeln erlosch. „Du wirst es auch noch lernen... es gibt Dinge, die will und muss man einfach beschützen, egal, was es kostet.“

Sie griff an ihren Gürtel und zog ein Kurzschwert hervor, um sich gegen diese Wesen zur Wehr zu setzen. Ich wiederum, zog mich in den Schatten zurück und versuchte, mit der Wand zu verschmelzen, als könnten mich diese Wesen dann nicht finden, selbst wenn Candace verlieren sollte.

Nachdem sie sichergestellt hatte, dass ich mich wieder in derart trügerischer Sicherheit befand, stürzte sie sich mit einem Schrei direkt in diese Monster hinein. Sie ließ das Schwert immer wieder niedersausen, schuf tiefe Schnitte in ihren Gegnern, die aufgrund ihrer andauernden Angriffe nicht geheilt werden konnten.

Ihre grazilen, fast schon anmutigen Bewegungen ließen mich fast vergessen, wie alt sie eigentlich war. Während ich sie beobachtete, kam ich nicht umhin, sie mit einer Kriegsgöttin zu vergleichen, die über das Schlachtfeld glitt und dabei ihre Feinde auslöschte, ohne dabei auf sich selbst zu achten, weil sie ohnehin nichts verletzen könnte.

Für Candace mochte das allerdings nicht gelten.

Die Wesen schafften es nur unkoordiniert, sie anzugreifen, als könnten sie ihre Feindin nicht sehen, aber dennoch trafen auch ihre ungezielten Angriffe immer wieder das Ziel und fügten Candace Wunden zu. Blut trat aus diesen aus, die Tropfen folgten den Bahnen ihrer Bewegungen, formten damit ein unwirkliches Bild und ließen die Monster sich noch mehr auf sie konzentrieren. Der Geruch ihres Blutes musste sie in Ekstase versetzen und ihren Hunger auf sie vergrößern.

Wenn ich nur Heilmagie gelernt hätte... wenn ich nur etwas tun könnte, um ihr zu helfen, ohne dabei wieder das Moos scharfzumachen... aber meine Beine zitterten weiter und verhinderten, dass ich aufstehen konnte. Meine Hände schlossen sich dem an, so dass ich nicht einmal eines meiner Wurfmesser hätte werfen können, ohne befürchten zu müssen, Candace zu treffen.

Ich musste ihr vertrauen, sie weiter beobachten, während sie diese Wesen niederstreckte und immer wieder selbst getroffen wurde. Die Eleganz ihrer Bewegungen ließ nach, sie wurden zu roboterhaften Gesten, abgehackt, leblos... müde. Bei all ihren Verletzungen überraschte mich das nicht, aber es erfüllte mich mit einem dumpfen Schmerz, als würde man jemanden verlieren, den man schon lange kannte, aber dem man nie sonderlich nahgestanden hatte.

Und schließlich ließ auch Candaces Kampfgeist nach, erlosch, während das Leben ihren Körper verließ. Sie fiel zu Boden, bewegte sich nicht mehr. Meine Brust zog sich zusammen, das Atmen fiel mir schwer. Zum ersten Mal fürchtete ich nicht um mein Leben, mich überkam vielmehr das Gefühl, sie verraten und enttäuscht zu haben, weil ich sie nicht unterstützte. Ich stellte mir vor, dass ihr letzter Gedanke Reue gewesen war, dass sie mich nicht einfach diesen Wesen überlassen und sich stattdessen für mich geopfert hatte. Und Bedauern, dass sie diese Mission überhaupt angenommen hatte.

Noch während ich mir all das vorstellte und dabei ihren Körper betrachtete, fielen schlagartig sämtliche Monster über sie her, um das zu zerreißen, was von ihr übriggeblieben war.

Ich blieb nicht, um das zu beobachten.

So vorsichtig wie es mir möglich war, verließ ich meine Deckung und schlich an den Wesen vorbei, den Gang entlang, um zu Chad zu kommen. Doch nach wenigen Schritten hielt ich wieder inne und blickte zurück. Auch wenn das, was da gerade zerfetzt wurde, nur noch ein lebloser Körper war, der nichts mehr mit der Person Candace gemein hatte, so konnte ich das nicht einfach derart zulassen. Die Wesen achteten immer noch nicht auf mich, viel zu sehr waren sie darin vertieft, sich um das Essen zu balgen und so nutzte ich diese Gelegenheit.

Zum zweiten Mal an diesem Tag beschwor ich Magie, trommelte die noch nicht verbrauchte Energie zusammen, die sich dieses Mal wesentlich schneller in Bewegung setzte, so dass nur eine Sekunde später ein Knall den Gang erfüllte und mich blendete.

Der Zauber war mit voller Wucht im Zentrum der gierigen Monster hochgegangen, die komplett zerfetzt worden waren, während Candaces Körper sich durch ihn aufgelöst hatte. Ich hoffte, ihre Seele würde dadurch zur Ruhe kommen und nicht auf ewig durch diese Gänge wandeln müssen, so wie die Seelen der getöteten Soldaten auf dem Schlachtfeld, das sich Filgaia nannte.

Das Moos an den Wänden brannte wieder, genau wie zuvor und riet mir, nicht zu lange zu verweilen, wenn ich weiterleben wollte.

Nach einem kurzen, flüchtigen Stoßgebet, fuhr ich herum und rannte weiter den Gang entlang, plötzlich wieder angefüllt mit Energie, die nicht wollte, dass Candaces Opfer umsonst sein würde.

Tränen brannten dabei in meinen Augen, die ich mühsam zurückhalten konnte. Es war sinnlos, nun um sie zu weinen, sie war bereits tot und würde nicht zurückkommen, egal wie sehr ich es mir wünschte, eine Erfahrung, die ich bereits viel zu häufig gemacht hatte.

Aber sie war gestorben, um mich zu retten und mir war eines durchaus bewusst: Dieses Opfer durfte nicht umsonst gewesen sein, ich musste überleben.

Vielleicht war das auch mein eigener Egoismus, der mit hineinspielte, aber der Gedanke war genug, um mich davon zu überzeugen, dass ich nicht an diesem Ort bleiben wollte und dass auch Candace nicht gewollt hätte, dass ich mich zu Tode gräme. Wir hatten uns kaum gekannt, aber dennoch war sie bereit gewesen, sich für mich zu opfern, für jemanden, der sie zuvor im Stich gelassen hatte. Dank ihr konnte ich leben... und ich war ihr dankbarer als irgendeiner anderen Person in meinem Leben.

All diese Gedanken fuhren durch meinen Kopf, ich wiederholte sie immer wieder, um sie für mich endgültig Wahrheit werden zu lassen und sie glauben zu können, ohne dass mein schlechtes Gewissen mir wieder einzureden versuchte, dass ich für alles verantwortlich war.

Aber sie traten sofort in den Hintergrund, als ich Licht sehen konnte. Zuerst glaubte ich, es wäre nur meiner Einbildung entsprungen, aber als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass es echt war.

Ein Sonnenstrahl fiel eine Treppe herab und beleuchtete meinen Weg zu einer hölzernen Luke, die mich wieder in die Freiheit entließ. Im selben Moment, in dem ich den Wind in meinem Haar spürte und die Sonne auf meiner Haut, fühlte ich, wie Tränen über meine Wangen liefen. Aber es waren keine der Trauer, sie waren ein Ausdruck meiner unbändigen Freude, das alles noch einmal miterleben zu dürfen und den anstehenden Sonnenuntergang zu betrachten.

Ich ließ mir einen Moment Zeit, um das alles in mich aufzunehmen und meine Erleichterung durch mich strömen zu lassen, dann erst wischte ich mir die Tränen ab und sah mich um.

Chad war nicht in den Gang zurückgekehrt. Er saß auf einem Felsen und blickte ebenfalls in den Sonnenuntergang. Sein Gesichtsausdruck verriet mir, was er dachte: Er fühlte sich alt, zu alt für diesen Beruf und ich wusste genau, dass es seine letzte Mission war und er keine weitere annehmen würde.

„Du hast es also geschafft, Neuling“, stellte er fest, als ich neben ihn trat. „Aber Candace ist nicht bei dir.“

„Es tut mir Leid“, erwiderte ich automatisch.

Er schüttelte allerdings direkt den Kopf. „Das muss es nicht. Candace hat getan, was sie wollte. Ich bin sicher, dieses Ende war ihr auch lieber als alles andere – immerhin wird sie jetzt zumindest für dich unvergessen bleiben.“

Dem konnte ich nicht widersprechen. Ein solches Opfer würde niemand jemals vergessen, aber es tröstete mich dennoch nicht sonderlich.

„Aber Abiel und Sendoa...“

Chad lachte leise. „Oh die beiden. Zumindest Sendoa wird glücklich sein, dass er während einer Mission starb. Der Kerl war wirklich das Musterbeispiel eines Drifter. Und Abiel...“

Er vollendete den Satz nicht und ich würde nie erfahren, was er hatte sagen wollen, aber ich redete mir einfach ein, dass es Abiel ebenfalls als Ehre empfunden hatte.

„Wir wussten alle, dass dies unsere letzte Mission sein könnte“, sagte er schließlich. „Wir haben sogar schon Witze darüber gerissen, dass wir alle drei am selben Ort sterben würden. Aber ich habe überlebt. Und weißt du, warum?“

Ich schüttelte den Kopf, worauf er es mir erklärte: „Weil ich geflohen bin, genau wie du. Es ist in Ordnung zu fliehen, wenn man weiß, dass es ohnehin der einzige Ausweg ist. Niemand kann von dir verlangen, einen dummen Tod zu sterben, weil du einfach nur dickköpfig sein wolltest.“

„Aber... das ist nicht sonderlich männlich“, wandte ich ein.

Sich zitternd in eine Ecke zu drücken, zu hoffen, dass man nicht gesehen werden würde, das entsprach nicht im Mindesten dem, was ich unter Männlichkeit verstand.

Aber Chad lächelte mich nur nachsichtig ein, wie man es bei einem Kind tat, das aus Naivität sprach – und in seinen Augen war ich das vielleicht sogar. „Zu sterben ist auch nicht unbedingt viel männlicher. Aber gut, es gibt sicher verschiedene Arten von Männern und manchmal muss man sich entscheiden, zu welcher Art man gehören will und welcher davon man am Ende des Tages noch im Spiegel in die Augen sehen kann.“

Konnte ich das von mir selbst behaupten? Ich war mir nicht sicher und vielleicht würde ich mir niemals sicher sein können. Aber ich wollte versuchen, es herauszufinden.

Chad erhob sich schließlich von dem Felsen und zog etwas aus seiner Kleidung hervor, das ich erst auf den zweiten Blick als einen Beutel erkannte – und dieser war voller Münzen. Ich schüttelte den Kopf, aber Chad drückte ihn mir dennoch in die Hände. „Du hast es dir redlich verdient, Junge. Einfach dafür, dass du deine erste Mission überlebt und gleich viele wertvolle Erfahrungen als Drifter gemacht hast. Nicht jeder kann so etwas nach seinem ersten Auftrag behaupten.“

Diese Begründung überzeugte mich nicht unbedingt, aber ich brauchte das Geld wirklich, weswegen ich es annahm und mich leise murmelnd dafür bedankte.

Chad nickte mir zu. „Schon gut, Junge. Nun geh und sieh zu, dass du am Leben bleibst, schon allein, um Candaces Opfer nicht umsonst sein zu lassen.“

Doch entgegen seinen Worten war er es, der aufstand und sich ohne jede weitere Verabschiedung in Bewegung setzte, um fortzugehen. Er lief mit durchgestrecktem Rücken davon, so aufrecht wie er gewesen war, als wir uns das erste Mal, vor wenigen Stunden, getroffen hatten, als wäre er vollkommen unberührt von all den Ereignissen, ganz im Gegensatz zu mir.

Und in diesem Moment, in dem ich noch unentschlossen war, wie ich eigentlich sein wollte, wusste ich doch eines ganz genau...
 

Arnaud ballte die zitternden Hände zu Fäusten und erhob sich. Er blickte auf das Kontrollpult, versuchte, sich einen Reim auf all die Tasten zu machen. Als er keinen fand, beschloss er, einfach mit der Faust auf das Pult einzuschlagen, bis er alle größeren Tasten gedrückt hatte.

Jude wandte ihm den Kopf zu. „Arnaud?!“

Ein lautes Geräusch erklang und verriet, dass die Motoren der Flugzeuge ansprangen und sich, aus Ermangelung eines Pilots einfach in die Richtung von Scythe und Jude in Bewegung setzten.

Der Blick ihres Feindes ging zu diesen Flugzeugen, seine Augen waren verständnislos geweitet. „Was um alles in der Welt...?!“

„Juuuuuuuuude!“ Arnaud schrie, so laut er konnte, um nicht nur den heftigen Wind, sondern auch das laute Geräusch der Motoren zu übertönen – und zu seiner großen Freude hörte sein Mitstreiter den Ruf.

Nur einen Wimpernschlag später war Jude fort, während Scythe immer noch bewegungslos dastand und nur den Flugzeugen entgegensah. „Was zur Hölle soll ich-“

Er schaffte es nicht, den Satz zu beenden. Die Fahrzeuge trafen aufeinander, explodierten in einer Feuerfontäne, in einer derart intensiven Hitze, dass sie den vier Verbliebenden fast den Atem raubte.

Für einen Moment starrten sie alle nur die brennenden Wracks an, dann wandte Jude sich mit vor Begeisterung leuchtenden Gesicht den anderen zu. „Arnaud! Arnaud, du hast uns gerettet! Vielen Dank!“

Die Worte, die er so lange hatte hören wollen, schafften es nun nicht, ihn so zu erfüllen, wie er es sich erhofft hatte. „Ähm... ja...“

Noch immer zitterte seine Körper, so dass er befürchtete, jeden Moment einfach umzufallen. Er hatte seine Deckung verlassen, sich selbst in Gefahr begeben... und hatte dafür alle gerettet. Aber dennoch fühlte er sich nicht besser.

„Aber... wie können wir jetzt fliehen?“, fragte Jude. „Vielleicht gibt es noch andere. Gehen wir nachsehen!“

Er huschte mit Yulie davon und Arnaud nutzte diese Gelegenheit, um auf seine Hand zu blicken, die zitterte wie ein Ast im Wind. Dabei war die Gefahr vorbei und er lebte noch, das war doch eigentlich... gut. Warum zitterte er dann noch immer?

Während er das überlegte, trat plötzlich jemand zu ihm und ergriff seine Hand. Erschrocken hob er den Blick und erkannte Raquel, die mit ungewohntem sanften Lächeln vor ihm stand. „Wird es helfen, wenn ich... deine Hand halte?“

Er antwortete darauf nicht, zu sehr war er gerührt, dass sie ihm das anbot, obwohl er es gerade von ihr nicht erwartet hatte und viel zu dankbar war er dafür. Dafür konnte er aber mit anderen Worten nicht an sich halten: „Es tut mir Leid... Ich bin so ein Feigling. Mein Intellekt ist das einzig Gute an mir.“

Und auch wenn er auf diesen immer vertraute und sich darauf verlassen konnte, gab es eben Situationen, in denen dieser nicht hilfreich war.

„Das mag schon sein“, antwortete Raquel. „Aber dein Intellekt allein hat uns nicht gerettet... es war auch dein Herz.“

Er spürte, wie seine Brust sich wieder zuschnürte, aber diesmal war es kein unangenehmes Gefühl. Es war warm, es erfüllte ihn auf eine Art und Weise, die er noch nie zuvor gespürt hatte und es sagte ihm, dass er ihr noch mehr anvertrauen konnte: „Ich weiß nicht, ob du mir glauben wirst, aber ich wollte immer eine bessere Person werden...“

Er machte eine kurze Pause, während er ihr Lächeln betrachtete, das ihm so... schön vorkam, wie noch nie ein Anblick zuvor. Ein Lächeln, das ihn wieder einmal an den Gedanken erinnerte, der ihn durchzogen hatte, als er Chad hinterhergesehen hatte.

„... und mehr... mehr wie ein Mann sein.“



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